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Madita Tietgen

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Beschreibung

Zwei Länder, drei Herzen, ein gemeinsames Schicksal.
Lovis reist mit ihrer zweijährigen Tochter Freja nach Irland, um den kryptischen Hinweisen ihres verstorbenen Großvaters über seine alte Heimat nachzugehen. In dem malerischen Ort Appleaugh stößt sie auf ein Netz aus Geheimnissen, Schuldzuweisungen und tiefem Misstrauen. 
Doch was noch unerwarteter kommt: Sie trifft auf Conor, den Mann, mit dem sie einst eine einzige Nacht verbrachte. Die Begegnung stellt ihr Leben auf den Kopf, denn Freja ist Conors Tochter, von der er nichts weiß. 
Während Lovis und Conor die überraschende Zusammenkunft ihrer Familie verarbeiten und die Funken aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit erneut auflodern, wächst die Bedrohung durch die Dorfbewohner, die Lovis’ Großvater für all ihr Unglück verantwortlich machen. 
Zwischen alten Tagebüchern und verhärteten Fronten müssen Lovis und Conor entscheiden, ob sie gemeinsam eine Zukunft wagen können …

Der zehnte Teil der Bestseller-Reihe »Irland – Von Cider bis Liebe« von Madita Tietgen ist ein Second Chance Liebesroman über Familiengeheimnisse und Heimat. Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Blaubeerfieber

IRLAND – VON CIDER BIS LIEBE

BUCH 10

MADITA TIETGEN

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Madita Tietgen

Cover: Grit Bomhauer

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-560-1

Für Emil und Johan.

Weil das Leuchten in euren Augen meine Gewissheit ist,

keine Rabenmutter zu sein.

Und für Idefix.

Weil Kuscheltiere, die uns unser Leben lang begleiten,

viel mehr Wertschätzung erfahren sollten.

Idefix, du bist unser Held.

Eins

Lovis unternahm einen tiefen Atemzug. Den hatte sie bitter nötig, um das Zittern in ihrem Körper unter Kontrolle zu bekommen. Die kühle, feuchte Oktoberluft drang in ihre Lunge, setzte sich weit unten ab, und erst Sekunden später stieß Lovis sie zwischen ihren leicht geöffneten Lippen wieder aus. Angespannt blinzelte sie und legte sich die Sätze zurecht, die sie gleich aussprechen wollte, doch von einer Sekunde auf die andere waren diese auf einmal verschwunden. Kein einziges Wort blieb in ihren Gedanken haften. Dabei hatte Lovis sich doch ganz genau überlegt, wie sie die Sache angehen wollte.

»Klopfen«, flüsterte eine zaghafte Stimme helfend neben ihr. Sogleich wandte Lovis den Kopf zur Seite und bedachte den hellblonden Schopf samt Kupferstich mit einem liebevollen Lächeln. Er gehörte einem kleinen Mädchen, das erst vor wenigen Wochen seinen zweiten Geburtstag gefeiert hatte. Sofort schwappte eine Welle der Kraft durch Lovis’ Körper. Sie hatte es geschafft, dieses süße Wesen allein auf die Welt zu bringen und zu einem lachenden, fröhlichen und glücklichen Kind werden zu lassen. Trotz aller Widrigkeiten. Sie würde auch jetzt den notwendigen Mut aufbringen und ihr Ding durchziehen. So wie sie es sich vorgenommen hatte. Lovis kniete sich neben ihre Tochter und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Nasenspitze.

»Ich hab dich lieb, Freja.«

Das Mädchen kicherte, kuschelte sich an Lovis und deutete dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die große dunkle Holztür, vor der sie sich befanden. In geschwungenem Bogen stand auf den weißen Mauern darüber der Name der hier ansässigen Familie.

O’Sullivan.

Lovis und Freja waren weit weg von ihrem schwedischen Zuhause. Aber wenn Lovis je herausfinden wollte, warum ihr Großvater seiner irischen Heimat vor mehr als sechzig Jahren den Rücken gekehrt und nie auch nur ein Wort darüber verloren hatte, musste sie jetzt Mut beweisen. Bei den O’Sullivans zu klopfen war der erste Schritt. Und sie würde ihn gemeinsam mit ihrer Tochter gehen.

Die eben noch präsente Unsicherheit abschüttelnd näherte Lovis sich also besagtem Hauseingang, hob die Hand und wollte endlich auf sich aufmerksam machen, als ebenjene Tür aufgerissen wurde und ihr ein Mann um die sechzig erstaunt entgegenlachte.

»Nanu?!« Um seine Augen bildete sich eine Reihe altersbedingter Fältchen. »Wenn das kein Timing ist!«

Lovis verstärkte unwillkürlich den Druck um Frejas kleine Hand in ihrer. Freundlich lächelnd erklärte sie mit nervösem Herzen: »Guten Tag, ich bin auf der Suche nach Familie O’Sullivan. Oder genauer gesagt …«, sie überlegte einen Moment, »… nach Farrell und Ella O’Sullivan.«

Neugierig ließ der Mann seinen Blick über Lovis und Freja gleiten, die sich eng an Lovis’ Hosenbein schmiegte und verschmitzt zu dem Fremden hinaufblinzelte, ihren geliebten Stoffhund fest an sich gedrückt. Für einen Moment bekam Lovis ein schlechtes Gewissen. Freja hatte eine lange Reise hinter sich. Vielleicht hätten sie erst morgen herkommen und sich eine Pause gönnen sollen. Andererseits hatte die Kleine auf der Fahrt von Dublin nach Appleaugh gut eine Stunde im Auto geschlafen. Diese Powernaps waren in Frejas Leben Gold wert und spendeten dem Mädchen mehr Energie, als man annehmen würde. Und so war sie vor wenigen Minuten fröhlich aus dem Mietwagen gehüpft, hatte sich gestreckt und Lovis mit ihrer frisch gewonnenen Kraft angesteckt.

Nein, Lovis machte sich schon wieder zu viele Gedanken. Schnell konzentrierte sie sich auf den nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes.

»Ich fürchte, das könnte ein wenig schwierig werden.« Er streckte Lovis seine Hand entgegen. »Declan O’Sullivan. Ella und Farrell sind meine Eltern.«

»Lovis Johansson.« Sie spürte den kräftigen Händedruck des Mannes und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie wichtig dieser Kontakt für ihr Vorhaben war.

Declan trat einen Schritt vor die Tür, doch statt weiter nach Lovis’ Beweggründen zu fragen, beugte er sich in sicherem Abstand herab und lächelte Freja gütig an.

»Und wer bist du?«

»Das ist Freja, meine Tochter«, sprang Lovis ein. Zwar hatte ihr Großvater mit Freja stets Englisch – mit irischem Akzent – gesprochen, doch war sie sich nicht sicher, ob Freja sich dieser Aufgabe bereits gewachsen fühlte. Die Zweijährige wurde gewissermaßen zweisprachig aufgezogen, allerdings war Schwedisch immer noch die Hauptsprache, mit der sie groß wurde.

Declan nickte dennoch zufrieden und nahm Freja in den Fokus. »Und wer ist dein treuer Begleiter?«

Freja legte den Kopf schief, fuhr sich mit der Schnauze ihres Stoffhundes über die Wange und erklärte leise, aber bestimmt, so als hätte sie ihn gut verstanden: »Idefix.«

Helfend erklärte Lovis: »Im Englischen würde man ihn wohl Dogmatix nennen.«

Amüsiert leuchteten die Augen des Mannes auf, als er die Namensanspielung auf den Hund aus den Asterix-Comics, die durchaus auch in Irland bekannt waren, bemerkte. Bestätigend nickte er. »Oh ja, der Kleine sieht wahrhaftig aus wie Dogmatix!«

»Declan! Du bist ja immer noch hier. Wolltest du nicht …?!«

Eine Frau mit silbergrauen Haaren, runden Hüften und vermutlich in ähnlichem Alter wie Declan erschien im Türrahmen und hielt erstaunt inne, als sie Lovis und Freja erblickte. Declan erhob sich indes und wandte sich halb zu ihr um.

»Lovis, das ist meine Frau.« Er blinzelte. »Rose, ich denke, wir sollten eine Kanne Tee aufsetzen.«

»Ich möchte nicht stören, wenn Sie eigentlich losmüssen. Ich kann auch wann anders –«

»Ach was, das hat keine Eile«, unterbrach er Lovis freundlich. An seine Frau gerichtet, erklärte er mit hochgezogenen Brauen: »Die junge Dame wollte zu meinen Eltern.«

»Oh …« Überrascht formten sich Rose’ Lippen zu einem kleinen Kreis. Hastig schloss sich dem jedoch ein Lächeln an. »Kommen Sie doch rein. Der Apfelkuchen ist gerade fertig geworden.« Sie zwinkerte Freja zu.

Unschlüssig wägte Lovis ihre Optionen ab, entschied sich dann allerdings dazu, die Einladung anzunehmen. Schließlich war sie hier, um endlich mehr über ihren Großvater und dessen Geheimnis zu erfahren.

Mit Freja an der Hand folgte sie Rose und Declan deshalb in einen geräumigen Flur. Diverse Schuhregale, eine Holzbank mit gemütlichen Kissen sowie eine Reihe alter Metallhaken an der Wand bildeten eine weitläufige Garderobe, die massenhaft Platz für Treter aller Art und Jacken bot.

Declan hängte seine dunkelgrüne Übergangsjacke an einen der Haken, ließ seine typisch irische Schirmmütze ebenfalls dort und bedeutete Lovis und Freja, es ihm gleichzutun. Flink kam Lovis der Aufforderung nach und zauberte ein Paar warmer Socken aus ihrer Handtasche hervor, die sie Freja überstreifte. Dann gab sie dem Mädchen einen Kuss auf den Schopf und zog sie wieder auf die Füße. Gemeinsam liefen sie Declan und Rose hinterher, die durch einen Gang geradewegs in eine riesige Wohnküche steuerten.

Lovis wurde von einer unerwartet wohligen Wärme empfangen. Darunter mischte sich der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen, den sie rechts in der Küche auf einem Blech entdeckte. Rose musste ihn, wie angekündigt, eben erst aus dem Ofen geholt haben. Während sich die Irin um den Tee kümmerte, zeigte Declan zuvorkommend mit der Hand in den offenen Raum.

»Fühlt euch wie zuhause.«

Unauffällig unterzog Lovis ihre Umgebung einer Musterung. Rechts befand sich eine gut ausgestattete helle Küche, die zur Mitte des Raumes mit einer von beiden Seiten zugänglichen Arbeitsfläche abgetrennt war. Links thronte ein herrlich langer Holztisch, an dem mehr als ein Dutzend Menschen Platz finden würde, wenn man es darauf anlegte. Verschiedene Stühle sowie eine Holzbank boten genügend Sitzgelegenheiten und waren mit lieblichen roten und weißen Dekokissen versehen. Gleich hinter dem Tisch bemerkte Lovis zwei bodentiefe, äußerst breite Fenster, die auf eine stattliche Terrasse und in den Innenhof führten.

Declan setzte sich an den Esstisch und unterbrach Lovis’ Begutachtung mit seiner angenehm tiefen Stimme. »Setzt euch doch.«

Der irische Akzent erinnerte Lovis an ihren Großvater. Callahan O’Leary. Vor etwas mehr als einem Monat war er überraschend im Alter von sechsundachtzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Für Lovis war damit ein Teil ihrer heilen Welt eingebrochen. Zudem hatte sich eine Frage in ihren Verstand gebohrt, die sie einfach nicht mehr losließ. Wieso war niemand aus seiner Zeit in Irland zur Beisetzung erschienen?

Hinzu kam, dass ihr Großvater sowohl Lovis als auch ihrem Bruder Gustav zu ihrer beider Überraschung eine Immobilie auf irischem Boden vererbt hatte. Anlass genug für Lovis, sich auf die grüne Insel zu begeben und den Geheimnissen um diesen Besitz persönlich auf den Grund zu gehen.

Jetzt ließ Lovis sich gegenüber von Declan auf einem Stuhl nieder. Freja kletterte sogleich zielgerichtet auf den Schoß ihrer Mutter. Ihren weißgrauen Stoffhund mit dem rotweißen Schal um den Hals vor sich auf dem Tisch platzierend, grinste sie den älteren Mann verstohlen an. Lovis unterdrückte ein Schmunzeln. Ihre Tochter mochte auf den ersten Blick zurückhaltend wirken. Aber dieser kleine Racker hatte es faustdick hinter den Ohren. Fühlte Freja sich irgendwo sicher und geborgen, zog sie die Menschen schnell in ihren Bann und wickelte einen nach dem anderen um ihre zierlichen Fingerchen.

Declan verteilte die Teller und Tassen, die Rose soeben zum Tisch gebracht hatte, und zwinkerte Freja zu. Die kicherte und kuschelte sich tiefer auf Lovis’ Schoß. Gleich darauf erschien Rose erneut an Declans Seite. Diesmal mit einer Kanne dampfendem Tee sowie einer Auswahl des frischen Apfelkuchens auf einem hübschen Servierbrett. Als wäre Lovis längst ein gern gesehener Gast im Hause O’Sullivan, lud Rose ihr eine extragroße Portion auf, goss den noch heißen Tee in Lovis’ Tasse und richtete sich dann an Freja. Sie öffnete bereits den Mund, als sie das Mädchen erstmals richtig in Augenschein nahm. Sofort veränderte sich ihr Blick, wie Lovis irritiert bemerkte.

Da Rose nicht sagte, was sie wohl ursprünglich hatte äußern wollen, wurde es auf einmal seltsam still in der Küche. Die ältere Frau hielt noch immer die Gabel in Händen, mit der sie Lovis den Kuchen aufgeladen hatte, doch schien sie daran gar nicht mehr zu denken. Ihr Blick konzentrierte sich allein auf Freja, und wenn Lovis sich nicht täuschte, glitt sie für einen kurzen Moment in eine andere Welt ab. So als würde Freja Rose an eine längst vergangene Zeit erinnern. Declan, dem die Stille ebenfalls auffiel, ließ seine Augen zwischen seiner Frau und Freja hin und her gleiten. Schließlich hob sich einer seiner Mundwinkel zu einem versteckten Lächeln.

Rose hingegen riss letztlich den erstaunten Blick von Freja und guckte zu ihrem Mann. »Du siehst sie doch auch, oder? Das bilde ich mir doch nicht ein.«

Declan schmunzelte. »Ja, ich sehe sie.«

Fragend schaute Lovis zu den beiden vollkommen Fremden, in deren Küche sie mit ihrer Tochter saß. Freja gierte bereits unbekümmert nach dem duftenden Apfelkuchen.

Rose schüttelte hastig den Kopf und murmelte ungläubig: »Das Leben spielt einem manchmal aber auch eigenartige Streiche.«

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Lovis nun doch, da sie nie gern im Unklaren gelassen wurde.

»Kein Anlass zur Sorge.« Declan lächelte nachsichtig. Als Rose sich neben ihn gesetzt hatte, erkundigte er sich charmant, aber offensichtlich neugierig: »Du wolltest also meine Eltern sprechen?«

»Richtig.« Lovis nickte und nahm damit die persönliche Anrede an, die Declan ihr eben angeboten hatte.

»Wieso?«, hakte Rose nach, die sich mit einem Seitenblick auf Freja noch immer über irgendetwas zu wundern schien. Lovis schlang daraufhin einen Arm um Frejas zarten Körper, so als müsste sie sichergehen, dass ihre Tochter fest auf ihren Oberschenkeln saß.

Lovis schluckte und tat, als würde sie sich auf den Apfelkuchen konzentrieren, der bereits in Frejas Mund verschwand und von einem süßen Schmatzen gebührend gewürdigt wurde. Das Geräusch, das Lovis nur allzu gut kannte, spendete ihr einen erneuten Schub Mut und ließ sie den Fremden erklären, weshalb sie hier unangekündigt auftauchte.

»Mein Großvater hat mich geschickt. Auf gewisse Art und Weise. Er starb vor etwas mehr als einem Monat. In seinem Testament hat er uns, also mir und meinem Bruder, allerdings nur sehr kryptische Informationen hinterlassen.« Lovis unterdrückte die aufkommende Trauer, die sich in Sekundenschnelle über sie legte und sie zu Boden drücken wollte. Um sich selbst zu beruhigen, strich sie Freja über den lockigen blonden Schopf und wurde sich der süßen Wärme gewahr, die das kleine Mädchen ausstrahlte. »Er ist vor einer ganzen Weile von hier fortgegangen und nie zurückgekommen.«

Lovis hob den Blick und bemerkte eine Veränderung in Declans Gesicht. So als würde ihn eine Vorahnung überkommen. Energisch sprach sie weiter, während Freja sich den Kuchen schmecken ließ.

»Ich bin hier, weil ich verstehen will, warum er damals gegangen ist und nie ein Wort über seine Heimat oder den Grund für seinen Umzug nach Schweden verloren hat.«

»Callahan O’Leary ist dein Großvater.« Es war eine Feststellung, keine Frage, die da aus Declans Mund herausstob.

Überrascht nickte Lovis. »Woher …?«

»Appleaugh ist ein beschaulicher Ort. Wenn hier Dinge geschehen, die so aufwühlend sind, dass jemand für immer von hier fortgeht, bleibt das im allgemeinen Gedächtnis der Stadt«, erklärte Declan sachlich.

»Das muss ewig her sein.« Rose schüttelte verwundert den Kopf.

»Vierundsechzig Jahre«, bestätigte Lovis.

»Und er hat dich ausgerechnet zu uns geschickt?« Rose nahm einen Schluck von ihrem Tee, ließ die kleine Freja jedoch keine Sekunde aus den Augen.

»Sozusagen. In seinem Testament erwähnte er, sollten wir entscheiden, die Immobilie in Irland behalten zu wollen, müssten wir mit Widerstand im Ort rechnen. Und sollte das der Fall sein, sollen wir uns an Ella und Farrell O’Sullivan wenden. Sie würden wissen, was zu tun ist.« Unsicher blickte sie zu Declan und Rose. »Ich … Ich will mich niemandem aufdrängen, es ist nur … Mein Großvater war ein gütiger Mann. Ein guter Mann. Er hat meine Großmutter auf Händen getragen, meine Mutter von Herzen geliebt und war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Trotzdem hat er nie erzählt, was ihn aus seiner Heimat vertrieben hat. Aber jetzt erben wir auf einmal ein Haus an der irischen Ostküste und werden gleichzeitig von meinem Großvater davor gewarnt.«

Rose sah eindringlich zu ihrem Mann, während dieser tief Luft holte und seine Tasse zwischen Daumen und Mittelfinger auf dem Tisch hin und her drehte.

»Wir beide«, er nickte zu seiner Frau, »waren selbst gerade einmal in Frejas Alter, als diese Dinge ihren Lauf nahmen. Meine Eltern könnten dir sicherlich mehr erzählen. Nur ist es so, dass …« Er legte eine bedauernde Pause ein, in der Lovis sich bereits am Ende ihrer frisch aufgenommenen Fährte wähnte.

»Mein Vater starb dieses Frühjahr. Meine Mutter stürzte daraufhin in eine tiefe gesundheitliche Krise.« Ein trauriges Lächeln glitt über Declans Züge, und Rose legte ihre Hand liebevoll auf seine, die sich immer unruhiger an dem Porzellan zu schaffen machte. »Sie hat über die letzten Monate massiv abgebaut. Sowohl körperlich als auch geistig. Es ist, als …« Declan, der Lovis bisher wie ein sanftmütiger, aufmerksamer Mann vorgekommen war, schien ein Gefühl der Wut zu unterdrücken. »Sie hat sich nach dem Tod meines Vaters aufgegeben. Deshalb ist es kaum denkbar, dass sie sich derzeit an etwas erinnert, das vor so vielen Jahren geschehen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt Tage, an denen erkennt sie nicht mal mehr jemanden aus der Familie.«

»Das tut mir leid.« Lovis biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass auch auf dieser Seite der Geschichte das Alter und damit verbunden der Gesundheitszustand möglicher Beteiligter eine wesentliche Rolle bei ihren Recherchen spielen könnte. Trotzdem hatte sie die leise Hoffnung gehabt, positiv überrascht zu werden und eventuell auf eine redselige Rentnerin zu treffen, die endlich alte Geheimnisse loswerden wollte.

Rose’ sanfte Stimme klang über den Tisch herüber. »Callahan O’Leary hat euch etwas vererbt? Hier in Appleaugh?«

Lovis nickte. »Ja, ein Haus, wie es scheint. Ich war noch nicht dort. Wir sind vom Flughafen direkt … hierher.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hätte uns vielleicht vorher anmelden sollen, statt einfach vor der Tür zu stehen, wenn ich jetzt darüber nachdenke.«

»Ach was.« Rose lächelte. »Bei den O’Sullivans sind alle jederzeit willkommen.«

Declan stimmte seiner Frau nachdenklich zu. »Vielleicht können wir trotzdem helfen. Wie lange werdet ihr in Appleaugh bleiben?«

Unschlüssig zuckte Lovis mit den Schultern. »Ich bin noch nicht sicher. Mein Bruder wollte uns eigentlich begleiten und einen Blick auf das Haus werfen, aber er ist beruflich verhindert. Insofern werde ich mich zunächst allein darum kümmern.«

»Wieso kommt ihr morgen nicht noch einmal her? Bis dahin können Declan und ich vielleicht ein paar Erkundigungen einholen, und eventuell finden wir einen anderen Ansatz für deine Nachforschungen.«

Erstaunt schnappte Lovis nach Luft. »Das würdet ihr tun?«

Declan, der wieder zu seinem alten umsichtigen Ich zurückgefunden hatte, nickte. »Ich weiß nicht viel über Callahan O’Leary. Aber was ich weiß, ist, dass meine Eltern ihm damals zur Flucht aus Appleaugh verholfen haben. Und das hätten sie nicht getan, wenn sie nicht an ihn und seinen Charakter geglaubt hätten. Es ist also nur richtig, wenn wir dir nun unsere Hilfe anbieten.«

In diesem Augenblick ertönte ein wohliges Seufzen von Lovis’ Schoß. Mit zwei Händen schob Freja den inzwischen leeren Teller von sich und griff selig nach ihrem Stoffhund.

Lächelnd beugte Lovis sich seitlich zu ihr nach vorn.

»Bist du satt geworden, mein Schatz?«, fragte sie die Kleine auf Schwedisch. Freja lachte und presste die Lippen grinsend aufeinander, während sie den Kopf schief legte und zu dem restlichen Kuchen hinüberblinzelte.

»Du willst noch mehr? Das war doch schon ein großes Stück«, meinte Lovis in liebevoller Strenge. Doch Freja spitzte den kleinen Mund, schob ihn auf die linke Seite und übte sich in ihrem süßesten Augenaufschlag, sodass Lovis bald schon lachen musste. Sie zog ihre Tochter zärtlich an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Aber nur, weil wir heute ein kleines Abenteuer beginnen und dafür viel Kraft brauchen, okay?«

Abwartend und schmunzelnd beobachteten die O’Sullivans ihre Gäste, von deren Unterhaltung sie logischerweise nichts verstanden hatten. Lovis wechselte zurück ins Englische.

»Freja und ich würden eure Hilfe gerne annehmen.« Sie lächelte. »Und von diesem Apfelkuchen würden wir auch noch etwas naschen.«

Lachend griff Rose nach der großen Gabel. »Abgemacht!«

Zwei

Conor fuhr zügig auf den Hof der O’Sullivans. Die Staubwolke, die er aufwirbelte, hüllte ein entgegenkommendes Fahrzeug ein, sodass er nicht erkannte, wer seine Eltern soeben besucht haben mochte.

Davon unbeeindruckt parkte er seinen Wagen an der Mauer des Wohnhauses und verließ seinen Range Rover. Er war müde. Hundemüde. Kein Wunder, hatte er doch eine Achtundvierzigstundenschicht hinter sich. Eine, die sich gewaschen hatte.

Eigentlich sollte er auf direktem Weg nach Hause sein, ins Bett fallen und erst morgen früh wieder unter die Lebenden treten. Doch er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, besonders nach solch anstrengenden Tagen als Erstes auf eine Tasse Tee bei seinen Eltern vorbeizuschauen, gedanklich runterzukommen und im Anschluss den Heimweg anzutreten. Er hatte oft genug versucht, sich zunächst auszuschlafen und danach auf den Hof der O’Sullivans zu fahren, aber er fühlte sich jedes Mal furchtbar gerädert, wenn er aufwachte. Warum also ein System umgehen, das funktionierte, so komisch es auch sein mochte?

Letztes Jahr noch war er zu seinen Großeltern nach Apple Tree Hill gefahren, doch das heimelige Cottage stand zu Conors Bedauern seit einigen Monaten leer. Sein Grandpa verstorben, seine Granny … Er seufzte. Er würde sie morgen im Pflegeheim besuchen. So wie immer an seinem ersten von zwei freien Tagen.

Ohne anzuklopfen, öffnete Conor die markante Haustür seiner Eltern und trat in den altbekannten Flur seiner Kindheit ein. Er wollte sich bereits die Sneaker von den Füßen streifen, als er irritiert innehielt. Etwas war anders als sonst. Das übliche Chaos aus Jacken, Stiefeln und Schuhen bestimmte die Garderobe. Auch der Geruch von frischem Apfelkuchen, den seine Mutter heute gebacken haben musste, lag wie so oft in der Luft. Aber da war noch etwas. Conor schaute sich suchend um, konnte jedoch keine Veränderung entdecken. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, konzentrierte sich auf seine gut ausgebildeten Sinne, und plötzlich vernahm er einen unterschwelligen Duft, der ihm bekannt vorkam.

Es roch süßlich, aber nicht nach Apfel und Zimt. Abseits vom Kuchen seiner Mom lag etwas Fruchtiges in der Luft. Etwas, das in ihm einen Gedanken weckte, den er nicht so recht lesen konnte. So als wäre er ziemlich verstaubt und weit hinten in seinem Gedächtnis gelagert worden.

Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken konnte, erschien Rose O’Sullivan in dem schmalen Gang, der von der Küche in den Flur führte.

»Conor! Worauf wartest du? Komm rein!« Die Frau, die immerhin einen Kopf kleiner war als er, umarmte ihn energisch und schob ihn dann ebenso eifrig in die Wohnküche des alten Landhauses.

Auf dem Esstisch wartete bereits ein großes Stück Apfelkuchen auf ihn, ebenso eine dampfende Tasse Tee. Als Conor von seiner Mom auf den entsprechenden Stuhl gedrückt wurde, nahm er für eine Millisekunde erneut diesen süßen, fruchtigen Duft wahr. Doch dann vernebelte der Apfelkuchen vor ihm sein müdes Hirn und verdrängte jegliche Erinnerungen, auf die er hätte stoßen können.

»Wie war deine Schicht?«, erkundigte sich Rose O’Sullivan mit dem typisch besorgten Blick einer Mutter. Es gefiel seinen Eltern nur bedingt, dass er sich vor einiger Zeit entschieden hatte, der Berufsfeuerwehr beizutreten.

»Einsatzlastig. Aber an sich gut.« Conor schüttelte den Kopf. »Ich verstehe einfach nicht, wieso die Leute auf den engen Straßen immer so rasen müssen. Wir hatten allein in dieser Schicht zwei schwere Unfälle zu bewältigen. Bei einem wissen wir nicht mal, ob der Fahrer durchkommt.«

Rose setzte sich zu ihrem Sohn und seufzte. »Die Menschen werden es wohl nie lernen.«

Conor nickte notgedrungen und fiel über den abgekühlten Apfelkuchen her. Wie immer, wenn er direkt von der Arbeit kam, wechselte er schnell das Thema.

»Wie war euer Tag?«

Normalerweise begann seine Mom augenblicklich mit einer amüsanten Anekdote aus dem Dorf, vom Hof oder aus der Familie. Doch heute schien sie ungewöhnlich lange zu überlegen, sodass Conor schließlich von seinem Kuchen aufsah. Das Gesicht seiner Mutter wirkte nachdenklich.

»Wir hatten vorhin spontanen Besuch«, meinte sie irgendwann.

»Ist Clare früher gekommen?« Conor dachte an seine Schwester, die Älteste im Bunde neben ihrem Zwillingsbruder Cillian, der mit seiner Familie nicht weit vom Haus seiner Eltern entfernt lebte. Heute war Donnerstag, und seit einigen Jahren hatten die O’Sullivans es sich zur Tradition gemacht, am dritten Freitag im Monat auf dem Hof zusammenzukommen. Conor mochte dieses Ritual. Es sorgte dafür, dass die Familie, die zuweilen weit verstreut lebte, regelmäßig ohne große Mühe aufeinandertraf.

Neben Clare und Cillian, den Zwillingen, gab es da noch Sean und William. Dann an fünfter Stelle stand er, Conor. Ihm folgten wiederum noch zwei weitere Brüder nach, Daniel und Finn. Insgesamt waren sie also zu siebt. Die vier Ältesten von Clare bis William waren bereits in festen Händen. Bis auf William hatten die älteren Geschwister von Conor auch schon Kinder. Etwas, das er sich mit seinen zweiunddreißig Jahren noch gar nicht vorstellen konnte. Er liebte seine Neffen und Nichten und freute sich immer, sie zu sehen. Aber selbst Vater werden? Nein, dafür war er einfach noch nicht bereit. Wenn er es denn jemals sein würde …

Mochten ihm durch seine Arbeit und sein Äußeres zwar im ersten Moment zahlreiche Frauen erlegen sein, so ergab sich bei genauerem Hinsehen schnell, dass die Herausforderungen seiner Schichtarbeit nur wenige bis gar keine Frauen zu schultern wussten. Also beließ er es bei lockeren Affären und bediente den Ruf des lebenshungrigen Junggesellen, der den gewissen Adrenalinkick brauchte. So musste er sich auch bei niemandem rechtfertigen, wenn er überproportional viel Zeit in sein Engagement im Ort fließen ließ. Wenn er nämlich nicht auf der Feuerwache war, widmete er sich beinahe durchgehend den Menschen in Appleaugh. Das hatte ihm mit der Zeit ein ehrenwertes Ansehen eingebracht. Die Leute wussten, auf Conor konnten sie zählen. Jederzeit. Er war zugleich flirtender Charmeur sowie bodenständiger Helfer.

»Clare, James und die Kinder kommen erst morgen.« Rose zog die Stirn in Falten. »Nein, eine junge Frau war vorhin hier. Mit ihrer Tochter. Die Kleine sah aus wie …« Rose schüttelte den Kopf. »Na, lassen wir das. Jedenfalls wollte sie deine Großeltern sprechen. Ella und Farrell.«

»Wieso?«

»Scheinbar hat ihr Großvater sie zu ihnen geschickt. Er ist ein ehemaliger Einwohner aus Appleaugh.«

»Das klingt mysteriös.« Conor kniff die Augen zusammen. »Was heißt ›ehemaliger Einwohner‹?«

»Er verließ die Stadt vor über sechzig Jahren.«

»Und warum taucht seine Enkelin plötzlich hier auf?« Conor lag nicht viel an Tratsch, aber diese Geschichte schien genau das Richtige zu sein, um seinen Adrenalinpegel von der Arbeit zu senken.

Rose goss sich von dem Tee nach und schien ein wenig ratlos. »Ihr Großvater ist vor Kurzem gestorben. Jetzt tritt sie sein Erbe an und will gleichzeitig herausfinden, warum er einst aus Appleaugh fortgegangen ist. Er hat wohl ein großes Geheimnis daraus gemacht.«

»Er hat zu Lebzeiten nie etwas dazu gesagt?«

»Ihren Worten zufolge nicht.«

Conor schluckte einen Bissen Apfelkuchen hinunter. »Warum wühlt sie in der Vergangenheit herum? Was verspricht sie sich davon?«

Rose überlegte. »Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, der Herbst in Appleaugh könnte unruhiger werden, als wir angenommen haben.«

Conor grinste amüsiert. »Eine Fremde, die in der Vergangenheit wühlt? Aber hallo!«

Rügend betrachtete Rose ihren Sohn. »Das ist eine ernste Angelegenheit, Conor.«

»Du weißt, wie ich das gemeint habe.« Entschuldigend hob er die Hände. Sachlich fragte er: »Warum war sie heute bei euch?«

»Ihr Großvater hat sie an Farrell und Ella verwiesen. Als sie nach deinen Großeltern gesucht hat, ist sie wohl auf unseren Hof gestoßen.«

Ein flaues Gefühl überkam Conor. Leise meinte er: »Dann sollte sie auf ihrer Suche nicht viele Antworten erwarten, oder?«

»Dafür kommt sie ein Jahr zu spät«, stimmte seine Mom ihm bedächtig zu. Doch dann setzte sie ein Lächeln auf. »Aber vielleicht finden wir eine Alternative. Dein Vater ist vorhin bereits los ins Dorf und hört sich ein wenig um.«

»Ihr wollt ihr helfen? Wieso das?«

Rose erhob sich von ihrem Stuhl. »Weil jeder von uns Antworten verdient. Callahan O’Leary ist weit weg von seiner Heimat gestorben und hat keinen einzigen Tag seit seiner Abreise über diesen Ort gesprochen. Das machen Menschen nur, wenn ihnen großes Leid widerfahren ist. Es ist doch nur nachvollziehbar, dass seine Enkelin jetzt wissen will, was hier geschehen ist. Deine Großeltern scheinen eine wesentliche Rolle dabei gespielt zu haben. Und damit ist es nun unsere Pflicht, ihr unter die Arme zu greifen.«

Conor dachte einen Moment darüber nach. »Manche Geheimnisse tun besser daran, verborgen zu bleiben. Es wird seinen Grund haben, wieso dieser Callahan nie ein Wort darüber verloren hat.«

Rose kam um den Tisch herum, legte eine Hand auf die Schulter ihres Sohnes und drückte sanft zu. »Männern dieser Generation hätte es oftmals gutgetan, offener über zahlreiche Dinge zu sprechen. Das hätte vielen Familien eine Menge Ärger, Streit und Trauer erspart. Glaub mir, Conor. Das zieht sich manchmal noch bis in eure Generation. Sieh dir deine Brüder an. Hätten sie alle ein bisschen früher ihren Mund aufgemacht, wäre es ihnen wesentlich leichter ergangen.«

Schweigend dachte Conor an seinen ältesten Bruder Cillian. Vor bald zehn Jahren war dessen erste Frau ums Leben gekommen. Daraufhin hatte dieser sich hinter eine Mauer der Trauer zurückgezogen. Nur dass er nicht bloß sich dort eingesperrt hatte, sondern auch seinen damals dreijährigen Sohn Liam. Dieser hatte für fast zwei Jahre seine Sprache verloren. Erst ein eigenwilliger Zufall hatte es gewollt, dass Liam ausgerechnet bei einer Star-Tänzerin aus Dublin, die auf der Flucht vor der Presse in Appleaugh gelandet war, endlich wieder anfing zu reden. Damit hatte Aeryn am Ende nicht nur Liam, sondern auch Conors Bruder aus der Einsamkeit geholfen.

Während Rose etwas in der Küche hantierte, schweiften Conors Gedanken weiter zu seinem Bruder Sean. Der Mann, der innerhalb kürzester Zeit vom Straßenmusiker zum weltweit erfolgreichen Popstar aufgestiegen war und heute Stars wie Taylor Swift und Ed Sheeran auf seiner Kurzwahlliste hatte. Doch das Glück war ihm nicht immer hold gewesen. So hatte ihn vor einigen Jahren, am Ende seiner Welttournee, die Diagnose Multiple Sklerose ereilt. Doch statt sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen und die Wut darüber mit seiner Familie zu teilen, war er einsam in eine Schaffenskrise geschlittert. Erst seine neue Agentin hatte ihn mit einem gehörigen Tritt in den Hintern aus diesem Loch holen und Sean davon überzeugen können, über die Krankheit zu sprechen und ihr so den Schrecken zu nehmen. Heute war Lilly nicht länger Seans Agentin, stattdessen waren die beiden glücklich verheiratet und Eltern einer kleinen Tochter.

Und dann war da noch William. Conor seufzte unwillkürlich. Er hatte es sich von allen wohl am schwersten gemacht. Die Diagnose von Sean hatte Conors nächstälteren Bruder so verunsichert, dass dieser krampfhaft versucht hatte, jegliches Leid von den O’Sullivans fernzuhalten. Statt zu einem One-Night-Stand zu stehen und offen damit umzugehen, eine ihm quasi unbekannte US-Amerikanerin geschwängert zu haben, hatte William sie als seine frisch angetraute Frau an Weihnachten mit nach Hause gebracht und gezwungen, sich bei den O’Sullivans möglichst unbeliebt zu machen – denn sie war trotz Schwangerschaft gegen diese Ehe gewesen und wollte ihr keine Zukunft geben. Eine baldige Scheidung stand bereits im Raum. Es war genauso verworren gewesen, wie es heute noch klang.

Und wie recht Conors Mom doch hatte. Hätte William von Beginn an offengelegt, wie sich die Sache tatsächlich zugetragen hatte, hätte er sich und Vic viel Leid erspart. Am Ende hatten sie es trotzdem gedeichselt und wider Erwarten ihr Happy End gefunden. Trotzdem … Es hätte einfacher sein können.

Conor war dankbar, dass seine älteren Brüder es doch alle irgendwie geschafft hatten. Aber wenn er eine Lehre aus ihren Geschichten zog, dann, dass Geheimnisse und unnötiges Schweigen das Leben nur erschwerten. Vielleicht war er deshalb auch nicht der Typ für langfristige Beziehungen. Abseits seines Jobs legte er eine radikale Ehrlichkeit an den Tag, was die eine oder andere Frau schon mal vor den Kopf stieß.

»Wer kommt morgen alles?«, fragte Conor, um sich abzulenken. Er wandte den Kopf herum und vernichtete das letzte bisschen Kuchen auf seinem Teller.

»Die ganze Bande, bis auf William natürlich.« Seine Mom nickte zufrieden. »Oh, und wir haben Lovis und ihre Tochter ebenfalls eingeladen. Es kann nicht schaden, wenn sie hier ein bisschen Anschluss finden.«

»Lovis?« Der Name kam Conor bekannt vor. Doch würde er ihn kaum hier aus der Gegend kennen. Niemand in Irland trug einen solch ungewöhnlichen Namen.

»Ja, sie ist Schwedin. Zu einem Viertel irisch, wenn man genau sein will.« Rose grinste und kehrte zu ihrem Sohn zurück. »Zeig dich morgen von deiner höflichen Seite.«

In gespielter Entrüstung hob Conor den Kopf. »Ich bin immer höflich.«

»Und sehr direkt.«

»Daran ist nichts verkehrt«, hielt Conor dagegen.

»Das nicht, aber zu lernen, wann und in welchen Dosen diese Direktheit eingesetzt werden darf, schadet auch nicht.« Rose schmunzelte und setzte sich wieder zu ihrem Sohn.

Sie plauderten noch etwa eine Stunde, dann brach Conor auf. Draußen auf dem Hof begegnete er seinem Vater, der gerade aus dem Ort zurückkam.

»Hi Dad!«

»Conor, mein Junge!« Erfreut umarmte Declan seinen Sohn. »Alles in Ordnung?«

»Ja, nur eine anstrengende Schicht.«

Wissend nickte Declan. Dann musterte er seinen Sohn wachsam. »Der Apfelkuchen deiner Mutter hat dich wieder geerdet?«

Ertappt seufzte Conor und zuckte mit den Schultern. »Hier auf dem Hof komme ich eben runter.«

»Sollte dir das nicht zu denken geben?«

»Fangen wir nicht wieder damit an. Ich mag meinen Job.«

»Das bezweifelt auch niemand.«

Conor spürte Unruhe in sich aufkommen. »Hör auf, es mir auszureden, Dad.«

»Das will ich gar nicht.«

Wie ein trotziges Kind umklammerte Conor seine Autoschlüssel. »Klingt aber danach.«

Bevor Declan seinen Sohn korrigieren konnte, fragte dieser um einen Themenwechsel bemüht: »Mom meinte, du hast dich für diese Frau umgehört? Die, die euch heute besucht hat.«

»Ja, ich fürchte allerdings, dass sie es ziemlich schwer haben wird.«

»Weshalb?«

Declan zögerte einen Moment. »Die Leute scheinen auf ihren Großvater nicht besonders gut zu sprechen zu sein.«

Conor zuckte mit den Schultern. »Ich sag’s ja. Sie sollte die Vergangenheit ruhen lassen.«

Tadelnd betrachtete sein Vater ihn. »Würdest du es an ihrer Stelle? Deine Mutter hat dir ja von ihr erzählt, nicht?«

»Ja, aber ganz ehrlich, wozu Staub aufwirbeln?«

Declan klopfte seinem Sohn sanft auf die Schulter, während er an ihm vorbeilief. »Wie machen du und deine Kollegen das noch gleich? Ihr sucht stets die Brandursache nach einem Feuer. Wozu?«

Conor drehte sich um und rief: »Das ist etwas völlig anderes.«

Declan blieb stehen und wandte sich noch einmal um. »Die Geschichte unserer Vorfahren ist auch unsere Geschichte. Sie macht uns zu den Menschen, die wir sind. Herausfinden zu wollen, warum ihr Großvater vor über sechzig Jahren dieses Land für immer verlassen hat, mag vieles erklären, das später auch Lovis’ Leben beeinflusst hat. Das sollten wir nicht unterschätzen.«

Conor seufzte und fuhr sich durch die haselnussbraunen Haare, die einen unübersehbaren Rotstich aufwiesen. »Ich bin müde, Dad.«

Es klang wie eine Ausrede, um das Gespräch zu beenden, doch Declan O’Sullivan schmunzelte verständnisvoll. »Wir sehen uns morgen. Schlaf dich aus.«

Conor nickte seinem Vater zu, begab sich zu seinem Range Rover und fuhr vom Hof. Während er die verschlungene Straße nach Appleaugh nahm, dachte er darüber nach, wie viel Mut es eine junge Frau kosten musste, in ein fremdes Land zu reisen und nach einer sechzig Jahre alten Wahrheit zu suchen.

Unwillkürlich wurde er neugierig, was für ein Mensch diese Lovis wohl sein mochte. Aber bevor er einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, musste er sich dringend ausschlafen.

Drei

Es war spät geworden. Nachdem Lovis wesentlich länger bei den O'Sullivans geblieben war als gedacht, lenkte sie den Mietwagen, an dessen rechte Fahrerseite sie sich erst noch gewöhnen musste, in eine breite Auffahrt. Das Grundstück befand sich am Ortsausgang und lag etwas abseits. Laut Navi war sie jedoch an der richtigen Adresse. Lovis wusste nicht so recht, was sie sich vorgestellt hatte, also sollte sie wohl kaum überrascht sein, dass das Gebäude rechts vor ihr einer heruntergekommenen Hütte glich. Es dämmerte längst, was den verfallenen Schein womöglich nur noch verstärkte.

Ein Seufzen unterdrückend kratzte Lovis all ihren Optimismus zusammen und stieg aus dem Auto. Dann lief sie einmal um das Fahrzeug herum, um Freja vom Rücksitz zu befreien. Eifrig kletterte das Mädchen von seinem Kindersitz herunter und stürmte an Lovis vorbei, um ihr Zuhause für die kommenden Tage oder vielleicht sogar Wochen zu betrachten.

Womöglich musste Lovis diese Idee allerdings nochmal überdenken. Denn von außen wirkte das Gebäude nicht sonderlich vertrauenserweckend. Aber was hatte sie auch erwartet? Ihr Großvater war seit Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen. Ein Wunder, dass dieses Cottage überhaupt noch stand und nicht längst in sich zusammengefallen war.

»Wollen wir mal reingucken?«, fragte Lovis, als sie neben ihre aufgeregte Tochter trat.

Ihren Stoffhund fest unter das Ärmchen geklemmt, nickte Freja. »Ja!«

Lovis angelte den Schlüssel, den der Notar ihr in Schweden überreicht hatte, aus ihrer Handtasche. Dann griff sie nach Frejas Hand, und gemeinsam durchquerten sie das kniehohe Gras, das sich des Gartens bemächtigt hatte. Sie passierten zwei alte knorrige Apfelbäume, an deren starren Ästen kleine runde Früchte hingen, die ihre Lebensdauer längst überschritten hatten, sich aber offenbar weigerten, wie der Rest ihrer Kumpane auf die Erde hinabzufallen und dort zu vergehen.

Vier ungleiche Stufen führten hinauf zur Haustür, die schon deutlich bessere Tage gesehen hatte. Mit einer entschlossenen Bewegung steckte Lovis den Schlüssel in das angerostete Schloss und drehte zeitgleich an dem Knauf. Natürlich rührte sich rein gar nichts. Ein weiteres Mal ruckelte sie an der Tür, wandte den Schlüssel in alle möglichen Richtungen und warf sich schließlich gegen das morsche Holz. Wie um zu bestätigen, dass es manchmal ein bisschen Gewalt brauchte, gab die Tür nach und sprang auf.

»Na, das war vielleicht eine freche Tür!« Lachend drehte Lovis sich zu ihrer Tochter. Sie musste gute Laune versprühen. Nicht nur um Freja in Sicherheit zu wiegen, sondern auch um ihren eigenen Mut nicht zu verlieren.

Frejas besorgtes Gesicht brachte sogleich ein herrliches Kichern hervor.

»Freche Tür«, wiederholte sie und griff wieder nach der Hand ihrer Mutter.

Erleichtert darüber, dass Freja sich so unbedarft von den Emotionen ihres Gegenübers leiten ließ, atmete Lovis tief durch und schwang die knarzende Haustür etwas weiter auf. Sie betraten einen winzigen Windfang, aus dem ihnen ein muffiger Geruch entgegenschlug. Vermutlich atmeten sie Luft ein, die vor Jahrzehnten in diesem Anwesen gestrandet und seither nie wieder ausgetauscht worden war.

Da es draußen zunehmend dunkler wurde, griff Lovis nach ihrem Smartphone, schaltete die Taschenlampenfunktion an und leuchtete in den nächsten Raum. Ein Wohnzimmer. In der Mitte befand sich ein runder Esstisch aus Holz mit fünf Stühlen. Daneben ein Ofen, der weniger für die Optik als für die Wärmezufuhr aufgestellt worden war. Links vor einem großen Fenster standen zwei blaue Sessel aus einer vergangenen Zeit, zwischen ihnen ein niedriger viereckiger Tisch, der sich perfekt für ein Schachbrett eignete.

Geradeaus bemerkte Lovis eine uralte Küchenzeile. Ein Spülbecken, einen Gasherd und diverse kleine Schränke, in denen man Geschirr und Töpfe unterbringen konnte. Als der Lichtstrahl auf die Oberfläche traf, rutschte Lovis ein entsetztes »Ach herrje« heraus, das Freja bereits im nächsten Atemzug wiederholte. Allerdings mit solch einer süßen Kinderstimme, dass Lovis unwillkürlich die Lippen zu einem Grinsen verzog.

»Wieso herrje, Mama?«, fragte Freja danach.

Gemeinsam traten sie vorsichtig über die knarrenden Bodendielen näher an die Küche heran. Lovis deutete auf die Farbe und lachte.

»Eine orange Küche. Das sieht ganz furchtbar aus.«

Freja überlegte einen Moment.

»Freja mag orange!«, rief sie fröhlich.

Immerhin eine von uns, dachte Lovis und begutachtete die Staubschicht, die sich durch den gesamten Raum zog wie ein dicker grauer Teppich, den es besonders günstig im Ausverkauf gegeben hatte. Ihr Blick fiel auf eine Tür neben dem Kaminofen. Vorsichtig drehte sie den klapprigen Knauf herum und begab sich in einen schmalen dunklen Flur, von dem drei weitere Türen abzweigten. Zwei der Zimmer schienen einst als Schlafräume genutzt worden zu sein.

Das eine ein Elternschlafzimmer mit Doppelbett aus einfachen Holzstreben, das andere offenbar ein Kinderzimmer mit zwei Einzelbetten, die jeweils rechts und links an den Wänden standen. Die Matratzen waren mit weißen Tüchern abgedeckt worden, vermutlich um sie vor Staub zu schützen. Im Kinderzimmer erinnerten verfärbte Abdrücke an der Mauer an Bilderrahmen, die hier vor langer Zeit einmal gehangen haben mussten. Ebenso kleine Nägel, die verlassen aus dem Putz ragten.

Skeptisch lugten Lovis und Freja hinter die dritte Tür. Ein überschaubares Badezimmer. Immerhin mit Toilette, Waschbecken und einer Stehdusche. Trotz des offensichtlichen Alters wenigstens ein paar Annehmlichkeiten. Sofern sie denn noch funktionierten, überlegte Lovis und beschloss, das erst morgen bei Tageslicht zu testen. Frejas klamme Finger erinnerten Lovis daran, dass es mit zunehmender Dunkelheit auch kälter wurde. Immerhin war es Oktober. Und der Herbst in Irland war feucht und kühl.

Wie lange hatte man diese Mauern wohl schon nicht mehr beheizt? Wenn Lovis es beim Notar richtig verstanden hatte, war das Haus zuvor im Besitz von Callahans Mutter gewesen.

Lovis zog Freja zurück ins Wohnzimmer und beugte sich zu ihr hinab. Mit betont fröhlicher Stimme schlug sie vor: »Was hältst du davon, wenn ich es uns hier ein bisschen gemütlich mache und du so lange auf Idefix aufpasst?«

Argwöhnisch sah sich das Mädchen um, sodass Lovis eilig hinterherschob: »Ich bin die ganze Zeit hier, okay?«

»Helfen«, widersprach Freja.

»Du willst mir helfen?« Lovis bedachte ihre Tochter mit einem nachdenklichen Blick. Schließlich nickte sie. »Okay. Aber schön vorsichtig, ja?«

»Ja! Freja passt auf«, versprach das Mädchen, und Lovis kam nicht umhin, Stolz für dieses kleine Menschlein zu empfinden.

In Windeseile holten sie das Gepäck aus dem Auto, und mithilfe eines halbwegs nützlichen Korbs brachten sie einen Stoß Holz ins Wohnzimmer. Zwar mochte hier schon seit Ewigkeiten niemand mehr leben, doch hatte Lovis draußen auf der linken Seite des Hauses eine ganze Menge Kaminholz aufgereiht gefunden. Mit einigen Kerzen, die sie zuvor gekauft hatten, sorgte Lovis für Licht. Strom gab es im Cottage offenbar nicht. Vermutlich hatte man ihn vor Urzeiten abgestellt.

In der kommenden halben Stunde verwendete Lovis eines der mitgebrachten Handtücher als Putzlappen, um wenigstens die Oberflächen vom gröbsten Staub zu befreien. Freja unterstützte sie indes, indem sie fleißig die beiden Kissen ausklopfte, die auf den Sesseln gelegen hatten. Mit einem Besen fegten sie die knarzenden Dielen, und schon bald wurde ein alter zerschlissener Holzboden sichtbar. Gemeinsam setzten sich Lovis und Freja anschließend vor den klobigen Ofen neben dem Esstisch. Ein Glück, dass Lovis sich damit auskannte. Oft genug war sie früher mit ihren Schulfreundinnen beim Wandern in Schweden auf genau solche Öfen in etwaigen Hütten gestoßen. Sie besaß also Übung, was diese Art von Einheizen anging. Ebenfalls spielte es ihr in die Karten, dass tatsächlich noch alles an diesem Ding zu funktionieren schien. Lovis riskierte, alte Vogelnester im Schornstein zu erwischen, aber sie brauchten eine Wärmequelle für die Nacht. Und sie hatten offenbar Glück. Schon bald loderten warme Flammen auf und fielen gierig über die aufgestapelten Holzscheite her, während der Rauch problemlos durch den Tunnel nach oben abzog.

»Jetzt wird es gleich schön warm«, flüsterte Lovis am Schopf ihrer Tochter, die sich müde die Augen rieb. »Hast du Hunger?«

Freja nickte und hielt ihren Hund in die Höhe. »Idefix auch!«

»Na, dann wollen wir schnell etwas zu essen machen. Und dann geht's ins Bett. Ja, mein Schatz?«

»Tuftaf anrufen!«, warf Freja hastig ein und erinnerte Lovis daran, dass sie sich endlich bei ihrem Bruder melden musste. Schnell griff sie nach dem Jutebeutel, in den sie vorhin auf dem Weg von den O’Sullivans zum Cottage noch schnell ein paar Einkäufe gesteckt hatte. Brot, kleine Tomaten, Butter und ein bisschen Käse. Morgen würde sie mit Freja irgendwo frühstücken gehen und weitersehen. Dann würde sie auch entscheiden, ob sie überhaupt in diesem Haus bleiben konnten. Zwar hatte sie vorhin spontan auch zwei Schlafsäcke bei einem Sonderangebot im Supermarkt ergattern können, aber ob die auf Dauer ausreichen würden, war fraglich.

Während Freja glücklich an ihrem Käsebrot knabberte und eine runde Tomate in ihrem Mund verschwinden ließ, schnappte Lovis sich ihr Smartphone und suchte den Kontakt ihres Bruders heraus. Schon nach dem zweiten Freizeichen nahm er den Anruf an, und auf dem Display erschien sein attraktives, kantiges Gesicht – mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Lovis! Wieso meldest du dich erst jetzt? Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Tuftaf!«, rief Freja und sprang beinahe von ihrem Stuhl. Stolz hielt sie ihr Abendessen hoch. »Käseprooooot!«

»Guten Appetit, lilla rackare«, antwortete Gustav lachend und nannte Freja bei ihrem Spitznamen, der im Schwedischen so viel wie ›kleiner Schlingel‹ bedeutete. Beim Anblick seiner strahlenden Nichte schien er ein wenig besänftigt zu werden. »Ihr seid also gut angekommen?«

»Ja, sind wir.«

»Wo seid ihr jetzt?«

»In Morfars Cottage.« Morfar, das war in Schweden ›Mutters Vater‹, also der Großvater mütterlicherseits, und in Lovis’ und Gustavs Fall Callahan O’Leary.

Argwöhnisch riss Lovis’ Bruder die dunkelbraunen Augen auf. »Sag mir, dass es keine Bruchbude ist.«

Leicht gekränkt widersprach Lovis. »Nicht unbedingt eine Bruchbude.«

»Lovis …« Warnend und besorgt zugleich knurrte ihr Bruder aus tausenden Kilometern Entfernung in ihre Richtung. »Wir haben ausgemacht, dass du und Freja in einem Bed & Breakfast unterkommt. Wer weiß, wie sicher es dort ist. Wir wissen rein gar nichts über dieses Haus, geschweige denn die Gegend.«

Lovis musste zugeben, dass ihr Bruder streng genommen recht hatte. Sie sah sich aus dem Augenwinkel um. »Es steht bestimmt schon eine Weile leer. Aber Freja und ich haben es ein wenig herausgeputzt. Nicht, Freja?«

Sofort nickte Lovis’ Tochter und erzählte ihrem Onkel ihre Version vom Staubwischen, Fegen und Feuermachen. Gustav schien davon allerdings keineswegs begeistert zu sein. Lovis richtete die Kamera wieder auf sich und versuchte, den sorgenvollen Vorwürfen ihres Bruders zuvorzukommen. Das wenige Licht, das dank der Kerzen aufflimmerte, half ihr dabei allerdings nicht besonders.

»Ehrlich, ich passe auf uns auf. Wir bleiben heute Nacht hier. Das ist ein kleines Abenteuer für Freja. Und morgen bei Tageslicht schaue ich mir alles in Ruhe an, und falls ich merke, dass dieses Haus nicht auf längere Zeit bewohnbar ist, suchen wir uns ein nettes Bed & Breakfast. Versprochen.«

Grummelnd kniff Gustav seine Lippen zusammen und fuhr sich durch die blonden Haare, die sie beide gemein hatten. Lovis spürte, wie viele Sorgen er sich um sie machte. Er war eben doch der große Bruder, der nicht aus seiner Haut konnte.

»Mir gefällt das nicht.« Er schüttelte verzagt den Kopf. »Du hättest die Reise verschieben sollen, bis ich Zeit dafür gehabt hätte. Du solltest das nicht allein machen, Lovis.«

In Lovis regte sich Widerstand. »Ich bin eine erwachsene Frau und komme sehr gut allein zurecht. Ebenso bin ich eine verantwortungsvolle Mutter und sorge dafür, dass mein Kind alles hat, was es braucht.« Scharf schnitt ihre Stimme durch die Luft. Wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, jemand zweifelte an ihren Fähigkeiten als Mutter, nur weil sie alleinerziehend war. »Ich würde Freja nie in Gefahr bringen. Das weißt du!«

Beschwichtigend nickte Gustav. »Ich weiß. Ich mache mir doch nur Sorgen. Diese ganze Sache ist so … Wir sind Fremde und dringen in eine Welt ein, die Morfar aus guten Gründen verlassen hat.«

»Und trotzdem hat er uns dieses Haus hinterlassen. Er wird sich dabei etwas gedacht haben«, hielt Lovis aufgebracht entgegen.

Gustav schwieg. Zu lange für Lovis’ Geschmack. Freja mampfte währenddessen die Reste ihrer Käsestulle, deutete mit dem Finger auf die Tüte mit dem Brot und zeigte Lovis damit, noch eine Scheibe haben zu wollen. Zügig kam Lovis dem Wunsch ihrer Tochter nach und schob sich selbst eine Tomate in den Mund.

Dann endlich brach Gustav sein Schweigen. Behutsam und ganz der liebevolle Bruder wies er darauf hin: »Wir wissen nicht, was Morfar im Sinn hatte, aber klar ist, dass es einen Grund gibt, warum er nie über seine Heimat gesprochen hat.« Flehend suchte Gustav Lovis’ Blick. »Bitte, pass auf euch auf. Geh keine unnötigen Risiken ein, nur weil du der Wahrheit auf die Spur kommen willst.«

»Du kennst mich«, erwiderte Lovis stoisch und fuhr ihrer Tochter über die rotblonden Locken. Damit wollte sie unterstreichen, dass sie nie Grenzen überschritt. Ihr Bruder schien das allerdings anders zu interpretieren.

»Eben«, murmelte er und seufzte ergeben. »Ich versuche so bald wie möglich nachzukommen, okay?«

»Ist gut.« Lovis’ Stimme klang auf einmal erstickt. Ein Gefühl der Einsamkeit überkam sie von einer Sekunde auf die andere. Sicher, sie hätte warten können, bis ihr Bruder seine Aufträge abgearbeitet hatte, um gemeinsam zu fliegen. Aber mit dem bevorstehenden Wintereinbruch in Schweden fiel allen Hausbesitzern ein, dass sie noch schnell etwas an ihrem Anwesen repariert haben mussten. Gustavs Auftragsbuch quoll über vor kurzfristigen Anfragen. Und so lange wollte Lovis einfach nicht warten. Sie hatte das Gefühl, mit dem Tod ihres Großvaters nicht abschließen zu können, wenn dieses Geheimnis nach wie vor über ihr schwebte. Sie hatte fliegen müssen. Für ihren Seelenfrieden, der seit Wochen einer bombardierten Festung glich, die nicht mehr lange standhalten würde.

»Hej …« Gustav versuchte, sie aufzuheitern.

Also bemühte sie sich notgedrungen um ein Lächeln. Natürlich verstand sie Gustavs Argwohn und vor allem seine Sorge. Gleichzeitig hatte Lovis immer schon ein besonderes Verhältnis zu ihrem Großvater gehabt. Er hatte sie wie eine kleine Prinzessin behandelt und sie stets unterstützt. Als sie damals ungeplant schwanger geworden war und sich für eine Laufbahn als Alleinerziehende entschieden hatte, war er der Erste gewesen, der aufgestanden war, sie in den Arm genommen und feierlich erklärt hatte, sie würden das Kind schon schaukeln. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es waren der feine irische Humor, die trockene Betrachtungsweise, der unerschütterliche Optimismus und seine unendliche Güte, die diesen Mann so besonders gemacht hatten. Eine Welt ohne ihn erschien Lovis so viel trauriger. Dunkler. Ja, irgendwie farblos.

Schnell hob sie ihre freie Hand und hinderte die aufkommenden Tränen daran, aus ihren Augenwinkeln zu entwischen. Angespannt atmete sie ein und presste die Lippen aufeinander. Sie hatte keine Zeit, emotional einzuknicken. Sie war hier. In Irland. Und sie war für einen kleinen Menschen verantwortlich, dem es beizubringen galt, dass das Leben etwas Gutes war. Selbst wenn Lovis’ eigener Frieden derzeit gefährlich wankte.

Gustav meldete sich erneut zu Wort. »Ruf mich morgen früh an, sobald ihr wach seid. Damit ich weiß, dass es euch gutgeht.«

»Mach ich.« Lovis’ Stimme war noch immer belegt. Sie räusperte sich und setzte ein vorgebliches Lächeln auf.

»Hej, lilla rackare«, rief Gustav, und sofort quietschte Freja vergnügt auf. Sie und Gustav waren ein Herz und eine Seele. Die Trennung war neu für die beiden, wohnte Lovis mit ihrer Tochter doch im gleichen Haus wie ihre Eltern und auf demselben Grundstück wie Gustav.

»Sag Idefix, er soll gut auf dich und deine Mama aufpassen, ja? Das ist wichtig!«

Energisch nickte das Kind, hob den Stoffhund an ihren Mund und flüsterte ihm etwas in sein weiches Ohr. Dann richtete sie sich an ihren Onkel. »Idefix passt auf!«

»Sehr gut. Ich hab euch lieb.«

»Wir dich auch«, erwiderte Lovis und setzte nach: »Mach dir keine Sorgen.«

Gustav lachte leise. »Keine Chance.«

Sekunden später beendeten sie den Videocall. Freja lehnte sich satt in ihrem Stuhl zurück, knuddelte ihren Hund und erklärte mit fester Stimme: »Freja müde.«

Lovis straffte die Schultern und grübelte. Die Schlafzimmer waren viel zu kalt, um darin zu übernachten. Also erhob sie sich kurzerhand und schaffte zwei Matratzen in den Wohnraum, die wider Erwarten nicht von Motten zerfressen waren. Sie schob die Sessel ein wenig herum, bis sie eine gemütliche Ecke kreiert hatte, in der sie das Nachtlager für sich und Freja aufschlug. Sie packte die Schlafsäcke aus und platzierte sie auf dem alten Stoff. Begeistert ließ Freja sich in das provisorische Bett fallen. Erleichtert darüber, dass sie so eine unkomplizierte Tochter hatte, holte Lovis einen Schlafanzug aus dem Koffer, half Freja beim Umziehen, und mit dem Inhalt einer gekauften Wasserflasche gab es vor dem Schlafengehen noch eine kleine Katzenwäsche.

Lovis wagte sich danach vorsichtig ins Badezimmer, warf ihren Plan, diesen Raum erst morgen in Augenschein zu nehmen, über den Haufen und setzte sich kurzerhand auf die alte Kloschüssel. Irgendwo musste sie ihren Bedürfnissen ja nachkommen. Als sie fertig war, raffte sie eilig Slip und Jogginghose hoch. Mit der Smartphone-Taschenlampe machte sie sich auf die Suche nach der Spülung, die – natürlich – nicht funktionierte. Lovis unterdrückte ein Stöhnen, zog die Tür zu und beschloss, dass das ein Problem für den nächsten Tag sein würde. Ein Glück, dass Freja noch Windeln brauchte.

Bevor Lovis sich zu ihrer Tochter legte, ging sie sicher, dass die Haustür abgeschlossen war. Zusätzlich schob sie einen der Esstischstühle davor und hakte ihn unter dem Knauf ein, sodass es potenziellen Eindringlingen wesentlich schwerer gemacht wurde, ins Haus zu kommen.

Hatte sie Angst? Nein, nicht so richtig. Vielmehr fühlte sie sich seltsam mutig. Sie und Freja in einer kleinen, brüchigen Festung, umgeben von dem Geist ihres Großvaters. Er würde über sie wachen. Ganz sicher. Niemals würde er zulassen, dass ihnen etwas zustieß.

Im nächsten Augenblick spürte Lovis, wie Freja sich vertrauensvoll in ihre Arme kuschelte und leise hauchte: »Hab dich lieb, Mama.«

Vier

Am nächsten Morgen wachte Lovis mit Rückenschmerzen auf. Sie mochte erst dreißig sein, aber diese Matratzen waren nicht nur alt, sondern längst durchgelegen.

»Aufsteeeeheeeeen!«

Frejas muntere Stimme ertönte dicht an Lovis’ Ohr. Blinzelnd schlug sie also ihre Augen auf und erkannte eine kahle, fleckige Decke über sich. Auf einmal hüpfte eine aufgeregte Freja auf sie drauf und überhäufte ihr Gesicht mit kleinen Küssen.

»Küsschenmaschineeee!«

Lachend wand Lovis sich unter den Zärtlichkeiten ihrer Tochter und ging zum liebevollen Gegenangriff über: kitzeln. Quietschend ließ Freja sich nach hinten fallen und versuchte, sich mit ihren winzigen Fingerchen gegen ihre Mutter zu behaupten. Nach gut einer Minute ließen sie beide außer Atem voneinander ab, und Freja eroberte Lovis’ Schoß. Sie langte nach ihrem Stoffhund, der den Trubel geduldig von der Matratze aus beobachtet hatte, und drückte ihn fest an sich.

»Idefix Hunger. Freja auch.«

Lovis nickte verständnisvoll und schmunzelte über die Art, wie Kinder in Frejas Alter von sich selbst in der dritten Person sprachen. »Dann ziehen wir uns wohl besser schnell an und machen uns auf die Suche nach einem Frühstück. Wie wär’s?«

Begeistert nickte das Mädchen, und Lovis genoss den Moment der Einigkeit. Freja war nicht auf Lovis’ Lebensplan gestanden, und doch hatten sie sich zusammengerauft und einen Weg gefunden, der funktionierte.

Lovis dachte an die vielen Blicke zurück, die sie hatte ertragen müssen, als sie hochschwanger beschlossen hatte, von Göteborg nach Bengtsfors, dem Heimatort ihrer Eltern, zurückzukehren. All die Menschen, die sie ihr Leben lang bereits kannten, maßten sich trotz allem ein vorschnelles Urteil über sie an. Sie, die, ohne an Konsequenzen zu denken, einen One-Night-Stand gehabt hatte. Sie, die nun ohne Mann ein Kind bekam. Sie, die sich herausnahm, auch mit Tochter noch den Anspruch auf ein eigenes, unabhängiges Leben zu erheben.

Egal, was sie tat – oder nicht tat –, sie machte es grundsätzlich falsch. Zumindest in den Augen vieler Menschen aus Bengtsfors, die doch im Grunde gar kein Mitspracherecht in ihrem Leben hatten. Mochte Schweden auch noch so fortschrittlich sein, was Familie und Vereinbarkeit von Beruf und Kind anging, so lebte Lovis nun nicht länger im modernen Göteborg, sondern war für Frejas Geburt zurück aufs Land gezogen. Sie brauchte Hilfe, und die erhielt sie von ihrer Familie. Es war nur logisch, diesen Schritt zu gehen. Doch waren im ländlichen Dalsland die neuen Lebensweisen zu jenem Zeitpunkt nur bedingt angekommen.

Lovis hatte gelernt, diese Blicke und ungebetenen Meinungen zu ignorieren. Es hatte sie viel Kraft gekostet und so manche Enttäuschung mit sich gebracht. Aber das gehörte zum Leben wohl dazu. Es war besser für sie gewesen, diese Dinge zu akzeptieren, statt darum zu trauern. Denn das hätte an der Situation nichts geändert. Vielmehr wusste sie nun, auf wen sie wirklich zählen konnte. Lovis war eine Kämpferin. Besonders seit dem Moment, in dem klar gewesen war, sie würde dieses Kind allein auf die Welt bringen.

Freja war aus einem One-Night-Stand entstanden. Lovis war damals mit ein paar Freundinnen über Silvester nach Norwegen zum Skifahren gereist. Ausgerechnet in einer der ersten Nächte des neuen Jahres war sie auf einen Mann getroffen, der sie mit einem perfekten Lächeln, überraschend tiefsinnigen Gesprächen und einer ungebrochenen Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte.

Ob sie es von vornherein geahnt hatten, dass diese Nacht in seinem Hotelzimmer enden würde? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Als er am nächsten Morgen aufbrechen musste, um mit seinen Leuten, wie versprochen, auf die Piste zu gehen, war Lovis gar nicht in den Sinn gekommen, ihn nach irgendwelchen Kontaktdaten zu fragen. Anders herum ebenso wenig.

Es war etwas Einmaliges. In Norwegen. Er war Ire. Sie war Schwedin. Beide würden schon bald wieder in ihre Heimat reisen und vermutlich nicht weiter übereinander nachdenken. Sie hatten es nicht ausgesprochen, und doch gab es daran keinen Zweifel. Statt eines unangenehmen oder gar peinlichen Abschieds hatten sie sich morgens angesehen, sie hatte ihn frech angefunkelt, er sie nur kurz berührt, und irgendwie hatten sie das Frühstück ausfallen lassen, um doch lieber noch eine lange Dusche zu zweit zu nehmen. Sie hatten den Augenblick ausgekostet.

Danach hatte er sich beeilen müssen, seine Jungs nicht zu versetzen. Etwas, das ihm unheimlich wichtig gewesen war, wie Lovis sich bis heute erinnerte. Obwohl sie beide noch zwei Nächte in Norwegen geblieben waren, waren sie sich nicht mehr über den Weg gelaufen. Und das war okay gewesen. Lovis hatte dieses kleine Abenteuer mit nach Hause genommen und noch auf der Rückfahrt im Auto neben ihren Freundinnen in sich hinein gelächelt. Nur um einige Wochen später mit Schrecken festzustellen, dass sie mit diesem Fremden, von dem sie nur den Vornamen kannte, fortan für immer verbunden sein würde. Durch Freja. Ihn finden? Unmöglich. Sie hatte es versucht. Vergeblich.

Lovis war auf sich allein gestellt. Und sie stand dazu. Ja, sie hätten beide aufpassen müssen. Aber manche Dinge passierten einfach und ließen sich nicht rückgängig machen. War man nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen und sollte solche Lebenswendungen akzeptieren können, statt die Nase über eine alleinerziehende Mutter zu rümpfen, die ihrer Tochter wohl nie würde sagen können, wer ihr Vater war? Die ersten Monate waren hart gewesen. Aber Lovis konnte auf ihre Familie bauen. Auf ihre Eltern, ihren Bruder und ihren Großvater.

Lovis schluckte und erzitterte bei dem Gedanken an Callahan O’Leary und seine unendliche Güte. Schnell schlang sie einen Arm um Freja, knuddelte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

War es nicht ironisch, dass sie ausgerechnet von einem Iren schwanger geworden war und nun mit ihrer Tochter auf den Spuren ihres irischen Großvaters wanderte? Das Leben schlug eigenartige Wege ein, dachte Lovis und wurde gleich darauf von Freja und Idefix an eine wichtige Sache erinnert.

»Mama, Frühstück!«

Das Mädchen sprang auf, holte den erstbesten Pullover aus dem Koffer und versuchte, ihn sich über den Kopf zu ziehen. Lachend erhob sich Lovis, ignorierte ihre aufbegehrende Wirbelsäule und schickte sich an, sich und Freja fertig zu machen. Sie hatte nachts immer wieder Holzscheite nachgelegt, sodass der Wohnraum bis in den Morgen hinein warm geblieben war. Jetzt ging sie sicher, dass das Feuer gänzlich erloschen war.

Eine Viertelstunde später hüpfte Freja in einem gelben Regenmantel durchs Wohnzimmer und tat so, als würde sie mit ihrem Stoffhund tanzen. Lovis begutachtete indes noch schnell das Badezimmer bei Tageslicht. Nein, fließend Wasser gab es hier nicht. Sie probierte den Wasserhahn in der Küche aus, doch auch dort plätscherte kein einziger Tropfen in das graumelierte Becken. Widerwillig gestand Lovis sich ein, dass sie sich wohl oder übel doch eine andere Bleibe würde suchen müssen. Gustav würde zehn Kreuze machen, wenn er das hörte.

Oh, Gustav! Sie hätte das Wichtigste an diesem Morgen beinahe vergessen. Hastig zog Lovis ihr Handy aus der Hosentasche. Es lebte nur noch von rund zwanzig Prozent Akku. Sie würde irgendwo im Ort eine Steckdose finden müssen, um das Ding wieder aufzuladen.

Pflichtschuldig rief Lovis ihren Bruder an, der offenkundig erleichtert war, dass sie die Nacht gut überstanden hatten. Von dem fehlenden Wasser sagte Lovis zunächst lieber nichts. Sie würden jetzt erst mal in Ruhe frühstücken, und dann würde Lovis neue Pläne für ihren Aufenthalt schmieden.

Nach dem kurzen Gespräch mit Gustav verfrachtete Lovis sicherheitshalber alle Sachen wieder im Mietwagen. Dann sah sie sich noch einmal um und fragte sich, wieso sie in diesem Haus keine einzige persönliche Note entdeckt hatte. Es war, als hätte man lediglich ein paar Möbel zurückgelassen. Aber wer? Und wann? Lovis hatte so viele Fragen … Würde sie jemanden finden, der sie ihr beantworten konnte?

Während Lovis die Tür des heruntergekommenen Hauses abschloss und Freja daraufhin im Auto auf den Kindersitz hinaufhalf, dachte sie an ihre Begegnung mit Declan und Rose O’Sullivan. Die beiden schienen aufrichtig und ehrlich an ihr interessiert zu sein. Aber konnte Lovis ihnen trauen? Und wie sollte sie nur weiterforschen, wenn die einzige Quelle, die ihr Großvater ihr genannt hatte, nicht mehr in der Lage war, ihr zu helfen?

Eine halbe Stunde später beobachtete Lovis, wie Freja sich genüsslich eine Erdbeere in den Mund schob und mit der Gabel ein Stück Pfannkuchen aufpickte. Sie schob es durch eine Lache Apfelmus und verspeiste es mit einem glücklichen Strahlen.

Lovis hob ihren Cappuccino an die Lippen und ließ den Blick durch das gemütliche Café gleiten, das sie bei ihrem morgendlichen Spaziergang durch Appleaugh entdeckt hatten. Es hatte Frejas Aufmerksamkeit spätestens mit der sonnengelben Fassade und den aufgemalten Blumen um die Fenster herum auf sich gezogen. Überhaupt war Lovis aufgefallen, dass dieser Ort trotz des grauen Herbsttages unglaublich viel Farbe versprühte. Ganze Straßenzüge machten einem Regenbogen Konkurrenz. Apfelgrün, Honiggelb, Himbeerrosa, Mandelbraun, Blaubeerblau, Kürbisorange – kein Ton wurde von den niedrigen Häuschen, die sich aneinanderreihten, ausgelassen.

Gleichzeitig traf man immer wieder auf die typischen grauen Steinmauern, die den irischen Hausbau so häufig dominierten. Appleaugh war ein gemütlicher Ort. Alles schien eine Spur langsamer vonstattenzugehen, doch das gemächliche Tempo passte einfach hierher. Draußen auf den Hauptstraßen waren sie an zahlreichen bepflanzten Kübeln vorbeigekommen. Tränendes Herz, die letzten Dahlien, das erste Heidekraut.

»Bei euch alles in Ordnung?« Eine Kellnerin, etwa in Lovis’ Alter, erschien mit einem Lächeln an ihrem Tisch, der direkt an einem der großen Fenster platziert war. Freja blickte auf und nickte automatisch, während sie zufrieden einen Löffel Apfelmus in ihren Mund schob.

»Ja, danke!«, erwiderte Lovis und stellte ihre Tasse zurück auf den runden Holztisch.