Mord vor dem Morgengebet - Ulrich Thielmann - E-Book

Mord vor dem Morgengebet E-Book

Ulrich Thielmann

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Beschreibung

In der Nähe der idyllisch gelegenen Abtei Marienstatt bei Hachenburg im Westerwald wird eine grausam zugerichtete Leiche gefunden. Die Identität des Toten ist schnell geklärt. Jeder, der ihn kannte, zeichnet ein düsteres Bild von dem unbeliebten K.T. Bergh, einem Softwareentwickler, IT-Consultant und Privatpiloten. Niemand zeigt sich betroffen vom Tod des erst vor wenigen Wochen aus zweijähriger Haft entlassenen Verbrechers. Das Team um Oberkommissarin Elena Dietrich und Hauptkommissar Jakob Lorenz-Schultheiß ermittelt in verschiedene Richtungen. Welche Rolle spielte die Ehefrau des ermordeten Ex-Strafgefangenen? Sind dessen Mobbing-Opfer, Flugkapitän Hagendorf und der junge Berufspilot Steinhausen für den brutalen Mord verantwortlich? Bergh hatte noch vor seinem Gefängnisaufenthalt dafür gesorgt, dass sich die Bürgerinitiative gegen den Flugplatz Sonnwald im Westerwald radikalisiert. Müssen die Ermittler die Täter unter den Befürwortern des Flugplatzes suchen? Welche Verbindungen hatte das Mordopfer zu einer organisierten Verbrecherbande in der Eifel? Schließlich bringt das Video einer Tankstellenkamera die Kriminalisten einen entscheidenden Schritt weiter, doch dann müssen die Polizisten unter Zeitdruck eine gekidnappte Person befreien. Ein spannender Westerwald-Krimi, der die Leserinnen und Leser in die Welt der Fliegerei entführt.

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Birgit

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

An jenem Sonntagmorgen im Juli erwachte Jakob Lorenz-Schultheiß gegen sechs Uhr dreißig. Während seine Frau noch schlief, stand der Vierundfünfzigjährige schwerfällig auf und öffnete beide Fensterflügel bis zum Anschlag. Es wehte ein schwacher Wind aus Südwest und wie schon in den letzten Wochen würde es auch heute wieder unerträglich heiß werden. In den letzten Jahren waren die Sommertage immer wärmer geworden, was nach Jakobs Empfinden für den Hohen Westerwald ungewöhnlich war. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten die Menschen hier die Sommerfrische genießen können, denn über die sanften Erhebungen des Mittelgebirges strich damals auch im Sommer oft eine kühle Brise. Jakob Lorenz-Schultheiß genoss die Stille, atmete die noch frische Morgenluft tief ein und blickte über die viel zu trockenen Wiesen und Felder am Stadtrand hinter dem Haus. Es bereitete ihm Sorge, dass der Klimawandel längst auch im Westerwald massiv spürbar war. Jakob fürchtete, dass es bald auch hier zu verheerenden Waldbränden kommen könnte. Die Trockenheit und der Borkenkäfer hatten schon genug Bäume im Westerwald vernichtet. Nicht nur im Sommer spürte man die Erderwärmung. Auch in den Wintermonaten waren Dauerfrost und Schnee viel seltener geworden.

Ein Verkehrsflugzeug, das die Stadt in Richtung Nordwesten überflog, riss Jakob aus seinen Gedanken. Er zog sein Pyjama-Shirt aus und ging ins Bad. Das kalte Wasser, mit dem er sich wusch, weckte seine Lebensgeister. Zurück im Schlafzimmer legte er sich wieder zu Romy ins Bett. Vor zweiundzwanzig Jahren hatten sie geheiratet, im Jahr darauf war ihre Tochter Chloé zur Welt gekommen. Romy Lorenz-Schultheiß hatte lange hellblonde Haare, geheimnisvolle blaue Augen und einen sinnlichen Mund. Ihre Figur konnte sich sehen lassen, obwohl sie etwas rundlicher geworden war, seit sie nicht mehr rauchte. Die Fünfzigjährige arbeitete als selbstständige Lektorin und sie war bekannt dafür, ein lebensbejahender, fröhlicher Mensch zu sein. Nur was die Aussprache ihres Vornamens betraf, verstand sie keinen Spaß. Sie gab jedem, der sie Rommie nannte, deutlich zu verstehen, dass ihr Name mit dezenter Betonung des zweiten Buchstabens ausgesprochen werden sollte. Romy war in Hachenburg aufgewachsen. An der Universität in Bonn hatte sie ein paar Semester Germanistik studiert, dann aber war sie für ein paar Jahre nach England umgezogen, um in London Journalismus zu studieren. Jakob freute sich auf einen entspannten Tag mit Romy. Er ahnte nicht, dass es anders kommen würde. Der leidenschaftliche Polizist liebte und begehrte seine Frau noch immer. Er genoss es, sich an sie zu kuscheln, sie zu streicheln und ihren warmen Körper zu spüren. Als sie langsam erwachte, gab sie ihrem Mann einen flüchtigen Kuss, dann entzog sie sich ihm. »Was soll das werden, Herr Kriminalhauptkommissar?«, fragte sie lächelnd, während sie aufstand und ins Badezimmer ging.

»Ich liebe Dich«, antwortete Jakob leise.

Nach zehn Minuten kehrte Romy zurück. Sie trug ein Negligé und hatte ihr Lieblingsparfüm aufgetragen. Jakob mochte diesen verführerisch rosigen Duft an ihr. Er stand auf, betrachtete seine Frau und genoss den Anblick ihres Gesichts und ihres Körpers. Dann zog er sie sanft an sich. »Du bist noch immer eine blühende Schönheit«, stellte er liebevoll fest. Romy sagte nichts. Sie schubste ihren Mann aufs Bett und küsste ihn zärtlich. Doch dann vibrierte Jakobs Smartphone, das auf einem kleinen Nachttisch neben dem Bett lag. Jakob richtete sich gequält auf, ergriff das Handy und schaute auf das Display. Er überlegte kurz. Dann warf er seiner Frau einen enttäuschten Blick zu und nahm das Gespräch genervt an.

»Guten Morgen, Elena.«

»Moin, entschuldige bitte die Störung«, sagte Kriminaloberkommissarin Elena Dietrich. »Wir haben ein Problem. In der Nister, an der historischen Brücke bei der Abtei Marienstatt, wurde eine männliche Leiche gefunden. Offenbar ein Tötungsdelikt.« Elena Dietrich klang angespannt. »Wir sollen uns um den Fall kümmern.« »Und warum übernimmt der Dauerdienst den Fall nicht?«, fragte der Hauptkommissar mürrisch.

»Willem hat sich krankgemeldet. Er hat starke Kopfschmerzen und Fieber.«

»Dann sollen seine Leute ohne ihn …«

Elena ließ Jakob nicht ausreden. »Sein Team ist schon seit einer Stunde anderweitig im Einsatz«, erklärte die sechsunddreißigjährige Polizistin. »Im Kommissariat sind wir schlichtweg unterbesetzt während der Urlaubszeit. Das weißt du doch. Ich hatte schon den Staatsanwalt und unseren Chef an der Strippe heute Morgen. Du sollst die Ermittlungen leiten. Sie haben mich gebeten, dich aus dem Bett zu werfen.«

»Verdammt«, fluchte Lorenz-Schultheiß. »Warum haben Osterberger oder Grothe-Kuhn mich nicht direkt angerufen?«

»Unser Chef hat’s auf deinem Handy probiert. Er hat dich nicht erreicht«, sagte Elena beschwichtigend.

»Weil ich noch geschlafen habe oder gerade im Bad war. Mein Handy ist auf Vibration geschaltet.«

»Macht nix, der Chief hat ja mich erreicht. Ich schlage vor, du beeilst dich jetzt. Komm in die Puschen, Jakob!«, sagte Elena mit humorvollem Unterton.

Jakob blieb ernst. »So ein Mist. Romy und ich hatten uns so sehr auf einen freien Sonntag gefreut.«

»Ich kann es leider nicht ändern. Tut mir echt leid.« Elena ahnte längst, dass Jakob eine Auszeit brauchte. Er war urlaubsreif.

Der Hauptkommissar beruhigte sich. »Schon okay, ist ja nicht deine Schuld. Gib mir ein bisschen Zeit, ich beeile mich. Wir ziehen das ganze Programm durch. Spurensicherung, Rechtsmedizin, Polizei-Hubschrauber …«

»Hab ich alles schon angeleiert«, antwortete Elena. »Allerdings, … einen Hubschrauber kriegen wir nicht so schnell. Heute scheint die Hölle los zu sein. Die Helis der Hubschrauberbereitschaft sind alle über Rheinland-Pfalz verteilt im Einsatz, eine Mannschaft nimmt an einer Übung in Süddeutschland teil. Ansonsten ist die komplette Infanterie schon unterwegs zum Fundort der Leiche. Der Staatsanwalt besteht darauf, dass Vicky persönlich kommt und sich die Leiche anschaut, aber er selbst wird nicht vor Ort sein. Anscheinend hat er Besseres zu tun und einen Vertreter schickt er auch nicht.«

»Okay, ist mir eigentlich nur recht, wenn er nicht kommt und den Leitenden raushängt. Wer kümmert sich um die Spurensicherung?« »Florence und ihr Team.«

»In Ordnung.« Jakob Lorenz-Schultheiß beendete das Telefonat mit Elena. Er schaute nochmals auf das Display und stellte fest, dass er einen Anruf verpasst hatte. Dann legte er das Handy zur Seite, gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss, stand auf und öffnete den Kleiderschrank.

»Warum kannst du nicht einfach einmal Nein sagen?«, platzte es aus Romy heraus, während sie ihrem Mann beim Ankleiden zusah. »Die Kripo besteht doch nicht nur aus dir und Elena. Ich hätte heute gerne mal wieder etwas Schönes mit dir unternommen.«

»Tatsächlich hatte ich vor, dich zu überraschen«, antwortete Jakob hörbar enttäuscht. »Heute wäre der perfekte Tag für einen Ausflug mit dem schönen alten Opel gewesen. Eine Tour nach Koblenz und von dort entlang der Mosel nach Beilstein.«

»Diese Überraschung wäre dir gelungen. Aber deine Arbeit ist dir ja wohl wieder einmal wichtiger«, meinte Romy enttäuscht.

»Vielleicht sehe ich bald zu, dass ich einen weniger anspruchsvollen Job kriege, den ich überwiegend vom Schreibtisch aus erledigen kann«, erwiderte Jakob.

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Romy blickte Jakob ernst an und verzog ihr hübsches Gesicht.

»Und ob ich das glaube. Es wird schwierig, aber es ist nicht unmöglich.«

»Das ist doch Quatsch. Wenn du deinen jetzigen Job aufgibst, wird’s dir schnell langweilig.«

»Mag sein, aber je nach Aufgabe werde ich mir dann mehr Zeit für dich nehmen können.«

»Mehr Zeit für mich? Du lieber Himmel. Was willst du mir damit sagen?« Romy lächelte amüsiert. »Ich werde dich verführen, so oft du möchtest.« Verliebt betrachtete Jakob seine aufrecht im Bett sitzende Frau.

»Besser, du restaurierst noch einen Oldtimer, vielleicht diesmal ein amerikanisches Modell. Dabei kommst du wenigstens nicht auf dumme Gedanken.« Romy lächelte immer noch.

»Ich gebe zu, es würde mich reizen, einmal einen 1964er Oldsmobile F-85 Cutlass oder einen tollen 1969er Buick Skylark Convertible zu überholen, aber das wird mir einfach viel zu teuer und zu aufwendig. Lieber verbringe ich mehr Zeit mit dir und wir geben das Geld für schöne Urlaubsreisen und Kurzurlaube aus«, sagte Jakob ernst. »Natürlich nur, wenn es dir recht ist.«

»Das wäre schön«, sagte Romy. Während sie aufstand fügte sie hinzu: »Aber im Grunde wissen wir doch beide, wie das läuft. Du wirst bald befördert und dann hast du noch mehr Arbeit am Hals.

Bei der Kripo gibt es keinen Nine-to-five-Job. Aber lassen wir das, du musst heute arbeiten. Also drück jetzt auf die Tube und sag Elena einen schönen Gruß von mir. Seht zu, dass ihr den Fall schnell aufklärt. Ihr könnt doch bestimmt mal wieder ein Erfolgserlebnis gebrauchen, oder?«

Jakob nickte und warf seiner Frau flüchtig eine Kusshand zu. Er nahm sein Handy, ging in die Küche, trank hastig ein Wasser und aß eine Scheibe trockenes Brot. Dann zog er im Flur seine Schuhe an und eilte ohne weitere Worte aus dem Haus. Obwohl er seinen Beruf engagiert ausübte, mochte er es nicht, wenn er an einem Sonntag nicht in Ruhe mit Romy frühstücken konnte. Damals, kurz nachdem die beiden sich bei einem Konzert in Köln ineinander verliebt hatten, beantragte Jakob, der aus Koblenz stammte, seine Versetzung von seiner Dienststelle in der Stadt am Deutschen Eck zum Kommissariat KK 42 nach Hachenburg. Hier konnte er Romy nahe sein. Anfangs war ihm der Umzug von der Stadt aufs Land schwergefallen, doch schon nach kurzer Zeit hatte er begonnen, das Leben in der Westerwälder Landschaft zu genießen. Ein paar Wochen vor der Geburt ihrer Tochter Chloé hatten Romy und Jakob ihr neues, im Bauhaus-Stil erbautes Haus bezogen, an dem eine große Garage mit Werkstatt angebaut war. Es war Jakobs Hobby, in seiner knappen Freizeit Autos zu restaurieren. Für die umfangreiche Überholung seines Opel Kapitän A, Baujahr 1965, hatte Jakob knapp acht Jahre benötigt. Dabei hatte er Hilfe gehabt. Ein älterer Freund war früher einmal Karosseriebaumeister gewesen und hatte ihn mit besten Kräften unterstützt, kostenlos. Auf dem Beifahrersitz der schicken Limousine lag seit wenigen Tagen ein altes batteriebetriebenes Blaupunkt-Kofferradio, das in den Sechzigern auf den Markt gekommen war und immer noch funktionierte. Es empfing Mittelwellen-, Kurzwellen- und UKW-Sender. Jakob hatte es in einem Online-Shop gekauft. Er war sehr glücklich über dieses schöne Radio, das wie neu aussah. Auch das im Armaturenbrett eingebaute alte Autoradio war wieder funktionsfähig. Im Westerwald geht vieles über gute Beziehungen, hatte der Großonkel eines Kunden von Romy bei einem Zufallstreffen schmunzelnd gesagt.

Dann hatte er das Radio fachmännisch in seiner noch voll ausgerüsteten früheren Radio- und Fernsehtechnikwerkstatt repariert.

Von Hachenburg bis zur Abtei Marienstatt sind es nur wenige Kilometer. Heute nimmst du nicht den Dienstwagen, dachte Jakob. Heute fährst du mit dem Opel und lässt den 125-PS-Sechszylinder-Motor einmal richtig zur Geltung kommen. Jakob fuhr das Garagentor hoch, kletterte in das Auto und fuhr es aus der Garage heraus. Während er bei laufendem Motor nochmal ausstieg und das Garagentor wieder schloss, kramte er sein Smartphone aus der rechten Tasche seiner Jeans heraus und rief seine Tochter an. Sie studierte in Koblenz Wirtschaftsinformatik und wohnte im Stadtteil Metternich in einer kleinen Studentenwohnung. Jakob war sehr stolz auf seine Tochter. Die Einundzwanzigjährige hatte die Klugheit und das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt und war eine sehr selbstbewusste und auch vielseitige junge Frau. Ihr Vorname Chloé war Romys Hommage an ihre Großmutter mütterlicherseits, Chloé Palmer, die in zweiter Ehe mit einem Amerikaner verheiratet gewesen war und in Boston gelebt hatte.

»Papa hier, hallo Chloé. Entschuldige, dass ich so früh anrufe«, sagte Jakob, als seine Tochter das Gespräch endlich annahm.

»Hi Papa, ich bin gerade erst aufgestanden, was gibt’s?« Chloé gähnte herzhaft.

»Ich bin zu einem Einsatz gerufen worden und werde voraussichtlich den ganzen Tag arbeiten müssen. Könntest du heute bitte deine Mama besuchen? Vielleicht backst du einen Kuchen und ihr verbringt den Nachmittag im Garten. Romy ist enttäuscht, weil ich heute nichts mit ihr unternehmen kann.«

»Hört das denn nie auf? Nie hast du Zeit für sie«, antwortete Chloé verstimmt.

»Ich kann es nicht ändern, wir haben nicht genügend Leute in Hachenburg.«

»Eigentlich hatte ich etwas anderes vor, aber okay, ich rufe Mama gleich an«, versprach Chloé.

»Danke, Schatz. Sie wird sich sicher freuen, dich zu sehen.«

»Na, dann jagt mal die Verbrecher. Hoffentlich sind sie nicht schon über alle Berge«, kicherte Chloé, »und grüß deine nette Kollegin von mir.«

2

Sonntagmorgen. Konrad Hagendorf hatte kaum geschlafen in dieser Sommernacht. Wieder einmal hatten dunkle Gedanken den zweiundfünfzigjährigen Flugkapitän gequält. Der Berufspilot empfand einen tiefen Schmerz, wenn er über seine Zukunft nachdachte. Warum hatte es gerade ihn erwischt? Diese verfluchte Erkrankung, die ihn am Boden hielt. Er hatte kaum Krankheitssymptome verspürt und seit er Medikamente einnahm, fühlte er sich gesund. Doch es ließ sich nicht ändern. Seine Fliegerärzte hatten ihn vor zwei Monaten gegroundet, ihm das obligatorische fliegerärztliche Tauglichkeitszeugnis verweigert. Damit musste er sich abfinden, so oder so. Er fühlte sich wie ein Steinadler, dem man die Flügel gestutzt und seiner Freiheit beraubt hatte. Steinadler waren die Greifvögel, die Hagendorf schon als Kind am meisten bewundert hatte – und die ihn vom Fliegen hatten träumen lassen. Aus dem Kindheitstraum war ein glücklicherweise Realität geworden. Immerhin verzeichnete Hagendorf mittlerweile eine Flugerfahrung von über achtzehntausend Flugstunden. Die Fliegerei bedeutete alles für ihn, weit mehr als nur ein Beruf. Und jetzt hatte sich schlagartig alles geändert. Nicht nur, dass er nicht mehr beruflich fliegen durfte. Auch privates Fliegen mit seiner geliebten Cessna 182 war ihm nun verwehrt. Wenigstens waren die Verantwortlichen der schwedischen Airline, für die Hagendorf seit Jahren beruflich flog, kompromissbereit. Sie beschäftigten ihn weiter – als Theorie-Fluglehrer und Check-Captain in ihrem Trainings- und Testzentrum in Stockholm. Die Arbeit in den etwa fünfzehn Millionen Euro teuren Flugsimulatoren war für den Witwer ein guter Kompromiss. Sie machte ihm Spaß und stimmte ihn wieder ein Stück weit optimistischer. Schon vor vier Jahren, als Hagendorf Freya-Iva Jansson kennengelernt hatte und die beiden wenig später ein Paar geworden waren, hatte er größere fliegerische Herausforderungen aufgegeben und sich überwiegend auf Linienflüge zwischen dem Flughafen Köln-Bonn und dem Flughafen Stockholm-Arlanda einsetzen lassen. Das hatte ihm die Chance geboten, kostengünstig zu pendeln und Freya regelmäßig zu sehen. Von Vorteil war dabei auch, dass er sich in seiner freien Zeit mehr um sein kleines Luftfahrtunternehmen, die Flugschule und Air-Service Hagendorf GmbH, kümmern konnte. Die Firma war auf dem Westerwald Airport beheimatet und Hagendorf betrieb sie seit vielen Jahren nebenbei. Mit dem regelmäßigen Pendeln nach Stockholm und zurück war nun Schluss, seit Hagendorf nicht mehr fliegen durfte. Der Flugkapitän hatte sich deshalb entschieden, mit Freya in Stockholm zusammenzuleben und nur noch sporadisch in seine Westerwälder Heimat zurückzukehren. Nur Freya brachte ihn auf andere Gedanken. Die betörend hübsche Schwedin stammte aus Uppsala und Hagendorf schmolz jedes Mal dahin, wenn sie zum Mittsommerfest ein figurbetonendes helles Sommerkleid oder ihre Tracht anzog, einen bunten Blumenkranz im Haar trug und schwedische Volkslieder sang. Ihr offenes Wesen, ihr Aussehen und der singende Tonfall ihrer weichen Stimme faszinierten Hagendorf. Die Siebenundvierzigjährige hatte lange blonde Haare, die sie oft kunstvoll zu einem Dutt verknotete oder zu einem Zopf flocht. Sie trieb viel Sport, obwohl sie als Modedesignerin nur wenig Zeit dafür hatte. Die Schwedin sprach fließend Englisch, was für das Paar von großem Vorteil war, denn Hagendorf war noch dabei, die schwedische Sprache zu lernen und Freya konnte kaum Deutsch. Besonders schön fand Hagendorf ihre Vornamen. Freya, der Name der nordischen Göttin der Liebe, der Schönheit und der Fruchtbarkeit, Iva stand in Schweden für die Gottbegnadete. Seit Hagendorf Freya kannte, fragte er sich, warum ihre Eltern sie ausgerechnet auf Freya-Iva hatten taufen lassen. Hatte diese Namenskombination für Freyas Eltern eine tiefere Bedeutung gehabt? Er würde sie bei Gelegenheit einmal danach fragen müssen.

Für Konrad Hagendorf und Freya Jansson war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie sich damals im öffentlichen Bereich des Flughafens Köln-Bonn zum ersten Mal begegnet waren. Aus ihrer anfänglich scheuen Liebelei war schnell eine starke Beziehung geworden. Freya stärkte Hagendorfs Selbstvertrauen, während es Hagendorf gelang, ihr wieder Mut zu machen, denn sie hatte bereits zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich. Beide waren sexuell ausgehungert und auch in dieser Beziehung waren sie wie geschaffen füreinander.

Hagendorf hatte erst kürzlich noch eine andere weitreichende Entscheidung getroffen. Um den Veränderungen seiner Lebensumstände Tribut zu zollen, hatte er einundfünfzig Prozent der Firmenanteile seiner GmbH verkauft und die Geschäftsführung sowie die Ausbildungsleitung in jüngere Hände gegeben, an den Fluglehrer und Berufspiloten Falk Steinhausen. Der Zweiunddreißigjährige arbeitete seit einigen Jahren engagiert in Hagendorfs Flugschule und hatte den Betrieb bislang als Hagendorfs Vertreter geführt. Der Zeitpunkt der Übernahme von Firmenanteilen hätte nicht passender sein können, denn Steinhausen hatte geerbt und war bei den Banken ein kreditwürdiger Kunde. Dass Hagendorf vorerst weiterhin Teilhaber seiner GmbH blieb, war ihm als Gründer sehr wichtig. Nach den Lockdowns zu Zeiten der Corona-Pandemie stiegen die Umsätze des Unternehmens wieder an, obwohl die private Fliegerei inzwischen teurer geworden war und den Kunden das Geld nicht mehr so locker saß. Hagendorf und Steinhausen waren deshalb erleichtert, dass sich mittlerweile wieder genügend Flugschülerinnen und Flugschüler für die Ausbildung zu einer der Motorfluglizenzen anmeldeten. Viele Neukunden belegten auch Ausbildungskurse für die etwas einfacher zu erlangende und günstigere Lizenz zum Fliegen von zweisitzigen Ultraleichtflugzeugen. Noch im April hatten Steinhausen und Hagendorf das Angebot der Firma um Fotoflüge für Privat- und Geschäftskunden erweitert. Auch der Großauftrag einer lokalen LKW-Spedition zum Schleppen von Werbebannern brachte zusätzliche Einnahmen und inzwischen erhielt das Unternehmen immer öfter auch Aufträge von Privatleuten für individuelle Banner. Meistens waren Liebeserklärungen oder Heiratsanträge auf den Bannern zu lesen. Schon jetzt halfen zwei Freelancer-Piloten die umfangreiche Luftarbeit, wie sie die Flüge nannten, zu erledigen. Es war ausgemacht, dass Steinhausen zeitnah einen Piloten fest einstellen würde, der ihn entlasten sollte.

Hagendorf hatte etwas Geld zurücklegen können in all den Jahren. Als Flugkapitän verdiente er gut, die GmbH warf wieder genug ab und seine viel zu früh verstorbene Frau hatte ihm damals ein sehr hohes Vermögen und eine wertvolle Immobilie hinterlassen. Das Paar war kinderlos geblieben und so war Hagendorfs sechsundzwanzigjährige Nichte Linda sozusagen zu seiner Ersatztochter geworden, die er über alles liebte, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Von Hagendorfs gesundheitlichen Problemen wussten nur wenige. Noch. Nur seine Chefs, zwei Mitarbeiterinnen der Personalabteilung der Airline, seine Fliegerärzte, sein Haus- und Facharzt, seine Schwester Karin und Freya hatten Kenntnis davon. Hagendorf war sich darüber im Klaren, dass er bald noch mehr Menschen reinen Wein einschenken musste. Aber das hatte noch Zeit. Seine Krankheit empfand Hagendorf nicht als absolutes Hindernis. Nicht heute! Er war immer noch locker in der Lage, ein Flugzeug zu fliegen und er würde heute mit seiner Cessna 182 zu einer Reise aufbrechen. Der Pilot wusste, dass Fliegen ohne gültige Lizenz mit hohen Geldbußen und Bewährungsstrafen geahndet würde, wenn es herauskäme, doch er befand sich in einer Ausnahmesituation. Hagendorf durfte keine Zeit verlieren, er musste handeln. Die Uhr tickte. Deshalb hatte er sich entschieden, das Risiko einzugehen. Er hatte am Morgen noch etwas Wichtiges zu erledigen. Danach würde er zum Westerwald Airport fahren. Er musste heute fliegen. Dem Flugkapitän war bewusst, dass er eine rote Linie überschreiten und schlimmstenfalls seinen Job verlieren würde, aber es gab keine Alternative. Seine Schwester würde es verstehen, da war er sich sicher.

3

Die Zufahrt zum Waldparkplatz westlich der Zisterzienserabtei Marienstatt war abgesperrt, als Jakob gegen Viertel nach sieben dort eintraf. Ein Polizist erkannte den Hauptkommissar und bat ihn, sein Auto vor dem Parkplatz abzustellen und sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Er warf der blauen Opel-Limousine des Hauptkommissars einen bewundernden Blick zu. Auf dem Parkplatz sah Jakob Einsatzfahrzeuge der Polizei und den Dienstwagen von Elena Dietrich.

Die Abtei Marienstatt in der Ortsgemeinde Streithausen liegt direkt an der Nister, die sich hier durch ein enges Tal schlängelt und auch Große Nister genannt wird. Der Fluss entspringt an der Fuchskaute, der mit sechshundertsiebenundfünfzig Metern höchsten Erhebung des Westerwalds, und durchfließt die Kroppacher Schweiz, bevor er nach vierundsechzig Kilometern zwischen Wissen-Nisterbrück und Etzbach in die Sieg mündet. Die Menschen, die hierherkamen, begeisterten sich vor allem für die Abteikirche, eine bedeutende frühgotische Basilika mit historischer Innenausstattung und einer großen modernen Orgel, der größten im Westerwald. Außer der Abteikirche befinden sich auf dem Abteigelände ein gepflegter Barockgarten mit einem Wasserspiel in Gartenmitte, die barocken Klostergebäude, das privat geführte Gymnasium Marienstatt, eine Buch- und Kunsthandlung und das Marienstatter Brauhaus. Zur Energieversorgung der gesamten Klosteranlage wird ein historisches Wasserkraftwerk betrieben, auf dessen Turbinenhaus zusätzlich eine moderne Photovoltaik-Anlage installiert worden ist.

Der Hauptkommissar fragte sich, wieso ausgerechnet hier an diesem romantischen und viel besuchten Ort ein Verbrechen geschehen war. Er wusste, dass die Abtei und das Abteigelände bei Pilgern, Ausflüglern, Wanderern und Radfahrern sehr beliebt war und von den Besuchern als wertvolles Kulturerbe des Westerwalds geschätzt wurde. Jakob begrüßte es, dass es noch immer viele gläubige Menschen gab, die regelmäßig die Gottesdienste hier besuchten oder sich einfach nur für eine Weile in der Kirche aufhielten, um zur Ruhe zu kommen und zu beten. Manche Menschen nahmen auch das klösterliche Angebot wahr und gingen für ein paar Tage in Exerzitien. Keine schlechte Idee, wie Jakob fand. Er selbst und Romy waren nicht gläubig, aber die beiden genossen hin und wieder ein Konzert in der Abteikirche und gönnten sich anschließend ein leckeres Essen und ein Klosterbier im gemütlichen Restaurant des Brauhauses oder im Biergarten nebenan. Während der Hochphasen der Corona-Pandemie hatten sie darauf verzichten müssen, weshalb sie lange nicht an diesem schönen Ort gewesen waren.

Das Blaulicht, das bei einem der Streifenwagen auf dem Parkplatz noch eingeschaltet war, mahnte den Hauptkommissar zur Eile. Eine Polizistin von der Spurensicherung und ein Polizist der Schutzpolizei standen bei einem der Fahrzeuge und redeten miteinander. Der Polizist fuchtelte wild mit den Armen. Eine weitere Polizistin stand vor einem der anderen Streifenwagen und sprach ruhig mit einer jungen Frau, die in dem Auto saß. Etwas weiter entfernt, am südlichen Ende des Parkplatzes, erblickte Jakob einen grünen VW-Golf. Dort waren Beamte hinter einer zusätzlichen Absperrung zugange, aber Jakob achtete nicht weiter darauf. Er winkte den Kolleginnen und Kollegen, die ihn erkannten und grüßten, flüchtig zu und lief zur malerisch gelegenen spätmittelalterlichen Bruchsteingewölbebrücke, welche die Nister überspannte und den Parkplatz und die angrenzenden Wanderwege mit dem Abteigelände verband. Der altgediente Kriminalist mochte das historische Flair der Brücke und der Abtei. Die aus vier Bögen bestehende Brücke war erst kürzlich aufwendig saniert worden, doch heute hatte Hauptkommissar Lorenz-Schultheiß kein Auge dafür. Als er auf der Brücke ankam, sah er, dass die Leiche etwa einen Meter flussabwärts vor der Brücke in der Nister lag. Der Fluss führte in diesem trockenen Sommer nur wenig Wasser. Dr. Viktoria Krämer kniete neben dem Leichnam. Ihre Füße waren bereits nass, aber es schien ihr nichts auszumachen. »Du kommst spät, Jakob«, rief sie ihm zu. Die Fachärztin für Rechtsmedizin bemühte sich, cool zu wirken, aber Jakob kannte sie schon lange und merkte ihr ihre Anspannung an. Viktoria war eine Frau in den besten Jahren. Sie lebte seit der Trennung von ihrem Mann mit ihrer pubertierenden Tochter in einer kleinen Wohnung in Bad Marienberg. Jakob wusste aus vertraulichen Gesprächen mit ihr, dass sie mit ihrer Figur nicht zufrieden war. Sie war nur einen Meter fünfundsechzig groß und seit einiger Zeit wog sie mindestens fünf Kilo zu viel, was man ihr nach Jakobs Meinung aber kaum ansah.

»Sorry, es ging nicht schneller«, gab Jakob schließlich zu. »Warum musste das auch ausgerechnet heute in aller Herrgottsfrühe passieren? Ich war noch nicht einsatzbereit, als Elena anrief. In meinem Alter braucht es etwas Zeit, bis man mit seinen müden Knochen in die Gänge kommt.«

Viktoria richtete sich kurz auf und versuchte zu lächeln. »Angeber! Für dein Alter hast du dich gut gehalten. Das mit deinen müden Knochen nehme ich dir nicht ab.«

Jakob erwiderte Viktorias Lächeln. »Danke für das Kompliment, Vicky. Aber ich bin längst kein junger Hüpfer mehr. Gut, dass die Polizei mich überwiegend für meine Kopfarbeit bezahlt.« Jakob fragte sich, ob Viktoria wieder einmal seinem Charme erlegen war, obwohl sie doch gerade Wichtigeres zu tun hatte. Ein wenig tat ihm die dunkelhaarige Vierundvierzigjährige leid, weil es ihr einfach nicht gelang, ihren Mister Right zu finden. Jakob arbeitete gerne mit ihr zusammen. Er schätzte nicht nur ihre berufliche Kompetenz, ihre Agilität und ihr freundliches Wesen. Er verehrte sie und flirtete von Zeit zu Zeit mit ihr, was nicht bedeutete, dass mehr daraus werden sollte. Auf sein Aussehen war der Hauptkommissar freilich stolz. Auch, weil Romy es ihm gelegentlich noch bestätigte. Er war schlank und nur wenige Zentimeter größer als seine Frau. Jakob achtete sehr auf sein Äußeres. Seine brünetten Haare waren kurz geschnitten und auf Anregung von Romy ließ er sich seit einigen Tagen einen Bart wachsen. Um die Kinnpartie waren die Barthaare bereits grau, was Jakob bei jedem Blick in den Spiegel daran erinnerte, dass er älter geworden war.

Oberkommissarin Elena Dietrich stand neben Viktoria im Wasser und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Es machte Elena nichts aus, dass auch sie nasse Füße bekam.

Jakob Lorenz-Schultheiß mochte Elena sehr. Sie war eine gute Polizistin, intelligent, engagiert, kompetent und gebildet, und sie arbeitete sehr strukturiert. Außerdem war sie eine gutaussehende Frau, was für ihre Arbeit natürlich völlig unwichtig war, doch Elena stellte ihr gutes Aussehen bewusst gerne zur Schau. Die Polizistin trug ihre fülligen dunkelblonden Haare kurz, ihre hohen Wangenknochen und ihr spitzes Kinn verliehen ihrem Gesicht ein markantes Aussehen. Elena zog gerne enge Stoffhosen, enge Jeans oder hin und wieder auch enge Jeansröcke an, die ihren knackigen Hintern und ihre schlanken Beine besonders betonten. Die Oberkommissarin war sich ihrer Ausstrahlung durchaus bewusst. Wenn Männer sie anstarrten, reagierte sie selten darauf, denn sie fühlte sich zu Frauen hingezogen. Seit ihrem Coming-out ging sie weniger diskret mit ihrer sexuellen Orientierung um, worunter die Beziehung zu ihren Eltern sehr litt. Auch Jakob hatte anfangs nicht verstanden, dass Elena in dieser Beziehung anders war, denn seine Vorstellung weiblicher Sexualität war überholt. Erst Romy hatte ihm in vielen Diskussionen zu einer moderneren Einstellung verholfen. Seitdem war Diversität für Jakob kein Fremdwort mehr, was Elena sehr half, besser mit ihm klarzukommen. Vor achtzehn Monaten war sie auf eigenen Wunsch nach Hachenburg versetzt worden, um etwas Erfahrung in einer anderen Umgebung zu sammeln. Nach einiger Zeit der Eingewöhnung fühlte Elena sich in Hachenburg sehr wohl. Die Cafés und Restaurants in der Stadt boten eine reichhaltige Auswahl an Speisen und Getränken in gemütlicher Atmosphäre an. Die vielen Geschäfte luden zum Bummeln und Einkaufen ein und am Alten Markt, dem Zentrum des spätmittelalterlichen barocken Stadtkerns, konnte man einen Blick auf die aufwendig sanierten Fachwerk- und Giebelhäuser aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, auf die historische Schlosskirche und auf die barocke Franziskanerkirche werfen. Nach einer Stadtführung interessierte sich Elena sehr für die Geschichte der Stadt, die schon im Mittelalter Bedeutung gehabt hatte und ihre Stadtrechte bereits im Jahr 1314 bekommen hatte. Eine Besichtigung des Landschaftsmuseums mit seinem Museumsdorf, in dem man die Geschichte des bäuerlichen Lebens im Westerwald und dessen Kulturgeschichte vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert hautnah nachvollziehen konnte, hatte Elena noch nicht geschafft. Natürlich bot Hachenburg auch viele moderne kulturelle Veranstaltungen für Jung und Alt. Auch in dieser Beziehung hatte Elena Nachholbedarf.

Jakob war froh, Elena an seiner Seite zu haben. Er konnte sich blind auf sie verlassen. Und für Elena war Jakob inzwischen mehr als ein Kollege. Den empathischen Hauptkommissar machte es wütend, wenn Elena als die hübsche Lesbe im Polizeidienst bezeichnet wurde. Inzwischen stand er fest an Elenas Seite. Immer wenn abfällig über Elena gesprochen wurde, fragte er seine intoleranten Kollegen provokativ, ob sie die Vorstellung lesbischer Liebe scharf machen würde. Das genügte meistens, um das respektlose Gerede zu stoppen. Schon deshalb schätzte Elena Jakob sehr. Im Revier genoss er einen guten Ruf, er galt als passionierter Kriminalist mit einer hohen Aufklärungsquote. Nur mit seinen zum Teil pragmatischen und oft unkonventionellen Ermittlungsmethoden war Elena nicht immer einverstanden, denn hin und wieder überschritt Jakob die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unzulässigem – und verleitete dadurch auch Elena es zu tun. Einst war Jakob nur knapp einem Disziplinarverfahren entgangen, aber davon wusste Elena nichts. Privat verstanden sich Elena und Jakob ebenfalls gut. Auch Romy hatte Elena sehr in ihr Herz geschlossen, was auch umgekehrt der Fall war. Elena war eine durchsetzungsfähige, toughe Frau, aber momentan etwas dünnhäutig. Ihre Gefühle spielten Achterbahn, denn sie hatte seit knapp einem Jahr eine mehr oder weniger geheime Affäre mit Katja, einer verheirateten, zwei Jahre älteren Frau, die in Koblenz lebte und als Hubschrauber-Pilotin auf einem Rettungshubschrauber eingesetzt war. Immer wieder versprach sie Elena, sich von ihrem Mann zu trennen, aber noch machte Katja keinerlei Anstrengungen, ihr Versprechen einzulösen. Das ging jetzt schon seit einigen Wochen so. Jakob und Romy hatten längst bemerkt, wie sehr Elena unter ihrer Situation litt. In einem langen Gespräch von Frau zu Frau hatte Romy Elena neulich empfohlen, Katja ultimativ zu einer Entscheidung aufzufordern, aber Elena konnte sich dazu nicht durchringen. Insgeheim hatte sie längst beschlossen, noch eine Weile um ihre Liebe zu kämpfen.

4

Jakob ging vorsichtig vor der Brücke hinunter ans Ufer der Nister und blieb zögernd dort stehen. Viktoria forderte ihn energisch auf, sich die Leiche aus der Nähe anzuschauen. Jakob zögerte, doch ihm war klar, dass er es nicht vermeiden konnte. Also watete er ins Wasser und ging neben Viktoria und der Leiche in die Hocke. Er fluchte kurz, denn jetzt wurden auch seine Füße unangenehm nass. »Na dann mal los, was könnt ihr mir schon berichten?«, fragte er schließlich seine beiden Kolleginnen, während er sich die Leiche betrachtete.

Elena warf einen flüchtigen Blick auf ihren Notizblock. »Der Klassiker«, begann sie. »Eine Joggerin hat ihn heute Morgen gefunden. Es handelt sich um eine männliche Leiche, geschätzt etwa Ende vierzig bis Anfang fünfzig, einen Meter dreiundsiebzig groß, durchschnittlich muskulös.«

»Der Mann hat einen heftigen Schlag von hinten auf seinen Schädel abbekommen. Mit einem schweren, runden Gegenstand. Ich sag mal … mit einem Baseballschläger, damit ihr eine Vorstellung habt, es kann sich aber auch um einen anderen Gegenstand gehandelt haben. Ähnliche Maße, glatt, vermutlich aus Holz. Damit hat man ihm noch die Stirn und das Gesicht zertrümmert. Post mortem, wie mir scheint. Der erste Schlag auf den Hinterkopf war wahrscheinlich tödlich, aber ich mag mich noch nicht festlegen«, ergänzte Viktoria mit Blick zur Leiche und sprach weiter: »Ich muss ihn mir aber noch genauer anschauen. Wenn eine Autopsie angeordnet wird, und davon gehe ich aus, findet sie in Koblenz statt. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass es nicht lange dauert, bis damit angefangen wird.«

»Vicky, wie lange liegt er schon hier?«, wollte Jakob wissen.

»Schwer zu sagen, schon weil die Leiche im Wasser liegt. Wegen des niedrigen Wasserstands ist der Tote nicht vollständig eingetaucht, das macht eine erste Aussage umso schwieriger. Wir müssen den Todeszeitpunkt noch genauer berechnen.«

»Wie ich dich kenne, hast du trotzdem schon eine Idee, Vicky.« Jakob warf Viktoria einen intensiven Blick zu.

»Ja, aber bitte, das ist unverbindlich. Nach meiner groben Schätzung ist der Mann zwischen halb vier und halb sechs heute Morgen getötet worden und kurz danach hat man ihn hier von der Brücke runtergeworfen. Die Leichenstarre ist noch nicht vollständig ausgeprägt.«

»Wir stehen hier nicht am Tatort?«

»So ist es. Auf dem Parkplatz drüben steht ein alter grüner VW-Golf IV mit einem Westerwälder Kennzeichen. Das Auto ist nicht abgeschlossen und der Schlüssel steckt. Die Kolleginnen und Kollegen von der Spurensicherung untersuchen es gerade genauer. Wir nehmen an, dass das Opfer mit diesem Auto hierher zum Parkplatz gekommen ist.« Viktoria konnte nicht weiter cool bleiben.

Ihre Stimme verriet, dass ihr das Aussehen des stark zugerichteten Opfers unter die Haut ging. Viktoria hatte schon grausamer entstellte Opfer gesehen und wie immer bemühte sie sich, ihren Job routiniert und mit Distanz zu erledigen. Meistens gelang ihr das auch, aber heute fiel es ihr schwer. Sie wandte ihren Blick von dem Toten ab und sah Jakob an. »Direkt vor dem VW-Golf wurde Blut gefunden. Viel Blut. In dem Auto selbst wurden aber keine Blutspuren entdeckt. Es deutet somit alles darauf hin, dass der Parkplatz der Tatort ist.«

»Wenn wir geahnt hätten, dass der Mann auf dem Parkplatz getötet wurde, hätten wir unsere Einsatzfahrzeuge woanders abgestellt.

Florence und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Spurensicherung werden trotzdem versuchen, Reifen- und Fußspuren zu finden und zu dokumentieren«, warf Elena ein.

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Identität des Opfers?« Jakob schaute Elena ungeduldig an.

»Bisher nicht. Er trug weder eine Geldbörse noch eine Brieftasche bei sich, auch kein Handy. Nur eine billige Armbanduhr an seinem linken Arm, die sogar noch läuft«, antwortete Elena. »Ich bin gespannt, was die Untersuchung des Autos ergibt.«

»Erste Hinweise zum Tatverlauf?«

Elena wiegte ihren Kopf hin und her. »Noch ein bisschen früh, aber nach meiner Theorie waren es zwei Täter. Jemand hat ihn aus dem Auto gelockt, eine weitere Person hat ihn dann blitzschnell von hinten erschlagen. Dann hat man ihn so fürchterlich zugerichtet und anschließend die Leiche hierhin zur Brücke geschleift …«

»Die Spurensicherung hat Blut und entsprechende Schleifspuren entdeckt. Den Abrieb seiner Schuhe«, fügte Viktoria hinzu.

»Du glaubst, es waren zwei Täter?« Jakob blickte Elena fragend an.

»Ja, davon gehe ich tatsächlich aus. Es braucht viel Kraft, um eine Leiche über das Geländer der Brücke hinüberzuheben.«

»Ich glaube auch, es waren zwei. Mindestens«, meinte Viktoria. »Das Opfer hat die Täter möglicherweise gekannt oder ihnen vertraut. Ich habe am Körper des Toten bisher keine Abwehrspuren entdeckt.«

Der Hauptkommissar zog seine Stirn kraus. »Hm, … dieser Ort muss eine Bedeutung haben. Warum ausgerechnet hier? Was wollte der Mann hier um diese Uhrzeit?«

»Er wollte bestimmt nicht spazieren gehen. Und seine Kleidung weist auch nicht darauf hin, dass er joggen war«, merkte Viktoria mit sarkastischem Unterton an.

»Er wurde aus irgendeinem Grund hierher bestellt. Der oder die Täter mussten gut darauf vorbereitet gewesen sein. Hier lag unter Garantie nicht zufällig ein Baseballschläger herum.« Elena warf einen weiteren Blick auf die Leiche.

»Hm, scheint zu passen«, meinte Jakob leise. »Es war eine geplante Tat. Das sagt mir schon mein Bauch.«

»Übrigens, allem Anschein nach wurde er mit den Füßen zuerst nach unten geworfen«, sagte Viktoria.

»Wie abgebrüht ist das denn?«, fragte Jakob nachdenklich. »Die Täter erschlagen ihn hier an einem viel besuchten Ort, demolieren dann noch sein Gesicht, machen sich die Mühe und schleppen die Leiche hier zur Brücke, werfen sie in den Fluss und gehen das hohe Risiko ein, dabei ertappt zu werden?«

»Na ja, zum Zeitpunkt der Tat war hier bestimmt noch nichts los«, meinte Elena.

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Wir befinden uns hier immerhin in einem beliebten Wandergebiet.«

Elena ließ sich nicht beirren. »Wer geht so früh schon wandern?«

»Was ist mit dem Klosterbetrieb?«, erkundigte sich Jakob.

»Die Laudes beginnt sonntags erst um sieben Uhr in der Abteikirche«, erklärte Viktoria.

»Laudes?«, fragten Elena und Jakob fast gleichzeitig.

Viktoria hob ihren Kopf und sah die beiden an: »Das Morgengebet wird Laudes genannt.«

»Du kennst dich aus?«, fragte Elena.

»Ein bisschen. Meine Mutter hat meine Schwester und mich katholisch erzogen. Manchmal mussten wir sie hierhin zur Messe begleiten. Aber das war okay für mich.«

»Ich wuchs in einem evangelischen Umfeld auf«, schob Jakob ein, »aber Romy ist auch katholisch.«

»Zurück zu unserem Fall«, sagte Elena. »Der Parkplatz ist von Bäumen umgeben und vom Abteigelände aus nicht einsehbar«, erklärte sie und setzte ihre Sonnenbrille auf. »Gut möglich also, dass niemand irgendetwas beobachtet hat, wenn die Täter sich beeilt haben.«

»Aber die Brücke ist vom vorderen Abteigelände aus einsehbar«, stellte Jakob fest. »Ein gefährliches Spiel der Täter. Man hätte sie sehen können. Das konnten sie nicht ausschließen. Die Tat zeugt von einer unglaublichen Kaltblütigkeit der Täter.« Jakobs Gesicht verdüsterte sich. Er ging erneut in die Hocke und schaute sich die Leiche nochmals an. Ohne sich aufzurichten und ohne seinen Blick von der Leiche abzuwenden, fragte er: »Habt ihr schon nach der Tatwaffe suchen lassen?«

»Wir haben mit ein paar Leuten das nähere Gelände hier grob abgesucht und bisher nix gefunden, aber ich habe eine Suchstaffel in Koblenz angefordert«, antwortete Elena.

»Gibt es hier irgendwelche Kameras?«

»Nee, hier gibt’s leider keine Kameras. Nicht auf dem Parkplatz und auch nicht auf dem Abteigelände. Übrigens, … ähm, … hätte ich mehr Druck ausüben sollen, um einen Hubschrauber zur Tätersuche zu bekommen?« Elena befürchtete, einen groben Fehler gemacht zu haben.

Jakob hob beschwichtigend seine rechte Hand und erklärte: »Das zu managen wäre meine Sache oder die unseres Chefs gewesen, aber so ist es auch okay. Solange kein Heli hier herumfliegt, vermeiden wir, dass die halbe Westerwaldbevölkerung von der Sache Wind bekommt, noch bevor wir uns ein Bild über die Lage verschafft haben.«

»Hoffentlich gibt es im Nachhinein keinen Ärger deswegen«, sagte Elena missmutig.

»Vergiss es«, erwiderte Jakob. »Irgendwer ist hinterher immer schlauer. Wird die Suchstaffel Hunde mitbringen?«

»Ja«, bestätigte Elena. »Die Kolleginnen und Kollegen werden nicht nur nach der Tatwaffe suchen, sondern selbstverständlich auch nach verdächtigen Personen Ausschau halten.«

»Ist die Suchstaffel mit einer Drohne ausgerüstet?«

»Das war noch offen, als ich mit dem Einsatzleiter telefoniert habe.

Er konnte noch nicht sagen, ob die Spezialisten mit der Drohne zur Verfügung stehen. Ich habe ihm deine Rufnummer gegeben. Er wird sich mit dir in Verbindung setzen, sobald er mit seinen Leuten hier eintrifft.« Elena riss einen Zettel aus ihrem Notizblock heraus und gab ihn Jakob. »Das sind die Kontaktdaten des Einsatzleiters der Suchstaffel«, sagte sie.

»Okay«, bedankte sich Jakob. »Jetzt brauchen wir nur noch jemanden für die Befragung der Leute, die in der Kirche am Morgengebet teilnehmen …«

Elena fiel Jakob ins Wort: »Darum hab ich mich schon gekümmert.

Mit Müh und Not konnte ich uns heute früh schon Kriminalkommissar Jonas Gerhards aus Willems Team zuteilen lassen.

Kennst du ihn? Er steht bereits am Eingang der Kirche und wartet.

Das Morgengebet ist gleich zu Ende, glaube ich. Jonas wird allen Besuchern auf den Zahn fühlen und sich etwas umsehen. Nebenbei bemerkt, die Buchhandlung und das Brauhausrestaurant sind noch geschlossen.«

Jakob nickte lächelnd. »Danke. Gut gemacht, Elena. Natürlich kenne ich Jonas, den blonden Hünen. Ein guter Polizist. Er soll bitte auch die Aussagen der Mönche und des Abtes aufnehmen.«

»Jonas macht das schon. Ihm entkommt so leicht keiner aus der Kirche.« Elena blieb ernst. Sie grübelte und kam zu dem Schluss, dass ein Hubschraubereinsatz hilfreich gewesen wäre, schon um ein professionelles Vorgehen der Polizei in der Öffentlichkeit zu untermauern. Sie hätte mit harten Argumenten darauf drängen sollen, bei Kriminalrat Grothe-Kuhn, dem Chef des Kommissariats, und auch bei Jakob. Möglicherweise hätte eine der Hubschrauberbesatzungen mit ihrem Heli ihren anderweitigen Einsatz abbrechen und die Suche hier vor Ort unterstützen können, wenn Jakob und Grothe-Kuhn an den richtigen Stellen entsprechendes Gewicht in die Waagschale geworfen hätten. Andererseits, wonach beziehungsweise nach wem hätte die Heli-Besatzung suchen sollen? Noch hatten die Kriminalisten keine Hinweise von irgendwelchen Zeugen, aber der Hubschrauber hätte die Täter aufschrecken und zu Fehlern verleiten können, wenn sie sich noch in der Nähe aufhielten. Der Hauptkommissar sah Elena an. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

Jakob ahnte, was Elena dachte, aber er reagierte nicht darauf. Er blickte in Richtung Parkplatz und bat Elena, ihm zu folgen. »Ehe wir mit Florence reden und uns das Auto des Opfers genauer anschauen, möchte ich noch kurz mit der Joggerin sprechen, die die Leiche gefunden hat. Ist sie noch hier?«

»Selbstverständlich. Die Kollegen haben bereits ihre Personalien aufgenommen und sie befragt. Sie ist immer noch sehr aufgeregt und ruht sich jetzt in einem unserer Einsatzfahrzeuge aus. Eine Kollegin der Schutzpolizei ist bei ihr.«

Viktoria Krämer hielt Jakob am Arm fest: »Wenn ihr jetzt geht, … ich lasse den Toten jetzt wegschaffen. Ist das für euch in Ordnung?«

»Ja, okay. Wenn du fertig bist, alles fotografiert und vermessen ist, weg mit der Leiche. Je weniger Aufmerksamkeit der Fall auf sich zieht, desto besser. Es kann nicht mehr lange dauern, dann wimmelt es hier von Besuchern und Neugierigen.«

»Und dann wird auch die Westerwälder Gerüchteküche bald brodeln«, meinte Viktoria. »Die Leute reden.«

»Keine Besucher und keine Neugierige. Wir sperren das Gelände besser bis auf Weiteres komplett ab. Nicht nur den Parkplatz und den Fundort«, empfahl Elena energisch.

»Jep, das machen wir. Solange Florence und die Suchstaffel zugange sind, will ich hier keine fremden Leute sehen!«, befahl Jakob.

»Okay.« Elena griff zu ihrem neuen Smartphone. Jakob wartete, bis Elena das Telefonat beendet hatte. »Ich habe noch einen kleinen Auftrag«, sagte er anschließend mit Blick zu ihr. »Schick bitte Info-E-Mails an unseren Chef, an die Pressestelle und an die Staatsanwaltschaft. Bring sie auf den aktuellen Stand und schreibe ihnen, wenn sich die Presseleute melden, mögen sie denen bitte nur die absolut notwendigen Informationen geben. Ansonsten sollen sie den Ball möglichst flach halten. Sprachregelung so nach dem Motto: Es wurde eine männliche Leiche bei der Abtei Marienstatt gefunden, Todesursache noch unklar, bla, bla, bla, Staatsanwaltschaft und Kripo haben die Ermittlungen aufgenommen, und so weiter. Du weißt schon.«

Elena nickte, machte sich Notizen und ermahnte Jakob, Schuhüberzieher anzuziehen und mit ihr zum Parkplatz zu gehen, um die Joggerin zu befragen.

»Wir sind gleich weg«, rief Viktoria Jakob nach. »Ich melde mich bei euch, sobald ich die Ergebnisse der Autopsie habe.«

»Danke, Vicky. Gut gemacht, wie immer.«

»Der Fall interessiert mich. Ich möchte wissen, wer ihn getötet hat an diesem heiligen Wallfahrtsort hier.« Viktoria packte ihre Sachen zusammen, winkte ihre Kolleginnen und Kollegen herbei und gab ihnen entsprechende Anweisungen. Jakob blieb stehen und drehte sich zu Viktoria um: »Wir werden schon noch herausfinden, wer hier gegen das fünfte Gebot verstoßen hat und warum.«

»Bist du sicher, dass es das Fünfte ist?« Viktoria schmunzelte. Sie schien ihr Entsetzen überwunden zu haben.

»Ja. Im sechsten Gebot geht es um Ehebruch und das ist längst keine Straftat mehr. Nichtsdestotrotz kann Fremdgehen böse Folgen haben.« Jakob lächelte Viktoria an, doch sie spürte, dass es wieder einer seiner nicht ernst gemeinten Flirtversuche war und tat uninteressiert. Elena unterbrach die beiden: »Schade, dass ich die idyllisch gelegene Abtei auf diese Weise kennenlernen musste.«

»Du warst noch nie hier, Elena?«, wollte Viktoria wissen.

»Nein, ich bin nicht fromm … und als lesbische Frau würde ich ganz bestimmt nicht in die Kirche gehen wollen. Erst recht nicht gemeinsam mit meiner Freundin. Auf böse Blicke und blödes Geschwätz kann ich verzichten.«

»Oh, äh … ja, … natürlich, das verstehe ich sehr gut.« Viktoria nahm sich vor, Elena zukünftig unter die Arme zu greifen, wenn es notwendig würde. Sie mochte die Polizistin.

5

Die Joggerin saß auf dem Beifahrersitz in einem der Streifenwagen bei geöffneter Tür. Elena und Jakob bemerkten schnell, dass es ihr nicht gutging. Ihr Gesicht war kreidebleich und man sah ihr an, dass sie noch unter Schock stand. Jakob schätzte ihr Alter auf etwa Mitte dreißig. Die Kollegin von der Schutzpolizei war immer noch bei ihr und redete beruhigend auf sie ein.

»Ich bin Oberkommissarin Dietrich«, sagte Elena zu ihr und zeigte auf Jakob. »Und das ist Hauptkommissar Lorenz-Schultheiß. Wir möchten uns kurz mit Ihnen unterhalten, danach lassen wir Sie umgehend nach Hause bringen.« Jakob und Elena zeigten ihr ihre Dienstausweise, aber die Joggerin würdigte die Ausweise keines Blicks. Stattdessen schaute sie Elena und Jakob wortlos an, stieg aus dem Auto aus und gab der Polizistin mit einem dankbaren Nicken die Decke zurück, die man ihr gegeben hatte, damit sie ihre vom Joggen verschwitzte Haut und ihre Sportkleidung trocknen konnte. Dann löste sie scheinbar erleichtert ihren Pferdeschwanz, sodass ihre brünetten Haare bis zu ihrer Schulter fielen. Elena betrachtete die Joggerin. Sie trug ein ärmelloses rotes Laufshirt, darunter einen Sport-BH, schwarze Jogging-Shorts und feste Laufschuhe. In Hüfthöhe rechts trug sie eine Bauchtasche. Ihre Arme und Beine waren muskulös. Elena ging davon aus, dass sie mit einer Hochleistungssportlerin redeten.

»Wir wissen, dass Sie schon eine Aussage gemacht haben«, begann Elena erneut, »aber bitte sagen Sie uns, wer Sie sind und wie Sie die Leiche heute Morgen gefunden haben.«

Die Joggerin sprach mit gedämpfter Stimme: »Also gut, mein Name ist Anne Martens. Ich bin dreiunddreißig und wohne drüben in Limbach. Ich mache, … ich trainiere für einen Marathonlauf. Momentan laufe ich morgens sehr früh meine Runde, wenn es noch nicht so heiß ist. Als ich heute Morgen über das Abteigelände in Richtung Parkplatz lief, merkte ich, dass sich die Schnürsenkel meines rechten Schuhs gelöst hatten. Deshalb hielt ich auf der Brücke an, um meine Schuhe zu binden. Dann sah ich ihn da unten liegen. Schrecklich.«

»Was taten Sie anschließend?«

»Mich packte das Grauen. Ich war wie gelähmt und bekam Angst. Aber dann traute ich mich und lief hinter der Brücke am Ufer runter zu dem Mann. Ich fühlte seinen Puls und stellte fest, dass er tot ist. Grauenhaft, wie sein Gesicht aussah. Seine Verletzungen und seine toten blauen Augen werde ich niemals vergessen.« Anne Martens kämpfte gegen ihre Emotionen an.

»Wann fanden Sie die Leiche heute Morgen?«, erkundigte sich der Hauptkommissar.

Die Joggerin zog wortlos ihr Smartphone aus ihrer Bauchtasche heraus. Sie rief die Anrufliste auf und gab das Handy dem Polizisten. Jakob schaute auf das Display: »Okay, Sie haben die Notrufnummer um sechs Uhr dreizehn gewählt.« Er gab der Joggerin ihr Handy zurück. »Wie viel Zeit verging zwischen dem Auffinden der Leiche, bis Sie den Anruf tätigten?«

»Das kann ich nicht mehr genau sagen, warum sollte das wichtig sein?«

»Bitte beantworten Sie einfach nur unsere Fragen«, bat Elena Anne Martens ruhig.

»Vielleicht drei bis fünf Minuten.«

»Wie verhielten Sie sich nach dem Telefonat?«

»Der Polizist am Telefon sagte mir, ich soll einen möglichst sicheren Platz aufsuchen und wieder zur Brücke kommen, sobald die Polizei eintrifft. Er würde mich dann anrufen.«

»Und wo gingen Sie hin?«

»Ich lief zur Kirche, aber so verschwitzt wie ich war und in diesen engen Sportklamotten traute ich mich zuerst nicht in die Kirche hineinzugehen. Ich war mir sowieso nicht sicher, ob schon jemand in der Kirche drin war, dem ich mich hätte anvertrauen können, und alleine mochte ich da nicht reingehen. Ich zögerte, ich überlegte, bekam Angst. Dann dachte ich, die Kirche ist vermutlich der sicherste Platz, also gehst du da jetzt doch rein und hoffst, dass schon jemand da ist, und wenn nicht, musst du irgendwie die Mönche informieren, aber ich beschloss, vorher meinen Mann anzurufen. Ich blieb am Eingangsportal der Kirche stehen, um zu telefonieren, aber mein Mann ging nicht ans Telefon. Diese Schlafmütze. Er hat eben erst zurückgerufen.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben alles richtig gemacht, obwohl Sie unter Schock standen«, beruhigte Elena die Joggerin.

»Meinen Sie?«, entgegnete Anne Martens. »Aber es dauerte dann ja auch nicht lange, bis die Polizei eintraf. Ich kam nicht mehr dazu, in die Kirche zu gehen. Ich sah das Polizeiauto und rannte zurück zur Brücke«, erklärte Anne Martens.

»Als Sie die Leiche fanden, war da sonst noch jemand hier, ist Ihnen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«, fragte Jakob.

»Ich habe niemanden gesehen. Die Ersten, die kamen, waren vermutlich die Leute, die am Morgengebet teilnehmen wollten. Die trudelten aber erst nach dem Eintreffen der Polizei ein. Ihre Kollegen haben die Besucher nicht auf den Parkplatz fahren lassen. Aber an der Zufahrt zum Abteigelände und gegenüber dem Biergarten kann man auch parken. Das wissen Sie sicher.«

»Ja, das ist uns bekannt«, sagte Lorenz-Schultheiß. »Standen dort bereits Autos, als Sie hier entlangliefen?«

»Nein … und ob auf dem anderen Parkplatz Autos standen, da habe ich nicht drauf geachtet.«

Jakob blickte Anne Martens ernst an. »Kannten Sie den Mann?«

»Nein, nie gesehen.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt bin, wenn Sie ärztliche oder psychologische Hilfe benötigen, können wir das gerne organisieren.« Jakob hätte die Joggerin am liebsten in die Arme genommen und getröstet.

Anne Martens holte tief Luft. »Nein, das ist wirklich nicht nötig. Ich bin okay. Der Notarzt hat mir etwas gegeben.«

»Notarzt?«, fragte Jakob. Er schaute sich suchend um.

»Das Rettungsteam ist schon wieder weggefahren. Ein anderer dringender Einsatz«, schob Elena ein.

»Der Arzt wollte mich in ein Krankenhaus bringen lassen, … das … das hab ich abgelehnt. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe, aber … kann ich jetzt heim?«, stammelte die Joggerin mit flehendem Blick.

»Okay, ja, in Ordnung, Frau Martens. Das war’s für den Augenblick.« Jakob winkte einen Polizisten heran. Elena erriet, dass Jakob dem Polizisten den Auftrag geben wollte, Anne Martens nach Hause zu fahren und entschied, das nicht dem Kollegen zu überlassen. Sie nahm Anne Martens beiseite. »Ich fahre Sie besser persönlich nach Hause.« Elenas Worte klangen wie ein Befehl. Dann sah sie Jakob fragend an. Der Hauptkommissar nickte billigend und gleichzeitig überreichte er Anne Martens eine seiner Visitenkarten.

»Wenn es Ihnen besser geht, kommen Sie bitte am Montagvormittag aufs Revier in Hachenburg, wir müssen Ihre Aussage protokollieren und Sie müssen das Protokoll unterschreiben.«

»Kann ich auch am Nachmittag kommen? Ich muss arbeiten.«

»Aber natürlich. Sie können gerne auch nachmittags vorbeikommen«, antwortete Elena für Jakob. »Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Lehrerin. Ich unterrichte Sport und Englisch hier am privaten Gymnasium Marienstatt.

Jetzt in den Ferien arbeite ich nebenbei an den Wochentagen vormittags ein paar Stunden als Bademeisterin.«

»Aber dann hätten Sie sich doch auch im Gymnasium in Sicherheit bringen können«, meinte Elena.

»Das Gymnasium liegt ziemlich versteckt hinter dem Kloster, von hier aus gesehen. Ich war nicht mutig genug, um dorthin zurückzulaufen. Außerdem wäre ich dort wohl alleine gewesen. Ich hatte auch meinen Schlüssel nicht dabei.«

»Ich glaube, ich muss mir das Gelände hier doch noch einmal näher anschauen, nicht nur aus beruflichen Gründen«, merkte Elena an.

Anne Martens seufzte. »Das kann ich Ihnen nur empfehlen. Es ist wunderschön hier. Zu jeder Jahreszeit. Die Abtei ist für viele Besucher ein magischer Ort, wenn nicht gerade so etwas Schreckliches passiert.«

»Hi Jakob, wie geht’s dir?« Florence Fuchs strahlte Jakob an. Sie stand am Kofferraum eines der Autos der Spurensicherung, zog ihre Latexhandschuhe aus und klappte die Kapuze ihres Schutzanzugs nach hinten weg. Jakob umarmte die Kriminaltechnikerin freundschaftlich. »Mir geht’s gut, Flo, danke. Und dir?«

»Na klar geht’s mir gut.« Florence küsste Jakob auf die Wange, dann löste sie sich von ihm. Zwei Strähnen ihrer langen, lockig blonden Haare glitten der Einunddreißigjährigen ins Gesicht, während sie sich in den Kofferraum hinein bückte, in einen Picknickkorb zu einer Thermoskanne griff und einen Pappbecher mit Kaffee füllte.

Jakob warf einen sehnsüchtigen Blick auf Florence und den Pappbecher, den sie in ihrer linken Hand hielt.

»Kapiert«, sagte Florence grinsend. »Wenn du mich so anschaust, brauchst du dringend einen Kaffee, bevor ich dir berichte, was wir gefunden haben.«

»Du bist ein Schatz«, meinte Jakob. »Das Angebot lehne ich nicht ab.

Eine kurze Kaffeepause würde mir jetzt guttun.«

Florence stellte ihren Becher behutsam im Kofferraum ab und griff in den Picknickkorb. »Halte mal«, sagte sie und drückte Jakob einen leeren Pappbecher in die Hand, den sie anschließend mit einem Schuss Zucker aus einem Zuckerbeutelchen und anschließend mit Kaffee füllte. Sie wusste, wie Jakob seinen Kaffee am liebsten mochte.

»Trink langsam«, empfahl sie ihm. »Der ist sehr heiß.«

Jakob hielt den Becher unter seine Nase und genoss den Duft des Kaffees. Vorsichtig trank er einen Schluck. »Klasse«, sagte er anerkennend.

»So muss ein Kaffee sein. Damit kannst du Tote aufwecken.«

»Hm, darüber macht man lieber keine Witze. Nicht an einem Tatort«, meinte Florence mit ernster Miene.

»Entschuldigung, du hast recht.« Verlegen blickte Jakob Florence an.

»Verschafft dir dein Job noch Befriedigung, Flo?«, erkundigte er sich.

Florence setzte ihr charmantes Lächeln auf. »Ja, schon, … allerdings wirst du bald für eine Weile auf meine Dienste verzichten müssen.«

»Aha, du bist schwanger«, stellte Jakob augenzwinkernd fest.

»Du weißt das schon?«, fragte Florence verblüfft.

Jakob grinste. »Es war nicht schwer zu erraten.«

»Ja, es stimmt. Ich bin im dritten Monat.«

»Darf ich fragen, wer der Vater ist?« Jakob schien besorgt. Er wusste, dass Florence ihr bisher unabhängiges Leben sehr mochte.

»Du bist ein guter Ermittler«, meinte Florence. Sie lächelte noch immer. »Finde es heraus.«

»Entschuldigung, ich war mal wieder zu neugierig. Hauptsache, du fühlst dich wohl und du kommst mit der neuen Situation klar.

Wenn Romy und ich etwas für dich tun können, lass es uns wissen.«

»Das ist lieb, Jakob. Darauf komm ich sehr gerne zurück.«

»Wirst du dein Motorrad verkaufen?«

»Das habe ich noch nicht entschieden.«

Florence und Jakob kannten sich schon lange. Die Kriminaltechnikerin gehörte organisatorisch nicht zum Kommissariat KK 42 in Hachenburg, sondern zu einer Dienststelle in Koblenz, die sich mit allen Aufgaben der modernen Forensik befasste. Jakob und sein Team forderten Florence oft und gerne an. Sie war eine anmutige Frau und eine umgängliche Persönlichkeit, äußerst kompetent und erfahren – und sie wohnte in der Nähe.

»Seid ihr hier fertig?«, fragte Jakob.