Mittsommerflug - Ulrich Thielmann - E-Book

Mittsommerflug E-Book

Ulrich Thielmann

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Beschreibung

Ein auf dem Flugplatz Sonnwald im Westerwald stationiertes, einmotoriges Privatflugzeug, ein grundüberholter Oldtimer, stürzt während eines Fluges zur niederländischen Insel Texel ins IJsselmeer. Die eng befreundeten Pilotinnen Nele und Eva kommen dabei ums Leben. War ein Verbrechen die Ursache für den Absturz? Kriminalhauptkommissar Doesburg, sein junges Team und die Oberstaatsanwältin Julia Doesburg tappen bei ihren Ermittlungen im Umfeld der Pilotinnen auf dem Flugplatz Sonnwald zunächst im Dunkeln. Das Ermittlerteam ahnt nicht, dass ein weit entfernt von Sonnwald geschehenes Tötungsdelikt im Zusammenhang mit ihrem Fall steht. Dann bringt ein Mord im beschaulichen Sonnwald die Polizistinnen und Polizisten auf die richtige Spur. Ein spannender Krimi, nicht nur für luftfahrtbegeisterte Leserinnen und Leser.

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für meine Enkelkinder!

Dein Flugzeug hebt ab und steigt dem blauen Himmel entgegen. Der Schatten des Flugzeugs bleibt am Boden und entfernt sich immer weiter von dir und deinem Flugzeug. Du fliegst in die Freiheit, deine Anspannung löst sich. Die Menschen am Erdboden, die dir das Leben schwer machen, aber auch die Menschen, die dir etwas bedeuten und denen du etwas bedeutest, werden immer kleiner, verschwinden aus deinem Blick. Du genießt den Frieden des Fluges. Du weißt, dass es hinter dem Horizont weitergeht. Doch wenn du am Steuer sitzt, musst du das Flugzeug fliegen, sonst fliegt das Flugzeug dich.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

EPILOG

PROLOG

An den Tagen vor der Sommersonnenwende breitete sich über West- und Nordeuropa ein stabiles Hochdruckgebiet aus. Die Temperaturen stiegen langsam an und es schien allmählich Sommer zu werden. David kam am späten Abend nach Hause. Nach einem langen Arbeitstag empfand der Fünfundfünfzigjährige keine Lust mehr auf seinen obligatorischen Spaziergang, obwohl ihm die frische Luft und etwas Bewegung durchaus gutgetan hätten. Sein Vater war vor knapp einem Jahr verstorben, viel zu früh, nach einem Schlaganfall. Seitdem wohnte David allein in diesem kleinen Haus auf dem Land. Es machte ihm nichts aus, er war gerne allein. Er zog seine Schuhe aus und stelle sie pedantisch geordnet in einen Schuhschrank im Eingangsbereich. Dann ging er ins Wohnzimmer, schaltete das Fernsehgerät ein, ließ sich müde in seinen schwarzen Ledersessel fallen und schaute sich eine Nachrichtensendung an. Es widerte ihn an, was gerade in seinem Land und in der Welt passierte. Unruhig stand er auf und griff zu einer Whiskyflasche, die auf einem Sideboard stand. Er füllte ein Glas und stellte es auf einen Beistelltisch neben dem Ledersessel. Schlecht gelaunt schaltete er das Fernsehgerät wieder aus, legte eine CD in seinen hochwertigen CD-Player ein und drehte den Lautstärkeregler der Stereoanlage voll auf. Die eingängigen, authentischen Soft-Rock- und Folk-Songs einer Sängerin, die er wie fast eine Heilige verehrte, und der Whisky entspannten ihn, wenigstens für einen Moment. Dann brachte ihn ein melancholisch rockiger Song ins Grübeln. Seine Gedanken drehten sich immer wieder um das gleiche Thema, seit sein Vater tot war. Was sollte er tun? Sollte er sich auf eine Reise begeben, um seine Mutter und seinen Bruder aufzusuchen? Beide hatte er nie persönlich kennengelernt. Sein Vater hatte ihm erst kurz vor seinem Tod gebeichtet, dass David einen Bruder hat. Überdies hatte sein Vater ihm mitgeteilt, dass die Frau, die ihn, David, liebevoll aufgezogen und fürsorglich betreut hat, nicht seine leibliche Mutter gewesen war. Auch sie hatte zeitlebens geschwiegen und jetzt konnte David nicht mehr mit ihr darüber reden, denn sie war schon zwei Monate vor seinem Vater verstorben. David arbeitete hart und beabsichtigte nicht, seinen ererbten Reichtum mit seinem unbekannten Bruder zu teilen. Nur seiner leiblichen Mutter würde er notfalls etwas zukommen lassen, dazu hatte er sich schon entschieden. Aber er war neugierig. Wusste der andere, dass er einen Bruder hat? War sein Bruder wie er, David? Würde er mit ihm klarkommen, wenn sie sich begegneten? Oder wäre es nicht besser, die Sache einfach zu verdrängen? Er könnte endlich seine Lebensgefährtin Jenny heiraten, er hatte es ihr längst in Aussicht gestellt. Bislang war es jedoch eine Beziehung auf Abstand, sie wohnten noch immer getrennt. Doch konnte er Jenny eine Ehe mit ihm zumuten? Die Menschen, die ihn kannten, nannten ihn einen liebenswürdigen, verschrobenen Einzelgänger. Jenny war die Einzige, die mit ihm umgehen konnte.

Er war ihre große Liebe und er erwiderte ihre Gefühle, aber es fiel ihm schwer, ihr seine Liebe einzugestehen und ihr einen offiziellen, liebevollen Heiratsantrag zu machen. Er nippte an seinem Whiskyglas und beschloss, die endgültige Entscheidung erneut zu vertagen. Er ging in die Küche, um sich sein Abendessen zuzubereiten, als ein grüner, stark angerosteter alter Land Rover mit einem ihm unbekannten Autokennzeichen im Hof vor dem Haus parkte. Ein Mann stieg aus dem Land Rover, eilte zum Haus und pochte an die alte, hölzerne Eingangstür. David erkannte ihn sofort als er zögernd die Tür öffnete.

»Was willst du hier?«, fragte er ihn schroff.

»Du musst David sein. Ich habe dich gesucht. Ich bin dein Bruder«, sagte der fremde Mann. »Willst du mich nicht hereinlassen?«

»Es ist besser, wenn du gleich wieder verschwindest! Ich bin nicht auf deinen Besuch vorbereitet und ich möchte keinen Kontakt zu dir!«

»Das ist schade! Wir beide sind jetzt allein. Unsere Mutter ist vor wenigen Monaten gestorben und ich habe herausgefunden, dass unser Vater auch tot ist.«

»Das tut mir leid, ich hätte unsere Mutter gerne irgendwann einmal kennengelernt.« Davids Antwort entsprach der Wahrheit.

»Willst du mir nicht etwas zum Trinken anbieten? Wir sollten unbedingt über alles reden.« Der Fremde trug eine Aktentasche mit sich und drängte an David vorbei in das Wohnzimmer hinein.

»Was gibt es da zu reden? Wir können die Zeit nicht zurückdrehen«, antwortete David verbittert.

Sein Bruder kramte ein vergilbtes Foto aus seiner Hemdtasche hervor und zeigte es ihm. Auf dem Foto waren ihre Eltern zu sehen, damals, frisch verliebt. »Unsere Mutter hat mir nur ein paar Erinnerungsstücke und ihr altes Haus hinterlassen, aber ich gehe davon aus, dass unser Vater dir ein Vermögen vererbt hat.«

»Stimmt!«, antwortete David abweisend. »Unser Vater hat mir sein Vermögens und dieses Haus hier vererbt. Außerdem bin ich jetzt Inhaber und Geschäftsführer seines Unternehmens. Es ist mein Erbe, über das ich allein verfügen kann. Glaub bloß nicht, dass ich dir…«

Sein Bruder ließ ihn nicht ausreden. Er entnahm seiner Aktentasche ein Schreiben und den Entwurf eines Vertrags, warf die Papiere auf den Wohnzimmertisch und forderte mit lauter Stimme: »Für den Anfang wirst du mich zum Teilhaber der Firma machen und mir etwas Geld überweisen. Ich habe ein Recht darauf. Du kannst es in diesem Schreiben meines Anwalts nachlesen. Er schlägt uns einen brüderlichen Deal vor. Du musst nur noch unterschreiben.«

David beachtete den Vertragsentwurf nicht. Er blickte den Fremden irritiert an. Verstand er ihn richtig? Sein fremder Bruder sprach einen Akzent, den David nicht kannte. Nach kurzer Überlegung antwortete er wütend: »Es ist mir völlig egal, was dein Anwalt vorschlägt, ich werde keinesfalls irgendeinen ungeprüften, nicht ausgehandelten Deal unterschreiben!«

»Du wirst unterschreiben, und zwar sofort! Ich habe keine Zeit zu verlieren!« Der Eindringling zückte eine Pistole.

»Bist du verrückt? Wir kennen uns gerade einmal wenige Minuten und du willst mich auf diese Weise zu einem Vertragsabschluss zwingen, deinen eigenen Bruder? Steck die Waffe weg, sonst.…«

David versuchte, seinem Bruder die Waffe aus der Hand zu schlagen.

Dann fiel ein Schuss.

1

Freitag, 21. Juni. Auch in den Niederlanden hielt der Sommer Einzug und mit Temperaturen um 20 Grad Celsius, wolkenlosem Himmel, Ostwind und guter Sicht herrschte genau das richtige Wetter für das, was die beiden Frauen Nele und Eva sich für die nächsten zwei Wochen vorgenommen hatten.

Nele, dreiundfünfzigjährige Berufspilotin und die sechsundfünfzigjährige Chefsekretärin Eva waren seit Jahren beste Freundinnen.

Nele flog als Kapitänin hauptberuflich einen Airbus A320 für eine deutsche Airline, meistens auf innereuropäischen Strecken. In ihrer freien Zeit flog sie für die Flight Services Alsfelder GmbH, die auf dem Flugplatz Sonnwald im hessischen Teil des Westerwaldes ansässig war und vor vierundzwanzig Jahren von Neles Mann John mit Nele als Teilhaberin gegründet worden war. Neben Ausbildungskursen zur Privatpilotenlizenz für einmotorige Flugzeuge und zur Luftsportgeräteführerlizenz für Ultraleichtflugzeuge bot die Flight Services Alsfelder GmbH auch die Ausbildung zur Berufspilotenlizenz, für die Instrumentenflugberechtigung, sowie die obligatorischen Übungsflüge und auch Auffrischungstrainings für Pilotinnen und Piloten an. Außerdem war John Alsfelder ein vom Landesluftamt bestellter Prüfer zur Abnahme von Berufspiloten- und Privatpilotenlizenzen. Vor zehn Jahren hatte John das Angebot seiner Firma auf Fluglehrerkurse und auf Geschäftsreise- und Frachtflüge ausgedehnt. Für die verschiedenen Einsatzzwecke war der Flugzeugpark der Firma jeweils erweitert worden. Die Cessna 195B, mit der Nele und Eva am frühen Morgen von Sonnwald nach Lelystad in den Niederlanden geflogen waren, gehörte zwar offiziell zur Flotte des Sonnwalder Luftfahrtunternehmens, das Flugzeug wurde allerdings bewusst nicht im Flugbetrieb des Unternehmens eingesetzt.

Johns Cessna 195B, ein fünfsitziger amerikanischer Oldtimer, Baujahr 1954, war erst seit wenigen Tagen nach einer kompletten Grundüberholung wieder flugklar. Das schöne Flugzeug war mit einem 275 PS starken 7-Zylinder-Sternmotor ausgerüstet und erreichte im Reiseflug 265 Km/h. Die Cessna war seinerzeit das erste Modell des innovativen amerikanischen Herstellers Cessna, das vollständig aus Aluminium gefertigt wurde und freitragende Tragflächen besaß. Das Flugzeug war einst weltweit erfolgreich als Businessliner vermarktet worden, aber es hatte auch militärische Versionen gegeben. Wie alle Cessna-Modelle galt die Cessna 195B noch heute als vielseitig, zuverlässig und robust. Johns Oldtimer war sein Privatflugzeug, besser gesagt sein Heiligtum, das er schon vor der Grundüberholung nur sehr selten in fremde Hände gegeben hatte. Mit seinem Oldtimer war John ein gern gesehener Gast auf jedem Fliegertreffen und bei Airshows.

Nicht nur die Formgebung oder das Flugbild des Flugzeugs, sondern auch der bullige Sound des Sternmotors begeisterten Pilotinnen und Piloten und Zuschauer gleichermaßen.

Dass Nele und Eva das Flugzeug heute übernommen hatten, war zufällig geschehen. Eigentlich hatten die beiden mit der Piper PA-28 Turbo-Arrow der Flight Services Alsfelder GmbH fliegen wollen, aber dieses schnelle, viersitzige Flugzeug war am Tag vor dem geplanten Flug kurzfristig von einem Kunden für mehrere Tage gechartert worden, so dass Nele und Eva dieses Flugzeug nicht benutzen konnten. Wegen des schönen Wetters plante der Kunde eine Flugreise zu verschiedenen Flugplätzen in Südfrankreich, das musste Vorrang haben. Nur widerwillig hatte John seiner Frau und Eva seine Cessna 195B überlassen.

Nele und Eva hatten sich vor vielen Jahren im Job kennengelernt.

Eva arbeitete damals als Flugbegleiterin für die Airline, für die Nele flog. Bei einem längeren Aufenthalt in Berlin waren die beiden einmal gemeinsam ausgegangen und seitdem empfanden sie eine tiefe Zuneigung füreinander. Als Eva damals unbeabsichtigt von einem verheirateten Kollegen schwanger wurde und ihren Job aufgeben musste, hatte Nele ihr in Abstimmung mit John den Job als Chefsekretärin angeboten. Erst vor kurzem hatte Eva ehrgeizig die Lizenz zur Luftportgeräteführerin erworben, die die sie dazu berechtigte, Ultraleichtflugzeuge zu fliegen. Für ihre Flüge charterte sie in der Regel das einzige Ultraleichtflugzeug der Flight Services Alsfelder GmbH, denn als Angestellte der Firma wurden ihr vergünstigte Flugstundenpreise angeboten. Vor zwei Jahren hatte Nele Eva dazu überredet, mit dem Fallschirmspringen anzufangen. Nele war von dieser Luftsportart -ebenso wie vom Segelfliegen- vollauf begeistert. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, Eva davon zu überzeugen, dass Fallschirmspringen eher ungefährlicher ist als etwa Motorradfahren. Wie in allen Bereichen der Luftfahrt muss man sich natürlich auch beim Fallschirmspringen streng an die Sicherheitsvorschriften halten und darf niemals leichtsinnig werden. Nach zwei Tandemsprüngen mit Nele aus großer Höhe und langer Freifallphase hatte Eva allen Mut zusammengenommen und einen Kursus am Sonnwalder Flugplatz mitgemacht. Jetzt besaß auch sie eine Lizenz und empfand bei jedem Absprung einen unglaublich befreienden Kick, obwohl sie kurz vor dem Absprung noch immer große Schwierigkeiten hatte, sich zu überwinden und aus dem Flugzeug herauszuspringen. Das Segelfliegen begeisterte Eva ebenfalls, aber Segelfliegen ist mit viel Freizeitaufwand verbunden, weshalb Eva sich nicht entscheiden konnte, in den Sonnwalder Segelflugverein einzutreten und Segelfliegen zu erlernen.

Am späten Nachmittag beendeten die beiden Frauen ihre stundenlange Shopping-Tour im Factory-Outlet-Center von Lelystad, der Batavia-Stad. Jetzt saßen sie vor einem Straßencafé in der Sonne und tranken einen Koffie Verkeerd – einen niederländischen Milchkaffee. Ihre vollen Einkaufstüten standen neben den gemütlichen Stühlen. Nele und Eva lauschten der Musik, die aus den Lautsprechern des Cafés schallte. Der Sender Sublime-FM spielte überwiegend internationale Jazz-, Pop- und Soul-Musik, gerade lief ein amerikanischer Song, interpretiert von einer bekannten amerikanischen Sängerin. Nele liebte diesen Song, er erinnerte sie an schöne Zeiten ihrer Jugend in Berlin. Sie summte eine Zeitlang mit. Dann band sie ihre langen dunkelblonden Haare geschickt zu einem Pferdeschwanz zusammen und schaute Eva lächelnd an.

»Wie gefällt dir meine neue Bluse?«

»Die ist sehr hübsch, sie steht dir gut.« Eva lächelte ebenfalls, zog eine ihrer neuen Blusen aus einer Einkaufstasche und hielt die Bluse vor sich.

»Schau mal, ich habe mir eine ähnliche Bluse gekauft, als ich kurz allein unterwegs war. Aber ich würde mich nicht trauen, eine so dünne Bluse ohne BH anzuziehen.«

»Bei meinen kleinen Brüsten ist mir das herzlich egal«, meinte Nele selbstbewusst. »Nur im Job, wenn ich fliege und die Uniform anziehen muss, dann ist ein BH Pflicht.«

Eva bewunderte Nele, schon seit sie sich kannten. Eva war eher konservativer, sie kleidete sich gerne leger, aber selten freizügig, obwohl sie, wie Nele, noch immer eine recht sportliche Figur hatte.

Auch Evas Haare waren dunkelblond. Just heute hatte sie sich ihre Haare in einem Kapsalon zu einer Long-Bob-Frisur stylen lassen.

Beide Frauen trugen, wie immer, wenn sie in ihrer Freizeit etwas zusammen unternahmen, Jeans und bequeme Sneakers. Für den Fall, dass es kühler werden sollte, hatten sie heute ihre Fliegerlederjacken dabei. Man hätte meinen können, sie seien Schwestern, nicht nur wegen der Kleidung, die sie trugen, oder der nahezu gleichen Haarfarbe. Beide hatten tiefblaue Augen, trotz ihres Alters noch kaum Gesichtsfalten und eine fast makellose Haut. Eva war mit einem Meter siebzig nur wenige Zentimeter kleiner als Nele und nicht ganz so schlank.

Nele stellte ihre Tasse auf dem kleinen Bistrotisch ab und lehnte sich entspannt zurück.

»Ich könnte noch ewig hier sitzen«, sagte sie, »mir qualmen die Füße.«

Eva schaute Nele müde an: »Wir sollten eine Kleinigkeit essen, ich habe Hunger.«

»Okay! Hunger habe ich auch«, stellte Nele lächelnd fest. »An das Essen hier musst du dich im Urlaub allerdings gewöhnen. Für den Anfang schlage ich dir einen Uitsmijter oder einen Pannenkoeken vor. Der Uitsmijter ist vergleichbar mit unserem Strammen Max.

Mega lecker, aber leider auch sehr fetthaltig.«

»Und die Pannenkoeken?«

»Naja, je nach Belag sind die sehr süß, Zucker pur, aber ebenfalls sehr lecker.« Nele deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Bilder der verschiedenen Pannenkoeken-Gerichte auf der Speisekarte des Cafés.

»Du kennst dich gut aus hier!«, stellte Eva fest. Sie war nur einmal als junges Mädchen mit ihren Eltern in den Niederlanden gewesen.

»Ein wenig schon, ich war mit John sehr oft in Nordholland. Dabei habe ich mich ein bisschen in Land und Leute verliebt. John und ich, wir haben entspannte Urlaube in der Gegend zwischen Alkmaar und Den Helder gemacht. Damals, als zwischen uns noch alles ok war. Wir haben schöne Tage am Strand verbracht und Mike hatte immer riesigen Spaß beim Buddeln im Sand oder auch beim Fahrradfahren.«

»Und jetzt hat er Spaß mit meiner Tochter.« Eva lehnte sich zurück, blinzelte in die Sonne und lächelte sanft.

»Ich finde es gut, dass die beiden zusammen sind. Frida ist ein großartiges Mädchen. Wie ihre Mutter«, meinte Nele lachend. Der Radiosender brachte Nachrichten. Nele hörte angestrengt zu. »Das Wetter bleibt gut, das Hochdruckgebiet ist stabil und die Temperaturen steigen. Nur der Ostwind wird kräftiger und böiger. Also werden wir morgen einen schönen Tag haben«, sagte sie.

»Echt jetzt, du verstehst sogar die Sprache?«, fragte Eva.

»Ich verstehe die Holländer, pardon, Niederländer, nur bruchstückhaft. Es reicht nicht einmal für einen kleinen Chat.« Nele schaute zum Eingang des Cafés und gab der Bedienung ein Handzeichen.

»Aber den Wetterbericht hast du doch verstanden?«

»Ja, den Wetterbericht verstehe ich inzwischen ganz gut, weil ich die Vokabeln gelernt und das durch häufiges Zuhören und Lesen bewusst geübt habe«, erwiderte Nele stolz. »Es hat lange gedauert, bis ich es draufhatte. Zur Flugvorbereitung für Piloten bietet das Königlich Niederländische Meteorologische Institut aber ein gutes Flugwetterbriefing im Internet an. Beim Lesen verstehe ich die Sprache besser als beim Zuhören – und zur Not gibt es ja auch Übersetzer-Apps.«

»Also für deutsche Ohren klingt die Sprache amüsant. Ein paar Wörter verstehe ich auch schon. Fietsverhuur für Fahrradverleih, oder Bromfiesten für Mopeds.« Eva lachte breit. Sie hatte während des Einkaufbummels mehrere beschriftete Schilder gesehen und aufgrund der Piktogramme die niederländische Beschriftung verstanden.

»Ja, die Sprache klingt amüsant und eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Sprache ist vorhanden. Es handelt sich um eine westgermanische Sprache, die mit der friesischen, der englischen und der deutschen verwandt ist«, dozierte Nele. »Man sollte den Menschen hier aber nie sagen, dass sie einen deutschen Dialekt sprechen oder dass viele ihrer Worte für uns witzig klingen. Um höflich zu sein versuche immer, zumindest ein paar Brocken ihrer Sprache zu sprechen, obwohl sie dann sofort merken, wo ich herkomme.

Beispielsweise sage ich immer Goedemiddag für Guten Tag und Dank u wel statt Danke.« Nele probierte, die Worte wie eine Niederländerin auszusprechen, aber es gelang ihr nicht ganz. Zwei junge Männer, die am Nachbartisch saßen und Nele und Eva schon die ganze Zeit verstohlen beobachteten, bezahlten ihre Getränke und standen auf, um zu gehen. »Willem van Oranje war ein Deutscher«, rief einer von ihnen in gebrochenem Deutsch. Er lachte und winkte zum Abschied. Der andere stimmte lauthals die niederländische Nationalhymne an. Nele winkte den beiden Männern gut gelaunt nach. Eva kannte sich mit der Geschichte der Niederlande nicht aus.

Fragend sah sie Nele an.

»Wilhelm von Oranien kam Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in unserer Gegend zur Welt, in Dillenburg«, erklärte Nele zu Eva gewandt, »eine sehr interessante Geschichte. Die Niederländer nennen Wilhelm von Oranien den Vater ihres Vaterlands, weil er bis zu seiner Ermordung Anführer ihrer Befreiungskriege war. Ihr Befreier war Deutscher, aber die Niederländer legen viel Wert darauf, ein eigenes Volk zu sein. Ich denke, das sind sie auch. Ein stolzes, multikulturelles, liberales und unabhängiges Volk. Und sie haben viele kreative und innovative Ideen!«

Nele bestellte für sich einen Uitsmijter und für Eva einen Pannenkoeken bei der Bedienung, die gerade an den Tisch kam und in ihrer Muttersprache höflich die Bestellung aufnahm. Die junge Frau schien eine Studentin zu sein, die sich in ihren Ferien etwas dazuverdiente. Nele versuchte es auf Niederländisch, musste die Bestellung aber in englischer Sprache fortsetzen.

»Was machen wir morgen, bevor wir nach Texel fliegen?«, fragte Eva.

»Überraschung!«, Nele zog einen Werbeflyer aus der Innentasche ihrer Lederjacke hervor und überreichte ihn Eva.

»Ich habe einen kleinen Segeltörn quer über das IJsselmeer von Enkhuizen nach Urk und zurück gebucht«, erklärte Nele begeistert. »Das Schiff heißt Willem Barentsz und ist ein Dreimaster, man kann sogar beim Segelsetzen mithelfen. Wir fahren morgen ganz früh mit dem Mietwagen über den Markerwaarddijk nach Enkhuizen und gehen an Bord. Während unseres kurzen Aufenthalts in Urk schauen wir uns dieses schöne Städtchen an, oder wir gehen etwas essen.«

»Klasse. Auf solche Ideen kannst nur du kommen«, Eva blickte Nele begeistert und gleichzeitig fragend an. »Aber wird das zeitlich nicht ein bisschen eng? Wir wollen morgen Abend doch noch nach Texel fliegen und müssen auch noch den Ferienbungalow übernehmen.«

»Nee«, sagte Nele gelassen, »ich hab das alles schon abgeklärt. Bei schwachem Wind werden zwar die Segel gesetzt, aber zusätzlich wirft der Skipper den Motor an. Aber wir haben ja auf der Rückreise ohnehin Ostwind. Wir werden sicher pünktlich zurück sein.

Nur für einen Bummel durch das historische Enkhuizen wird uns leider keine Zeit mehr bleiben. Ich schätze mal, dass wir so gegen achtzehn Uhr dreißig in Lelystad starten können. Bevor wir morgen früh nach Enkhuizen zum Segeln fahren, checken wir aus dem Hotel aus und laden unser Gepäck schon mal in unser Flugzeug, dann geht es nachmittags schneller. Sprit ist genug in den Tanks, wir müssen nur kurz ein aktuelles Wetterbriefing einholen und noch den Pre-Flight-Check machen. Die Flugplanung hab ich schon so gut wie fertig, alles gut.«

»Und wie lange dauert der Flug nach Texel?«, fragte Eva.

»Wenn wir gemütlich fliegen, etwa zwanzig bis zweiundzwanzig Minuten. Und bevor du fragst, der Flugplatz Texel ist morgen wegen eines Events länger geöffnet, auch das habe ich geklärt.«

»Du bist wirklich ein Profi«, meinte Eva. Schon beim Hinflug hatte sie Nele einmal mehr für deren professionelle Navigation und Flugdurchführung bewundert. Auch Neles professionellen Funkverkehr mit der niederländischen Flugsicherung und der Flugleitung des Flugplatzes Lelystad hatte Eva bewundert. Mit noch sehr wenig Flugerfahrung lernte sie immer wieder gerne dazu.

»Das will ich hoffen. Schließlich bin ich Berufspilotin«, bemerkte Nele. »Entspann dich!«

»Ich habe mir eine Luftfahrerkarte der Niederlande gekauft«, sagte Eva plötzlich und kramte stolz die Karte aus ihrer Handtasche.

»Ganz schön komplizierte Luftraumstruktur hier!«

»Halb so wild, das sieht nur auf den ersten Blick so aus.« Nele zeigte Eva die geplante Flugstrecke auf der Karte. »Wir fliegen ab Lelystad schön tief am Markerwaarddijk entlang bis Enkhuizen, dann weiter über eine kleine Bucht des IJsselmeers bei Medemblik und ab dort überland entlang der IJsselmeer-Westküste bis Den Oever.«

Nele tippte mit ihrem rechten Zeigefinger auf den in der Karte abgebildeten Ort Den Oever. »Schau, dort beginnt östlich der Abschlussdeich, der das IJsselmeer vom Wattenmeer trennt. Ab Den Oever fliegen wir durch den Korridorluftraum über das Wattenmeer zur Insel Texel. Dieser Korridor ist eigens für Flüge nach Sichtflugregeln eingerichtet worden. Du wirst sehen, das ist total easy.«

Nele faltete die Karte zusammen und setzte ihre Sonnenbrille auf.

Eva studierte die Karte. »Okay, verstanden!«, sagte sie, »jetzt sehe ich es. Hier gibt es nicht nur Beschränkungsgebiete, für die man Freigaben benötigt, sondern auch viele Lufträume, in denen ausschließlich Flüge nach Instrumentenflugregeln erlaubt sind.«

»Genau!« antwortete Nele. »Du weißt ja, ich habe zwar die Lizenzen, aber unsere 195B ist nicht vollständig für Flüge nach Instrumentenflugregeln ausgerüstet. Und außerdem, wenn in Amsterdam-Schiphol viel An- und Abflugverkehr herrscht, wird man mit einem kleinen langsamen Flugzeug ohnehin nicht…«

»Also dann, fliegen wir halt tief!«, Eva unterbrach Nele. Ihr Blick war immer noch auf die Karte gerichtet.

»Wo ist das Problem?«, fragte Nele. Als Eva nicht direkt antwortete, fügte Nele hinzu: »Flüge nach Instrumentenflugregeln, IFR-Flüge, mache ich jeden Tag, beruflich. Die Wetterbedingungen für Flüge nach Sichtflugregeln sind momentan mehr als gegeben. Im Sichtflug unterhalb 1.500 Fuß macht das Fliegen doch viel mehr Spaß und wir können klasse Fotos von der schönen Gegend hier schießen. Und wenn du mal mit dem Ultraleichtflugzeug allein oder mit Frida nach Texel fliegen und auf dem Texel International Airport landen möchtest, dann lernst du morgen, wie es geht.«

»Texel International Airport?«, fragte Eva mit Betonung auf International.

»Ja!«, antwortete Nele lachend, »das ist der offizielle Name für den kleinen Flugplatz mit zwei Graspisten.«

»Okay, wenn wir aus dem Urlaub zurück sind, benennen wir den Flugplatz Sonnwald auch um – in Sonnwald International!« Eva schmunzelte.

»John muss umorganisieren und kräftig investieren, um unser Unternehmen zu modernisieren. Und auch das Fluggelände muss endlich einmal instandgesetzt werden«, sagte Nele mit ernster Miene.

»Ich weiß«, erwiderte Eva, ohne Nele anzuschauen. Eva kannte die Situation der Flight Services Alsfelder GmbH und die der Sonnwalder Flugplatz GmbH nur zu gut.

2

Das Hotel befand sich in der Nähe des Jachthafens von Lelystad. Für die einzige Übernachtung hier hatten Eva und Nele ein großes Zimmer mit Balkon im sechsten Stock des Gebäudes gebucht. Von dort konnten sie einen wunderbar weiten Blick über das Markermeer werfen, das der Markerwaarddijk vom IJsselmeer trennt. In dem geräumigen Zimmer gab es eine Minibar, einen stylischen Tisch, davor zwei gemütliche Sessel, und an der Wand, gegenüber dem Doppelbett, hing ein modernes Fernsehgerät mit Flachbildschirm.

»Wusstest du, dass ein Drittel der Niederlande unter dem Meeresspiegel liegt? Lelystad wurde auf einem Polder erbaut, auf einem Gebiet, das erst 1957 trockengelegt wurde. Die Stadt liegt fünf Meter unter…« Als Nele nach dem Duschen mit noch nassen Haaren gut gelaunt aus dem Badezimmer kam und mit Eva über die schöne Landschaft Nordhollands reden wollte, sah sie, dass Eva nur mit einem Bademantel bekleidet auf dem Bett saß und weinte.

»Kannst du mich bitte mal in den Arm nehmen?«, fragte Eva. Sie wischte sich ihre Tränen mit einem Taschentuch ab. Nele, die nur einen Slip trug, zog sich ebenfalls einen Hotel-Bademantel an.

»Hey, wir haben Urlaub. Was ist los mit dir?« Nele setzte sich zu Eva auf die Bettkante und nahm sie fest in den Arm.

»Es war so ein schöner Tag, heute«, sagte Eva mit leiser Stimme, »und trotzdem kreisen meine Gedanken schon wieder um all die Probleme, die ich habe.«

Nele blickte Eva tief in die Augen. »Gibt es etwas, das du mir noch nicht erzählt hast? Was quält dich?«

»Es ist alles Scheiße. Ich bin etwas deprimiert. Erst dieser Pilot, der mir ständig Blue Skies versprach und mich knallhart sitzen ließ, als ich mit Frida schwanger war. Dann die Sache mit diesem Stalker…«

»Lässt der Typ dich immer noch nicht in Ruhe? Er ist doch seit einem Jahr vorbestraft, hat Kontaktverbot und darf sich dir nicht mehr nähern.«

»Ich dachte wirklich, ich hätte es überwunden«, erwiderte Eva, »aber was er mir angetan hat, quält mich immer noch. Sogar in meinen Träumen.«

»Denk einfach nicht mehr darüber nach, versuch es zu vergessen!«, schlug Nele vor. »Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da!«

»Danke, es tut mir immer gut, mit dir zu reden und etwas zu unternehmen«, antwortete Eva seufzend. »Ich bin momentan etwas durch den Wind und vielleicht auch etwas dünnhäutig. Vor zwei Wochen habe ich mit Matthias Schluss gemacht, nach nur drei Monaten. Es ging nicht anders. Er wollte immer nur das eine. Wir hatten guten Sex, aber das war mir nicht genug.«

»Besser so!« Nele löste die Umarmung, ging zur Minibar, zog eine Flasche Sekt heraus, füllte zwei Gläser und reichte eines weiter an Eva. Hastig trank Eva einen Schluck.

»Du findest schon noch den richtigen«, meinte Nele, während sie auf einem der Sessel Platz nahm und Eva zuprostete.

»Das ist es ja«, sagte Eva niedergeschlagen, »ich habe die Hoffnung schon aufgegeben. Wer will mich denn noch?« Sie stand auf und öffnete ihren Bademantel. »Schau mich doch mal an, ich habe am Bauch und am Hintern etwas zugenommen und meine Brüste hängen auch schon etwas. Ich werde alt.«

Nele tröstete Eva: »Quatsch! Du siehst klasse aus, deine Figur ist super, dein Hintern ist knackig und deine vollen Brüste sind so, wie ein richtiger Mann es sich bei einer sechsundfünfzigjährigen Frau wünscht. Man sieht, dass dich das Joggen fit hält. Du musst einen Mann finden, der nicht nur an deinem Körper interessiert ist. Das wird schon.« Nele betonte die Worte „nicht nur.“

»Ich habe in letzter Zeit sehr oft starke Stimmungsschwankungen.«

Evas Stimme klang nervös. Sie richtete ihren Blick zum Fenster.

»Wenn deine Gefühle Achterbahn fahren und du unter Depressionen leidest, brauchst du ärztliche Hilfe. Vielleicht ist es ja nur ein hormonelles Problem. Versprich mir, dass du dich darum kümmerst, wenn wir aus dem Urlaub zurückkehren.«

Eva zögerte: »Das geht schon wieder vorbei. Der Urlaub wird mir helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Ich freue mich sehr auf schöne Tage am Strand, aufs Fahrradfahren und natürlich auch aufs Fallschirmspringen.«

Nele blickte Eva ernst an. »Strandtage sind okay, Fahrradfahren auch. Das machen wir. Aber in deinem Zustand lässt du das Fallschirmspringen besser sein!«

»Warum denn das? Deswegen fliegen wir doch hauptsächlich nach Texel. Das Fallschirmspringen steigert mein Selbstbewusstsein. Es bedeutet mir viel. Ich bin eine mutige Frau!«, widersprach Eva trotzig.

»Wenn du mit deinen Gedanken beim Fallschirmspringen woanders bist, kann das schnell tödlich enden. Also ist es besser, du springst erst wieder aus einem Flugzeug, wenn es dir besser geht!«

»Um ehrlich zu sein, ich bin schon in Behandlung«, gestand Eva leise, »bei einem Psychiater.«

»Dann lass das Fallschirmspringen und auch das Fliegen mit Ultraleichtflugzeugen als verantwortliche Pilotin vorerst sein!«, antwortete Nele bestimmend. »Und wenn dir dein Arzt Medikamente verschreibt, nimmst du besser auch mit deinem Fliegerarzt Kontakt auf! Er sollte das wissen!« Nele schien enttäuscht, weil Eva erst jetzt die Wahrheit sagte.

Eva setzte sich auf einen Sessel zu Nele an den kleinen Tisch. »Noch geht es ohne Medikamente. Deshalb dachte ich, Fallschirmspringen ist okay für mich, es bringt ja pure Lebensfreude.«

»So wie ich dich gerade erlebe, kann ich es als deine beste Freundin nicht zulassen, dass du auf Texel beim Fallschirmspringen mitmachst. Da gibt es null Toleranz!«, sagte Nele energisch. Sie nahm Evas rechte Hand und fügte hinzu: »Versteh das bitte!«

»Ich möchte dir, besser gesagt uns, nicht den Urlaub vermiesen«, bemerkte Eva kleinlaut.

»Das ist kein Problem, es gibt viele andere Dinge, die wir in den zwei Wochen unternehmen können.«

»Was zum Beispiel?«, fragte Eva mit leiser Stimme.

»Wir können am Strand oder im Ferienhaus einfach mal die Seele baumeln lassen, eine Zeitung oder ein gutes Buch lesen«, meinte Nele und machte weitere Vorschläge: »Wir können im Meer schwimmen gehen, wenn dir das Nordseewasser nicht zu kalt ist, oder wir können mit der Fähre nach Den Helder übersetzen und mit den Miet-Fahrrädern die Radwege von Den Helder entlang der Küste bis nach Bergen fahren. Die Fahrradwege sind supergut ausgebaut und führen strandnah durch wunderschöne Landschaften. Lass uns einfach jeden Tag den Wetterbericht checken und dann entscheiden. Auch ein Stadtbummel in Den Helder oder ein Besuch des Marinemuseums dort wird dir Freude machen. Und nicht nur auf Texel, auch an den Stränden am Festland gibt es überall gemütliche Strand-Pavillons mit Außenbereichen. Da kann man sich gut entspannen, Kaffee trinken, einen Snack essen oder auch ein leckeres Kaltgetränk genießen.

Mein Lieblingsplatz ist ein Pavillon am Fort Kijkduin im kleinen Ort Huisduinen bei Den Helder. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf das Meer und auf die Hafeneinfahrt von Den Helder. Da laufen oft große Schiffe der Marine ein und auch zivile Pötte, die die ÖL-Plattformen draußen auf der Nordsee versorgen.« Nele kam ins Schwärmen. Sie liebte das maritime Flair der meist von Kanälen durchzogenen, nordholländischen Städte, die historischen Gebäude in den Stadtkernen, und sie liebte das Meer.

»Hört sich gut an«, antwortete Eva. »Du musst ja auch auf andere Gedanken kommen. Magst du darüber reden?«

»Lieber nicht. Zwischen John und mir stimmt es schon länger nicht mehr. Ich möchte gerne nochmal jung sein, alles auf Anfang setzen, neue Wege gehen und wieder ein selbstbestimmtes Leben führen.

Aber das soll bitte jetzt im Urlaub kein Thema sein!«

»Schade, ich dachte immer, ihr seid ein gutes Team.« Eva klang erschrocken. Sie hatte sichtlich Angst, Nele zu verlieren.

»Geschäftlich sind wir auch immer noch ein gutes Team, aber unsere Ehe ist am Ende«, antwortete Nele müde. »Es läuft nichts mehr zwischen uns und es knistert auch nicht mehr. Wir werden uns trennen! Aber hey, Schluss jetzt mit diesem trübsinnigen Gerede! Wir haben Urlaub. Freuen wir uns lieber auf morgen. Und jetzt plündern wir die Minibar und dann wird geschlafen! Wir müssen morgen früh raus.«

Samstag, 22. Juni. Als Nele und Eva in Enkhuizen am Morgen an Bord der Willem Barentsz gingen, wurden sie vom Skipper und seiner Crew sehr freundlich begrüßt. Das prächtige Schiff ist ein knapp fünfzig Meter langer Segelschoner mir weißem Rumpf, weißen Segeln und einem Aufbau aus Teakholz. Nele hatte bereits schon einmal einen Segeltörn mitgemacht auf diesem Schiff, jetzt brannte sie darauf, Eva über einige Details zu informieren.

»Das Schiff wurde 1931 als Frachtschiff zu Wasser gelassen, für den Einsatz auf Nord- und Ostsee«, erklärte Nele schwärmend. »Im Jahr 1988 erfolgte der Umbau des Seglers zu einem luxuriösen Tagesausflugsschiff. Es können insgesamt zwölf Segel mit einer Gesamtfläche von fünfhundertfünfzig Quadratmeter gesetzt werden. Unter Deck befindet sich ein Salon, in dem man Snacks und Getränke kaufen kann. Die Willem Barentsz versieht in den Sommermonaten einen Fährdienst zwischen Enkhuizen und Urk, das Schiff kann aber auch von privat gebucht werden, sogar für Hochzeitsfeierlichkeiten auf dem Meer.«

Als das Schiff die Ausfahrt des Buitenhavens von Enkhuizen mit Motorkraft erreichte, wurden nur die Segel an den drei Hauptmasten gesetzt, weil der Gegenwind eine Fahrt des Schiffs rein unter Segeln erschwerte. Das Tuckern des Dieselmotors für den Antrieb störte jedoch niemanden. Der Segeltörn auf dem IJsselmeer machte den beiden Freundinnen viel Freude. Im Gegensatz zum Fliegen, zum Fallschirmspringen und zu ihren anstrengenden Jobs war das Segeln für Eva und Nele eine Rückkehr zur Langsamkeit, Entschleunigung pur. Die beiden Frauen machten es sich auf dem Oberdeck hinter dem Steuerhaus gemütlich. Sie genossen die Sonne und entspannten sich bei einer Zitronenlimonade. Ihren kurzen Aufenthalt in Urk nutzten sie für einen Spaziergang durch den schönen Ort, der einst eine Insel gewesen war. In einem Restaurant in der Nähe des Hafens aßen beide ein Fischgericht. Während der Rückfahrt am Nachmittag schlief Eva sogar ein. Die Sonne und die frische Luft hatten sie müde gemacht. Nele deutete das als ein gutes Zeichen.

Auf der Rückfahrt machte das Schiff unter vollen Segeln einen majestätischen Eindruck. Nele zückte ihre Kamera und fotografierte viele Details des Schiffs, darunter die alten Funknavigationsgeräte im Steuerhaus des Schiffs, die längst nicht mehr in Gebrauch waren.

Besonders bewunderte Nele den großen alten Magnetkompass vor dem Steuerrad auf dem Oberdeck am Heck des Schiffes, hinter der Steuerkabine. Nele fachsimpelte eine Weile mit einem Fahrgast, der sich als pensionierter, niederländischer Marineoffizier vorgestellt hatte, über Wind und Wetter und über alte Navigationsmethoden.

Dann wurde es Zeit, Eva zu wecken.

Samstag, 22. Juni. Die Cessna 195B hob pünktlich um achtzehn Uhr achtunddreißig von der Piste 05 des Flughafens Lelystad ab. Zuvor hatte Nele das Flugzeug ausgiebig gecheckt und ihre Flugvorbereitung finalisiert. Der Flug verlief zunächst normal. Etwa vier Kilometer nordöstlich der Stadt Medemblik stürzte das Flugzeug ins IJsselmeer. Nele hatte keinen Notruf abgesetzt.

3

Samstag, 22. Juni. Am Abend gegen zwanzig Uhr dreißig begann Frida, Evas zweiundzwanzigjährige Tochter, sich Sorgen zu machen. Die junge Frau hatte die zarten Gesichtszüge ihrer Mutter geerbt und war etwa gleich groß wie Eva. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte Frida füllige brünette Haare, die ihr bis zur Schulter reichten. Fridas Figur war top, obwohl sie keinen Sport trieb. Sie war mit Leib und Seele Musikerin und studierte an der Musikhochschule Köln Orgel und Klavier. Um die Finanzierung ihres Studiums nicht allein ihrer Mutter zu überlassen, spielte sie zu Gottesdiensten sonntags in der evangelischen Kirche in Sonnwald die Orgel. Hin und wieder spielte sie an Wochentagen abends in der Bar eines Kölner Hotels Jazz-Piano-Stücke auf einem Konzertflügel. Auch hierdurch verdiente Frida sich etwas dazu. Sie hatte großes Talent und übte ehrgeizig. Während der Woche wohnte Frida in einer kleinen Studentenbude in Köln, die sie sich mittlerweile mit Mike Alsfelder, dem fünfundzwanzigjährigen Sohn von Nele und John, teilte. Mike, der eigentlich Paul-Michael hieß, studierte in Köln Betriebswirtschaft. Während Mike bereits die Privatpilotenlizenz für einmotorige Flugzeuge mit Kolbenmotor, die Luftsportgeräteführerlizenz für Ultraleichtflugzeuge und die Segelfluglizenz nebst der Segelflug-Lehrberechtigung in der Tasche hatte, machte sich Frida überhaupt nichts aus der Fliegerei. John und Mike fanden das schade, zumal sich Evas Wohnung in einem Anbau von John und Neles Haus direkt an der südöstlichen Grenze des Flugplatzes befand und Frida das Flugplatzleben seit ihrer Kindheit kannte. Das Haus war seinerzeit gebaut worden, als der Flugplatz Sonnwald noch ein Kriegsflugplatz war. Nele Und John hatten es kurz nach ihrer Hochzeit gekauft und renovieren lassen.

Frida bewohnte in der Wohnung ihrer Mutter ein größeres Zimmer, in dem auch ein Klavier stand, das sie an den Wochenenden zum Üben nutzte. Als direkte Nachbarn kannten sich Frida und Mike schon seit ihrer Kindheit. Vor zwei Jahren hatten sie sich Hals über Kopf ineinander verliebt und verbrachten seither jede freie Minute zusammen. In den nächsten Wochen wollten Frida und Mike damit beginnen, den gemeinsamen Dachboden des Hauses am Flugplatz auszubauen, um dort eine kleine Wohnung einzurichten, in der sie an den Wochenenden zusammen sein konnten.

Mike, ein stämmiger junger Mann mit sehr kurzen, hellbraunen Haaren und einem Dreitagebart, hatte schon im Alter von vierzehn Jahren mit dem Segelfliegen begonnen. Im Sonnwalder Segelflugverein war er inzwischen ehrenamtlich als Segelfluglehrer aktiv.

Seit er mit Frida zusammen war, nahm er allerdings nicht mehr so oft wie früher am zeitaufwändigen Segelflugbetrieb teil, er leistete im Verein aber weiterhin seine Fluglehrerdienste an mehreren Wochenendtagen im Jahr. Hin und wieder, bei entsprechend gutem Wetter, flog er weite Strecken mit einer modernen ASW 28, dem Hochleistungssegelflugzeug des Vereins. In seiner übrigen freien Zeit betätigte sich Mike als Pilot im Unternehmen seines Vaters. Die vielen Rundflüge mit der einmotorigen Piper PA-28 Turbo-Arrow, vollgepackt mit Gästen, die sich die schöne Landschaft des Westerwaldes aus der Vogelperspektive anschauen wollten, halfen Mike, die notwendigen Flugstunden für die Berufspilotenlizenz zu sammeln. Die Theorieprüfung hierfür hatte er bereits bestanden. Derzeit nahm er in der Flugschule seines Vaters an einem Lehrgang für Fluglehrer auf einmotorigen Flugzeugen teil. Mike überlegte, sein Studium abzubrechen, um sich vollständig auf seine Pilotenkarriere zu konzentrieren. Entgegen dem Willen seines Vaters wollte er nicht weiter studieren und auch später nicht in die Firma seines Vaters als stellvertretender Geschäftsführer und Pilot eintreten.

Lieber würde er bald noch die Verkehrspilotenlizenz machen wollen, um -wie seine Mutter- bei einer Chartergesellschaft Passagierjets fliegen zu dürfen. Für diese teure Ausbildung fehlte ihm jedoch das notwendige Budget und sein Vater war noch nicht bereit, ihn finanziell zu unterstützen. Wie vergleichsweise wenige Menschen seiner Generation mochte Mike englische und amerikanische Pop-, Soul- und Rockmusik aus den siebziger, den achtziger und den neunziger Jahren. Außerdem hörte er gerne klassische Musik von Bach, Händel und Mozart, wenn er dazu in der richtigen Stimmung war. Die Musik verband ihn ein wenig mit Frida, obwohl er kein Instrument spielte. Er bewunderte Fridas Können am Klavier und hörte ihr gerne zu, wenn sie übte.

Frida kramte nervös ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte Evas Nummer. Eva meldete sich nicht. Frida hinterließ eine Nachricht auf Evas Sprachbox. Es war ungewöhnlich, dass Eva sich nicht meldete. Ein Gefühl der Angst beschlich Frida. Fliegen und insbesondere Fallschirmspringen schätzte sie als sehr gefährlich ein, obwohl John, Nele, Mike und sogar Eva ihr immer wieder versicherten, dass das nicht stimmen würde. Ihre Angst vor dem Fliegen konnte Frida nie ganz ablegen. Aus diesem Grund hatte sie ihre Segelflugausbildung im Alter von fünfzehn Jahren kurz vor ihrem ersten Alleinflug abgebrochen. Durch das intensive Studium blieb ihr ohnehin nur wenig Freizeit übrig. Eigentlich wollte Frida heute noch ein schwieriges Klassik-Stück am Klavier üben, aber jetzt stand sie unruhig auf und klappte den Klavierdeckel sanft zu.

Am Nachmittag hatte sie bei einer kirchlichen Hochzeit die Orgel gespielt, deshalb trug sie noch ihr knielanges weißes Sommerkleid.

Nun zog sie es aus und hängte es ordentlich über einen Kleiderbügel, bevor sie es in ihrem Schrank verstaute. Anschließend zog sie eine ihrer Skinny-Jeans, ein blaues Poloshirt sowie ihre neuen blauweißen Sneakers an und ging nach nebenan, um bei John und Mike nachzufragen, ob Nele und Eva sich gemeldet hätten und sicher in der Ferienwohnung auf Texel angekommen waren. Sie drückte auf die Klingeltaste, aber niemand öffnete. Frida vermutete, dass Mike und John sich noch im Büro oder in der Flugzeughalle der Flight Services Alsfelder GmbH aufhielten. Das Gebäude der Firma und die dazugehörige Flugzeughalle befanden sich etwa dreihundertfünfzig Meter vom Wohnhaus entfernt, in Richtung Norden. Frida hastete zum Firmengebäude. Auf dem Weg dorthin musste sie den Abflugbereich der Asphalt-Piste 11 des Flugplatzes überqueren, die heute in Betrieb war, und an der Flugzeughalle des Segelflugvereins vorbeilaufen. Frida war hektisch und achtete nicht auf etwaigen Flugverkehr. Nur ein Motorflugzeug befand sich noch im Gegenanflug der Platzrunde, der Flugplatz würde pünktlich um einundzwanzig Uhr geschlossen werden. Einige der anwesenden Mitglieder des Segelflugvereins hatten ihre Flugzeuge und die Seilwinde schon eingeräumt. Neben ihrer alten Halle, die noch aus Kriegszeiten stammte und sich nur wenige Meter südlich des Bürogebäudes und der Flugzeughalle der Flight Services Alsfelder GmbH befand, brannte bereits ein Grillfeuer – man bereitete sich auf einen gemütlichen Samstagabend auf einer Wiese neben der Halle vor. Die Segelfliegerinnen und Segelflieger beabsichtigten, die Anschaffung eines neuen Segelflugzeugs und die fliegerischen Erfolge des heutigen Tages bei Bier und Steaks feiern. Frida und Mike planten, am späten Abend an der Grillfete teilzunehmen, aber es sollte anders kommen.

Frida winkte den jugendlichen Mitgliedern des Segelflugvereins nur kurz zu, dann betrat sie das Bürogebäude der Flight Services Alsfelder GmbH, das direkt an die Flugzeughalle des Luftfahrtunternehmens angebaut war. Im Flugvorbereitungs- und Schulungsraum, den sie auf dem Weg zum Büro durchqueren musste, hing ein Foto, auf dem zehn Fallschirmspringer abgebildet waren, die sich im freien Fall zu einem Stern formiert hatten. Über dem Foto stand in großen Lettern der Satz: „Don‘t underestimate the power of stupid people in larger groups.“

Das Foto hatte John Alsfelder einst auf einem nordholländischen Flohmarkt, besser gesagt auf einem Kofferbakmarkt, in Den Helder gekauft. Die ironisch gemeinte Aussage auf dem Foto untermalte einerseits Johns Meinung von seinen oft arroganten, aber treuen und solventen Kunden, Geschäftsführer großer Firmen, die John oder seiner Freelancer-Piloten von Termin zu Termin quer durch Deutschland und Europa flogen. Andererseits war das Foto ein Statement für Johns Abneigung gegen den Fallschirmsport. Frida gefiel das Foto, doch heute hatte sie keinen Blick dafür übrig. Sie trat in das Büro ein und sah Mike und John an einem Schreibtisch sitzen. Die beiden blickten angestrengt auf den Bildschirm von Johns Computer.

»Was macht ihr denn so spät noch hier?« Frida tat entspannt, aber es gelang ihr nicht.

»Wir brüten über der Buchführung«, sagte John, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Schade, dass deine Mama gerade jetzt im Urlaub ist«, ergänzte Mike. Er stand auf, nahm Frida in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir müssen mit deiner Mama dringend über die Finanzen der Firma sprechen.«

»Evas Meinung ist uns sehr wichtig«, meinte John, »und Nele müssen wir dabei selbstverständlich auch einbeziehen.«

»Ich mache mir Sorgen«, sagte Frida. »Haben sich Mama und Nele bei euch gemeldet? Sie sollen doch längst auf Texel angekommen sein.«

»Nein, uns haben die beiden auch noch nicht angerufen!«, antwortete Mike ruhig. »Sie sind sicher noch dabei, die Ferienwohnung einzurichten. Vielleicht sind sie ja auch noch beim Einkaufen. Bleib cool!«

Um Frida zu beruhigen, ging Mike zu Evas Schreibtisch, nahm den Hörer des Telefons ab und drückte die Kurzwahltaste für Neles Handynummer. Nele antwortete nicht. Mike hinterließ eine Nachricht auf der Sprachbox.

In diesem Moment parkte ein ziviles Auto der Polizei auf dem Besucherparkplatz vor der Flugschule. Der Parkplatz lag außerhalb des Flugplatzgeländes an einem schmalen, asphaltierten Weg, der rund um den Flugplatz führte, aber nicht direkt zum Flugplatzgelände gehörte. Das Bürogebäude der Flight Services Alsfelder GmbH konnte durch einen Eingang vom Parkplatz aus betreten werden.

Flugplatzseitig gab es selbstverständlich weitere Zugänge zu den Gebäuden von John Alsfelders Luftfahrtunternehmen.

Die junge Kriminalkommissarin Sophie Mueller blieb noch wenige Minuten in ihrem Dienstfahrzeug, einem Opel Astra Sports Tourer, sitzen und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Die neunundzwanzigjährige Polizistin war erst vor einem halben Jahr auf eigenen Wunsch zur Kriminalpolizei in der Kreisstadt versetzt worden und arbeitete seitdem im Team ihres Chefs, Kriminalhauptkommissar Karl Does burg. Ihr Chef hatte sie vor etwa fünfzehn Minuten angerufen, schlecht gelaunt, weil er kurz vorher von seinem Vorgesetzten Stellmacher, dem Leiter der regionalen Kriminalinspektion, telefonisch einen Auftrag erhalten hatte und sich und seine Mitarbeiterin Sophie Mueller als nicht zuständig erachtete. Das Auffinden der Angehörigen der beiden bei dem Flugunfall verunglückten Frauen und die Überbringung der Todesnachrichten hätte auch die Schutzpolizei erledigen können. Doch wegen chronischer Unterbesetzung der Dienststelle und weil gerade ein Festival auf dem Marktplatz der Kreisstadt stattfand, bei dem Polizeipräsenz erforderlich war, hatte Doesburgs Vorgesetzter ihn in einem kurzen Telefonat gebeten, sich mit seinem Team um die Sache zu kümmern. Doesburg hatte sich auf einen freien Abend gefreut, den er vor dem Fernsehgerät verbringen wollte. Grund genug, Kriminalkommissarin Sophie Mueller allein loszuschicken, obwohl Doesburg wusste, dass sie kaum Erfahrungen in solchen Dingen besaß. Jetzt sollte Sophie klären, ob es sich bei dem verunglückten Flugzeug wirklich um ein Flugzeug der Flight Services Alsfelder GmbH handelte – und wenn ja, wer die beiden Frauen waren, die mit diesem Flugzeug ins IJsselmeer gestürzt waren. Doesburg hatte Sophie außerdem aufgetragen, noch heute die nächsten Angehörigen der Opfer ausfindig zu machen und ihnen so schnell wie möglich die Nachricht vom Absturz der Cessna zu überbringen. Das war ihm sehr wichtig, denn oft genug erfuhren es die Angehörigen vorher durch die Presse. Keine einfache Aufgabe für Sophie. Im Notfall würde sie ihren Chef an seinem freien Abend stören dürfen. Sie schätzte es, dass ihr Chef ihr vertraute.

4

Samstagabend, 22. Juni. Kriminalkommissarin Sophie Mueller hoffte inständig, noch an diesem Abend im Büro der Flight Services Alsfelder GmbH den Geschäftsführer dieser Firma oder eine aussagefähige Mitarbeiterin, beziehungsweise einen aussagefähigen Mitarbeiter anzutreffen. Sie war ehrgeizig und wollte ihren Auftrag schnell, gründlich und insgesamt zur Zufriedenheit ihres Chefs erledigen. Sie war stolz und froh zugleich, dass sie als Kripo-Beamtin keine Uniform tragen musste. Sie fand, dass ihr die Polizeiuniform wegen ihrer geringen Körpergröße von nur einem Meter vierundsechzig nicht stand. Außerdem hasste sie die Polizeimütze, die ihr zu groß war und ständig verrutschte. Heute trug Sophie eine geschlossene dunkelblaue Bluse, passend zu ihrer leicht bräunlichen Haut, einen figurbetonenden, graublauen Hosenanzug und schwarze Slipper. Dass sie etwas kleiner und dennoch ein wenig kräftiger war als andere Frauen in ihrem Alter, machte ihr nichts aus. Sie war ein Energiebündel und liebte ihren Job. Sie genoss es, wenn ihr die Männer verstohlen nachschauten und ihre mittelgroßen Brüste oder ihren wohlgeformten Po bewunderten. Ihre Schönheit hatte sie augenscheinlich von ihrer Mutter geerbt, die aus Thailand stammte und mit Sophies Großeltern schon im Kindesalter nach Deutschland eingewandert war. Die Großeltern betrieben noch immer erfolgreich ein Thai-Restaurant in Frankfurt, aber Sophie hatte nie Interesse daran entwickelt und war lieber Polizistin geworden. Sophies Vorbild war ihr deutschstämmiger Vater, ein hoher Polizeibeamter.

Sophie klappte den Spiegel an der Sonnenblende über der Frontscheibe ihres Autos auf, nahm einen ihrer korallenroten Lippenstifte aus der Mittelkonsole und schminkte sich gekonnt ihre schmalen Lippen nach. Dann kämmte sie ihre kurzen schwarzen Haare, warf dabei einem letzten Blick in den Spiegel und stieg entschlossen aus ihrem Dienstfahrzeug aus. Sie ging zur Eingangstür des Luftfahrtunternehmens und klingelte. Mike Alsfelder öffnete ihr. Er erschrak, als die Polizistin ihm bei der Begrüßung ihren Dienstausweis zeigte.

»Guten Abend, ich bin Kriminalkommissarin Sophie Mueller. Darf ich bitte hereinkommen? Ich muss mit dem Chef der Flight Services Alsfelder GmbH sprechen. Ist er hier? Es ist dringend!«

»Mike Alsfelder, Sohn des Geschäftsführers. Mein Vater ist drinnen im Büro. Kommen Sie bitte mit. Darf ich fragen, was der Grund für Ihren späten Besuch ist? Unser Flugbetrieb ist für heute bereits beendet.«

Sophie wartete, bis Mike sie in das Büro geführt hatte. Sie stellte sich John Alsfelder und Frida Schuster ebenfalls vor und zeigte nochmals ihren Dienstausweis.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es heute am frühen Abend einen Flugunfall gegeben hat, mit einem Flugzeug, das möglicherweise Ihrer Firma gehört«, begann Sophie das unangenehme Gespräch. Sie betonte das Wort „möglicherweise.“

»Oh, nein!«, schrie Frida panisch und hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Ihr Gesicht wurde kreidebleich.

»Um Himmels willen!«, rief Mike entsetzt.

John Alsfelder blieb zunächst ruhig. Er stand auf und bot der Polizistin einen Stuhl neben einem kleinen Besprechungstisch an, der seitlich der Schreibtische stand. Auf dem Tisch standen frische Gläser und Flaschen verschiedener Kaltgetränke. Mike und Frida setzten sich zu Sophie an den Tisch und schauten die Polizistin fragend an. Frida bot Sophie schweigend ein Glas Wasser an.

John ließ sich schwerfällig in seinen Bürostuhl fallen. »Das ist hoffentlich ein Irrtum!«, sagte er, »momentan sind zwei unserer Flugzeuge unterwegs, die wir aber heute nicht zurückerwarten.«

Sophie entnahm einen Notizblock aus ihrer Handtasche und legte ihn vor sich auf den Tisch. Sie hatte die wichtigsten Informationen notiert und las ab: »Wir haben von unserer übergeordneten Dienststelle vor einer halben Stunde die Mitteilung bekommen, dass ein Flugzeug mit dem deutschen Kennzeichen Delta-Zulu-Papa um achtzehn Uhr achtundvierzig wenige Kilometer nordöstlich der Stadt Medemblik in Nordholland ins IJsselmeer abgestürzt ist. Der Radarkontakt mit der niederländischen Flugsicherung ist wenige Sekunden vor dem Aufschlag auf dem Wasser abgerissen.

Offensichtlich ein ganz schrecklicher Unfall. Nach unseren Informationen haben die Flugsicherung telefonisch und zeitgleich der Skipper einer in der Nähe befindlichen Jacht über den Seenotfunk umgehend das See- und Luftfahrt-Rettungszentrum in Den Helder alarmiert. Die Rettungsmannschaften sind sofort mit Hubschraubern und Booten ausgerückt. Nur wenig später wurden die deutschen Behörden informiert, aber die mussten ja erst einmal herausfinden, wem das Flugzeug gehört, bevor sie uns…«

John unterbrach die Polizistin. Sein Blick erstarrte. »Was sagen Sie da? Was ist mit meiner Frau und mit ihrer Freundin Eva?«, fragte der siebenundfünfzigjährige Berufspilot und Geschäftsführer.

»Es hat offensichtlich keine Überlebenden gegeben«, erklärte Sophie wahrheitsgemäß.

Frida schrie laut auf, dann brach sie zusammen. Mike fing sie auf und trug sie zu einem Sofa, das in der Ecke des Raums stand. Er öffnete ein Fenster, um frische Luft in den Raum hineinzulassen.

Dann setzte er sich zu Frida, hob ihren Kopf leicht an und schlug ihr vorsichtig auf die Wangen. Nach wenigen Sekunden erwachte Frida wieder und richtete sich langsam auf. Als sie realisierte, in welcher Situation sie sich befand, bekam sie einen Weinkrampf. Am ganzen Körper zitternd schaute sie die Polizistin an und sagte leise: »Sagen Sie uns bitte, dass das nicht wahr ist! Bitte!«

»Es ist leider kein Irrtum«, erwiderte Sophie. Dann wandte sie sich zu John und fragte ihn mit sehr dienstlichem Unterton: »Können Sie mir bitte mitteilen, um wen es sich bei den Insassen genau gehandelt hat und ob das Flugzeug tatsächlich zum Flugzeugpark ihres Unternehmens gehört?«

John kämpfte mit seiner Fassung: »Wie ich schon angedeutet habe, meine Frau Nele Alsfelder und ihre Freundin Eva Schuster, meine Sekretärin, sind mit meiner Cessna 195B unterwegs.« John Alsfelder deutete auf Frida und ergänzte leise: »Eva Schuster ist Fridas Mutter. Eva und Nele sind gestern nach Lelystad zum Shoppen geflogen und haben in Lelystad übernachtet. Für heute war ein Segeltörn auf dem IJsselmeer geplant. Anschließend wollten die beiden von Lelystad zur Insel Texel fliegen. Nele und Eva machen das jedes Jahr. Ich meine, sie fliegen jedes Jahr an den Mittsommertagen irgendwo hin, um ein paar Tage Urlaub zu machen und um auch mal an anderen Flugplätzen am Fallschirmspringen teilzunehmen. Erst vor wenigen Wochen haben die beiden sich nagelneue Fallschirme gekauft.«

Die Polizistin hakte nach: »Ich muss es leider nochmal genau hinterfragen«, Sophie blätterte eine Seite ihres Notizblocks um und zog einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche, »können Sie mit Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Flugzeug mit dem Kennzeichen Delta-Zulu-Papa um ein Flugzeug ihres Unternehmens handelt? «

»Ja, ich sagte es doch schon, die Delta-Zulu-Papa ist meine Cessna 195B, mein gerade erst grundüberholter Oldtimer«, antwortete John bestürzt. Er saß noch immer auf seinem abgewetzten Bürostuhl vor seinem Schreibtisch und schaute hinüber zu Frida, Sophie und Mike.

Sophie machte sich entsprechende Notizen, dann fragte sie weiter:

»Uns wurde mitgeteilt, dass auf dem Flugplatz Lelystad vor dem Start zwei Frauen an Bord gegangen sind. Können Sie ausschließen, dass das Flugzeug in Lelystad von anderen Pilotinnen übernommen wurde? Sorry, auch das muss ich genau hinterfragen.« Sophie klang unsicher.

»Ich kann bestätigen, dass Mama und Eva heute gegen achtzehn Uhr dreißig in Lelystad gestartet sind. Mama hat mir kurz vor dem Start eine SMS geschrieben«, sagte Mike. Er kämpfte mit den Tränen.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Sophie. »Dann müssen wir tatsächlich davon ausgehen, dass es sich bei den Opfern um Ihre Angehörigen handelt. Mein Beileid!«

John wollte gerade etwas sagen, doch Sophie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Bevor wir weiterreden«, sagte sie, »können Sie mir bitte zu Ihrer Legitimierung Ihre Ausweise zeigen? Es ist nur eine Formalität.«

Mike griff in seine Jackentasche, holte seinen Personalausweis hervor und legte ihn wortlos vor Sophie auf den Tisch. John zog seinen Pilotenkoffer unter seinem Schreibtisch hervor und suchte darin seinen Personalausweis. Als er ihn endlich fand, warf er ihn achtlos vor Sophie auf den Tisch.

»Ich habe meinen Ausweis nicht bei mir«, gestand Frida.

»Das ist jetzt das geringste Problem«, meinte John ungehalten.

Mit Zustimmung von Mike und John fotografierte Sophie mit ihrem Handy die beiden Ausweise. Zögerlich teilte Frida der Polizistin ihren vollständigen Namen, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse mit. Sophie notierte alle Angaben auf ihrem kleinen Notizblock.

»Sind die Formalitäten jetzt erledigt? Was ist mit meiner Mutter und mit Fridas Mutter, ich meine, wo sind die Leichen?«, fragte Mike.

Die Todesnachricht nahm ihn sehr mit.

»Soweit ich weiß, suchen die Taucher der Rettungsmannschaften noch nach dem Wrack«, erwiderte Sophie, »es wurden bisher keine Leichen gefunden. Aber meine Informationen sind jetzt vermutlich schon nicht mehr ganz aktuell.« Sophie rückte ihren Stuhl neben das Sofa. »Wenn Sie psychologische Hilfe benötigen, kann ich gerne den psychologischen Notdienst anrufen. Ich rufe notfalls auch einen Arzt zur Hilfe, wenn Sie das möchten«, sagte sie zu Frida.

Aber Frida schüttelte weinend den Kopf. Ihr Blick war leer.

»Können Sie etwas zum Unfallhergang sagen? Was wissen Sie?«, fragte John die Polizistin.

»Ich habe keine Ahnung von der Fliegerei«, antwortete Sophie wahrheitsgemäß, »ich kann nur wiedergeben, was ich im Telefonat mit dem diensthabenden Mitarbeiter der niederländischen Polizei verstanden habe. Wir haben uns in einem Kauderwelsch von deutsch und englisch unterhalten.«

John blickte die Polizistin ungeduldig an: »Nun reden Sie schon!«

Sophie fasste zusammen was sie wusste: »Nach ersten Zeugenaussagen soll sich das Flugzeug aus dem Reiseflug heraus plötzlich kurz aufgebäumt haben. Der Motor soll dabei etwas lauter geworden sein.«

Sophie machte eine Pause und schaute John noch immer unsicher an.

Sie fragte sich, ob der erfahrene Berufspilot mit ihrer Beschreibung etwas anfangen konnte.

»Und weiter?«, fragte John nervös und aufgeregt.

»Dann neigte sich das Flugzeug nach unten und stürzte in einem schätzungsweise fünfzig bis sechzig Grad Winkel ins Wasser. Die Zeugen sagen, dass während des Sturzflugs kein Motorgeräusch