Mittsommersterne - Madita Tietgen - E-Book
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Madita Tietgen

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Beschreibung

Glück bedeutet, den Blick in die Sterne mit anderen zu teilen. Enttäuschung und Wut. Das ist alles, was Stina bei dem Gedanken an ihre einstige Jugendliebe Andrik empfindet. Als dieser plötzlich in der Vorweihnachtszeit an ihrem Arbeitsplatz, dem Vasa Museum in Stockholm, auftaucht, droht Stinas sorgfältig aufgebaute Ordnung aus dem Ruder zu laufen. Nicht umsonst ist sie mit ihrem Bruder von ihrer Heimatinsel Gotland in die Großstadt geflohen. Zu dumm, dass Andriks Hartnäckigkeit ihr kaum eine Wahl lässt und sie in den Wochen vor Weihnachten mit ihm zusammenarbeiten muss.Was darauf folgt, sind die Auseinandersetzung mit schmerzhaften Erinnerungen und die Frage, was ein Leben wirklich lebenswert macht. Doch damit nicht genug. Denn während Stina erkennt, dass ihr Herz immer noch für Andrik schlägt, gilt es herauszufinden, welche Absichten dieser Mann tatsächlich mit seinem unerwarteten Auftauchen verfolgt.Ob Weihnachten unter diesen Umständen noch zum Fest der Liebe werden kann? Nach dem sommerlichen Auftakt der Reihe »Schweden im Herzen« entführt Bestsellerautorin Madita Tietgen ihre Leser:innen nun ins weihnachtlich verschneite Stockholm. Alle Romane sind in sich geschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 524

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Madita Tietgen

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

________________________

Texte: Madita Tietgen

Cover / eBook: Grit Bomhauer

mit verwendeten Lizenzen von

© Depositphotos – vlue | zephyr18 | makieni777 | Nadianb | mikdam | Barmaleeva

Korrektorat: Redaktionsbüro

Korrektorat: Redaktionsbüro Feldbaum

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Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erstveröffentlichung: 29. September 2023

________________________

ISBN: 9783757940805

Anmerkung der Autorin

 

Die Geschichte von Stina und Andrik findet an zahlreichen realen Orten in der schwedischen Hauptstadt statt. So gibt es die angesprochenen Weihnachtsmärkte, U-Bahn-Stationen, das Freilichtmuseum Skansen und das bekannte Vasa Museumwirklich.

Es gilt jedoch zu beachten, dass aufgrund der künstlerischen Freiheit ein paar Anpassungen vorgenommen wurden. Ob wirklich alles so im Vasa Museum stattfinden könnte, wie es »Mittsommersterne« erzählt? Vermutlich nicht ganz. Aber das ist ja das Schöne an fiktiven Romanen, nicht wahr?

 

 

 

 

 

 

Für Regina

 

Weil manchmal Menschen unseren Weg kreuzen, denen womöglich gar nicht bewusst ist, wie sehr sie unser Leben sowie unseren Charakter prägen und zu unseren Vorbildern werden

 

Erinnerungen. Sie waren wie Unwetter. Sie überfielen einen plötzlich, manchmal ohne Vorwarnung und mit voller Wucht. Sie konnten nur wenige Minuten andauern oder gar mehrere Stunden. Waren sie endlich vorüber, zog entweder die Sonne wieder am blauen Himmel auf oder die dunklen Wolken hinterließen einen dumpfen Nebel am Boden. So fühlte es sich zumindest für Stina an. Ihre Erinnerungen glichen einem Gewitter, das sie jedes Mal wieder mit grellen Blitzen und Donnergrollen überrollte und sie schließlich voller Schmerz zurückließ.

Glücklicherweise hörte sie an diesem zweiten Adventssonntag alles andere als das. Im Gegenteil. Der Klang einer Reihe feiner Glöckchen ertönte in ihren kalten Ohren und irgendwo ließ jemand Last Christmas auf Endlosschleife laufen.

»Iss nicht alle Mandeln auf! Ich will auch noch welche!« Die Stimme ihres älteren Bruders drang zu ihr durch.

Lächelnd blickte Stina auf und versuchte, die weiße Tüte mit roten Herzen außer Reichweite zu bringen. Es gelang ihr nur mäßig, denn Thore war eineinhalb Köpfe größer als sie, dabei war er nur ein knappes Jahr älter. »Hey, du hast doch schon die halbe Portion allein verdrückt! Nicht so gierig!« Stina lachte und freute sich über das Funkeln, das ihr Konter in Thores Augen auslöste.

»Habt ihr eigentlich schon alle Weihnachtsgeschenke?«, fragte Alva, eine von Stinas besten Freundinnen. Diese bemühte sich, den Fokus wieder auf die wirklich wichtigen Dinge des Tages zu lenken. Unter Alvas roter Mütze blitzten freche blonde Locken hervor und in Kombination mit dem ebenfalls farbenprächtigen breiten Schal und einem weißen Mantel wirkte sie ein bisschen wie die Ehefrau des Weihnachtsmannes höchstpersönlich. Ihre immer gute Laune hob den zauberhaften Eindruck noch mehr hervor.

Siljan neben ihr schaute sie tadelnd an, doch schnell legte sich ein Grinsen auf das Gesicht ihres Verlobten. »Wir haben gerade mal den 6. Dezember. Es ist noch ewig viel Zeit bis Weihnachten.« Er griff in Stinas Mandeltüte und bediente sich.

Alva schüttelte energisch den Kopf und hob den Zeigefinger, der ebenfalls in einem roten Handschuh steckte. »Papperlapapp. Die kommenden Wochen sind ruck, zuck um, und dann steht ihr am Weihnachtstag da und stresst euch unnötig.« Sie wandte sich an Malin, die Fünfte im Bunde – eine weitere gute Freundin von Stina. Die drei Frauen glichen einer eingeschworenen Clique, die nichts und niemand trennen konnte. »Also, wie schaut’s aus?«

Malin war etwas kleiner als Stina und Alva und trug ihre langen braunen Haare in einem sorgfältig eingedrehten Dutt auf dem Kopf. Ein kobaltblauer Loopschal sowie eine gut gefütterte schwarze Winterjacke schützten sie vor den eisigen Temperaturen, die heute in Stockholm herrschten. Sie waren an diesem Sonntag in der Altstadt, der Gamla Stan, unterwegs und schlenderten gemeinsam über den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt auf dem Stortorget. Nur wenige Querstraßen entfernt befand sich Ekströms Bokhandel. Die historisch-moderne Buchhandlung hatte Stinas Freundin Alva vor gut eineinhalb Jahren von ihrem Großvater übernommen, kurz bevor dieser an einem Herzleiden verstorben war.

Ein kleiner Stich durchfuhr Stina bei dem Gedanken an ihren alten Freund, der nicht länger unter ihnen weilte. Doch sofort verbot sie sich auch nur einen Schimmer Traurigkeit, denn Johan Ekström war einer der fröhlichsten und positivsten Menschen gewesen, die sie je in ihrem Leben getroffen hatte. Um mich zu weinen, würde mein Denkmal schmälern, hatte er vor seinem Tod zu sagen gepflegt. Also dachte Stina lieber mit einem Lächeln an den urigen Mann und dankte ihm dafür, dass er eine so wundervolle Enkelin wie Alva großgezogen hatte.

Gemeinsam mit der fantastischen Malin betrieb diese nun das altehrwürdige Traditionsgeschäft in der fünften Generation. Der Anfang hatte sich wahrlich schwierig gestaltet. Doch Alva hatte es mit ihrem sonnigen Gemüt und einer großen Portion Mut und einem noch größeren Herzen geschafft, die Dinge wieder ins Lot zu rücken. Heute gehörte Ekströms Bokhandel zu den angesagtesten Literaturtreffpunkten der Stadt.

Stinas Blick fiel auf den hochgewachsenen Siljan, während Malin ihre Liste an Besorgungen vor ihnen erörterte.

Siljan Dahlberg. Er war ein zurückhaltender, wenngleich gut aussehender Mann und nebenbei einer der erfolgreichsten Thrillerautoren Schwedens. Er war ausgerechnet in jenem Moment in Alvas Leben aufgetaucht, als diese ihren geliebten Großvater verabschieden musste. Die beiden, Alva und Siljan, hatten in der Tat keinen leichten Weg hinter sich. Stina fand ihn immer noch hoffnungslos romantisch, allerdings wäre es wesentlich einfacher vonstattengegangen, wenn beide einfach von Beginn an alle Tatsachen auf den Tisch gelegt hätten. Allen voran Siljan. Aber Stina konnte ihm seine Geheimnistuerei kaum übel nehmen. Seine Vergangenheit hatte ihn in seinem Tun zunächst behindert.

So oder so lautete das Ende vom Lied, dass Siljan Alva dieses Jahr an Mittsommer einen Heiratsantrag gemacht hatte. Natürlich hatte sie ihn angenommen. Wie hätte sie das auch nicht tun können? Diese beiden herzensguten Menschen waren füreinander bestimmt. Und Stina war unendlich dankbar, dass die zwei ebenso wie Malin Teil ihres Lebens waren.

»… und dann muss ich mir noch irgendetwas für meinen Vater überlegen. Das ist immer die größte Herausforderung an Weihnachten«, beendete Malin ihre Erzählung und seufzte.

Auf einmal schaltete sich Stinas Bruder Thore in das Gespräch ein. »Müssen wir Papa auch etwas schenken?« Er schaute Stina fragend an, und ihre gute Laune wurde für eine Sekunde getrübt. Doch sie intervenierte sofort und ließ dieses mentale schwarze Loch gar nicht erst entstehen. Sie setzte ein warmes Lächeln auf und legte ihrem Bruder die Hand auf den Unterarm.

»Ich weiß gar nicht, ob Papa dieses Jahr wirklich Weihnachten feiert.«

»Also brauchen wir kein Geschenk für ihn?«

»Möchtest du ihm denn etwas schenken?«

Thore überlegte eine ganze Weile. Dann hielt er seinen Kopf schief, zupfte sich seine Mütze zurecht und meinte: »Hm … Vielleicht reicht ja auch eine hübsche Karte mit einem Foto von uns.«

Stina nickte erleichtert. Gerade noch mal die Kurve bekommen. »Das ist eine sehr gute Idee. Das machen wir.« So wie ungefähr die letzten zehn Jahre auch. Sie würde sich wie immer darum kümmern und die Karte schreiben. Thore würde seine Unterschrift daruntersetzen, und damit hätte sich das Thema hoffentlich erledigt.

Siljan lenkte Thore dankenswerterweise mit der Frage nach seinem Lieblingssport, dem Tischtennis, ab und übernahm mit ihm die Führung der kleinen Gruppe durch die überlaufenen Gassen des Weihnachtsmarktes.

Stina ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Der Stortorget wurde umrahmt von schmalen Häusern, die allesamt unterschiedlicher Bauart waren. Jedes wirkte ein wenig windschief. Doch während das eine Gebäude aus vier Stockwerken bestand, gab es im Haus nebenan trotz gleicher Gesamthöhe nur drei Etagen. Die Außenwände waren in warmen Gelb-, Orange- und Rottönen getüncht und zauberten mit den goldenen Lichtern in und vor den Fenstern eine besonders weihnachtliche Stimmung. Die herabfallenden Schneeflocken taten ihr Übriges, um nicht nur Stina und ihre Freunde, sondern alle Besucher des Stortorgets in perfekte Weihnachtsstimmung zu versetzen.

Mehrere Reihen niedlicher Holzbuden boten die unterschiedlichsten Waren an. Von Pullovern und Hausschuhen aus Schafwolle über handgefertigte Töpferwaren bis hin zu aufwendig bemalter Glaskunst fand man auf diesem Markt einfach alles, was annähernd in Richtung Mittelalter tendierte. Zusätzlich zog ein süßer Duft von Apfelzimt, Waffeln und Glögg über den Platz. Die schwedische Version des Glühweins wurde traditionell mit gehackten Mandeln und einer Handvoll Rosinen serviert und war einfach zu lecker, um ihn sich entgehen zu lassen. Neben all dem Süßen warteten auch genügend deftige Leckereien auf die Besucher. Kein Wunder, dass der Markt bei Stockholmern wie Touristen äußerst beliebt war. Dementsprechend voll ging es heute zu.

Während Stina ein Auge auf ihren älteren Bruder warf, der mit Siljan ein Stück vor ihnen spazierte, hörte sie Alvas Stimme neben sich.

»Wann habt ihr eure Eltern das letzte Mal gesehen?«

Den Blick weiter auf Thore geheftet, dachte Stina nach. Schließlich erwiderte sie zögernd: »Mama war Anfang November hier. Einmal im Quartal zwingt sie sich zu einem Besuch bei Thore.« Stina zuckte mit den Schultern. »Mit Papa hatten wir uns im Sommer für ein Wochenende unten in Västervik verabredet. Er hasst das Festland, hat sich aber trotzdem dazu aufgerafft. Es war mehr oder weniger … nett.«

Malin wechselte auf Stinas andere Seite, sodass sie von ihren beiden Freundinnen eingerahmt wurde. Vorsichtig hakte Malin nach: »Es wird immer noch nicht besser, oder?«

Stina überging den Schmerz, der sich in ihrem Herzen hervormogeln wollte, und wies ihn direkt wieder in die Schranken. Betont gelassen meinte sie: »Nein, aber dafür ist es auch längst zu spät. Sie haben ausreichend Zeit gehabt, um sich eine Strategie zu überlegen. Sie haben sich beide eher fürs Wegsehen entschieden. Ich habe das akzeptiert. Und Thore auch. Glaube ich.«

Alva legte einen Arm um Stina und drückte sie während des Laufens liebevoll an sich. »Gut, dass ihr uns habt. Wir sind jetzt eure Familie. Du weißt, dass wir Weihnachten fest mit euch rechnen?«

Stina lächelte und sah hinüber zu ihrer Freundin. »Danke.«

»Nichts zu danken! Weihnachten gehören wir einfach zusammen. Da gibt es keine Widerrede.«

Malin grinste. »Alva will nur möglichst viele Geschenke unter dem Tannenbaum stehen haben, um ein schönes Foto zu knipsen.«

Alva lachte. »Von wegen!«

»Dann dürfen wir auch ohne Geschenke kommen?«, fragte Stina provozierend und schmunzelnd zugleich.

Alva hob verschwörerisch die Hände. »Weihnachten ist ein Fest der Liebe, nicht der Geschenke. Aber so ein bisschen Freude unterm Baum ist natürlich nie verkehrt.«

Stina lehnte sich zu Malin rüber. »Ich bitte Siljan einfach um eine signierte Ausgabe seines letzten Thrillers und packe den für Alva ein. Das zählt doch bestimmt auch, oder?«

Die drei Frauen lachten herzlich und Stina war froh, dass die traurigen Gedanken sie diesmal nicht allzu kalt erwischt hatten. Weihnachten könnte sein wie jede andere Jahreszeit auch. Doch die Marketingabteilungen sämtlicher Unternehmen hatten es erfolgreich geschafft, einem einzureden, dass Weihnachten ein absolutes Familienfest sei und man bitte unfassbar viel Liebe und Freude miteinander teilen müsse. Das mochte schön sein, wenn man sie besaß … eine Familie. Wer aber Schwierigkeiten mit eben jener Sache hatte, dem war Weihnachten eher eine Last. Denn man wurde nur ständig daran erinnert, was einem im Leben fehlte.

Umso dankbarer war Stina, dass sie und Thore bei Alva einen Ort gefunden hatten, um Weihnachten zu feiern. Sie liefen an einem Stand mit Holzschnitzereien vorbei und als Stina einen detailgetreuen Nachbau der alten Vasa entdeckte, musste sie daran denken, wie Alva überhaupt in ihr Leben getreten war.

Ihr Großvater, Johan Ekström, hatte die Geschichten rund um das gesunkene Segelschiff geliebt, das nach mehr als dreihundert Jahren aus der Stockholmer Bucht geborgen worden war. Es war fast vollständig erhalten geblieben, und so hatte man es aufwendig konserviert und der Vasa ein ganzes Museum gewidmet. Stina arbeitete als Seefahrt-Historikerin in ebenjenem Vasa Museum in Stockholm.

Alva hatte ihrem Großvater anlässlich seiner Leidenschaft für dieses Stück Maritimgeschichte mal eine private Führung durch die heiligen Hallen zum Geburtstag geschenkt. Stina war diejenige, die den beiden all die spannenden Fakten erläutern durfte. Schnell merkten die drei, dass sie viele Gemeinsamkeiten teilten, und Johan lud Stina am Ende ein, doch mal in seiner Buchhandlung Ekströms Bokhandel vorbeizuschauen. Wenige Tage nach der Führung nahm Stina das Angebot an, und aus diesem ersten Treffen entwickelte sich eine herzlich enge Freundschaft. Sowohl zu dem alten Mann als auch zu seiner Enkelin. Über Alva hatte Stina schließlich auch den Kontakt zu Malin geknüpft und nach regelmäßigen gemeinsamen Unternehmungen hatte sie in den beiden fast gleichaltrigen Frauen ihre besten Freundinnen gesehen, von denen sie nicht gedacht hätte, sie eines Tages in Stockholm zu finden.

Gewiss, sie hatte Freunde und Bekannte aus der Studienzeit und auch ein paar nette Arbeitskollegen, aber niemanden davon würde Stina als beste Freundin bezeichnen.

Eine leichte Windböe zog durch die schmalen Gassen der Stockholmer Altstadt und wirbelte die zarten Flocken in der Luft durcheinander. Der Duft von Mandeln, Magenbrot und Pfefferkuchen wehte ihnen noch deutlicher entgegen, und just in diesem Augenblick drehte Thore sich um und lief fröhlich lachend auf seine Schwester zu. Er suchte sich flink seinen Weg durch die Menschenmenge zwischen ihnen, überwand die letzten Meter und warf sich ihr in die Arme.

»Fröhliche Weihnachten!«

Lachend erwiderte Stina seine Umarmung: »Aber es ist doch noch gar nicht Weihnachten. Das dauert noch zweieinhalb Wochen.«

Thore zog sich zurück und blitzte sie mit den gleichen blauen Augen an, wie Stina selbst sie besaß. »Das ist doch egal! Es riecht nach Weihnachten. Also ist auch Weihnachten.«

Schmunzelnd nickte Stina und stimmte ihm schweigend zu. Sie könnte ihm wohl nie etwas abschlagen. Dafür liebte sie ihn viel zu sehr. Er war nicht wie andere Brüder. Er war … anders. Aber das war Stina egal. Sie würde ihn niemals im Stich lassen. Nicht so wie ihre geschiedenen Eltern.

Siljan stieß ebenfalls wieder zu ihnen und blickte fragend in die Runde. »Wie schaut’s aus? Gönnen wir uns noch eine warme Waffel mit Puderzucker?«

»Au ja! Was für eine Frage!« Thore betrachtete Siljan kopfschüttelnd und mit einem Hauch Unverständnis auf dem Gesicht.

Alva unterstützte Stinas Bruder tatkräftig und versuchte, ihren Verlobten dennoch ein wenig in Schutz zu nehmen. »In manchen Dingen muss Siljan noch lernen, wann sich eine Frage wirklich lohnt, Thore. Nimm es ihm nicht übel. Er ist schon viel besser geworden in seinem Sozialverhalten. Aber wir arbeiten weiterhin daran. Diese lange Zeit der Einsamkeit hat ihn ein wenig verschroben gemacht.«

Thore und die drei Frauen lachten, während Siljan grinsend die Schultern hob. »Keine Ahnung, was du meinst.«

Nachdem sich die ganze Gruppe am nächstbesten Waffelstand eingedeckt und die Köstlichkeiten verspeist hatte, schaute Stina unauffällig auf ihr Smartphone. Der frühe Abend neigte sich bereits über die Altstadt. Sie legte einen Arm um die schmalen Hüften ihres älteren Bruders.

»Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.«

»Jetzt schon?«

Stina nickte. »Zumindest wenn du pünktlich zum Abendessen im Livsmot sein willst.«

Thore dachte nach. Dann hob er die linke Augenbraue in die Höhe. »Heute gibt es Spaghetti Bolognese. Ich will zum Abendessen zu Hause sein. Ja. Unbedingt!«

»Weise Entscheidung«, stimmte auch Alva zu und drückte den bald Vierunddreißigjährigen liebevoll an sich. »Schön, dass du mitgekommen bist. Wann besuchst du uns mal wieder im Laden?«

»Bald. Ich brauche Lesenachschub!«

Stina und Thore verabschiedeten sich von allen und brachen schließlich Richtung Gamla Stan, der gleichnamigen U-Bahnstation der Altstadtinsel, auf. Gemütlich schlenderten sie durch die verwinkelten Gassen und Stina beobachtete die zahlreichen weihnachtlichen Dekorationen an den Geschäften und den darüberliegenden Wohnungen. Stockholm war zur Adventszeit ein magischer Ort, nicht nur, weil es schon früh am Nachmittag dunkel wurde. Über der gesamten Altstadt schwebte dieser goldene und zugleich winterlich kalte Schimmer.

Gleichzeitig sorgten die vielen Lichterketten und die typischen runden Holzbögen mit elektrischen Kerzen in den Fenstern für einen warmen Schein. Bunte Weihnachtskugeln, Tannenkränze und Böcke aus gebundenem Stroh zierten die Hauseingänge. Die zahlreichen kleinen Geschäfte, Cafés und Restaurants ließen sich nicht lumpen und stimmten auf das kommende Fest ein.

Sie liefen die Kåkbrinken entlang, kamen am Postmuseum vorbei und betraten schon bald das U-Bahngebäude. Als sie sich dem Gleis der entsprechenden Bahn näherten, meinte Thore auf einmal: »Wann machen wir eigentlich diese Tour durch die Tunnel? Du hast versprochen, wir gucken sie uns noch dieses Jahr an.«

Stina zog ihre Stirn in Falten und überlegte. Thore hatte recht. Dazu musste man wissen, dass Stockholm nicht nur die einzige U-Bahn des Landes besaß, sondern diese mit ihren Bahnhöfen zu der größten Kunstgalerie der Welt zählte. Die sogenannte Längste Galerie der Welt vereinnahmte um die neunzig der einhundert Stationen. Seit Mitte der Fünfzigerjahre waren diese kontinuierlich mit Skulpturen, Mosaiken, Schaukästen und Fresken künstlerisch gestaltet worden. Damit war die Tunnelbana, wie die Stockholmer U-Bahn hieß, nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern auch ein kulturelles Highlight.

Wie es für Kunstgalerien üblich war, gab es auch hier offiziell geführte Touren. Stina hatte Thore zu seinem letzten Geburtstag vergangenen Februar eine ebensolche geschenkt. Sie sollten sie endlich in Angriff nehmen. Gerade wenn es im Winter jetzt so früh dunkel wurde, war das ein tolles Ausflugsziel.

Stina hakte sich auf der linken Seite ihres Bruders ein und strahlte ihn an. »Wie wäre es mit nächstem Wochenende?«

Thore war begeistert. »Perfekt!« Dann hielt er einen kurzen Moment inne. »Aber nicht Samstag. Da gehen wir mit Livsmot doch schon Schlittschuhlaufen.«

»Dann gucke ich mal, ob es für Sonntag noch Tickets gibt. Einverstanden?«

Ihr Bruder nickte. »Gern.«

Im nächsten Augenblick fuhr auch schon ihr Zug in den Bahnhof und sie stiegen ein. Thore leitete sie zu zwei freien Sitzplätzen und ließ sich am Fenster nieder. Stina nahm gegenüber von ihm Platz und musterte ihn unauffällig voller Liebe.

Thore würde bald schon vierunddreißig Jahre alt werden. Doch das Schicksal hatte ihm den Verstand eines Vierzehnjährigen beschert und ihn zu einem aufgeweckten Jugendlichen gemacht. Früher hatte es außer Frage gestanden, dass er sich eines Tages eine bedeutende Karriere aufbauen würde. Ganz gleich, für welche Berufsrichtung er sich entschieden hätte. Doch mit sechzehn Jahren war ihm und diesem Leben etwas dazwischengekommen.

Stina schüttelte kaum merklich den Kopf und verdrängte die Erinnerung, die sich über ihr wie eines dieser spontanen Gewitter zusammenbraute. Sie würde jetzt nicht an jene verhängnisvolle Mittsommernacht denken.

»Ich hab dich lieb, Thore«, meinte sie stattdessen leise und kämpfte vehement gegen die dunklen Wolken an.

Während Thore aus dem Fenster hinaussah, sagte er zufrieden: »Ich dich auch.«

 

Die neue Woche startete äußerst schlecht für Andrik. Gleich das erste Meeting mit seinem Geschäftspartner montagfrüh war gespickt von schlechten Nachrichten. Entnervt schob er seine Kaffeetasse auf dem langen schwarzen Tisch von sich und zog die Stirn in Falten. Grübelnd schaute er auf sein aufgeklapptes Notebook. Dann hob er den Blick.

»Der Vertrag war so gut wie unterschrieben. Wieso hat er es sich auf einmal anders überlegt?« Man hörte den Frust eindeutig aus Andriks Tonfall heraus.

Aber Linus, sein langjähriger Freund und Geschäftspartner, ließ sich davon nicht beirren. »Es gibt Gerüchte, dass er unsere Konkurrenz beauftragen will. Sie drücken wie immer die Preise.«

»Ja, und dementsprechend schlecht ist die Qualität ihrer Leistungen. Die denken viel zu kurzfristig!« Polternd schob Andrik seinen Stuhl zurück und fing an, in dem modernen Meetingraum hin und her zu laufen. Nach einer Weile blieb er an einem der Fenster stehen und starrte über die verschneiten Dächer Stockholms.

Vor etwas mehr als sechs Jahren hatten er und sein Studienfreund Linus gemeinsam das Unternehmen Tillsammans gegründet. Der Name war für Andriks Geschmack ein wenig zu allgemein, aber Linus hatte ihn wochenlang bearbeitet. Er war überzeugt, der Firmentitel strahle genau das aus, was sie mit ihrer Arbeit vermitteln wollten. Nämlich, dass man gemeinsam, auf Schwedisch tillsammans, immer eine Lösung findet. Da Andrik selbst nichts Besseres eingefallen war, war es schließlich dabei geblieben.

Nachdenklich drehte Andrik sich jetzt zu seinem Partner um. »Wir brauchen etwas, um Sundgren zu überzeugen. Unsere Zahlen sprechen für sich. Er braucht keine weitere PowerPoint-Präsentation. Karl Sundgren ist von der alten Schule. Aber eine Flasche Wein und eine Schachtel teurer Zigarren wird hier mit Sicherheit nicht reichen. Wir brauchen etwas Großes. Etwas Besonderes.«

Ratlos fuhr Linus sich durch seinen hellblonden Schopf. Er glich im wahrsten Sinne des Wortes einem Schweden, wie man ihn sich vorstellte. Weißblonde verstrubbelte Haare, tiefblaue Terence-Hill-Augen und eine gesunde Bräune, die er noch vom Sommer beibehalten hatte. Er trug immerzu Hemden mit seltsamen Motiven darauf. Heute zierten beispielsweise kleine Kakteen mit roten Hüten den rosafarbenen Stoff. Dazu steckte der lange Körper seines Freundes in weißen Hosen und senffarbenen Winterboots. Modisch gesehen lief er Andrik deutlich den Rang ab.

Er selbst war das Gegenteil. Er griff lieber auf die guten alten einfarbigen Hemden zurück, dazu passend dunkle Hosen. Seine braunen Haare besaßen einen ordentlichen Schnitt. Nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz. Eben pflegeleicht, praktisch und seinen strengen Gesichtszügen schmeichelnd. Am Handgelenk trug er eine edle Herrenuhr. Ein Geschenk seiner Eltern zur Unternehmensgründung.

Linus hob sein linkes Bein und legte es quer über sein rechtes Knie, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und Andrik fragend musterte. »Und was soll das sein?«

Immer noch nachdenklich schob Andrik seine Hände in die Hosentaschen und blickte erneut hinaus über die Stadt. Sundgren AB zählte zu einem der bedeutendsten und größten Unternehmen Schwedens. Das Imperium, das Karl Sundgren über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte, ging weit über die ursprüngliche Logistikflotte hinaus. Inzwischen gab es kaum mehr ein schwedisches Produkt oder eine Dienstleistung, die nicht in irgendeiner Weise mit Sundgren AB verknüpft waren. Die Firma war milliardenschwer und auf der Suche nach gutem Personal. Denn wie in so vielen Wirtschaftszweigen waren fachkundige Mitarbeiter nicht nur Mangelware geworden, sie waren schlichtweg kaum mehr zu halten. Zu viele Unternehmen buhlten um die verfügbaren Arbeitskräfte.

Andrik und Linus hatten das Potenzial erkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, Firmen dabei zu helfen, die richtigen Anreize für ihre Mitarbeitenden zu finden. Seien es neue oder bestehende. Arbeit war heute weit mehr als ein bloßer Job. In vielen Bereichen ging es darum, den Menschen die Möglichkeit zu bieten, Arbeit und Privates flexibler und einfacher miteinander zu vereinbaren. Dabei kam es aber immer wieder auf die einzelnen Umstände an. Was bei einem Unternehmen funktionierte, konnte beim nächsten nach hinten losgehen. Deshalb war es so wichtig, dass man mit Herz und Verstand ein individuelles Konzept erarbeitete.

Tillsammans war genau zum richtigen Zeitpunkt gegründet worden. Schnell hatten Andrik und Linus sich beweisen können und innerhalb der letzten sechs Jahre war ihre Belegschaft um rund dreißig Leute gewachsen, Tendenz steigend. Vor einigen Monaten hatte sich schließlich Sundgren AB an die Unternehmensberatung der beiden gewandt. Nach langatmigen Verhandlungen war man sich endlich einig geworden. Doch wenige Tage, bevor der Vertrag unterschrieben werden sollte, schien der alte, störrische Sundgren nun einen Rückzieher zu machen. Wegen ein paar Schwedischer Kronen weniger? Andrik hätte gern irgendetwas frustriert durch die Gegend geworfen, aber er riss sich zusammen. Stattdessen suchte er nach einer Lösung. So wie immer.

Andrik war stets der Typ, der sich nicht lange mit Beschwerden aufhielt, sondern sich um die Beseitigung der Ursache kümmerte. Er hatte bisher noch immer einen Weg gefunden, um an sein Ziel zu gelangen. Auf gute Art und Weise. Nie würde er dafür über Leichen gehen. Er war der Meinung, dass es am Ende immer eine Lösung gab, bei der alle Beteiligten als Gewinner vom Platz gingen. War auch nur eine Partei unzufrieden, hatte Andrik seinen Job nicht ordentlich genug gemacht, und er begann von vorn.

Andrik musterte den grauen Himmel über Stockholm und ließ seinen Blick über die dicke Schneedecke schweifen, die sich bereits auf den umliegenden Dächern niedergelassen hatte. Hinter einer Handvoll Häuserreihen blitzte das eiskalte Wasser der Stockholmer Bucht auf. Kleine Eisschollen begannen, sich bereits am Uferrand zu bilden, so eisig war dieser Dezember. Wenige Meter weiter erstreckten sich von links nach rechts die Inseln Gamla Stan, Skeppsholmen und die größte der drei, Djurgården. Auf den letzteren befanden sich zahlreiche Museen. Das eindrucksvollste, zumindest von außen, war jedoch das Vasa Museum. Andrik kannte nicht viel von der Geschichte, die dahinterstand, doch er wusste immerhin so viel, dass es ein verdammtes Wunder war, dass das alte Segelschiff über Jahrhunderte hinweg in der Bucht von Stockholm auf Grund gelegen hatte und dennoch so gut intakt gewesen war, dass man es in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geborgen hatte.

Mit einem plötzlichen Geistesblitz wandte Andrik sich zu seinem unschlüssigen Freund um.

»Ist Sundgren nicht Mitglied in der Königlich Schwedischen Segelgesellschaft?«

Linus grinste frech. »Gefühlt bestimmt schon seit der Gründung 1830 …«

Andrik blickte wieder aus dem Fenster und fokussierte sich auf die Segelmasten, die auf den Dächern des Vasa Museums angebracht worden waren. Sie sollten die ursprünglich echte Höhe der Vasa darstellen. Damit sah das Museumsgebäude selbst wie ein Segelschiff aus.

Andriks Hirn arbeitete auf Hochtouren. Wie immer ließ er niemanden an seinen Gedanken teilhaben. Sie sprangen von einem Punkt zum nächsten und zeichneten mit der Zeit ein immer deutlicheres Bild seines Plans. Nur zwischendurch warf er Linus vereinzelte und völlig zusammenhanglose Fragen hin. So wie zum Beispiel diese: »Wo findet noch mal unsere firmeninterne Weihnachtsfeier statt?«

Linus war das längst gewohnt, deshalb fragte er gar nicht erst, sondern lieferte Andrik einfach die gewünschte Antwort. »Villa Källhagen, drüben am Djurgardenbrunnsviken, dem Seitenarm von …«

»Ah, stimmt.« Noch immer starrte Andrik hinaus auf die Umrisse des berühmten Vasa Museums. Er fällte eine Entscheidung. In diesem Augenblick. Noch in der gleichen Sekunde bildeten sich Zweifel in seinem Hinterkopf, doch er drängte sie energisch beiseite. Er ging ein verdammt hohes Risiko ein. Ein unüberschaubares Risiko. Er wandte den Blick nicht vom Fenster ab, als er seinen Freund und Partner informierte. »Sag die Feier in Källhagen ab. Wir machen etwas Größeres. Wir laden nicht nur unsere Leute ein. Wir machen aus unserer Weihnachtsfeier eine Art Recruiting-Event für Kunden. Wer könnte besser Werbung für uns machen als unsere Leute zusammen mit glücklichen Kunden?«

»Andrik, bist du sicher, dass …«

Sich für seine Idee langsam erwärmend und seine eigenen Zweifel ignorierend, fuhr er Linus über den Mund. »Wir stehen finanziell nicht unbedingt schlecht da, aber du weißt selbst, dass wir für unsere Pläne im nächsten Jahr mehr Investitionen benötigen. Und die kann uns ein Vertrag mit Sundgren AB verschaffen. Dann haben wir Spielraum und uns eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Stell dir nur vor, welche Kreise das ziehen würde, wenn ein Imperium wie das von Sundgren auf unsere Leistungen zurückgreift und uns am Ende vielleicht sogar anderen Partnern empfiehlt.« Während Andrik mit fester Stimme sprach, versuchte er, nicht nur seinen Geschäftspartner, sondern auch sich selbst zu überzeugen. Wenn auch aus anderen Gründen.

»Und was genau hast du vor?«

Andrik, der sich inzwischen zu Linus umgedreht hatte, atmete tief durch und legte eine kurze Pause ein. Schließlich meinte er: »Wir verlegen die Veranstaltung ins Vasa Museum. Es wird keine gewöhnliche Weihnachtsfeier. Wir machen ein einzigartiges Event daraus, von dem die Leute noch im Sommer sprechen werden.« Seine Augen verengten sich. »Wir helfen Unternehmen, ihre Mitarbeiter glücklich zu machen. Zeigen wir ihnen, wie das geht. Sundgren ist Segler. Er legt großen Wert auf Dinge wie Loyalität, Zusammenhalt und Ehre. Wir führen ihm mit diesem Event vor Augen, dass er genau das bei uns bekommt, und gewinnen ihn für uns.«

»Du willst nicht mal drei Wochen vor Weihnachten den Ort der Feier verlegen und sie auch noch vergrößern?« Linus wollte schon loslachen, als er bemerkte, dass es Andrik wirklich ernst damit war. Entgeistert fuhr er sich durch die weißblonden Haare. »Du spinnst! Das ist unmöglich.«

Andrik zuckte mit den Schultern. »Wir finden schon einen Weg.« Er hatte einen Plan und war sich ziemlich sicher, dass die Verlegung ins Vasa Museum an sich kein Problem darstellen würde. Ein anderer Faktor machte ihm viel größere Sorgen. Aber er würde es durchziehen. Bis zum Schluss. Er würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und betete inständig, dass am Ende alle Beteiligten zufrieden sein würden. Ja, vielleicht sogar glücklich.

 

 

Stina zog die Mütze unter ihrem Fahrradhelm tiefer über die Ohren und stellte wieder einmal fest, dass die Winter in Stockholm jedes Mal anders waren. Letztes Jahr noch hatte die Vorweihnachtszeit vor allem aus Matsch und Regen bestanden. Die Temperaturen waren nie lange genug unter den Gefrierpunkt gefallen, um so etwas Ähnliches wie Schnee auch nur im Ansatz zu ermöglichen.

Dieser Dezember war das komplette Gegenteil. Eine meterhohe Schneedecke, wohin man auch sah. Stina hatte Mühe, mit ihrem Rad vorwärtszukommen, aber sie weigerte sich, es bleiben zu lassen. Sie liebte ihren Drahtesel. Bei jedem Wetter.

Das beständige Rattern ihrer Fahrradkette begleitete sie, als ihre Augen für einen Moment vom Radweg über Ladugårdslandsviken schweiften, wie die Bucht von Stockholm genannt wurde. Sie erhaschte einen letzten Blick auf die kleine Insel Skeppsholmen. Darauf befand sich das Museum für Moderne Kunst sowie die Königliche Kunsthochschule. Daran angeschlossen thronte Kastellet – das Kongresszentrum aus rotem Backstein und weißen Vorsprüngen, das vielmehr an eine restaurierte Burg erinnerte. Früher diente es eine Zeit lang sogar als Militärstützpunkt, wie sie wusste.

Nachdem Stina schließlich auf die letzte Brücke hinüber Richtung Djurgården eingebogen war, stellte sie dankenswerterweise fest, dass der Weg hier vor Kurzem erst frisch geräumt worden war. Sie nahm für die letzten Meter wieder etwas Fahrt auf und war froh um die dicken Handschuhe, die sie sich noch im letzten Moment angezogen hatte, bevor sie ihre kleine Wohnung verlassen hatte.

Bis zum Vasa Museum, ihrem Arbeitsplatz, waren es nur noch wenige Hundert Meter. Gedanklich ging sie bereits ihre To-do-Liste für den heutigen Dienstag durch. Sie wollte gerade die letzte Straße überqueren, die zum Parkplatz der angrenzenden Museen führte, als plötzlich ein dunkler SUV um die Ecke schoss.

Obwohl alles innerhalb weniger Sekunden vor sich ging, erlebte Stina es wie in Zeitlupe. Adrenalin pumpte durch ihren Körper und wie in Trance betätigte sie hektisch die Bremsen ihres Drahtesels. Zwischen ihr und der schwarzen Karosserie lagen nur Zentimeter. Panisch klopfte Stinas Herz gegen ihren Brustkorb. Das Blut pulsierte durch ihre Adern. Trotz des eisigen Untergrunds kam sie gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Ihr linker Fuß balancierte das Gleichgewicht aus, indem sie ihn in auf den schneebedeckten Boden stellte.

Der Autofahrer schien von alldem überhaupt nichts zu merken und glitt nach der rücksichtslosen Abzweigung zügig die schmale Straße zum Parkplatz entlang. Entrüstet und immer noch geschockt schaute Stina dem Wagen nach. Typisch SUV-Fahrer!

Als sie nun auch ihren rechten Fuß auf der Straße aufkommen ließ, um für einen besseren Halt zu sorgen, rutschte ihr Hinterreifen plötzlich weg und zwang Stina schließlich doch noch in die Knie.

»Ahhh!«

Mit einem lauten Scheppern legte sich das Fahrrad auf die Seite, und Stina landete in dem frisch aufgewirbelten Schnee. Ihr Rucksack löste sich vom Gepäckträger und kullerte ein paar Meter fort. Einige Passanten eilten besorgt herbei.

»Alles in Ordnung?«

»Hast du dich verletzt?«

Mühsam rappelte Stina sich hoch. »Mir geht’s gut. Alles okay.«

Ein junger Student hob Stinas Rad auf, während sein Freund ihren ausgebüxten Rucksack einsammelte.

»Was für ein Mistkerl!« Die jungen Männer schüttelten unisono ärgerlich die Köpfe. »Fährt ’ne fette Karre und meint, er könne sich alles erlauben.«

Stina rückte ihren Mantel zurecht und klopfte sich den Schmutz von der dunklen Jeans. Der nasse Fleck würde wohl von selbst trocknen müssen. Wenigstens hatte sie den Helm über ihrer Mütze getragen. Sie war zwar nicht mit dem Kopf auf dem Boden aufgekommen, aber das hätte schnell passieren können. Sie würde diesmal mit einem Schock und ein paar blauen Flecken davonkommen.

»Ja, manche denken, ihnen gehört die Straße wohl mehr als anderen. Ich danke euch!« Stina nickte den jungen Studenten zu und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad. Die beiden betrachteten sie prüfend und gingen sicher, dass wirklich alles in Ordnung war. Dann machten sie sich auch wieder auf den Weg.

Zum Glück machte niemand ein großes Ding hieraus. Stina mochte es nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dafür war sie nicht der Typ.

Während sie ihren Fuß wieder auf die Pedale setzte, spürte sie, wie sie noch immer zitterte. Der unerwartete Schock saß wohl doch noch zu tief. Deshalb beschloss sie kurzerhand, wieder abzusteigen und die letzten Meter zum Vasa Museum zu laufen und das Rad zu schieben. Sicher war sicher.

Sie verdrängte ihren Ärger und bemühte sich, nicht in die Schublade mit Vorurteilen zu greifen. Aber es fiel ihr wahrhaftig schwer. Ja, SUVs und Fahrradfahrer waren aus Prinzip Rivalen. Doch Aktionen wie diese machten es einem auch wirklich schwer, freundliche Worte für diese riesigen Autos und ihre Besitzer zu finden, oder nicht? Stina würde dem Kerl was erzählen, sollte sie ihn irgendwann erneut antreffen. Was wohl kaum passieren würde, da sie den Fahrer in der Eile gar nicht erkannt hatte. Trotzdem, er sollte in der Hölle schmoren.

 

 

Eine Viertelstunde später kratzte Stina ihre gute Laune wieder zusammen und eilte in ihr Büro, das abseits der Museumsräume lag. Es war ein kleines Zimmer, aber immerhin mit Ausblick auf die Bucht und damit einen Großteil der Stockholmer Innenstadt. Stina hängte ihren Mantel an den Türhaken und versuchte, mit einem feuchten Tuch wenigstens die gröberen Flecken aus ihrer Hose zu entfernen. Vergeblich. Es wurde eher schlimmer. Großartig.

Auf einmal klopfte es kurz. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.

»Stina! Du bist da. Sehr gut! Ich brauche dich.« Eine hochgewachsene Frau in den Vierzigern baute sich vor Stinas unordentlichem Schreibtisch auf. Sie trug einen marineblauen Hosenanzug, eine weiße Bluse mit großer Schleife um den Hals und eine blonde Hochsteckfrisur. Es war Katja, die Leiterin des Museums und damit Stinas Chefin und Vorgesetzte. In der Regel pflegten die beiden ein gutes Verhältnis, aber wenn sie so kam, wusste Stina stets, dass sie ihr eine undankbare Aufgabe aufbürden wollte.

Entsprechend misstrauisch hob Stina den Blick von ihrer ramponierten Hose. »Nein?« Vorsichtig erhob sie ihre Stimme, um Katja sogleich zu bedeuten, keine Lust, keine Zeit oder auch einfach keinen Nerv für diese Art von Bitte zu haben.

Aber Katja überging die Vorlage und redete einfach drauflos, während sie eine dünne Mappe auf Stinas Tisch legte. Währenddessen schlug sie diesen einen Tonfall an, der zwar freundlich, aber ziemlich streng wirkte. Es musste um etwas Wichtiges gehen.

Stina blickte neugierig auf die verschlossene Mappe, als Katja erklärte: »Ich weiß, dass das nicht dein Aufgabenbereich ist, aber Moritz ist nicht da und du bist die Einzige, die ihn vertreten kann.«

»Nein!« Sofort widersprach Stina. Sie warf das Feuchttuch in den Mülleimer unter ihrem Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

Katja schloss kurzzeitig die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lag zwar ein sehr geduldiger, aber kompromissloser Ausdruck darin, und Stina spürte bereits, wie ihr die Wahl längst abgenommen worden war. Trotzdem startete sie einen letzten Versuch, sich zu drücken.

»Ich bin Historikerin. Forscherin. Ich führe Touristen durchs Museum, um ihnen die Geschichte der Vasa näherzubringen. Ich bin keine Partyplanerin, Katja. Ich hasse Partys!«

»Du musst dich nur solange darum kümmern, bis Moritz wieder da ist.«

»Wie lange fällt er aus? Am Freitag wirkte er noch kerngesund.« Stina beobachtete ihre Chefin und wusste sofort, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Diese wand sich unter ihrem Blick und blinzelte. Schließlich meinte sie: »Wissen wir noch nicht. Es scheint ein Problem mit seiner Mutter zu geben. Oben im Norden. Er hat vor einer halben Stunde angerufen und wollte sich wieder melden, wenn er mehr weiß.«

Ein Kloß manifestierte sich in Stinas Hals. Sie schluckte, um ihn zu lösen, doch er blieb hartnäckig da, wo er war. Stina wusste um die pflegebedürftige Mutter ihres Kollegen. Der Gedanke daran löste bei ihr immer wieder etwas aus, von dem sie nicht wollte, dass es an die Oberfläche gelangte. Zu hart hatte sie daran gearbeitet, dieses Kapitel ihres Lebens irgendwie hinter sich zu lassen. Ganz würde es nie klappen, aber das war besser als nichts.

»Kann nicht jemand anderes einspringen?«, versuchte Stina es ein weiteres Mal. Sie hatte wirklich keinen Nerv für irgendwelche dämlichen Veranstaltungen und erst recht nicht für deren Planung.

Katja schüttelte den Kopf und glich dabei einer Schuldirektorin, der man lieber kein weiteres Mal widersprechen sollte. »Diese Events spülen viel Geld in unsere schlecht gefüllten Kassen. Du solltest lieber dankbar dafür sein, dass besonders dieser Kunde«, sie deutete auf die Mappe auf Stinas Schreibtisch, »so hartnäckig auf diesen Termin vor Weihnachten bestanden hat.«

Stinas Alarmglocken begannen leise, aber stetig zu klirren: »Das soll noch vor Weihnachten stattfinden? Wissen die, was das bedeutet? Das ist … kaum machbar!«

Katja hob ihre akkurat gezupften Brauen in die Höhe und nickte Stina zu. »Dann sorgst du lieber dafür, dass es machbar wird.« Sie wies erneut auf den dünnen Ordner. »Es geht hier um viel Geld für das Museum, Stina. Das kommt am Ende auch dir zugute.«

Ein Verdacht brach sich in Stina Bahn. »Wie hoch war die Spende, dass so kurzfristig noch ein freier Termin für eine Veranstaltung gefunden werden konnte?«

Katja schürzte die Lippen. »Hoch genug, dass es deine Gehaltsklasse übersteigt, darüber Bescheid zu wissen.«

Normalerweise mochte Stina ihre Chefin. Sie war fair und kompetent. Aber wann immer es ums Geld ging, wurde sie äußerst unnachgiebig. Es war nicht so, als würde das Haus rote Zahlen schreiben. Immerhin galt es als das meistbesuchte Museum Skandinaviens. Es gehörte außerdem dem Verbund Staatlich-Maritimer Museen Schwedens an. Trotzdem war das Geld immer knapp, wenn es nach Katja ging. Lockte also jemand mit einer großzügigen Spende, um kurz vor knapp eine Veranstaltung im Museum abhalten zu dürfen, machte Katja nicht viele Kompromisse und ermöglichte es. Auch wenn der eigentliche Eventmanager, der eigens für solche Dinge eingestellt worden war, gerade »unpässlich« war. Dass das Gebäude die Ausstellungshalle für ein wichtiges Stück schwedischer Seefahrtsgeschichte darstellte, rückte heutzutage sogar manchmal in den Hintergrund: Häufig fanden an solchen Orten inzwischen auch Veranstaltungen statt, die man sich sonst eher weniger in einem Museum oder einer Galerie hätte vorstellen können.

Stina schaute in das ernst dreinblickende Gesicht ihrer Chefin. Sie spürte, dass sie keine Wahl hatte. Also fügte sie sich. »Ich kümmere mich darum.«

Zufrieden nickte Katja. »Moritz wird dir per Mail eine Übergabe für die bereits geplanten Empfänge schicken.« Mit einem Seitenblick auf Stinas fleckige Jeans meinte sie: »Hoffen wir, dass der erste Eindruck unseren neuen Kunden nicht abschreckt.«

»Irgendein SUV-Fahrer war vorhin der Meinung, mich schneiden zu müssen«, erklärte Stina und fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, denn Katja war bereits dabei, das kleine Büro zu verlassen.

Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um. »Worauf wartest du?«

Irritiert schaute Stina zu ihr rüber. »Hm?«

Katja deutete mit einem Nicken auf die immer noch geschlossene Akte auf Stinas Schreibtisch. »Die Veranstaltung. Der Kunde wartet im großen Meetingraum.«

»Er ist schon hier? Ich konnte mich noch gar nicht …«

»Improvisation. Darin bist du doch sonst auch ein Ass.« Das Lob ihrer Chefin fühlte sich nicht wie eines an.

Während Katja sich auf den Weg machte, griff Stina schließlich resigniert nach der Mappe und verließ ebenfalls ihr Büro. Jetzt musste sie doch wirklich Eventmanagerin spielen. Was für ein Start in einen Dienstagmorgen. Nach einigen Metern durch den hell erleuchteten Flur blieb Stina vor einer unscheinbaren Tür stehen. Sie führte in den Meetingraum, der für ebensolche Besprechungen vorgesehen war.

Ein letztes Mal fuhr Stina mit dem Daumen über die dreckige Stelle ihrer Jeans und hoffte, sie würde dem Kunden nicht auffallen. Dann atmete sie tief durch und nahm den Hefter mit den Infos zu der Veranstaltung in die andere Hand. Noch immer hatte sie keinen Blick hineingeworfen. Zum Glück erzählten die Leute meist sowieso alles noch mal. Es würde also vielleicht gar nicht auffallen, dass Stina noch keine Ahnung hatte, worum es ging. Sie holte Luft und drückte dann die Klinke herunter, um die Tür zu öffnen. Stina setzte ein freundliches Lächeln auf, betrat den Raum und begann das Gespräch.

»Hej, ich bin Stina. Entschuldige, ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten. Ich …« Mitten im Satz brach sie plötzlich ab, als sie sah, wer sich vor der Fensterfront zu ihr umdrehte. Ihre Atmung setzte aus. Ihr Herz hörte auf zu schlagen, und ihr gesamter Körper fühlte sich an, als wäre er soeben schockgefroren worden. Die Erinnerungen. Das Unwetter. Es zog von einer Sekunde auf die andere auf und erschütterte Stinas Seele ohne Vorwarnung. Blitze, gefolgt von schwerem Donnergrollen zuckten durch ihren Körper. Sie konnte nicht weitersprechen, so trocken war ihr Mund von einem Moment auf den anderen geworden. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nein. Niemals. Und doch …

Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht des Mannes ab, gefolgt von einem nicht definierbaren Zug um seine Mundwinkel. Es war Jahre her, und trotzdem hätte Stina ihn überall wiedererkannt. Er besaß die gleichen grünen Augen wie damals. Nur hatten sie den jungenhaften Schalk verloren. Sie waren erwachsen geworden. So wie seine Gesichtszüge. Strenge dominierte sie. Harte Willenskraft. Unnachgiebigkeit. Und doch wirkte er irgendwie weich und charmant.

Aber darauf würde Stina nicht reinfallen. Sie wusste es besser. Schützend hielt sie die Mappe vor ihren Brustkorb. Hätte sie doch bloß reingesehen, bevor sie sich in das Meeting gestürzt hatte. Sprachlos musterte sie den Mann am anderen Ende des Raumes, hinter ihm die malerische Skyline von Stockholm. Er trug einen teuren grauen Anzug und ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf offen stand. Locker-leger, aber trotzdem elegant. Seine edlen braunen Schuhe waren sicherlich von irgendeiner unbezahlbaren Designermarke, deren Name Stina nicht kannte. Sie glichen seinem Haar, das einen modernen, nicht allzu langen Schnitt aufwies. Perfekt aufeinander abgestimmt. Doch das machte sein Auftauchen auch nicht erträglicher.

Stinas Magen brodelte, und sie spürte die Bitterkeit und Wut in sich aufsteigen, die sie seit so langer Zeit mit sich herumschleppte. Es war schmerzhaft. Wie immer, wenn diese beiden Gefühle sich durch ihren Körper arbeiteten. Stina biss die Zähne zusammen und ließ ihren Blick über das markante Gesicht vor sich gleiten. Kleine, kaum sichtbare Fältchen rahmten die grünen Augen ein, ebenso wie lange schwarze Wimpern. Seine Nase war immer noch so makellos wie in seiner Jugend. Nur sein ausgeprägtes Kinn wurde von einer dünnen Narbe geziert. Sie fiel kaum auf, doch Stina wusste, dass es sie gab. Deshalb bemerkte sie sie nicht nur, sie konnte den Blick kaum davon abwenden.

»Stina?« Seine Stimme war tiefer als damals. Reifer. Männlicher.

Sofort breitete sich eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen aus.

Unauffällig sog sie so viel Luft wie nur möglich ein. Es sollte sie beruhigen und wieder handlungsfähig machen. Es sollte den wütenden Sturm in ihr abwenden. Aber das waren Wunschgedanken. Mit aller Kraft riss Stina sich zusammen und zwang sich schließlich, über das Gewitter in ihrem Inneren hinwegzureagieren.

»Was willst du hier, Andrik?«

 

Eiseskälte durchzog Stinas Stimme. Die winterlichen Temperaturen in Stockholm erinnerten im Vergleich dazu geradewegs an den Hochsommer. Noch immer starrte sie den Mann vor sich an und wünschte, es sei reine Einbildung. Seine nächsten Worte verdarben diese Annahme.

»Ich bin mit Moritz Svens …«

»Du bist wegen der Veranstaltung hier?!« Ihr Ton war schrill, und Stina bemühte sich um Seriosität. Aber es fiel ihr so verdammt schwer.

Dieser Mann hatte so viel von ihrem Leben zerstört. Wegen ihm war sie schließlich vor gut dreizehn Jahren von der Insel Gotland, ihrer Heimat, geflohen. Er war es, der ihre schmerzhaftesten Erinnerungen ausfüllte. Seit rund siebzehn Jahren hatte sie ihn weder gesehen noch gesprochen. Und jetzt stand er auf einmal vor ihr. Dieser Dienstag wurde immer schlimmer.

Ihr Blick fiel auf die exquisite Laptoptasche auf dem großen Tisch im Meetingraum. Daneben lagen das neueste Smartphone von Apple sowie ein Autoschlüssel. Stina erkannte die Marke. Es war dieselbe wie von dem Wagen, der sie vor nicht mal einer Viertelstunde geschnitten hatte. Natürlich. Andrik Lundqvist würde sich nicht freundlich anmelden. Nein. Andrik Lundqvist fiel rücksichtslos über sie her und bemerkte dabei noch nicht mal, dass er beinahe erneut einem Menschen die Zukunft genommen hätte.

Ihr war nichts passiert. Zum Glück. Aber es hätte auch anders ausgehen könne. So wie damals. Vor so vielen Jahren.

Andrik riss sie aus ihren quälenden Gedanken, in dem er vorsichtig auf sie zukam. »Ich wusste nicht, dass du …«

Sofort richtete sie sich kerzengerade auf und bedachte ihn mit einem warnenden Blick. Wieder unterbrach sie ihn. Allein seine Stimme zu hören rief all den gut verstauten Schmerz in ihr hervor. »Nein, wusstest du nicht. Woher auch? Du hast dich noch nie besonders für andere interessiert, nicht wahr?«

»Stina, das ist nicht fair.«

»Natürlich nicht. Das ist es nie.« Stina schluckte. »Vielleicht solltest du dir eine andere Eventlocation für … was auch immer suchen.«

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Noch bevor er antwortete, wusste Stina bereits, was er sagen würde. Sie hasste es. Ihr wurde schwindlig.

»Das geht nicht. Es muss hier stattfinden.«

Erzürnt funkelte Stina ihn an und spürte den Zorn in sich wüten. »Es ist dir immer noch egal, was du den Menschen um dich herum antust, nicht? Hauptsache, du bekommst deinen Willen.«

»So ist das nicht.« Seine Stimme klang defensiv. Er musterte sie von oben bis unten. Ein zurückhaltendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Du siehst gut aus.«

Sie überging sein unglaubwürdiges Kompliment. »Was willst du wirklich hier, Andrik?«

»Ich muss in weniger als drei Wochen ein Event auf die Beine stellen, das es so noch nie gegeben hat, weil …«

»Weil?«, hakte Stina nach, als er nicht weitersprach.

Andrik betrachtete sie schweigend und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Narbe an seinem Kinn. Eine unbewusste Geste, aber in Stina löste sie einen Sturm an Gefühlen aus. Einen Eissturm, gespickt mit feurigen Blitzen.

Schließlich wiegte Andrik mit seinem Kopf leicht hin und her und räusperte sich. »Sagen wir es so, dieses Event ist verdammt wichtig. Und ich kann … hier keinen Rückzieher machen, Stina. Es muss hier stattfinden.«

Hätte Stina es nicht besser gewusst, hätte sie Andriks Blick als flehend interpretiert. Nur dass ein Andrik Lundqvist es nie nötig gehabt hatte zu flehen. Der Mann war ein Glückspilz. Schon immer. Im Gegensatz zu ihrem Bruder. Ein Stich durchfuhr Stinas Herz und zwang sie an diesem Vormittag zu Boden. So wie das Hinterrad ihres Drahtesels, das sie in Sicherheit gewogen hatte und schließlich doch dem glatten Untergrund erlegen war.

 

 

Er hätte auf den doppelten Espresso heute Morgen zum Frühstück verzichten sollen, dachte Andrik und versuchte, die ätzende Säure in seinem Magen zu ignorieren. Er war auf diesen Moment vorbereitet gewesen, und trotzdem fühlte es sich so an, als hätte man ihn in die kalten Gewässer des Ladugårdslandsvikenvor dem Fenster des Meetingraumes gezerrt.

Das entgeisterte Gesicht von Stina machte ihm mehr als deutlich, wie unpassend sein Auftauchen war. Aber ehrlich, er dachte, er würde sich heute zunächst mit Moritz Svensson, dem Eventmanager des Museums, treffen. So hatte es Katja Hansen, die Direktorin, ihm gestern am Telefon versichert. Natürlich schien es bei seinem Anruf zunächst unmöglich, noch einen freien Termin im Museum zu bekommen, um die Weihnachtsfeier dort stattfinden zu lassen. Als er jedoch andeutete, wie sehr ihm das Haus der Vasa am Herzen liege und dass er bereit sei, jeden Preis dafür zu bezahlen, zog Katja Hansen auf einmal andere Seiten auf. Nach einigem Hin und Her tätigte Andrik schließlich eine hohe private Spende an den Fonds des Museums und erhielt einen Terminvorschlag. Zwei Tage vor Weihnachten sollte es nun also so weit sein. Moritz hätte die Planung mit ihm durchgehen sollen. Moritz. Nicht Stina.

Den Termin durch eine private Spende zu »erwirken« war sicherlich nicht die feine Art. Aber die einzige, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. War das bereits Bestechung? Vermutlich. Aber es kam einem höheren Zweck zugute. Museen waren immer knapp bei Kasse und dieses Stück schwedischer Geschichte musste bewahrt und unterstützt werden. Und so hatte Andrik immerhin schon mal eine beteiligte Partei glücklich gemacht. Katja Hansen und das Vasa Museum.

Nach einer endlos langen Zeit des Schweigens erhob Stina schließlich ihre Stimme. Sie zwang sich sichtlich, ruhig zu bleiben. Doch der Blick, den sie ihm schenkte, zeugte davon, wie tief der Hass auf ihn in ihr verwurzelt war.

»Du bestehst darauf?«

Andrik nickte. Sein Kopf fühlte sich dabei zentnerschwer an. Nur mit Mühe bekam er ihn wieder hoch. In ihrem Gesicht las er die Enttäuschung ab.

Schließlich erwiderte sie leise, aber drohend: »Das willst du mir wirklich antun? Nach allem, was passiert ist?«

Es war grauenhaft. Das war ihm klar. Aber er musste es tun. »Ich habe keine Wahl.«

Höhnisch verzog Stina die Lippen. »Natürlich nicht.« Schnell schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, legte sie eine professionelle Maske darüber. »Also gut.« Sie unterdrückte ihre Gefühle und deutete auf den langen Tisch aus Kiefernholz. »Nimm Platz. Anscheinend habe ich diesmal keine Wahl.« Während sie sich möglichst weit entfernt von ihm auf einen der schwarzen Bauhaus-Stühle setzte und die Mappe aufschlug, die sie mitgebracht hatte, murmelte sie kaum hörbar: »Ich hätte heute einfach zu Hause bleiben sollen.«

Andrik beobachtete, wie Stina vorgab, die Dokumente in dem dünnen schwarzen Hefter zu lesen. Er nutzte den Moment, um sie eingängiger zu betrachten. Aus dem hübschen Mädchen von damals war eine attraktive Frau geworden. Sie besaß noch immer die glatten dunkelblonden bis beinahe haselnussbraunen Haare, die sie scheinbar weiterhin am liebsten in einem geflochtenen Pferdeschwanz unterbrachte. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht und betonten dessen anmutige Züge. Sie besaß ein schmales Antlitz, das von dem weichen rosigen Mund und den blauen Augen dominiert wurde.

Sein Blick glitt weiter hinab. Sie trug einen locker geschnittenen weinroten Pullover, der hinten etwas länger war als vorn, wie er bei ihrem Hereinkommen bemerkt hatte. Ihre Beine, die sie inzwischen unter dem Tisch überkreuzte, steckten in dunklen Jeans, die an den Knöcheln eng zuliefen und in halb hohen braunen Schnürstiefeln endeten. Ihr Look hätte als unscheinbar gelten können, doch Andrik befand, dass er ihre Vorzüge genau richtig betonte. Die schlanke Statur und die weiblich runden Hüften sowie die unter dem lockeren Pulli gut versteckten Brüste … Stina war eine schöne Frau. Trotz der Falte, die sich hartnäckig quer über ihre Stirn zog und Andrik zeigte, wie unzufrieden sie mit der aktuellen Situation war.

Langsam wanderten seine Augen zu dem zurückhaltenden runden Ausschnitt ihres Oberteils, der gerade einmal ihre zarten Schlüsselbeine hervorblicken ließ. Eine feine goldene Kette mit einem kleinen Anhänger in Form eines Seemannsknotens hing um ihren Hals. Andrik kannte das Schmuckstück. Sie trug es also immer noch. Er unterdrückte den Anflug eines Lächelns und spürte eine Flut von Wärme durch seinen Körper rollen.

Eine Erinnerung blitzte vor seinem inneren Auge auf. Stina, ihr Bruder Thore und Andrik waren mit einem kleinen Ruderboot auf der Ostsee unterwegs. Immer in Ufernähe ihrer Heimatinsel Gotland. Der Frühling ging geradewegs in den Sommer über. Obwohl es manchmal noch ziemlich frisch war, sprangen sie an diesem Tag immer wieder von dem schwankenden Holzkahn ins kalte Wasser. Bibbernd und lachend hangelten sie sich zurück in die Nussschale. Bevor sie sich auch nur annähernd genügend aufgewärmt hatten, schubste Stina ihn und Thore bereits wieder in die Wellen und sprang selbst hinterher.

Andrik hörte das ungezwungene jugendliche Lachen in seinen Ohren widerhallen. Wie alt mochten sie gewesen sein? Vielleicht fünfzehn? Stina ein Jahr jünger. Thore und Andrik gingen in dieselbe Klasse. Vom ersten Schultag an waren sie beste Freunde. Und Stina? Sie wurde unweigerlich zu einem Teil dieser Freundschaft. Sie war immer und überall dabei. Anders, als es bei vielen Geschwistern der Fall war, empfand Thore seine Schwester nie als nervig oder störend. Durch den geringen Altersunterschied glichen sie beinahe zweieiigen Zwillingen. Nichts konnte sie trennen. Das hieß nicht, dass sie sich nicht auch mal ordentlich kabbelten. Aber lange hielt der Zwist nie an. Und auf wundersame Weise hatten sie von jeher ein Gefühl dafür, wenn der andere seinen Freiraum brauchte. So schafften sie es, zusammen zu sein, ohne sich auf die Nerven zu gehen. Sie gaben aufeinander acht und piesackten sich gleichermaßen. Wie eine Waage, die stets von natürlichen Kräften im Gleichgewicht gehalten wurde. Andrik hatte eines als Kind schnell kapiert: Wenn er mit Thore eine Freundschaft einging, würde er häufig auch Stina um sich haben. Erstaunlicherweise störte ihn das nie wirklich. Er mochte Stina und ihre übermütige fröhliche Art. Obwohl sie streng genommen die Jüngere war, stiftete sie nur zu gern irgendwelchen gemeinsamen Blödsinn an. Zu dritt erforschten sie die Insel, lebten die heißen Sommer und trotzten den kalten Wintern. Sie feierten ihre Kindheit und stellten sich gemeinsam den verwirrenden Emotionen der Jugend. Mit wachsamen Augen beobachtete Andrik Stina dabei, wie sie sich von dem stürmischen Mädchen zu einem verantwortungsbewussten Teenager entwickelte. Natürlich fielen ihm auch ihre körperlichen Veränderungen. Sehr sogar. Zunächst wehrte er sich noch dagegen. Stina war für ihn schließlich inzwischen selbst wie eine kleine Schwester. So lange kannten sie sich schon. Sie sahen sich jeden Tag, teilten ihre Alltagssorgen und Erfolge miteinander. Immer im Dreieck mit seinem besten Freund Thore. Doch selbst der bemerkte irgendwann, dass sich zwischen Stina und Andrik etwas verändert hatte. Und nach einem Schubs in die entsprechende Richtung begann Andrik schließlich, diese ungewohnten Gefühle zuzulassen.

Stina erging es ähnlich. Aus einer kindlichen Freundschaft wurde über die Jahre hinweg so etwas wie neugierige Zuneigung. Beide spürten sie dieses Kribbeln im Bauch. Diese Scheu vor der Veränderung und gleichzeitig das Bedürfnis, einen Schritt über diese Freundschaft hinauszugehen. In dem Frühsommer, als Andrik und Thore die schwedische Grundschule nach der neunten Klasse abschlossen und aufs Gymnasium wechseln sollten, begannen Stina und Andrik schließlich, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Langsam. Und vorsichtig. Sie waren noch nicht offiziell zusammen und doch war allen rundherum klar gewesen, worauf sie beide zusteuerten.

Wieder hörte Andrik dieses lebhafte Lachen, als Stina in jenem Jahr ihr Geburtstagsgeschenk von ihrem Bruder Thore ausgepackt hatte. Es war ebenjene goldene Kette mit dem zierlichen Seemannsknoten. Andrik hatte seinen besten Freund bei der Suche nach etwas Passendem beraten. Streng genommen war es überhaupt nur wegen Andrik zu diesem Schmuckstück gekommen. Stina wusste es nicht, aber er hatte Thore dazu überredet, es in dem kleinen Laden auf Gotland zu kaufen. Er hätte es ihr auch selbst besorgen können, doch er wollte es langsam angehen lassen und beschränkte sich deshalb auf ein Buch, das Stina sich gewünscht hatte. Ihre sich wandelnde Freundschaft war wie eine seltene Blume, die man zwar gießen, nicht aber überwässern durfte. So empfand er es damals zumindest. Als Andrik die Kette gesehen hatte, hatte er das Gefühl gehabt, sie sei wie gemacht für Stina. Und so hatte es nicht lange gedauert, und er hatte seinen Freund überzeugt, ihr das grazile Geschenk einpacken zu lassen.

Jetzt, Jahre später, ruhte Andriks Blick wieder auf dem Anhänger um Stinas Hals. Dann musterte er ein weiteres Mal ihr Gesicht und bemerkte die Anspannung und die Abneigung auf jedem Quadratmillimeter. Damals waren sie einander nähergekommen. Heute hasste sie ihn. Eine einzige Nacht hatte alles verändert.

Angestrengt hob Stina in diesem Moment den Kopf und zwang sich, ihn anzusehen.

»Hier steht, du führst eine Unternehmensberatung?«

Ohne die Augen von ihr abzuwenden, ging Andrik langsam auf seiner Seite des Tisches auf Stina zu und setzte sich ihr schließlich gegenüber. Damit hatte er ihren eigens ausgewählten Sicherheitsabstand zunichtegemacht. Ihre Mimik sprach Bände. Aber darauf durfte er jetzt keine Rücksicht nehmen.

Andrik lehnte sich nach vorn und legte seine Unterarme auf die kühle Holzplatte des meterlangen Tisches. Aufmerksam schaute er Stina an.

»Ja, ich habe vor einigen Jahren mit einem guten Freund meine eigene Firma gegründet. Hier in Stockholm.« Kurz und knapp erklärte er ihr das Konzept von Tillsammans.

Stina verbarg ihre Überraschung, indem sie eilig wieder auf die Dokumente hinabschaute. Leise fragte sie: »Was ist mit dem Weingut auf Gotland?«

Der altbekannte Stich durchfuhr Andriks Herz. Bemüht, die Bitterkeit in seiner Stimme herauszufiltern, meinte er: »Erik ist dabei, das Geschäft zu übernehmen. Und das ist gut so.«

»Dein Bruder? Wolltet ihr euch diesen Posten nicht immer teilen?« Ungläubig schüttelte Stina den Kopf.

Andrik dachte an seinen zwei Jahre älteren Bruder und das Gut seiner Eltern. Seit die Erderwärmung voranschritt, war es selbst in skandinavischen Breitengraden möglich, Wein anzubauen. Seine Familie hatte das Experiment schon früh gewagt und war nach so manchen Startschwierigkeiten schließlich äußerst erfolgreich damit geworden. Ende der Neunzigerjahre hatte sein Vater die erste Pflanze in den Boden gesetzt. Heute hatten sie die restliche Landwirtschaft längst aufgegeben und konzentrierten sich nur noch auf die süßen Früchte und deren Verarbeitung.

Regelmäßig wurden die Sorten vom Weingut seiner Familie mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Man servierte den Wein aus Gotland in einigen der teuersten Restaurants der Welt. Die Lundqvists hatten es geschafft. Sie hatten sich von gewöhnlichen Landwirten zu erfolgreichen Winzern weiterentwickelt. Stolz dachte Andrik daran, dass seine Eltern nach ihrer harten Arbeit nun für immer ausgesorgt hatten. Das Gut war so erfolgreich, seine Familie war finanziell weit aufgestiegen. Daher war auch das Kapital für seine eigene Firma kein Problem gewesen. Eine Art Vorschuss auf das Erbe, das er eines Tages antreten würde.

Andrik hatte sein ganzes Leben auf dem Gut seiner Eltern mit angepackt. Gemeinsam mit seinem Bruder Erik hatten seine Eltern ihn in die Pflicht genommen. Er kannte sich bestens im Weinanbau aus, doch anders als Erik war er nicht in der Lage gewesen, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Obwohl es ihr Wunsch gewesen war, dass ihre Söhne das Geschäft später mal gemeinsam führten, hatte Andrik sich letztendlich zurückgezogen.

Seine Prioritäten lagen woanders. Er hatte eine Weile gebraucht, um das herauszufinden. Es war ihm äußerst schwergefallen, denn er liebte seine Familie und wurde das Gefühl nicht los, sie im Stich zu lassen. Bei rationaler Betrachtung erkannte er jedoch, dass das nicht der Fall war. Erik war bestens geeignet, das Gut allein zu führen. Und Andrik hatte ihm versprochen, ihm bei allem stets zur Seite zu stehen. Nur nicht von zu Hause aus.

---ENDE DER LESEPROBE---