Moderne Helden - Katharina Maier - E-Book

Moderne Helden E-Book

Katharina Maier

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Beschreibung

Karl May schrieb Heldengeschichten und Heldengeschichten beschreiben unser Jahrhundert. Wie viel die May-Helden mit den Superhelden unserer Zeit gemein haben, deckt Katharina Maier in detektivischer Sherlock-Holmes-Manier in ihrem neuen Buch auf und zeigt die vielen verblüffenden Parallelen zwischen den ikonischen Figuren der Reiseerzählungen und den DC- und Marvel-Helden, tapferen Hobbits und Halb-Vulkaniern.

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MODERNEHELDEN

WELTEN RETTEN MIT OLD SHATTERHAND, SUPERMAN, GANDALF, MR. SPOCK UND SHERLOCK HOLMES

VONKATHARINA MAIER

Herausgegeben von Bernhard Schmid© 2018 Karl-May-Verlag, BambergAlle Urheber- und Verlagsrechte vorbehaltenDeckelbild: Marko BrockeISBN 978-3-7802-1628-1

KARL-MAY-VERLAGBAMBERG · RADEBEUL

INHALT

Vorwortvon Helmut Schmiedt

Helden. Eine altmodische Idee

Über dieses Buch

Vier Versuche über Helden

Heldenreise

Das Schöne, Wahre, Gute

Superhelden am Lagerfeuer

Warum sich Superman, Iron Man & Co. im Mayversum wie zu Hause fühlen würden

Das Zeitalter der Helden

Aus großer Macht folgt große Verantwortung

Kleider machen Leute

Mit Fes, Charme und Kaftan

Ich bin Iron Man

Eine altmodische Vorstellung

Batman contra Superman

Der gute Mensch von Brooklyn

Von Zweien, die auszogen, um Helden zu sein

Earth’s Mightiest Heroes

Eine unerwartete Reise

J. R. R. Tolkien und Karl May: Über die Zeitlosigkeit zweier fantastischer Welten

Jugendlektüre

Über Hobbits

Sekundäre Welten

Von Reitern und Waldläufern

Nicht alles, was Gold ist, glänzt

Bis die Welt sich wandelt

Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan

Die Herrin des Schildarms

Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden

Eine ziemlich gute Wendung

Der Große Feind

Die Straße gleitet fort und fort …

Old Shatterhand trifft Sherlock Holmes

Alte Helden neu erzählt

Wiederkehr mit Unterschied

The Game Is On – Spielbeginn

Willkommen im Multiversum

Elementar, mein lieber Watson

Des Sherlocks neue Kleider

Freunde fürs Leben

Eine Seele in zwei Körpern

Dr. John Watson trifft Hadschi Halef Omar

Winnetou im Weltraum

Was Star Trek und die Große Reiseerzählung gemeinsam haben

Unendliche Geschichten, unendliche Weiten

To boldly go

Zurück zum Anfang

Was noch nicht ist, kann ja noch werden

Jenseits der Dunkelheit

Unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen

Ein Gedankenspiel: Im Lande Hulm

Die Königin des Weltalls

Das Weib siegt

Die Tochter der Mutter

Schwarzgraukariert

Ein Eselsjunge

Im Auftrag der Frau Häuptling

Die Träger der Utopie

Ich war und werde es immer sein …

Ein Muss

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Ein Held im traditionellen Sinne ist jemand, der herausragende physische und psychische Leistungen vollbringt. Figuren dieser Art tauchen schon in den ältesten literarischen Werken auf, von denen wir Kenntnis haben; die Ilias und die Odyssee Homers sind voll davon, ebenso die großen Epen des Mittelalters. Auch in jüngerer Zeit haben die Heroen an Ausstrahlungskraft nichts eingebüßt. Das Hollywood-Kino z. B. erweckt in kurzen Abständen alte Comic-Helden zu immer neuem Leben auf der Leinwand, und ein riesiges Publikum harrt schon seit Beginn der 1960er-Jahre der Abenteuer, die ein gewisser James Bond regelmäßig in demselben Rahmen vollbringt. So allgegenwärtig sind diese Figuren, so ausgeprägt ist offenbar das Bedürfnis, ihnen bei der Arbeit zuzusehen, dass Theorien zum innersten Kern literarischer Fantasien mit ihnen argumentieren können. Sigmund Freud etwa hat in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren „Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane“ ins Zentrum der Überlegungen zum wunscherfüllenden Charakter der Literatur gerückt.

Bei der genaueren Durchleuchtung von Heldenfiguren bewährt sich die Beachtung dessen, was die Literaturwissenschaft Intertextualität nennt. Gemeint ist damit, dass literarische Werke immer auch in einer Beziehung zu anderen literarischen Texten stehen, sei es, dass sie mehr oder weniger deutlich auf sie reagieren, sei es, dass in der Sache interessante Relationen existieren, ohne dass von einer gezielt herbeigeführten Nähe die Rede sein kann. Natürlich wurden auch schon die Heroen Karl Mays regelmäßig unter diesen Vorzeichen beobachtet. Heinz Stolte beispielsweise hat in der ersten Dissertation, die über Karl May verfasst wurde (Der Volksschriftsteller Karl May, 1936), Parallelen gesehen zwischen der Siegfriedsage und den ersten Auftritten des späteren Old Shatterhand, die in Winnetou I geschildert werden; und mehr oder weniger jeder Indianerhäuptling aus der historischen Realität oder der Literatur, der in die Zeit vor Winnetou zu datieren ist und sich eines auch nur halbwegs freundlichen Nachrufs erfreut, wurde als mögliches Vorbild für diese inzwischen berühmteste Figur Karl Mays ins Spiel gebracht.

Katharina Maier ist eine Autorin, die einen Hang zu unkonventionellen Themen hat bzw., genauer gesagt, eine Neigung dazu, bestimmten Themen auf eine besonders originelle und dabei zu neuen Erkenntnissen führende Weise zu begegnen. Vor einigen Jahren hat sie ein Buch mit dem Titel Nscho-tschi und ihre Schwestern (Karl-May-Verlag, 2012) vorgelegt, das mit großer Überzeugungskraft der verbreiteten These widersprach, weibliche Personen spielten im abenteuerlichen Kosmos Mays eine völlig nebensächliche Rolle: Der genaue Blick zeigt, dass die quantitative Geringfügigkeit ihres Auftretens nicht gleichzusetzen ist mit einer grundsätzlichen Vernachlässigung, dass vielmehr Frauenfiguren und die Komponente des Weiblichen in Mays Erzählungen oft eine viel größere Bedeutung besitzen, als man bei der oberflächlichen Lektüre wahrnimmt.

Eine Arbeit mit einem Titel wie beim vorliegenden Buch wirkt nicht sogleich ähnlich spektakulär. Aber auch diesmal geht es um eine überraschende Perspektive, denn die Helden Karl Mays werden hier nicht – wie bisher meistens, wenn es in seinem Fall um das Phänomen Intertextualität ging – im Hinblick auf etwaige literarische Ahnenreihen, d. h. ältere literarische Werke, betrachtet, sondern hinsichtlich ihres Verhältnisses zu neueren Figuren der populären Kultur. Um Superhelden vom Schlage Batmans, Supermans und Iron Mans geht es im ersten Vergleich, im zweiten um J. R. R. Tolkiens Fantasy-Epos Der Herr der Ringe. Anschließend wendet sich die Autorin Sherlock Holmes zu, dem von Arthur Conan Doyle geschaffenen Meisterdetektiv, und am Ende wird die Saga vom Raumschiff Enterprise behandelt, von der uns die Star Trek-Serie erzählt. Welche Beziehungen gibt es zwischen Winnetou, Old Shatterhand & Co. und diesen weltweit bekannten Gestalten? Für welche Ideale stehen sie, und wie verhalten sie sich? Wie steht es um die Modernität der literarischen Entwürfe Mays, wenn wir in diesen zentralen Punkten Ähnlichkeiten und Analogien finden?

Das Thema ist insofern zusätzlich kompliziert, als populäre Helden aus neuerer Zeit fast immer in verschiedenen Gestaltungen existieren und dabei regelmäßig Grenzen des Mediums überschritten werden. Aus ursprünglichen Roman- und Comicfiguren werden Filmhelden, und die wiederum werden im Zuge von sich ständig verändernden Konzepten präsentiert und von unterschiedlichen Schauspielern verkörpert. Wer etwa in den letzten Jahren die Darstellungen des Sherlock Holmes miteinander verglich, die Benedict Cumberbatch für eine Fernsehserie und Robert Downey jr. für die Kinoleinwand jeweils mit großer Resonanz boten, wäre ohne den gemeinsamen Rollennamen möglicherweise nicht zwingend darauf gekommen, dass es sich im Kern um ein und dieselbe Figur handelt. Katharina Maier trägt diesem Umstand Rechnung und lässt z. B. gleich in der Einleitung erkennen, dass sie im Fall des Detektivs primär an den Adaptionen interessiert ist.

Dabei ist es nicht ihr Ziel, so zu tun, als seien die Figuren Mays und die anderen einander zum Verwechseln ähnlich. Die ausführlichen, von souveräner Kenntnis zeugenden Beobachtungen und Überlegungen, die sie den neueren Figuren widmet, sorgen dafür, dass diese auch so etwas wie ein Eigenleben gewinnen. Sie laufen nicht Gefahr, als ahnungslose Winnetou-Derivate oder dergleichen abgestempelt zu werden – damit täte man denjenigen, die sie in die Welt gesetzt haben, denn doch Unrecht.

Alles in allem: Der Leser erhält einen umfassenden Einblick in die Welt populärer Heldenfiguren des 20. und 21. Jahrhunderts und wird darüber informiert, was sie mit denjenigen verbindet, die Karl May seinem Millionenpublikum nahegebracht hat – ein Projekt, das in der May-Forschung konkurrenzlos dasteht. Dass das Ergebnis sich gut lesen lässt – unterhaltsam und anspruchsvoll zugleich –, versteht sich bei dieser Autorin ganz von selbst.

Helmut Schmiedt

Helden. Eine altmodische Idee

Über dieses Buch

„Elementar, mein lieber Shatterhand“, sagt Sherlock Holmes und zieht an seiner Pfeife. Die Flammen des Lagerfeuers werfen tiefe Schatten auf sein hageres Gesicht unter dem Deerstalker-Hut. „Wir leben im Zeitalter der Helden.“

Bevor Old Shatterhand, andernorts auch bekannt als Kara Ben Nemsi, antworten kann, tönt ein raues Lachen über die Lichtung. Es klingt ein wenig, als hätte jemand seinen Asthma-Inhalator vergessen. „Helden?“, schnarrt die dunkle Gestalt auf der anderen Seite des Lagerfeuers. „Die Helden sind tot. Tot und nutzlos.“

„Faszinierend“, meint der Vulkanier zu Sherlocks Rechten mit erhobener Augenbraue. „Und unlogisch. Der Tod und der Nutzen eines Helden stehen in keinem kausalen Zusammenhang.“

„Offensichtlich nicht, mein lieber Spock“, entgegnet der Detektiv und sieht die dunkle Gestalt auf der anderen Seite des Lagerfeuers scharf an. Sie trägt einen schwarzen Umhang, und ein schwarzer Helm verbirgt ihr Gesicht. Old Shatterhand meldet sich endlich zu Wort, ein amüsiertes Zucken um die Mundwinkel: „Außerdem seid Ihr der beste Beweis, Mr. Vader: Totgesagte leben länger.“

„Weil unsere Geschichten etwas bedeuten“, wirft ein tapferer, kleiner Hobbit ein. Er sitzt neben Old Shatterhand und sieht ein wenig wie Hadschi Halef Omar aus. „Denn es gibt Gutes in der Welt. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.“

„Ich bin Batman“, sagt Batman aus der Dunkelheit des Waldes, und dem hat selbst ein so ikonischer Bösewicht wie Darth Vader nichts entgegenzusetzen.

Vier Versuche über Helden

Helden, das ist so eine Sache. Heutzutage verwenden wir eigentlich eher neutralere Begriffe, um die handelnden Figuren einer Geschichte zu beschreiben. ‚Protagonist‘ zum Beispiel oder ‚Hauptfigur‘, ‚das Zentrum der Handlung‘ oder ‚Agens‘. Alles eben, wenn es nur nicht ‚Held‘ ist. Aber es fällt mir schwer, die Gestalten, die das große Abenteueruniversum von Karl May bevölkern, mit einem anderen Wort zu bezeichnen. Keines der eben genannten scheint mir wirklich zutreffend. Denn Karl May schrieb nun einmal Heldengeschichten, spannende Erzählungen über tapfere, unschlagbare Heroen, die voller Tatendrang in die Welt hinaus- und dort gegen das Böse ins Feld ziehen. Eine altmodische Vorstellung, könnte man sagen, und genau das will Darth Vader, der Inbegriff aller modernen Bösewichte, unseren Helden am Lagerfeuer auch weismachen. Nur hat er sich dazu die Falschen ausgesucht. Denn Sherlock Holmes, der Superdetektiv, Mr. Spock, der ultra-logische Vulkanier, der ausgefuchste Batman, der unerschütterliche Hobbit namens Samweis Gamdschi und nicht zuletzt der scharfsinnige Old Shatterhand lassen sich nicht so leicht hinters Licht führen. Würden sie in unserer „primären Welt“ leben, statt in frei erfundenen „sekundären Welten“1, dann wüssten sie die Spuren bestimmt zu deuten. Es sind schließlich ziemlich breite Fährten, die selbst einem Greenhorn nur schwer entgehen könnten: Fantastische oder futuristische Romane wie Harry Potter, Die Tribute von Panem und Ein Lied von Eis und Feuer (die Buchvorlage für die bahnbrechende TV-Serie Game of Thrones)2 stürmen die Bestsellerlisten. Fantasy-, Science-Fiction und Superheldenfilme wiederum teilen sich die Kino-Blockbuster untereinander auf, während Fernsehserien aus eben jenen Genres ein weltweites Publikum mitreißen3. Das mag nicht jeder begrüßenswert finden, aber es zeigt doch eines: dass die Menschen ein schier unstillbares Bedürfnis nach großartigen, ikonischen Helden haben, die unerschrocken für das Gute einstehen.

Sherlock Holmes, Weltraumsagas wie Star Trek und Krieg der Sterne, Tolkiens Herr der Ringe und die zahlreichen Superhelden, die sich in letzter Zeit auf den Kinoleinwänden die Klinke in die Hand geben, haben allesamt schon einige Jahre auf dem Buckel. Nicht ganz so viele wie die Kreationen Karl Mays vielleicht, aber in manchen Fällen schon beinahe. Trotzdem inspirieren und begeistern sie die Menschen nach wie vor. Fans tragen die Storys weiter, verkleiden sich als ihre Lieblingsfiguren und lernen erfundene Sprachen, gehen zu Conventions (Fan-Messen), denken sich eigene Geschichten aus, und wenn sie erwachsen und/oder erfolgreich geworden sind, kreieren manche von ihnen aus dem alten Stoff sogar neue sekundäre Welten.

Wie die Menschen sich einst immer wieder Geschichten über den Trojanischen Krieg, die Ritter der Tafelrunde, das Schicksal der Nibelungen und andere Mythen und Sagen erzählten, so verbreiten und wiederholen wir heute die Geschichte dieser modernen Helden. Manchmal schöpfen wir sie sogar nach oder interpretieren sie neu. Auf alle Fälle genießen wir sie wieder und wieder, und eine Generation gibt sie an die nächste weiter. Und warum? Vermutlich, weil sie uns helfen, uns wichtige Dinge über uns selbst und über unsere Welt zu erzählen. Ganz bestimmte Dinge, die andere Geschichten, die keine ‚altmodischen‘ Helden haben, uns nicht genauso begreifbar machen.

Immerfort werden diese neuen Mythen wieder- und weitererzählt, neugedacht und uminterpretiert. Im Zentrum stehen unverwechselbare Protagonisten mit einem unerschütterlichen Moralkodex, außergewöhnlichen Fähigkeiten, jeder Menge Humor und einem oft ziemlich schrägen Outfit. Karl Mays große und kleine Helden und Heldinnen fügen sich mühelos in die Reihe dieser modernen Heroen ein.

Diese Beobachtung stand am Anfang von Moderne Helden. Sie führte zu vier Vergleichen, die der Modernität der Mayhelden nachspüren. Jeder dieser Vergleiche ist in sich abgeschlossen und kann für sich gelesen werden. Doch auch zusammen ergeben die vier Teile dieses Buches ein rundes Bild. So befasst sich das erste Kapitel mit der Frage, ob Karl May nicht eigentlich Superheldengeschichten geschrieben hat, und nimmt die derzeit beliebtesten Comic- und Filmfiguren aus diesem Genre unter die Lupe. Die Gemeinsamkeit zwischen Mayheroen und ‚Metahumans‘4 sind mannigfaltig. Und wenn man all diese „Superhelden am Lagerfeuer“ versammelt, zeigt sich, was Superman und Winnetou, Captain America und Old Shatterhand, Tony Stark und Tante Droll uns heute noch so alles zu sagen haben.

Der zweite Teil, „Eine unerwartete Reise“, wagt einen Vergleich zwischen Mays großer Reiseerzählung und J. R. R. Tolkiens gewaltigem Fantasy-Epos Der Herr der Ringe. Denn das Mayversum – wie ich die große Abenteuerwelt Karl Mays nenne, in der so manche wundersame, wenn nicht gar märchenhafte Begebenheit passiert – ist genauso ein fantastisches Reich wie Tolkiens imaginärer Kosmos von Mittelerde. Doch das steht nicht im Zentrum der „Unerwarteten Reise“. Vielmehr treten bei diesem Ausflug ins Fantastische zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den Heldenfiguren zutage, denen diese beiden Giganten der Vorstellungskraft Leben eingehaucht haben. Sie alle verbindet eine Liebe zur Schöpfung und eine zeitlose Sehnsucht.

Der dritte Teil, „Old Shatterhand trifft Sherlock Holmes“, widmet sich trotz seines augenzwinkernden Titels in erster Linie der Jetztzeit. Arthur Conan Doyles berühmter Meisterdetektiv und Mays Weltläufer sind zwar durchaus zwei Helden vom gleichen Schlag; im Mittelpunkt des Kapitels stehen aber die zahlreichen Adaptionen, die die Abenteuer des Ermittlers aus der Baker Street allein in den letzten Jahren erfahren haben. Sie sind Anlass, die Lust am Neuerzählen zu ergründen, dem Phänomen der ‚Bromance‘5 nachzugehen und die Frage nach der Modernisierbarkeit der May’schen Heroen zu stellen. Denn wenn Sherlock Holmes und Dr. Watson schon immer ihrer Zeit voraus waren, wie eine der erfolgreichsten Neuerzählungen behauptet6, könnte dann das Gleiche nicht auch für Mayhelden wie Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar gelten?

Das Buch schließt mit dem Vergleich zwischen Karl Mays Romanen und der galaktischen Reiseerzählung Star Trek, die in gewisser Weise stellvertretend für die großen Science-Fiction-Sagas der letzten 50 Jahre steht. So lange fliegt das Raumschiff Enterprise nämlich schon in die unendlichen Weiten des Weltraums hinaus, um dort Abenteuer zu finden, „neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen“ – und eine Botschaft des Friedens und der Toleranz zu verbreiten.

Die Star-Trek-Helden sind Träger einer utopischen Philosophie, die mit der Ideologie der May’schen Heroen fast deckungsgleich ist. Beide Geschichten erzählen auf die Unendlichkeit hin und haben uns Wichtiges für die Zukunft mitzugeben. Doch bevor wir in all diese fantastischen Welten eintauchen, gilt es noch einer Frage nachzugehen: Was ist eigentlich ein Held? Und genauer gefragt: Was ist ein Mayheld?

Heldenreise

Ein Held sein ist gar nicht so einfach. Das fängt schon mit dem Titel an: Denn was ist eigentlich ein Held?

Ganz banal könnte man sagen: Der Held einer Geschichte ist derjenige, dem die Geschichte passiert. Aber schon das ist nicht wirklich richtig. Denn wenn jemandem etwas passiert, dann ist er passiv, dann wird etwas mit ihm getan, ohne dass er wirklich Einfluss darauf hätte. Ist das aber nicht genau das Gegenteil eines Helden? Natürlich gibt es Geschichten mit Hauptfiguren, die vom Schicksal gebeutelt werden, von übermächtigen Kräften, die sie nicht kontrollieren können. Oder Gestalten, die sich durch ihren Alltag treiben lassen und die höchstens versuchen, auf das zu reagieren, was ihnen widerfährt. In gewisser Weise könnte man sagen: Solche Figuren sind nicht das Subjekt ihrer Geschichte, sondern das Objekt. Ihnen wird etwas getan, anstatt dass sie etwas tun. Sie sind Patiens, der ‚Betroffene‘ der Handlung, statt Agens, der Handelnde selbst. Sie erleiden ihre Geschichte, statt sie zu gestalten. Sie sind nicht aktiv und tätig, sondern passiv und reaktiv. Es gibt in Literatur und Film unzählige exzellente Geschichten über solche Anti-Helden. Im Mayversum allerdings haben sie wenig verloren. Dort sind sie allenfalls bedauernswerte Geschöpfe, die in Gefahr geraten, die von den Stürmen des Schicksals gerüttelt und von den wahren Westmännern oder Orientrittern gerettet werden.

Natürlich widerspricht das bloße Leiden an sich noch nicht der Grundkonstitution eines Helden. In den klassischen Mythen ist es sogar ein grundlegendes Charakteristikum der Heroen, dass sie einer Macht unterworfen sind, die größer ist als sie selbst und noch dazu recht gefühllos oder rachsüchtig agiert. Bestes Beispiel dafür ist Odysseus, auch der ‚große Leidende‘ genannt. Er ist wohl eine der berühmtesten Figuren der griechischen Antike, nicht nur in Sachen Kampfkraft, sondern vor allem auch in Sachen Intelligenz. Schließlich war es die Idee des ‚Listenreichen‘, die Trojaner mit einem riesigen hölzernen Pferd aus ihrer Stadt herauszulocken. Dieser Trick bescherte den Griechen den Sieg im Trojanischen Krieg, aber Odysseus auch den Zorn Poseidons und einiger anderer Götter, die seinen an Hybris grenzenden Übermut zu bestrafen gedachten. Zehn Jahre lang bleibt es Odysseus verwehrt, seine Heimatinsel Ithaka zu betreten. Er irrt auf Beschluss der Götter heimatlos umher und kann erst zurückkehren, wenn seine Strafe abgegolten ist (dass er mehrere dieser Jahre in den Armen halbgöttlicher Frauen verbringt, wollen wir hier einmal außer Acht lassen). Odysseus, so kann man argumentieren, ist der ultimative ‚Erleidende‘. Er hat keinerlei echten Einfluss auf den Ausgang seiner Geschichte; egal, was er tut, er wird Ithaka erst wieder betreten, wenn die Götter es ihm erlauben.

Odysseus ist also ein Opfer gleichgültiger bis missgünstiger Schicksalsmächte, und auch seine letztendliche Errettung geschieht von ‚oben herab‘: Eine Meeresgöttin und seine Gönnerin Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, ermöglichen ihm die Heimkehr. Und doch ist Odysseus nicht passiv. Er kann nichts gegen sein Schicksal tun, aber dennoch ist er unentwegt tätig, beweist sich immer wieder als wackerer Kämpfer und kluger Mann. Er rettet seine Männer vor der Zauberin Circe und einem Zyklopen, es gelingt ihm, den Sirenen zu lauschen, ohne von ihrem Gesang in den Tod getrieben zu werden, und er behauptet sich angesichts von Scylla und Charybdis. Und zum Schluss, als er endlich nach Hause zurückkehren und die angenommene Identität eines blinden Bettlers ablegen kann, gönnt er sich die Genugtuung, die unverschämten Freier seiner Frau, die ihn tot glaubten und seinen Königshof in eine Spelunke verwandelt haben, hinzumetzeln. Natürlich bewaffnet mit einer angemessenen Waffe: einem mächtigen Bogen, den nur Odysseus selbst spannen kann.

Dass man höheren Mächten ausgeliefert ist, mag man sie nun ‚Götter‘, ‚Schicksal‘ oder ‚das Leben‘ nennen, beeinträchtigt also noch nicht das Heldentum einer Figur. Joseph Campbell arbeitet in seinem bahnbrechenden Buch Der Heros in tausend Gestalten7 sogar heraus, dass jeder Held, der in ein Abenteuer aufbricht, erst einmal von einem ‚auslösenden Ereignis‘ aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen werden muss – und dieser entscheidende Vorfall kommt oft in Gestalt eines schweren Schicksalsschlags daher. Jemand, der der Figur nahesteht, kommt ums Leben, dem Helden selbst widerfährt ein großes Unrecht, eine Krankheit bricht aus, sein Heim wird zerstört. Ohne den Schicksalsschlag würde der Held gar nicht in die ‚große, weite Welt‘ aufbrechen, sondern schön sicher zu Hause bleiben (selbst, wenn dieses Zuhause nicht ideal ist, z. B. von Hunger, Unrecht oder Langeweile geprägt). Die Launen des Lebens sind laut Campbell also unerlässlich für das Heldentum.

Der May’sche Hauptheld, das große Ich Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi, ist da von einem anderen Kaliber. Für ihn braucht es keinen großen Schicksalsschlag, um in die große, weite Welt aufzubrechen; er tut es ganz von selbst. Er erwähnt zwar ab und zu eine gewisse finanzielle Not seiner Familie, aber die Gesamtgeschichte dieses großen Ich-Helden lässt wenig Zweifel daran, dass er, ähnlich wie Odysseus mit Körperkraft, Kampfgeschick, Abenteuergeist und Gewitztheit ausgestattet, auch zu Hause eine Möglichkeit gefunden hätte, seine Familie zu ernähren und Karriere zu machen. Nur: Die Karrieren, die ihm zu Hause offenstehen, scheinen wenig verlockend. Allein die des Schriftstellers reizt ihn – aber um Schriftsteller sein zu können, muss der Ich-Held, so ist er überzeugt, erst hinaus in die Welt, sie sehen und darin tätig sein. Er will ein „Weltläufer“ werden, wie er sich selbst in Von Bagdad nach Stambul nennt8. Denn wer nichts erlebt, der kann auch nichts niederschreiben. „Schreib (über das), was du kennst“, heißt eine häufig zitierte Maxime des modernen Kreativen Schreibens9. Der Ich-Erzähler von Karl Mays Romanen, der Reiseschriftsteller, der das aufzeichnet, was er unter den Namen Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sieht, erlebt und vollbringt, hat sich diese Devise 100 Jahre vor ihrem Entstehen voll und ganz zu eigen gemacht. Sein Autor, Karl May, praktizierte natürlich das genaue Gegenteil. May reiste in seiner Imagination und schuf daraus Geschichten, die Generationen mitrissen.

Den Ich-Helden der ‚Großen Reiseerzählung‘, den ich hier der Einfachheit halber ‚Kara Shatterhand‘ nennen möchte, treibt keine Schicksalsmacht in die Welt hinaus. Er muss kein traumatisches Erlebnis durchmachen, ihn motiviert auch keine sonderliche materielle Not; alle Menschen, die ihm in der Heimat nahestehen, sind relativ wohlbehalten, und er lebt auch in keinem Unrechtsstaat. Wenn es zu Hause nur nicht so langweilig und zivilisiert wäre!

Das junge Ich beginnt also aus reinem Wissensdurst und Abenteuerlust die Welt zu bereisen. Denn dort, jenseits des ‚zivilisierten‘ Europas, kann man noch wahrhaft tätig sein und durch Körperkraft, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verstand viel bewerkstelligen. Die Ambitionen des werdenwollenden Weltläufers sind also, ein aktiver Held zu sein – ein ‚Action-Held‘. Zu Hause kann er nur mit Feder und Papier wirken, und auch dieser Herausforderung stellt er sich. Aber in der Fremde kann er seine Fähigkeiten nicht nur in Worte umsetzen, sondern auch in Taten. In diesem Sinne ist Mays Weltläufer sogar der absolute Inbegriff eines Helden: Er ist ein Held, weil er kann.

Das Schöne, Wahre, Gute

Mayhelden sind selbstbestimmte, fähige Individuen. Das gilt nicht nur für die großen Heroen Kara Shatterhand, Winnetou und Hadschi Halef Omar, sondern auch für viele weitere Abenteurer in der Großen Reiseerzählung. Und das muss auch so sein. Das Mayversum besteht aus verschiedenen Abenteuerräumen, die den Menschen, die sie bewohnen (Winnetou und Halef) oder bereisen (Kara Shatterhand) vor besondere Herausforderungen stellen. Fertigkeiten, die in der europäischen und ostamerikanischen Zivilisation ihre Relevanz verloren haben, sichern hier Überleben und Respekt: Kampfgeschick und strategisches Denken; der geübte Umgang mit einer Bandbreite von Schuss- und Stichwaffen; hervorragende Reitkünste; Ausdauer und Körperkraft; Beobachtungsgabe; Wissen über Flora und Fauna; und natürlich das lebenswichtige Beschleichen feindlicher und bisweilen auch freundlicher Mitmenschen. Nützlich sind zudem kulinarische Kenntnisse, medizinisches Wissen, grundlegende handwerkliche Fertigkeiten wie etwa Nähen, Bügeln und Hutmacherei (das ist kein Witz), Wissen über geologische, astronomische, physikalische und chemikalische Grundlagen … kurz: Ein Tausendsassa sollte man sein. Doch selbst all das macht noch keinen Helden aus. Es braucht noch ein entscheidendes Element: einen unerschütterlichen moralischen Kompass.

Der May’sche ‚Heldenkodex‘ ist der Grundstein der Großen Reiseerzählung. Jede einzelne Figur wird daran gemessen. Wer diesen Werten nicht entspricht, wird zunächst getadelt und – wenn er oder sie sich als uneinsichtig oder ungelehrig erweist – schließlich explizit abgelehnt bzw. aus der Gruppe der Mayhelden verbannt. Wichtige Aspekte des heroischen Kodex sind: der Erhalt von Leben wann immer möglich; Nächstenliebe und Nachsicht gegenüber den Feinden; Toleranz oder jedenfalls Verständnis Fremden und anderen Kulturen gegenüber; unbedingte Hilfeleistung; Aufrichtigkeit (in Maßen)10; Respekt vor der Schöpfung (Mensch, Tier, Natur); allgemeine Freundlichkeit; Würde und Ehrhaftigkeit. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch an Vollständigkeit, deckt aber doch die grundlegenden moralischen Voraussetzungen ab, die eine Person im Mayversum erfüllen muss, um ein Held oder, allgemeiner gesagt, ein guter Mensch zu sein. Denn alle anständigen Leute vertreten im Grunde diese Werte und Verhaltensmuster, von einigen kulturellen Eigenheiten einmal abgesehen; doch selbst dann erkennen vernünftige Zeitgenossen die Richtigkeit dessen, was man als christlich-humanistisch-heroische Handlungsprinzipien bezeichnen kann, eher früher als später.

Eine May’sche Heldenfigur verfügt allerdings nicht nur über die richtige Einstellung, sondern auch über die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geisteskraft, diesen Werten Geltung zu verleihen. Den Mayheroen geht es darum, die Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Unwissenheit in der Welt zu überwinden. „Warum brauchen wir Helden, die auf diese Art und Weise obsiegen?“, fragt der junge Philosoph Steve Baxi11. Er stellt diese Frage nicht in Bezug auf die May’schen Abenteurer, sondern in Hinblick auf die Avengers, ein Superheldenteam, das in den letzten Jahren die Herzen vieler Menschen erobert hat. Doch das Prinzip bleibt das gleiche: „Wir brauchen sie, weil sie die Menschen inspirieren. […] Deswegen müssen sie das ganze Potenzial der Menschheit zum Guten ausschöpfen.“ Denn, so erklärt Baxi in Anlehnung an Nietzsche, ein solches Heldentum ist nicht nur heroisch, sondern auch kreativ12. Wenn Protagonisten wie diese – wie die Superhelden, die Raumfahrer, die Meisterdetektive, die Hobbits, Waldläufer und Weltläufer – zusammenkommen und die Welt retten, dann können sie uns inspirieren oder uns zumindest an das Gute erinnern. Dazu brauchen wir sie und deswegen erzählen wir uns moderne Mythen über das Heldenhafte in den Menschen von heute.

Superhelden am Lagerfeuer

Warum sich Superman, Iron Man & Co. im Mayversum wie zu Hause fühlen würden

Dick Hammerdull: „Das kann kein Mensch wissen.“

Old Shatterhand: „Wenn kein Mensch das wissen kann, so sind wir beide, Winnetou und ich, keine Menschen, denn wir wissen es.“

Karl May, Old Surehand III(Karl Mays gesammelte ReiseerzählungenBand 19, Freiburg 1896)

Mayhelden sind einfach super. Sie sind stets erfolgreich, zweifeln selten und wissen grundsätzlich, was zu tun ist. Unerschrocken streiten sie für das Gute und bringen böse Wichte zur Strecke. Dabei können sich ihnen noch so viele Gegner in den Weg stellen, sie räumen sie doch zur Seite – entweder durch Schläue oder mit Körperkraft. Würden sie sich auch noch ein verrücktes Outfit anziehen und über außerordentliche Fähigkeiten verfügen, sie könnten glatt als Superhelden durchgehen … Uffuff!

Wohin man auch blickt, überall sieht man heutzutage Superhelden. Mit bunten Kostümen und – zumeist – unerschütterlicher Lauterkeit haben sie sich die Herzen der Menschen erobert. Doch wenn man sie genauer begutachtet, dann beschleicht den Mayleser sehr schnell ein Gefühl der Vertrautheit.

Hat unser Reiseschriftsteller etwa in Wirklichkeit Superheldengeschichten geschrieben? Würde sich Batman nicht ziemlich gut im Wilden Westen machen? Gibt es vielleicht sogar einen Superman im Mayversum? Wer ist eigentlich Tony Stark und warum kommt er uns Maylesern so vertraut vor? Und wie konnte ein Saubermann aus dem Zweiten Weltkrieg, der sich die amerikanische Flagge anzieht, wenn er zur Arbeit geht, und auch noch Captain America heißt, im angeblich so abgeklärten 21. Jahrhundert die Kinocharts stürmen? Was wollen die Menschen eigentlich noch mit Typen, die andauernd Gutes tun? Die Antworten auf diese Fragen verraten uns viel über Mays große und kleine Helden. Denn Helden, die so richtig super sind, liegen total im Trend.

Das Zeitalter der Helden

Es waren einmal zwei Geschichtenerzähler, die erfanden einen Helden in einem hautengen Latexkostüm mit einem roten Cape und einem roten S auf der Brust. Das S stand für Super. Später würde es für andere Dinge wie Hoffnung und Gerechtigkeit stehen, aber so fing im Juni 1938 alles an. Der muskelbepackte, dunkelhaarige Herkules mit den blauen Strumpfhosen, den Autor Jerry Siegel und Zeichner Joe Shuster auf das Titelblatt der Action Comics brachten, sollte zum Inbegriff des Superhelden werden: ein strahlender Heros, der immer das Richtige tut, den Guten und den Hilflosen zur Seite steht und den Bösen das Handwerk legt. Siegel und Shuster nannten ihre Schöpfung „Superman“ – und veränderten irgendwie ein ganz kleines bisschen die Welt.

Den Kräften Supermans, dem Außerirdischen vom Planeten Krypton, der sich hinter den Brillengläsern des etwas tollpatschigen Reporters Clark Kent verbarg, schienen keine Grenzen gesetzt und er wirkte schier unkaputtbar. Stahl konnte er mit bloßen Händen biegen, dank Röntgenblick und Supergehör entging ihm nichts, bald konnte er auch fliegen und war mit einem Laserblick ausgestattet, er war schneller als eine Gewehrkugel und jede gewöhnliche Waffe prallte an ihm ab. Das Faszinierende an diesem neuen Helden war aber nicht nur, was er alles konnte; Siegel und Shuster, Söhne jüdischer Einwanderer, waren Idealisten und ihr Heros war ein Weltenretter – und das nicht nur im wortwörtlichen Sinn. Der frühe Superman kämpfte gegen Außerirdische und Superbösewichte, aber auch gegen soziale Ungerechtigkeit. Das traf im Amerika der 1930er – neun Jahre nach dem Börsencrash und ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs – auf offene Ohren und offene Herzen. Der britische Comicbuch-Autor Grant Morrison schwärmt von dieser Geburtsstunde der Superhelden:

Der ursprüngliche Superman war eine kühn-humanistische Antwort auf die Ängste, die die Ära der Weltwirtschaftskrise mit ihrem seelenlosen Industrialismus mit sich brachte. […] Superman [hatte] die Kraft von 50 Männern und war außerdem unverwundbar. Wenn die dystopischen Visionen dieser Zeit eine entmenschlichte und mechanisierte Welt prophezeiten, so stand Superman für eine Alternative: nämlich für eine von Menschen geprägte Zukunft, in der das Individuum über die Mächte der industriellen Unterdrückung siegen würde. Er war […] bescheiden und genauso stets auf Seiten der Armen.13

In einer Welt, in der die Menschen sich oft ohnmächtig fühlten, fiel die Idee von einem Helden, der übermächtig und übergut war, auf fruchtbaren Boden. Und die Strahlkraft dieses neuen „Sonnengottes“ (Morrison) wirkt auch 80 Jahre später noch nach. „Es gibt da draußen diese wirklich wundervolle Idee: Dass da jemand ist, der über so große Macht verfügt, wie man es sich nur vorstellen kann, und der damit machen könnte, was auch immer er möchte, und er entscheidet sich dazu, nach einem sehr strengen moralischen Kodex zu leben,“ erklärt eine junge Frau mit dem Online-Namen Alachia Queen,14 eine besonders rührige Denkerin auf der Internet-Plattform YouTube, wo man sich nicht nur Katzenvideos ansehen, sondern auch angeregte Diskussionen über neue und alte Helden führen kann. „Er ist jemand, der Gutes tut, um Gutes zu tun“, ergänzt Hector Navarro in den Superhero News.15 Kommt uns Maylesern das nicht sehr bekannt vor?

Der Auftritt Supermans auf der Bühne der Welt läutete ein Goldenes Zeitalter für Superhelden-Comics ein. Schnell folgte dem strahlenden Apoll sein ‚dunkler Zwilling‘, der ihn an Ruhm noch übertreffen sollte: Batman, der vielleicht bekannteste und beliebteste Superheld überhaupt16. Wo dem außerirdischen Superman unsere gelbe Sonne seine übermenschlichen Kräfte verlieh, war Batman ein gewöhnlicher (wenn auch stinkreicher) Erdling, der sich auf seinen Verstand, sein Training und seine Ausrüstung verlassen musste. Kämpfte Superman im hellen Licht des Tages, legte Batman den Bösewichten der Welt lieber aus den Schatten heraus das Handwerk. Stand das farbenfrohe rote Cape bald für Hoffnung, war das dunkle Fledermauskostüm eine Warnung, nicht vom rechten Weg abzukommen. Die beiden ersten großen Superhelden – Mensch und Übermensch, Lichtgestalt und dunkler Ritter – ergänzten sich gegenseitig, und beide Konzepte waren auf ihre Art und Weise reizvoll und wirkungsmächtig.

Doch so unterschiedlich die zwei Helden waren, glichen sie sich doch in entscheidenden Punkten: Sie waren prinzipientreu, kämpften für das Gute und taten stets das Richtige. Wo immer sie konnten, beschützten sie die Machtlosen. Aber sie schonten auch das Leben ihrer Gegner, selbst der bösesten Bösewichte – Superman, weil er es als höchst unmoralisch ansah, mit seiner überlegenen Kraft ein Menschenleben auszulöschen, Batman, weil er wusste, dass ihn zuweilen nur sein Respekt für das Leben von seinen manischen, maskierten Gegnern unterschied.

Dem ‚Mann aus Stahl‘ und der ‚Fledermaus aus Gotham‘ folgten zahllose weitere Superhelden. Sie alle waren mal edle, mal abgefahrene, mal verzerrte Inkarnationen ein und desselben Prinzips: dass jemand, der von der Natur, dem Zufall, durch Wissenschaft oder Magie außergewöhnliche bis übermenschliche Kräfte verliehen bekommen hat, sie für ‚das Gute‘ einsetzt. Was Letzteres sein mag, ist natürlich nicht immer glasklar. Nicht alle Helden sind so erhaben und ethisch unangreifbar wie Superman – das wäre ja auch langweilig. Doch selbst ein in moralischen Grauzonen beheimateter Zeitgenosse wie der mit Augenklappe und Ledermantel bewehrte Superspion Nick Fury, in dessen Augen der Zweck sehr oft die Mittel heiligt, wacht über die Helden seines Universums wie eine etwas dubiose, aber im Großen und Ganzen auf das Allgemeinwohl bedachte gute Fee. Vielleicht weiß gerade er, der oft zweifelhafte Entscheidungen trifft, damit andere unbescholten bleiben, worauf es beim Superheldendasein ankommt. Im Gespräch mit zweien seiner fähigsten und integersten Agenten über das Credo seiner sprechend benannten Geheimorganisation S.H.I.E.L.D.17 bringt die neueste Inkarnation von Nick Fury, meisterhaft verkörpert durch Samuel L. Jackson, die Essenz der Heldenexistenz auf den Punkt:

Nick Fury: Das Prinzip, auf dem S.H.I.E.L.D. gegründet wurde, war ein ehrenhaftes.

Melinda May: Zu beschützen.

Nick Fury: Zu beschützen. Manchmal einen einzigen Menschen vor sich selbst, manchmal den ganzen Planeten vor einer Alien-Invasion aus einer anderen Dimension. Es ist ein breit gefächertes Berufsbild.

Phil Coulson: Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.

Nick Fury: Aber die Überzeugung, die uns alle antreibt, ist dieselbe, egal, ob es sich um einen Einzelnen oder um die ganze Menschheit handelt.

Phil Coulson: Dass sie es wert sind, gerettet zu werden.18

Dieser zentrale Dialog stammt aus der Fernsehserie Agents of S.H.I.E.L.D. von 2013/14. Die Grundidee des Superhelden, wie sie Siegel und Shuster mit dem kostümierten Clark Kent aufgebracht haben, hält sich seit nun schon 80 Jahren und hat sich über alle Medien ausgebreitet. Sie ist hartnäckig und unausrottbar, ja, sie erlebt gerade eine neue Blütezeit. „Es gibt offensichtlich ein unstillbares Verlangen nach diesen überlebensgroßen Heldenfiguren“, erklärt Stan Lee, Schöpfer von Nick Fury und so berühmter Figuren wie Spider-Man und dem Hulk. Es ist seine Antwort auf die Frage eines Interviewers, warum denn ausgerechnet die Superhelden die Kinos des 21. Jahrhunderts erobert hätten19. Stan Lee weiß wahrscheinlich, wovon er redet. Anfang der 1960er legte der Comic-Schreiber, der damals schon 20 Jahre im Geschäft war – allerdings ‚nur‘ mit Geschichten über Monster, Liebe und Verbrechen – zusammen mit den Zeichnern Jack Kirby und Steve Ditko den Grundstein für Marvel, eines der beiden großen Comic-Imperien, die den Markt bis heute dominieren. Bis dahin war DC, die Geburtsstätte von Batman und Superman, allein tonangebend gewesen, doch seitdem leisten sich die beiden Rivalen einen steten Konkurrenzkampf, der längst nicht mehr nur auf den Comicseiten, sondern auf Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden ausgetragen wird. Die Sieger sind in der Regel die Fans. Immer neue Kapriolen, immer fantastischere Geschichten, immer heroischere und immer zeitgemäßere Gestalten lassen sich die Künstler in beiden Lagern einfallen20. Um sich gegenseitig zu übertrumpfen, aber auch um Geschichten zu erzählen, die das Potenzial haben, moderne Mythen zu werden – inklusive der dazugehörigen Heroen, bestrumpfhoste Kult-Ikonen für das 20. und 21. Jahrhundert.

Ja, wir leben im Zeitalter der Helden. Jedenfalls im Kino. Gaben einst Western, Romantische Komödien oder Actionfilme den Ton an, teilen heutzutage Fantasy-, Science-Fiction- und Superhelden-Streifen die großen Blockbuster untereinander auf. Filmexperte Bob Chipman, auf YouTube unterwegs unter dem Namen „Moviebob“, sagt dazu: „Der Superheld aus dem Comic, der einstmals ein Idol für Kinder und/oder für ein bestimmtes erwachsenes Nischenpublikum war, ist nun zum weltweiten Inbegriff des Heldenhaften geworden – ganz besonders im Kino.“21 Irgendwie haben die Superhelden in ihren Kostümen und mit ihrem überproportionalen Helfersyndrom die Welt erobert. Alle paar Wochen, so scheint es, kommt ein neuer ‚Super-Film‘ heraus, und nicht mehr nur die allerbekanntesten Namen wie Batman und Superman ziehen das Publikum an, sondern auch und ganz besonders obskure Gestalten wie „Deadpool“ oder „Starlord“. Und wenn auch der ein oder andere Cineast schon von ‚Superheldenmüdigkeit‘ spricht, scheint das Gros des Publikums diese noch nicht zu verspüren. Im Gegenteil existiert offenbar ein schier unersättliches Bedürfnis nach spannend erzählten Geschichten mit schrillen und heldenhaften Figuren, die (fast) immer Gutes tun und (fast) immer triumphieren. Jeder Fan von Karl May, der als Kind Seiten über Seiten der Abenteuer von Kara Shatterhand verschlungen hat und vielleicht auch heute noch verschlingt, wird gut verstehen, warum das so ist.

Aus großer Macht folgt große Verantwortung

Superhelden sind eigentlich nichts anderes als mal hehre, mal ziemlich ausgeflippte Manifestationen des amerikanischen Traums vom Individuum, das zu jedweder Meisterleistung fähig ist. Mit diesen ‚Meisterleistungen‘ sind zum einen die ungeheuren Kräfte und Fertigkeiten der Über-Heroen gemeint, zum anderen aber auch die Fähigkeit des Menschen zu reiner Güte und Lauterkeit. Der Einzelne – so die Botschaft, die hinter den Superhelden steht – kann alles schaffen und alles erreichen, wenn er nur will. Gleichzeitig geht damit aber auch immer die Idee von kompromisslosem Nächstendienst einher. Der Superheld kann alles, und weil er alles kann, muss er Gutes tun. Oder, um es mit den berühmt gewordenen Worten von Stan Lees Spider-Man zu sagen: „Aus großer Macht folgt große Verantwortung.“

Ganz so direkt formulieren es die Mayhelden eigentlich nie. Auch wird die kausale Verbindung zwischen Kraft und edlen Taten nicht so betont. Kara Shatterhand tut nicht Gutes, weil er physisch stark ist. Er tut Gutes, weil er gut ist und weil jede andere Handlungsweise außer Frage steht. In der Großen Reiseerzählung wird jeder Mensch zu allererst an seiner humanen Einstellung gemessen. Wer diese nicht hat, kann noch so stark sein und wird es doch zu nichts bringen in der Heldenhierarchie des Maytextes, jener ungeschriebenen Rangliste an Edelmenschentum, die Winnetou, Old Shatterhand und die kurdische Königin Marah Durimeh anführen.22 Und wer sie hat, kann selbst ohne große Stärke ein Edelmensch werden – wenn auch fehlende Körperkraft die Handlungsmöglichkeiten guter Menschen in den ‚Abenteuerräumen‘ des Mayversums deutlich einschränkt. In den wilden Weiten des amerikanischen Westens sowie den zerfallenden Zivilisationen und rechtlosen Gebieten des Orients gilt das Gesetz des Stärkeren. Das betont Mays Ich-Erzähler häufig genug. Doch nur, wenn dieser Stärkere auch ein so lauterer Mensch ist wie Kara Shatterhand, kann die Geschichte gut ausgehen. Insofern trifft Spider-Mans Motto also sehr wohl auf die echten Mayhelden zu. Nur dass in sich gefestigte, moralisch absolut integere Menschen wie Winnetou und sein Blutsbruder sich die Frage gar nicht erst stellen, was denn sonst mit großer Kraft anzustellen sei, als eben Verantwortung zu übernehmen. Die weniger prätentiösen Worte, in die die neueste Inkarnation von Peter Parker alias Spider-Man seinen berühmten Leitspruch kleidet, trifft das Ganze vielleicht ein wenig besser: „Wenn du tun kannst, was ich tun kann, und du tust es nicht, und wenn dann schlimme Dinge passieren, dann geschehen sie deinetwegen.“23

Die Idee vom Superhelden stellt die Forderung an das starke, fähige Individuum, seine Anlagen wohlbringend einzusetzen, geht aber auch davon aus, dass es jedem Menschen gegeben ist, ethisch richtig bzw. gut zu handeln.24 Das ist nicht so weit von Mays Ideal des Edelmenschen entfernt: Das Wichtige ist, sich für das rechte Handeln zu entscheiden. Manchmal ist das ein lebenslanger Versuch, so wie im Falle des kleinen, tapferen, großspurigen Hadschi Halef Omar, der auf seinem Weg zum wahren Menschsein immer wieder strauchelt, aber niemals aufgibt. Und manchmal ist es eine unerschütterliche innere Sicherheit, wie sie dem Ich oder Winnetou gottgegeben ist. In dieser Hinsicht sind Kara Shatterhand und sein Blutsbruder nicht anders als Superman, der von seinen außerirdischen Eltern die Macht und von seinen menschlichen Zieheltern einen unbeirrbaren moralischen Kompass mitbekommen hat. Die beiden großen Mayheroen würden also gut in das Wertesystem einer archetypischen Superhelden-Geschichte hineinpassen, auch wenn sie keine Superkräfte haben. … Haben sie doch nicht, oder?

Weder Old Shatterhand noch Winnetou waren je kosmischer Strahlung oder dem Biss eines radioaktiven Insekts ausgesetzt, sie sind weder kugelsicher noch haben sie einen Röntgenblick noch können sie einen ganzen Panzer in die Luft heben. Aber die Art und Weise, wie uns der Maytext seine Überhelden präsentiert, lässt uns das leicht vergessen. Wenn Winnetou beim Verfolgen einer Fährte auf der Prärie auch noch der kleinste geknickte Grashalm auffällt, und das mitten in der Nacht; wenn Old Shatterhand trotz seiner nicht übermäßigen Körpergröße und -masse einen ausgewachsenen Mann mit nur einem Fausthieb bewusstlos schlägt oder ein Pferd mit seinem Schenkeldruck in die Knie zwingt; und wenn die Blutsbrüder mit nur einem Blickwechsel ganze Bände sprechen – ja, dann könnten sie genauso gut über erweiterte Sinne, Megastärke oder Ansätze von Telepathie verfügen. Den Beobachtern innerhalb der Erzählung kommt es jedenfalls oft so vor. „Dieser Weiße ist der größte Zauberer, den es gibt“, sagt Osagen-Häuptling Schahko Matto entrüstet über Old Shatterhand, „und wenn er und der Apatsche beieinander sind, so besitzen hundert Osagen nicht Macht genug, sie anzugreifen oder gar sie festzunehmen.“25

Der Häuptling steht mit dieser Ansicht keinesfalls alleine da. Kara Ben Nemsi wird im Orient wahlweise unterstellt, mit dem Sheïtan im Bunde zu stehen oder den ‚Bösen Blick‘ zu haben, der ihm alle Geheimnisse enthüllt. Im Wilden Westen eilt ihm und Winnetou ein Ruf voraus, der in gewisser Weise selbst eine Art Superkraft ist. Die beiden Überhelden stehen bei Freund wie Feind in so großem Ansehen, dass sie manchen Konflikt lösen können, ohne dass ein Schuss fällt. „Winnetou und Old Shatterhand werden für unüberwindlich gehalten“, erklärt der edle Komantsche Apanatschka, der die Blutsbrüder aufgrund seiner Stammeszugehörigkeit als Gegner betrachten muss. „Aber sie beide sind Männer, die mir für unantastbar gelten; sie sind die Freunde aller roten und aller weißen Krieger und leben allen Bewohnern des Wilden Westens als Vorbilder, die ich nicht verletzen darf.“26 Genau wie bei klassischen Superhelden auch entsteht dieser Leumund aus einer Mischung aus humanem Handeln, tatsächlichen hervorragenden Fertigkeiten und einem Ruf der Unbesiegbarkeit. Winnetou und Old Shatterhand erhalten so eine Aura des Mehr-als-Menschlichen.

Natürlich ist ihr Autor sehr darauf bedacht, den Leser in die bodenständigen Grundlagen der fantastisch wirkenden Leistungen seiner Helden einzuweihen: Es steckt hartes Training und eine geschärfte Beobachtungsgabe dahinter, ein Wissensvorteil oder überlegene Ausrüstung und dergleichen mehr. Und weil es der Ich-Erzähler des Maytextes ist, der uns diese Erklärungen gibt, und wir gelernt haben, ihm bedingungslos zu vertrauen – schließlich ist er Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, der so viel weiß und fast immer Recht hat und außerdem niemals lügt – weil eben dieser vertrauenswürdige Ich-Erzähler uns diese Erklärungen serviert, glauben wir auch, dass er und Winnetou eben doch nur Menschen sind. Wenn auch mal gerade so. Denn in der Realität verwurzelte Begründung oder nicht: Winnetou und Kara Shatterhand verrichten genug Taten, die die Grenzen des Menschenmöglichen wenn schon nicht überschreiten, so doch gehörig strapazieren. Gerne erteilt vor allem das Ich dabei dem ein oder anderen Möchtegernhelden auch noch eine lehrreiche Lektion:

Er fasste mich bald rechts, bald links, bald oben, bald unten, bald hüben und drüben oder hinten und vorn zu gleicher Zeit und brachte mich doch nicht um einen Zentimeter von der Stelle, denn ich hatte die Beine ausgespreizt und die Knie ein wenig gebogen und schob jedem Druck von ihm den Schwerpunkt meines Körpers entgegen. Wer diesen Kniff gut eingeübt hat, den bringt selbst ein ungewöhnlich starker Mann nicht von der Stelle. Die Hauptsache ist, dass man nicht den Bruchteil einer Sekunde zögert, sich auf die Absichten des anderen umzustellen und seinen Schwerpunkt sofort dem Druck des Gegners entgegenzuschieben. Man muss diesen Druck, ich möchte sagen, vorherahnen, man darf nicht warten, bis man ihn fühlt. Versäumt man nur einen Augenblick, so ist es zu spät und man hat das Gleichgewicht verloren.

[…] Endlich ließ er ab, holte tief Atem und schrie erbost:

„Dieser Kerl hat entweder den Teufel oder er ist an die Diele festgenagelt! So etwas hat man noch nie erlebt.“

„Ich will Euch gleich etwas zeigen, was Ihr wohl auch noch nicht erlebt habt“, lachte ich. „Ihr wolltet mich auf die Straße werfen, ich will es feiner mit Euch machen; Ihr müsst zwar auch hinaus, aber ich werde Euch nicht werfen, sondern tragen. Passt auf!“

Um seine Arme und Hände für mich unschädlich zu machen, drehte ich ihn, bevor er es vermutete, schnell um, fasste ihn oben am Rock- und Westenkragen, unten am Gesäß, hob ihn mit einem Ruck in die Höhe, schüttelte ihn einige Male derb auf und nieder, was ihm für den Augenblick die Widerstandskraft nahm, ging zur halb offenen Tür, schob sie vollends auf und trug ihn durch den Flur hinaus auf die Straße. Alles, was sich im Zimmer befand, kam unter hellem Gelächter hinterhergelaufen.27

Und wie schreibt der Ich-Erzähler selbst über den großen Häuptling der Apatschen? „Man denke, mein Gegner war Winnetou, der bisher noch nie besiegt worden war und später auch nie wieder besiegt worden ist, mit seiner schlangenartigen Geschmeidigkeit, den eisernen Muskeln und stählernen Flechsen!“28 Nicht nur die Konstitution Winnetous, sondern auch die Art, wie sie beschrieben wird, erinnern sehr an den ‚Mann aus Stahl‘ alias Clark Kent alias Superman. Nur dass Karl May seine Beschreibung eben ein bisschen metaphorischer meint als die Comicbuch-Autoren. Man darf sich die Frage stellen, ob er sich die Mühe gemacht hätte, hätte er einige Jahrzehnte später geschrieben. Und ist die Vielsprachigkeit seines Ich-Helden, dessen extreme physische Ausdauer und seine enorme Geschicklichkeit in allen Belangen des Lebens wirklich so viel weniger fantastisch als die Vorstellung, dass Gammastrahlung einem Menschen grenzenlose Kräfte verleiht, wenn er nur wütend genug wird (und grün)?

Natürlich sind die trotz allem noch menschlichen Kräfte der Blutsbrüder nicht wirklich mit denen eines Superwesens wie dem Hulk gleichzusetzen. Das riesige, muskelbepackte und grüne Alter Ego des zurückhaltenden Wissenschaftlers Bruce Banner ist die Manifestation blanker Wut, aber auch grenzenloser Stärke. Es gibt nichts, was der Hulk kräftemäßig nicht kann – außer sich zu beherrschen vielleicht. Und in den Augen Supermans, der sogar Kohle zu Diamant pressen kann, wäre selbst die beachtlichste Shatterhand’sche Demonstration an Köperkraft gar nicht der Rede wert. Aber es gibt auch Superhelden, die nicht so gigantisch stark sind wie der Sohn von Krypton, das ‚Wutmonster‘ Hulk oder auch der vermeintlich schmächtige Spider-Man. Sie verdanken ihre überlegenen Fähigkeiten Training, Genie und/oder der Wissenschaft und sind nur ein kleines bisschen Mehr-als-Mensch. Solche Helden eignen sich als Vergleichsobjekte für unsere Blutsbrüder ganz hervorragend.

Batman beispielsweise ist kein Überwesen. Im Alltag trägt er den Namen Bruce Wayne und ist zwar ein Milliardär, aber sonst ein ganz normaler Mensch. Nun ja, außer dass er der wahrscheinlich klügste Kopf im DC-Universum ist. Doch all die Fähigkeiten, die ihn auszeichnen, hat er sich durch hartes Training angeeignet. Superbösewichten legt er allein durch seinen detektivischen Spürsinn, durch Kampfkunst und durch hochtechnische Ausrüstung das Handwerk. Das kommt uns Maylesern natürlich bekannt vor. Kara Shatterhand sichert sich seine Überlegenheit ebenfalls durch eine Kombination aus allen drei Faktoren. Sein Scharfsinn ist legendär, sein Körper ist dank Winnetous Schule gestählt, und mit dem fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen und dem riesigen Bärentöter lehrt er so manchem Feind das Fürchten, ohne sie todbringend einsetzen zu müssen. Die beiden ‚Zaubergewehre‘ sind von seiner Person nicht wegzudenken. Ganz ähnlich sind viele Superhelden mit ikonischen Waffen ausgestattet, die irgendwie zu ihrem Namen, ihrer Superkraft oder ihrem Outfit passen. Batmans zahlreiche Utensilien sind alle mehr oder weniger im Fledermausdesign gehalten, ein maskierter Rächer namens Green Arrow29 schießt passenderweise mit Multifunktionspfeilen und die S.H.I.E.L.D.-Agentin und Superspionin Black Widow setzt neben ihrem agilen Körper auch die Elektroschocker ‚Widow’s Bite‘ ein.30 Thor, Sohn des Odin, schwingt natürlich seinen blitzeschleudernden Hammer Mjölnir und die Amazone Wonder Woman das ‚Lasso der Wahrheit‘.31

Im Großen und Ganzen sind die archetypischen Superhelden mit Waffen ausgestattet, die zwar durchaus Schaden anrichten, zugleich aber auch Gegner ausschalten können, ohne sie zu töten. Das sprechendste Beispiel dafür ist wohl der rot-weiß-blaue Schild von Marvels Supersoldat Captain America, die defensive Waffe schlechthin. Der Schild verkörpert den Kern der selbstgesetzten Mission von ‚Cap‘: anderen Schutz und Schirm zu sein. Als Veteran des Zweiten Weltkriegs ist Steve Rogers nicht darüber erhaben, ein Menschenleben zu nehmen. Aber vorzugsweise schlägt er seine Widersacher mit dem Schild k.o., vor allem im Duell mit bloßen Befehlsempfängern. Außerdem benutzt er den runden Schild als eine Art Bumerang, um seine Gegner zu entwaffnen, von den Beinen zu fegen oder sonst wie unschädlich zu machen. Er erlangt eine solche Meisterschaft mit dem unkonventionellen Wurfgeschoss, dass der junge Spider-Man 2016 endlich ausspricht, was sich sowieso alle denken: „Dieses Ding hält sich überhaupt nicht an die Gesetze der Physik, oder?“32

Dass ausgerechnet dem Supersoldaten kein Supergewehr in die Hand gegeben wird, sondern eben ein Schild, ist natürlich Absicht. Die Wahl dieser Verteidigungswaffe wirkt zunächst absurd, vielleicht gerade weil sie anders als ein magisches Wahrheitslasso oder ein mythischer Hammer noch in der Realität verwurzelt ist. Aber beim näheren Betrachten macht es Sinn: Captain America ist vor allem dazu da, Leben zu erhalten und nicht auszulöschen. Und auch die Waffen vieler anderer Superhelden, egal, wie cool oder abgefahren oder unwahrscheinlich sie auch sein mögen, dienen in erster Linie dazu, zu verteidigen. Diese Denkweise und Bildsprache passt ganz wunderbar zu unserem Mayhelden Kara Shatterhand. Dieser ist durchaus mit Schusswaffen ausgerüstet, trägt er doch berühmterweise nicht nur den Henrystutzen, sondern auch den schweren Bärentöter und einen Revolver. Aber er setzt sein Arsenal fast ausschließlich präventiv ein; das heißt, er demonstriert häufig und ausgiebig die große Reichweite und Durchschlagskraft des Bärentöters und die Schusskapazität des Henrystutzen, um seinen Gegnern Respekt/Angst einzuflößen. Kommt es doch zum Ernstfall, schießt er auf Extremitäten und keineswegs mit Tötungsabsicht. Genau deshalb übergibt ihm der Waffenschmied Mr. Henry ja seinen potenziell unheilvollen Stutzen: weil er weiß, dass der junge Old Shatterhand ihn nie missbrauchen wird:

Er öffnete seinen Gewehrschrank, nahm – den ersten fertigen Henrystutzen heraus, erklärte mir den Bau und den Gebrauch der Waffe und führte mich dann zu seinem Schießstand, wo ich das unübertreffliche Gewehr erproben und beurteilen sollte. Ich war geradezu entzückt von dem Stutzen, machte jedoch den Alten nochmals darauf aufmerksam, dass die Verbreitung dieser Schnellfeuerwaffe für die Tier- und auch für die Menschenwelt des Westens die nachteiligsten Folgen haben müsse.

„Weiß es, weiß es“, nickte Henry. „Habt es mir ja schon erklärt. Werde also nur einige Stück anfertigen. Das erste, dieses hier, schenke ich Euch. Habt meinen alten Bärentöter berühmt gemacht, sollt ihn nun für immer behalten und den Stutzen dazu.“33

Mr. Henry hat seine „helle Freude“ an den Heldentaten Old Shatterhands, „denn ich bin es ja gewesen, der Euch diesen Weg zeigte“34. Sein Interesse an dem jungen Deutschen scheint ähnlich motiviert zu sein wie das des Wissenschaftlers Abraham Erskine an dem jungen, noch ganz und gar nicht übermenschlichen Steve Rogers im Captain-America-Film von 2011. Der aus Nazi-Deutschland geflohene Jude wählt den schmächtigen Burschen aus Brooklyn für die experimentelle Behandlung aus, die aus dem kleinen Kerlchen einen Supersoldaten machen soll. Erskine trifft diese unwahrscheinliche Wahl, weil Steve auf die Frage „So, Sie wollen also Nazis töten?“ antwortet: „Ich will gar niemanden töten. Ich mag’s nur nicht, wenn jemand drangsaliert wird.“35 Die Botschaft ist klar: Nur Menschen, die nicht töten wollen, kann man die gefährlichsten aller Waffen in die Hand geben bzw. sie selbst zu einer solchen Waffe machen.

Doch nicht der Henrystutzen kommt der Funktion und Bildkraft von Caps Schild am nächsten, sondern der legendäre Jagdhieb Old Shatterhands. Mit einem bloßen Faustschlag gegen die Schläfe streckt Mays Ich-Held den stärksten Mann nieder und erringt sich damit im Westen seinen Kriegsnamen Old Shatterhand. Wäre er stattdessen im Marvel-Universum unterwegs, hätte ihn wahrscheinlich jemand ‚Iron Fist‘36 getauft; es käme so ziemlich auf dasselbe hinaus. Der Jagdhieb ist das typische Erkennungsmerkmal des May’schen Weltläufers, mehr noch als Bärentöter und Henrystutzen. Der Kampfkniff erlaubt es ihm, seine Gegner auf eine ganz eigene Art und Weise auszuschalten. Genau wie nicht jeder mit Caps Schild den Naturgesetzen die Stirn bieten kann, kann auch nicht jeder – oder besser gesagt: niemand – Old Shatterhands Schläfenhieb so einsetzen, dass die Gegner tatsächlich bewusstlos zu Boden gehen. Westmann Old Surehand und Komantsche Apanatschka müssen das schmerzhaft lernen, als sie sich in einem Zweikampf gegenüberstehen und nur noch die Fäuste zur Verfügung haben:

Wieder standen sie eine Weile still; dann versetzte der Komantsche seinem Gegner einen Hieb auf den Kopf, dass es zu krachen schien, und erhielt fast im selben Augenblick einen ebensolchen Schlag; keiner von beiden wankte.

„Uff!“, sagte Winnetou mit gedämpfter Stimme. „Keiner von ihnen ist Old Shatterhand!“

Beide sahen ein, dass mit solchen Faustschlägen nichts zu erreichen war, und hatten sich schnell bei den Kehlen.37

Dank dieses Jagdhiebs behält Kara Shatterhand in unzähligen Kämpfen die Überhand, ohne dass seine Kontrahenten größeren Schaden davontragen als einen Brummschädel. Wo die Gewehre zumindest potenziell töten können (und manchmal müssen), ist der Zweck des Schläfenhiebs ein anderer. Es geht darum, einen Kampf so schnell und so unblutig wie möglich zu beenden; es geht um effektiven Selbstschutz und um den Schutz anderer, sowohl der Angegriffenen als auch der Angreifer. Die Art der Attacke lässt von vornherein gar keinen anderen Schluss zu, ganz genauso, wie man einen Schild zuallererst mit Verteidigung assoziiert. Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet dieser Jagdhieb Old Shatterhand zu seinem Heldennamen verhilft: Er bringt die Essenz seiner heroischen Existenz auf den Punkt.

Kleider machen Leute

Superhelden verfügen also über außergewöhnliche bis übermenschliche Fähigkeiten – die, nebenbei gesagt, ebenso geistiger wie körperlicher Natur sein können. Unermesslich müssen sie aber nicht zwangsläufig sein. Das von Dr. Erskine entwickelte Serum machte Steve Rogers zum Supersoldaten mit verbesserten Sinnen, der weiter springen, genauer zielen, stärker zuschlagen, tiefer fallen kann, der schneller heilt und schneller reagiert, der unmögliche Kampfgriffe ausführt und gegen fast jede Übermacht bestehen kann. Das klingt, ersetzt man das comic-hafte Serum mal mit intensivem Training und natürlicher Begabung, eigentlich so ziemlich wie der May’sche Ich-Held. Nichts, was Cap kann, ist nicht menschlich. Er kann von allem nur mehr. Und das kann man von Kara Shatterhand oder Winnetou mit Fug und Recht auch behaupten. Der Sprung von einem Mayhelden zu einem Superhelden ist eben oft gar nicht sonderlich groß.38

Zu den außerordentlichen Kräften gesellen sich ikonische Waffen oder Werkzeuge, die nicht nur rein funktional sind, sondern auch dem Wesen ihres Trägers entsprechen. Ob ein mythischer Hammer, ein rot-weiß-blauer Schild oder ein Henrystutzen – die Ausrüstung der Helden identifiziert sie als diejenigen, die sie sind. Dazu gehören nicht nur Waffen, sondern auch ein entsprechender Anzug (wenn man milde gestimmt ist, kann man auch von einer ‚Uniform‘ sprechen). Wer an Superhelden denkt, dem fallen wohl als Erstes ‚Männer in Strumpfhosen‘ ein – bzw. in hautengen Latexanzügen. Wahrscheinlich ist jeder Witz, den man sich denken kann, schon gemacht worden über Superman, der zwar ein fotografisches Gedächtnis und ein kryptonisches Superhirn besitzt, aber grundsätzlich seine Unterhose über seinen Strumpfhosen trägt. Oder über Batmans Kappe mit den stilisierten, spitzen Fledermausohren, die ihn manchmal aussehen lässt wie einen verirrten Power-Wrestler, der sich außerdem in seinem steifen Muskelkostüm kaum bewegen kann. Und dass Captain America als Konterfei der US-Flagge herumläuft, hat auch schon für einige erhobene Augenbrauen gesorgt. Ganz zu schweigen von den verschiedenen freizügigen Outfits der superheldischen Damen, die mit ihren hohen, engen Stiefeln, hohen Beinausschnitten und/oder großzügigen Dekolletés doch oft sehr unpraktisch wirken. Dass die Ladies so gut kämpfen können, ohne dass ihnen ein Absatz bricht oder gewisse Teile der Anatomie dem engen Kostümchen entschlüpfen, verdient schon fast eine Kategorisierung als eigene Superkraft.39

Die Anzüge der Superhelden mögen je nach Ausprägung lächerlich, ärgerlich oder stylisch wirken, aber sie garantieren auf alle Fälle eins: Die Gestalt des Superhelden hat absoluten Wiedererkennungswert. Und nur so hat sie die Chance, eine Ikone zu werden. Das wussten die Germanen mit ihren hammerschwingenden, von Raben begleiteten Göttern schon genauso wie die Katholiken. Bischof Ulrich von Augsburg schwingt einen Fisch, damit man ihn von allen anderen heiligen Bischöfen unterscheiden kann, und Wonder Woman eben ihr ‚Lasso der Wahrheit‘. Das ist einfach so. Täten sie es nicht, so wären sie nicht die, die sie sind. Und ein Meister dieser ikonischen Kostümierung ist ohne Zweifel auch Karl May.

Man muss sich nur jeden x-beliebigen aus der Reihe seiner Westmänner herausgreifen, um den Verdacht zu hegen, May sei ein Comic-Autor avant la lettre gewesen. Schauen wir uns mal den berühmtesten der lustigen, gewitzten und ziemlich schrägen Westmänner an, die die Prärien des Mayversums bevölkern. Die Rede ist von Old Shatterhands erstem Lehrer, dem listigen Sam Hawkens:

Der vorderste von ihnen war ein kleines, drolliges Kerlchen. Unter der wehmütig herabhängenden Krempe eines Filzhutes, dessen Farbe, Alter und Gestalt selbst dem schärfsten Denker ein nicht geringes Kopfzerbrechen verursacht haben würde, blickte zwischen einem Wald von verworrenen, schwarzgrauen Barthaaren eine Nase hervor, die von fast erschreckendem Größenverhältnis war und jeder beliebigen Sonnenuhr als Schattenwerfer hätte dienen können. Infolge des gewaltigen Bartwuchses waren außer diesem so verschwenderisch ausgestatteten Riechorgan von den anderen Gesichtsteilen nur zwei kleine, kluge Augen zu bemerken, die mit einer außerordentlichen Beweglichkeit begabt zu sein schienen […].

Kopf und Hals des Kleinen ruhten auf einem Körper, der bis auf die Knie herab völlig unsichtbar blieb, weil er in einem alten, bockledernen Jagdrock steckte, der augenscheinlich für eine bedeutend längere Person angefertigt worden war, aus Fleck auf Fleck und Flick auf Flick bestand und dem Männchen das Aussehen eines Kindes gab, das zum Vergnügen einmal in den Schlafrock des Großvaters geschlüpft ist. Aus dieser mehr als zulänglichen Umhüllung guckten zwei dürre, sichelkrumme Beinchen hervor, die in ausgefransten Leggins1 steckten. Diese Leggins waren so hoch betagt, dass sie das Männchen schon vor Jahrzehnten ausgewachsen haben musste. Dabei gestatteten sie einen umfassenden Blick auf ein Paar Indianerstiefel, in denen zur Not der Besitzer in voller Person hätte Platz finden können. […] In der Hand trug dieser Mann eine Flinte, die das Aussehen eines alten Prügels hatte, der im Wald abgeschnitten war.40

Sam Hawkens ist ein Gesamtkunstwerk und seine Erscheinung so eigentümlich und unvergesslich wie die eines Superman oder Captain America (wenn auch vielleicht nicht ganz so patriotisch wie die beiden in Blau und Rot gehaltenen Überamerikaner). Ganz abgesehen davon, dass sein formidabler Mantel ganz und gar wasserfest und „viele, viele Male geflickt und ausgebessert, immer ein Lederlappen wieder auf den anderen genäht, und […] dadurch so steif und dick geworden [war], dass wohl kaum ein Indianerpfeil hindurchdringen konnte.“41 Da soll mal einer sagen, das sei kein Superheldenkostüm!

Wie Comicbuch-Figuren auch ändern Mays Westmänner kaum je ihr Outfit, es sei denn, es gibt einen guten Grund bzw. einen besonderen Anlass dazu. Und selbst dann ist das neue ‚Kostüm‘ nur selten dem alten vorzuziehen, wie der Auftritt der neu eingekleideten Westmänner Dick Hammerdull und Pitt Holbers in Old Surehand II zeigt:

Ihre äußere Erscheinung war freilich auch ganz geeignet, die größte Aufmerksamkeit zu erregen. […] Noch auffälliger war, wie sich die beiden Männer gekleidet hatten. Sie trugen sich nämlich von den Köpfen bis zu den Füßen herunter zeisiggrün. Kurze, weite, zeisiggrüne Jacken, kurze, weite, zeisiggrüne Hosen, zeisiggrüne Gamaschen, zeisiggrüne Schlipse, zeisiggrüne Handschuhe und zeisiggrüne Mützen mit zwei Schirmen, hinten einen und vorn einen, ganz nach Art der Orienthelme. Es fehlte ihnen nur noch das Einglas ins Auge, so hätten sie für die Erfinder oder Vorläufer des heutigen Gigerltums erklärt werden können, zumal sie auch sehr dicke und unförmige zeisiggrüne Regenschirme in den Händen hatten.

Es lenkten sich natürlich aller Augen auf sie. Ich erkannte sie trotz ihrer Kleidung, die man besser eine Maskerade hätte nennen können, sofort als alte Freunde.42

Es ist bezeichnend, dass im Falle der zwei Westmänner hier nicht ihr übliches, zusammengeschustertes Jägeroutfit, sondern die niegelnagelneue Zivilisationskleidung als „Maskerade“ empfunden wird. Das hindert die „verkehrten Toasts“ jedoch nicht daran, später ganz in Zeisiggrün in der Prärie und den Rocky Mountains herumzureiten, um einen üblen Bösewicht zu verfolgen.

Viele Figuren Mays sind also nicht weniger ‚lächerlich‘ unterwegs als die Superhelden in ihren Latexanzügen. Vom Ich-Erzähler wird das oft als blanke Notwendigkeit dargestellt. In der Wildnis ist es a) nicht möglich und b) auch gar nicht üblich, mehr als einen Satz an Kleidung zu besitzen. Vielleicht Unterwäsche zum Wechseln, aber so etwas macht einen schon fast zum Greenhorn. Trotzdem hat diese ‚Kostümierung‘ je nach Charakter doch auch ein mehr oder weniger starkes Element der ‚Performance‘. Das heißt: Figuren wie Sam Hawkens oder die verkehrten Toasts wissen durchaus, wie sie wirken, und setzen dies auch ganz bewusst ein. Sie inszenieren sich selbst, ihren Ruf und das, was sie darstellen. Man könnte auch sagen: Sie spielen ein Spiel, und sie spielen es gut. Ein ganz besonderer Meister ist dabei Tante Droll, ein äußerst fähiger, ja sogar berühmter Detektiv, dem man seine Kompetenz aus verständlichen Gründen nicht gleich ansieht:

Die […] andere [Person] schien ein eigenartig gekleidetes Frauenzimmer zu sein. Man sah eine Kopfbedeckung, ähnlich einer altertümlichen Haube, und darunter ein volles, rotwangiges Gesicht mit kleinen Äuglein. Die übrige Gestalt steckte in einem weiten Sack, dessen Schnitt und Form nicht zu bestimmen war. Der Schwarze Tom stand neben Old Firehand und fragte ihn: „Sir, kennt Ihr diese Frau?“

„Nein. Ist sie denn so berühmt, dass ich sie kennen müsste?“

„Allerdings. Sie ist nämlich gar keine Frau, sondern ein Mann, ein Präriejäger und Fallensteller. Und da kommt der Panther! Nun werdet Ihr sehen, was eine Frau, die ein Mann ist, zu leisten vermag.“43