Mohn und Schatten - Manfred Braasch - E-Book

Mohn und Schatten E-Book

Manfred Braasch

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Beschreibung

Die Wählergunst bei den Europawahlen hat gerade die Rechtspopulisten in vielen Ländern nach oben gespült. Vor dieser gesellschaftspolitischen Kulisse kehrt Katharina Jensen nach Hamburg zurück. Sie arbeitet nach den dramatischen Ereignissen vor zwei Jahren endlich wieder als Journalistin und lernt den Fotografen Nik Brahms kennen. Wenige Tage später begeht ein gemeinsamer Freund Selbstmord in der Nähe von Hamburg. Zusammen mit der Schwester des Toten machen sie sich auf, die Hintergründe dieses anfangs so eindeutigen Freitods zu klären. Und entdecken im Grenz-land zwischen Dänemark und Deutschland mehr als ihnen lieb ist.

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Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Mohn und Schatten

Manfred Braasch

Roman

Impressum

Copyright: © 2016 Manfred Braasch

Verlag: epubli GmbH, Berlin

Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen und Organisationen reiner Zufall. Insbesondere die Person Carl Aage Jacobson ist Fiktion.

Lediglich der an verschiedenen Stellen skizzierte gesellschaftspolitische Rahmen und die historischen Fakten sind nach besten Wissen und Gewissen für dieses Buch zusammen getragen worden.

Inhaltsverzeichnis

Prolog2

Kinobesuch mit Folgen4

Auf offener Strecke7

Wieder an den Tasten9

Die Liste der Schande13

Schlaglicht eins16

Eine Pressekonferenz und zwei Cappucini16

Arbeitsessen mit Störung20

Dose der Erinnerung24

Schlaglicht zwei28

Ein angeschlagener Chef und drei Probleme29

Ein Treffen und eine zittrige Spur33

Der erste Kontakt38

Kehrtwende Süderlügum41

Kinderspiele46

Schlaglicht drei50

Fundstücke51

Foto mit Folgen53

Irritation am Empfangstresen55

Fotos aus Amerika58

Besuch bei der Queen60

Taxi ohne Fahrer63

Ein Zufall beim Antiquitätenhändler66

Zeit zu Handeln70

Epilog73

Prolog

Am 12. Mai 2008 trafen sich im Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten in Hamburg zwei Männer. Das gediegene Hotel am Neuen Jungfernstieg verfügte über die notwendige diskrete Atmosphäre, um wichtige geschäftliche Dinge zu besprechen, die nicht für jedes Ohr bestimmt waren. Außerdem bot das Restaurant des Hauses mit seinen zwei Michelin-Sternen und immerhin 19 Gault Millau Punkten einige kulinarische Überraschungen.

Beide Männer waren in dunklen maßgeschneiderten Anzügen mit dezenter Krawatte unterwegs. Die Chronometer blitzten am rechten Handgelenk, der eine trug TAG Heuer, der andere Union Glashütte. Und auch sonst erkannte das geschulte Personal des Vier-Jahreszeiten, dass diese Herren durchaus gut bei Kasse waren. Sie waren zweifelsohne ausreichend dressy gekleidet, wie es auf der homepage des Hotels unter den Stichwort Dresscode hieß.

Sie begrüßten sich mit dem bei vielen Managern üblichen kräftigen Händedruck, nicht überschwänglich, aber durchaus zugewandt. Sie hatten sich bereits bei anderen Gelegenheiten in Berlin und Zürich getroffen und dabei schätzen gelernt. Jeder hatte bereits seine Suite bezogen, nun saß man entspannt im Restaurant, das an diesem Abend nur halb besetzt war. Nach dem Austausch über das Wetter und die Anreise – der eine kam aus dem Norden, der andere mit dem Firmenjet aus Essen - und der Bestellung eines exklusiven Drei-Gänge-Menüs näherte sich das Gespräch dem konkreten Anlass.

»Carl, wie Du sicher gelesen hast, steht unser Konzern vor wichtigen Auseinandersetzungen mit der Stadt Hamburg. Unsere Taktik ist bislang aufgegangen und Deine damalige Beratung hat sich ausgezahlt. Der Hamburger Senat steht aktuell erheblich unter Druck. Die Kostenschätzungen, die zu einer breiten Befürwortung des Baus der Elbphilharmonie geführt haben, lassen sich nicht mehr halten. Nächstes Jahr sind Wahlen in Hamburg und das macht einige Leute im Rathaus nervös.«

Der Mann, der mit Carl angesprochen wurde, nickte nachdenklich und nippte an seinem Apèretif. Ein gut gekühlter Prosecco aus dem Veneto, unterlegt mit frisch gepresstem Granatapfel. Akzeptabel, schmunzelte Carl still, genoss den leicht moussierenden Abgang, bevor er auf das eben Gesagte einging.

»Martin, wir haben es mit einer klassischen Entwicklung politisch gewollter Prestigebauten zu tun. Es ist fast schon langweilig, dass es immer wieder funktioniert. Am Anfang wird eine solide Kostenschätzung unter Abwägung aller erdenklichen Risiken in die öffentliche Debatte gegeben, garniert mit etwas Lyrik über ein neues Wahrzeichen für die Stadt. Ganz wichtig dabei: der Wettbewerb der Metropolen, den man nicht verlieren dürfe. Das übliche Blabla eben. Und schon gibt es eine breite Zustimmung für das Projekt. Die Handelskammer steht Gewehr bei Fuß und sorgt für Unterstützung in der Wirtschaft. Der Bürgermeister spricht ein paar bornierte Millionäre, die der Stadt viel zu verdanken haben, an und bittet um Spenden zum Wohle der Hansestadt. Es kommt ein für jeden Normalbürger beachtliches Sümmchen zusammen, das Abendblatt berichtet wohlwollend. Genügend weiße Salbe, um die ohnehin wenigen kritischen Stimmen mundtot zu machen.«

»Und wir haben die Stadt am Haken, aus der Nummer kommt kein Senat mehr raus.«

In diesem Augenblick wurde der Auftakt gereicht.Rindertatar mit Kräutercrème für Carl, geeiste Senfperlen mit Gurken-Chorizo-Vinaigrette für Martin. Die Herren unterbrachen kurz das Gespräch, bis der ausgesprochen höfliche Kellner seinen Spruch aufgesagt und den Herren guten Appetit gewünscht hatte.

Carl schaute prüfend auf seinen Teller und nahm den Faden wieder auf.

»Mein Team wird einen Fahrplan für alle Szenarien entwickeln. Damit können Deine Hausjuristen, wenn sie nicht ganz dumm sind und davon muss ich doch wohl ausgehen«- Carl schaute Martin direkt in die Augen -»alle möglichen Angriffe der Stadt kontern. Wir sorgen dafür, dass der Geldhahn nicht versiegt.«

Martin nickte zufrieden mit dem Kopf. Er wusste um die Qualität der Zuarbeit, die Carl ihm gerade zugesichert hatte. Damit war das wesentliche Ziel dieses Abends erreicht, jetzt begann der entspannte Teil. Alsbald war der Aperitif ausgetrunken und Carl ließ den Sommelier kommen. Als Hauptgang hatten beide Herren Ochsenschwanz mit geräuchertem Kartoffelstock und Périgord-Trüffel gewählt. Der erstaunlich junge aber kenntnisreiche Weinkellner empfahl dazu einen Valpolicella vom italienischen Weingut Quinatrelli. Die Flasche lag bei stolzen 650 Euro und Carl freute sich ein wenig, dass sein Gegenüber bei dem Preis einwenig mit dem linken Auge zuckte. Wenn schon denn schon, dachte sich Carl, er hatte bislang in Hamburg immer gut verdient. Der Abend versprach nett zu werden, Martin und er kamen mit Hilfe des guten Essens und des schweren Rotweins richtig gut in Fahrt und erzählten sich einige Anekdoten aus ihrem wirtschaftlichen Treiben der letzten Jahre.

Carl bestellte noch eine Flasche des wirklich ausgezeichneten Valpolicella und – wie erwartet – wollte Martin diese unbedingt übernehmen. Carl liebte diese Spielchen unter Reichen, Neureichen oder denen, die sich für eins von beiden hielten. Herrlich.

Sie streiften beim letzten Gläschen noch kurz die amerikanische Immobilienblase und beide waren sich schnell einig, dass das böse enden könnte. Gegen ein paar riskante Spekulationen, Warentermingeschäfte mit Nahrungsmittel oder – sehr interessant – diesen neuen Hochgeschwindigkeitshandel hatte niemand etwas. Aber nun hätten die Amis mal wieder übertrieben, den Bogen überspannt. Und die amerikanische Notenbank FED heizte das ganze noch an. Irgendwann würde es einfach zu viele Subprime-Kredite geben. Und was dann geschehen würde, wollten die beiden Herren dann doch nicht zu Ende diskutieren.

Viel lieber widmete man sich mit aller noch verfügbaren Aufmerksamkeit dem Glas Cognac, das in breiter Herrlichkeit vor ihnen stand. Schade, dass die dicken Zigarren in diesem Restaurant nicht mehr möglich waren, dachte Carl noch kurz und nahm einen Schluck aus dem Schwenker. Wunderbar. Auch Martin genoss sichtlich dieses Getränk, das von einem gewissenChâteau de Plassac aus der Nähe von Bordeaux stammte. Soviel hatte Carl noch verstanden, als der Kellner mit den beiden Gläsern an den Tisch gekommen war.

Es wurde Zeit für die Nachtruhe. Zumindest für Martin, der beim Aufstehen schon einwenig schwankte. Die beiden wünschten sich eine gute Nacht und hätten sich fast umarmt. Man sehe sich vielleicht noch beim Frühstück. Sie gaben sich die Hand und attestierten sich grinsend, dass alles Wichtige besprochen sei.

Carl hatte eine Suite in der Bel Etage buchen lassen. Balkon, Ausblick auf die Binnenalster, Hamburg lag einem zu Füssen und das für nur 540 Euro die Nacht. Die Fahrt mit dem Aufzug ging flott, er war zufrieden mit dem Abend und öffnete gut gelaunt seine Zimmertür. Das Fenster zur Alster war geöffnet, ein laues Lüftchen wehte ihm entgegen. Und der athletische Blondschopf, der leicht bekleidet lächelnd auf ihn zukam und anfing, an seiner Anzugshose herumzunesteln, war ganz nach seinem Geschmack. Was für ein Abend. Was für ein Leben. Man musste nur zupacken. Und das brauchte er sich jetzt nicht zweimal sagen.

Kinobesuch mit Folgen

Lars Meyer verließ das Verlagshaus von Gruner und Jahr am Baumwall gegen 18.30 Uhr. Ein arbeitsreicher Sonntag lag hinter ihm und er war gut vorangekommen. Er liebte diesen siebten Tag der Woche, eine produktive Konzentration diffundierte durch die hellen Redaktionsräume, die nur zur Hälfte besetzt waren. Überhaupt, das ganze Wochenendgehabe vieler Kollegen, Ausflug mit der Familie hier, Grillen mit Freunden da – das war nichts für Lars Meyer.

Er hatte sich nach dem erfolgreichen Germanistikstudium in Heidelberg für die Journalistenlaufbahn entschieden und seit dem war die Arbeit sein Leben. Die Ochsentour, Volontariat, ein paar kleinere Provinzblätter, dann zwei Jahre Häppchenjournalismus beim Focus und schließlich zum Stern.

Neun Jahre lebte er jetzt schon in Hamburg. Die Stadt und der Hafen hatten es ihm angetan und er genoss den Blick aus dem Verlagsgebäude auf das quirlige Treiben an und auf der Elbe. Direkt gegenüber lagen die legendären Docks 10 und 11 von Blohm und Voss, in denen mächtige Schiffe repariert werden konnten. Auch wenn das Dock Elbe 17 gleich nebenan deutlich größer war, diese beiden monumentalen schwarzen Kästen prägten die Aussicht auf den Hafen und waren neben den Containerbrücken Sinnbild für Deutschlands wichtigsten Hafen.

Lars Meyer stammte aus Hessen, kam aber mit den Fischköppen gut zurecht. Er wohnte in einer Drei-Zimmer-Wohnung am Rande von Ottensen. Kurz bevor der Stadtteil so richtig hipp und damit unerschwinglich geworden war, konnte er in einem frisch sanierten Mehrfamilienhaus eine Eigentumswohnung kaufen. Er würde noch 10 Jahre daran abzahlen, aber er war froh, diesen Schritt gemacht zu haben. Er genoss das Treiben in der Ottenser Hauptstraße, besonders am Samstag pulsierte hier das öffentliche Leben. Der kleine Wochenmarkt auf dem Friedensplatz war von freudigem Stimmengewirr erfüllt, Nachbarn verweilten zu einem kleinen Plausch und das kulinarische Angebot war gut. Lars Meyer kaufte aber am liebsten bei Paola ein, einem kleinem italienischen Geschäft fast am Ende der Ottenser Hauptstraße. Hier gab es exzellenten Wein, guten Käse aus Umbrien und stets eine erlesene Auswahl bester Antipasti. Insgesamt, stellte Lars Meyer immer wieder fest, passte dieser Stadtteil zu ihm, da nahm er die gegelten Latte-Macchiato-Machos und die berüchtigten Ottenser Kampfmütter mit ihren stylischen Kinderwagen gern in Kauf.

Anfangs hatte er sich in den knapp 100 nunmehr eigenen Quadratmetern einsam gefühlt. Während seines beruflichen Vagabundenlebens, hier zwei Jahre, dort 13 Monate, war er häufig in einer WG untergekommen. Immer war jemand für ein kurzes Hallo oder auch ein gemeinsames Glas Wein zu finden gewesen. Dies war jetzt seine erste eigene Wohnung, nur für ihn. Aber emotionale Anflüge einer verklärten Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, ein bettelnder, gleichwohl schüchterner Blickwechsel mit einer Frau oder die Frage was wäre wenn? gehörten mittlerweile der Vergangenheit an. Zumindest die meiste Zeit. Jetzt war er erklärter Single und damit zufrieden. Glück, sagte er sich hin und wieder bei einem abendlichen Glas Bardolino, wurde ohnehin überbewertet. Glück, allenfalls ein kurzzeitiger Rauschzustand, aus dem man dann umso tiefer stürzte. Er hatte doch alles, brauchte sich nicht ständig abstimmen oder gar Rücksicht auf Frau oder Kind nehmen. Er verdiente gutes Geld bei Gruner und Jahr, hatte Erfolg mit seinen Artikeln. Er arbeitete gern im Reporter-Team, genoss Freiheit und Produktionsstress gleichermaßen. Und so richtig einsam war er gar nicht, es gab ein paar Kumpels, die er gelegentlich traf. Meist, um in einem der Hafenrestaurants Essen zu gehen oder für einen Kinotrip. Was will man mehr - Lars Meyer jedenfalls nichts.

Meyer war durch und durch Cineast, schaute viel und gern alles was die Traumstudios in Hollywood an Thriller und Sciencefiction auf den Markt schmissen. Jetzt freute er sich auf eine schnelle Pizza und ein Bier mit Nikolaus Brahms. Nikolaus, den alle nur Nik nannten, war Fotograf beim Hamburger Abendblatt. Ein netter Typ von der unkomplizierten Sorte. Die beiden hatten sich beim Jahresempfang der Hamburger Landespressekonferenz im Grand Elysee vor ein paar Jahren kennengelernt und sich gegenseitig nach dem vierten oder fünften Bier ihre Leidenschaft für Sciencefiction-Filme und alle Arten von Comicadaptionen gestanden. Als die Katze aus dem Sack war, grinsten Meyer und Brahms sich kurz an und schauten verschmitzt in die Runde, ob jemand ihre Unterhaltung verfolgt hatte. Erleichtert verabredeten sie sich für den neuen Spiderman, der in der nächsten Woche in die Kinos kam.

Aus diesem ersten Treffen war eine Konstante geworden, die beiden trafen sich in lockeren Abständen und amüsierten sich bei Thor-, X-Men- oder Avengers-Filmen prächtig. Wie ein kleines intimes Geheimnis, hatte Lars Meyer einmal am Ende eines solchen Kinoabends gedacht. Nie erwähnte er die Kinobesuche gegenüber seinen Arbeitskollegen. Von den meisten wäre er wohl nur müde belächelt worden. Amerikanische Blockbuster und dann noch Comicverfilmungen standen nicht hoch im Kurs der meisten Mitarbeiter des journalistischen Flaggschiffs aus dem Hause Gruner und Jahr.

Meyer schaute kurz auf die Hafen-Skyline. Nie ruhten die unzähligen Containerbrücken, 365 Tage im Jahr wurden die bunten Kisten verschoben. Sinnbild einer globalisierten Welt, Handel rund um die Uhr. Auch an diesem Sonntagabend.

Er war gut in der Zeit und ging zu seinem Auto. Wenig später traf er Nik vor dem Cinemaxx am Dammtor. Nik hatte wie üblich die Karten besorgt, Meyer war für Bier und Pizza zuständig. Nach einer kurzen Umarmung schlenderten die beiden Richtung Colonaden, dort gab es einen Italiener mit einer ehrlichen Pizza und rot-weiß karierten Tischdecken ohne viel Schnickschnack.

»Und, warst Du heute noch in der Redaktion?«

Nik schaute seinen Kumpel etwas besorgt von der Seite an. Er war der Ansicht, dass Lars deutlich zu viel arbeitete und zu leben vergaß. Aber das hätte er ihm nie so direkt ins Gesicht gesagt. Dazu war ihre Freundschaft bislang zu tönern, zu eindimensional. Wirklich Persönliches grenzten sie in ihren Gesprächen meist aus. Nik baute gegenüber den meisten Menschen nicht so schnell Vertrauen auf - vielleicht war er deshalb Fotograf geworden. Die Kamera hielt ihn wohltuend auf Abstand, Beobachter war seine selbst gewählte Überlebensnische.

»Klar, bin nach dem Frühstück gleich hin. Auch wenn Du es nicht glaubst, es war ein guter Tag, man kann am Sonntag fast ungestört arbeiten. Viele der Dummschwätzer sind nicht da, wirklich ein Segen. Und die Geschichte, an der ich schreibe, wird ein ziemlicher Knaller, wenn alles steht – aber mehr verrate ich nicht.«

Meyer grinste seinen Kinofreund an. Er war gut drauf, obwohl sich bei seinen aktuellen Recherchen facettenreiche Abgründe auftaten, in die er entgegen den üblichen Geflogenheiten in der Redaktion bislang niemanden eingeweiht hatte.

Aber jetzt galt es abzuschalten, die Aussicht auf ein kühles Pils vom Fass und eine Pizza Napoli waren ein guter Anfang. Lars Meyer dachte an Sardellen, schwarze Oliven und dünn ausgerollten Teig, der an den Rändern möglichst braun-schwarze Blasen geschlagen hatte. Beschwingt ging er die wenigen Stufen in das im Souterrain gelegene Restaurant hinunter und ließ sich von der strahlenden italienischen Kellnerin einen Tisch für zwei Personen zuweisen. Das Restaurant war bereits gut gefüllt, das bunte Stimmengewirr an den Tischen und die flotten Kellner schufen eine angenehme Stimmung. Bier und Pizza waren schnell bestellt und standen nach acht Minuten vor ihnen. Beide Männer prosteten sich zu und Nik erzählte in gewohnt launiger Form von seinem letzten Motorrad-Trip nach Litauen. Tolle Landschaft, super gastfreundliche Leute und dann erst die Ostsee mit völlig unverbauten Stränden. Natur pur, wie ein ungeschliffener Diamant. Sie redeten noch über ein, zwei andere Filme, die sie vielleicht mal auf Blue-ray gemeinsam anschauen könnten, irgendwann in der Wohnung von Nik. Dieser hatte sich vor einem halben Jahr einen großen Flachbildschirm nebst Soundanlage zugelegt - fast wie richtiges Kino, schwärmte er Lars immer wieder vor. Viel schneller als gehofft mussten sie aufbrechen, es reichte nicht mal mehr für ein zweites Bier. Der Film fing gleich an und die Werbung gehört schließlich auch zu einem anständigen Kinoerlebnis.

Der sechste X-men-Film - natürlich in 3D – war gut. Sie hatten vermutet, dass die neue Geschichte der mannigfaltigen Mutanten rund um den Hauptprotagonisten Wolferine, erneut genial verkörpert von Hugh Jackmann, wenig Neues bieten würde. Die Charaktere waren in den vorangegangenen Filmen reichlich ausgeleuchtet, jeder Plot musste sich beinah zwangsläufig auf ausgetretenen Pfaden bewegen. Aber der Film bot dennoch einiges Neues und bestach durch seine Tricktechnik. Intelligentes Popcornkino vom feinsten, nicht mehr aber auch nicht weniger hatten Nik und Lars von diesem Abend wartet.

Der Kinokomplex direkt am Bahnhof Dammtor spülte sie schließlich mit den anderen Gästen wieder auf den Vorplatz. Dort vertrieb sich eine wachsende Zahl vornehmlich junger Leute die Zeit bis zum Beginn der Spätvorstellung mit Bierflaschen, Zigaretten und lautem Gehabe. Die beiden Männer verabschiedeten sich noch vor dem Kino, nahmen sich etwas unbeholfen in die Arme und verabredeten sich locker für die bereits angekündigte Avenger-Produktion. Ein letztes Grinsen, Lars Meyer ging mit einem Wink Richtung Gänsemarkt. Nik wandte sich Richtung Dammtor-Bahnhof, um von dort mit der S-Bahn nach Hause zu fahren.

Lars Meyer hatte in der Drehbahn, einer kleinen Seitenstraße der Dammtorstraße, seinen Wagen abgestellt und wollte nun schnell nach Hause. Es war Ende Mai und mittlerweile dunkel geworden. Abseits der großen Straßen waren kaum noch Menschen unterwegs. Er bog mit raschen Schritten rechts in die Drehbahn, eine enge Straßenschlucht mit hohen Häusern. Eine dumpfe Dunkelheit nahm ihn auf, der Straßenlärm der Dammtorstraße brandete nur noch gedämpft an seine Ohren. Auf der gegenüberliegenden Seite nahm er schemenhaft eine Person vor einer dunklen Hauswand wahr, sonst lag die Straße verlassen vor ihm. Endlich sah Lars Meyer das Dach seines schwarzen Audi A 3 im fahlen Licht der Straßenlaterne auftauchen.

Er kramte Gedanken versunken den Autoschlüssel aus der Jackettasche hervor und ging am Heck seines Autos entlang auf die Straße, um zur Fahrertür zu gelangen. Die gelben Blinker leuchteten kurz auf, die Türen entriegelten sich mit leisem Klacken. Lars Meyer zog die Tür auf und wollte einsteigen. In diesem Augenblick drückte sich energisch kaltes Metall gegen seinen Hals. Er hatte den Mann von der anderen Straßenseite nicht kommen hören, alles ging rasend schnell.

»Einsteigen!« sprach eine leise, aber schneidende Stimme mit leichtem Akzent. Lars Meyer versuchte irrwitziger Weise die sprachliche Herkunft des Mannes einzuordnen, osteuropäisch klang es nicht. Aber sein Körper war von Angst bereits geflutet, augenblicklich brach Schweiß aus und all seine Muskeln verkrampften sich. Der Mann drückte den Kopf von Lars Meyer unsanft nach unten und stieß ihn entschlossen in das Auto. Meyer rutschte über die Mittelkonsole auf den Beifahrersitz und prallte gegen die Beifahrertür. Er hatte noch nicht seine Beine sortiert, als ihn ein Schlag mit voller Kraft ins Gesicht traf.

Auf offener Strecke

Es war seine letzte Fahrt an diesem Abend. Vor neun Jahren hatte Peter Reincke als Lokführer bei der metronom-Gesellschaft angefangen und den Wechsel von der Deutschen Bahn nur selten bereut. Das junge private Unternehmen mit den gelb-blauen Doppelstockwagen hatte damals attraktive Löhne geboten, die Stimmung im Team war von Aufbruch und Euphorie geprägt.

Uelzen war heute seine Endstation – wie so häufig. Den Zug noch ins Depot, dann ab nach Hause. Am Rande der Stadt mit dem bekannten aber auch irgendwie deplazierten Hundertwasser-Bahnhof hatte sich Peter Reincke mit seiner Frau Luise vor fünf Jahren ein kleines Reihenhaus gekauft. Nestbau, erstes Kind, alles gut. Mit dem unregelmäßigen Dienst kam er zurecht, das Eigenbrödlerische auf dem Führerstand lag ihm. Seine Frau sorgte für das Haus und verdiente mittlerweile als Arzthelferin ein paar Euro dazu, wenn die Kleine morgens in der Kita war. Sie hatten sich eingelebt, sonntags wurde hin und wieder mit den Nachbarn gegrillt.

Diese Strecke war er schon oft gefahren, die Uhr zeigte 0.56 Uhr. Peter Reincke versuchte sich auf die Fahrt zu konzentrieren und der schleichenden Müdigkeit ein Schnippchen zu schlagen. Die verwaisten Bahnhöfe Meckelfeld, Maschen und Ashausen hatte er passiert, kaum jemand war ein- oder ausgestiegen. Um diese Zeit spülte das reiche Hamburg nur noch wenige Pendler oder Glücksritter in den Speckgürtel, vielleicht würden in Winsen oder Lüneburg noch ein paar Verirrte die letzte Bahn nach Uelzen nutzen.

Die Signale standen auf grün, 95 km/h war die Geschwindigkeitsvorgabe der Leitstelle für diesen Abschnitt, in drei Minuten runter auf 60, dann bremsen für Winsen. Brückenpfeiler tauchten aus dem dunklen Nichts im Scheinwerferlicht der Lok auf, dann sah Peter Reincke kurz vor seiner Lok einen menschlichen Körper auf die Gleise fallen. Er drückte instinktiv die Bremse, Notstopp. Die Bombardier-Lok, 83 Tonnen schwer und sechs Wagons im Rücken, kam nach Anspringen der Druckluftbremsen erst nach einigen hundert Metern zum Stehen.

Auch in den Tagen danach würde sich Peter Reincke kaum an Details erinnern. Trotzdem gingen ihm immer wieder diese Sekunden durch den Kopf. Kurz war etwas Stoffartiges zu sehen gewesen, möglicherweise ein flatternder Mantel. Dann bleich blitzend, eine Hand im Licht der Scheinwerfer. Der skurrile Schatten schlug auf die Gleise. Es war ihm sofort klar gewesen - das ist ein Mensch. Irgendein armer Tropf hatte sich eine Brücke an einer einsamen Landstraße zwischen Winsen und Ashausen gesucht und war in den Tod gestürzt. Vor seinen Zug, den letzten, der in dieser Nacht nach Uelzen fuhr.

Personenschadenhieß es auf Amtsdeutsch, die Strecke blieb mehr als vier Stunden gesperrt. Fernzüge mussten über Rotenburg umgeleitet werden, Notarzt, Polizei, Spurensicherung, das ganze Programm. Er hatte eine dieser glänzenden Folien um die Schulter bekommen. Jemand versuchte es mit beruhigenden Worten, die er kaum wahrnahm. Fragen erreichten ihn wie durch einen Schleier, ohne dass er eine Antwort fand.

Er musste an Frank Maiwald denken. Ein Kollege, dem erst vor ein paar Monaten ein 15jähriger Junge vor die Lok geraten war. Frank war seitdem stiller, ging einem aus dem Weg, kein spontanes Feierabendbier mehr. Sichtbar nagte dieser Alptraum an ihm und frischte immer wieder die Farbe der Augenringe auf. Reincke kannte die Zahlen, statistisch erlebt jeder Lokführer während seiner Berufslaufbahn drei Selbstmorde. Er zog die Schutzfolie enger, schüttelte den Kopf - noch zwei also.

Sie hatten den schwarzen Audi von Lars Meyer kurz vor der Brücke an einem Feldweg geparkt, abgeschlossen und den Schlüssel ins Gebüsch geworfen. Der Ort war ideal, sollte tatsächlich um diese Zeit noch jemand die einsame Landstraße nutzen, würden sie den Lichtkegel des Autos rechtzeitig entdecken.

Lars Meyer war ein großer, leicht übergewichtiger Mann, brachte bestimmt an die 100 Kilo auf die Waage. Die beiden Männer kamen ins Schwitzen und fluchten, als sie den Körper am Geländer der Brücke in Position brachten. Sie hatten sich die Fahrpläne des metronom eingeprägt und von Norden sahen sie bereits die drei Scheinwerfer der Lok näher kommen. Sie achteten auf die Oberleitung, der Körper musste möglichst seitlich davon runter fallen, damit die volle Wucht des Zuges den Körper traf. Viel würde von diesem nicht übrigbleiben, sie hatten damit Erfahrung.

Der bewusstlose Körper war wie gewünscht kurz vor der Lok auf die Gleise geprallt. Sten Brorson drehte sich um und schaute dem Zug nach. Sekunden später nahm er das Kreischen der Räder wahr. Stahl auf Stahl, er meinte kurz ein paar Funken in der leichten Rechtskurve vorne an der Lok zu sehen. Er gab seinem Kameraden ein Zeichen zum Aufbruch. Jetzt weg hier, Zeugen konnten sie nicht gebrauchen. Die beiden Männer liefen schnell zum bereit stehenden Van, den sie unweit der Brücke geparkt hatten. Sten Brorson setzte sich ohne weitere Worte ans Steuer und fuhr Richtung A 39. In spätestens drei Stunden wollte er in Tondern sein.

Auf der Fahrt Richtung Norden, sie hatten mittlerweile den Elbtunnel hinter sich gelassen, ging Sten Brorson noch einmal den letzten Tag durch. Nein, einen Fehler, verräterische Spuren oder Ungereimtheiten konnte er nicht ausmachen. Beim ersten Zusammentreffen im Wagen von Lars Meyer hatte er Handschuhe getragen und den Schlag ins Gesicht so platziert, dass die Nase nicht zu bluten anfing.

Er erinnerte sich gut an den Anruf ein paar Tage zu vor. Diesmal also nach Deutschland, genauer gesagt Hamburg. Ein unbequemer Schreiberling musste beseitigt werden und zwar gründlich. Gründlich war ein Todesurteil und der Chef skizzierte mit dem ihm eigenen kurzen Kommandostil seine Vorstellungen davon. Die weiteren Daten würde Sten Brorson über den üblichen verschlüsselten Mailkontakt erhalten. Er hatte ohne weiteres Nachdenken den Auftrag angenommen, kurze Zeit später kannte er die Adresse der Zielperson und prägte sich das Foto im Anhang der Mail gut ein.

Sie ließen gerade die Abfahrt Itzehoe-Nord hinter sich. Frederick Mickelsen schlief auf dem Beifahrersitz und atmete ruhig. Auf Mickelsen war Verlass, er stellte keine Fragen, war zutiefst loyal gegenüber der gemeinsamen Sache. Er hatte Brorson sofort zugesagt, Zeit hätte er jede Menge und bei der Bezahlung – na klar. So waren die beiden Männer am Freitag nach Hamburg aufgebrochen. Der Rest war fast schon Routine gewesen, der Kinobesuch eine Steilvorlage.

Sten Brorson hatte mit Lars Meyer, der eingeschüchtert auf dem Beifahrersitz seines eigenen Wagens saß, schnell die Hamburger Innenstadt hinter sich gelassen und war Richtung Harburg gefahren. Dort wartete am Rande eines verlassenen Industriegeländes Frederick mit dem Van. Brorson zehrte den Journalisten in den anderen Wagen und überließ die präzisen Schläge diesmal seinem Kameraden. Nachwuchsförderung, er musste selbst lächeln über diese Wortwahl. Aber gerade bei Menschen aus der sogenannten Bildungselite brauchte es meist nicht viel und sie taten wie geheißen. So auch Lars Meyer. Nach den üblichen Phrasen, was sie denn von ihm wollten und dies und das wisse er wirklich nicht, zeigte er sich drei gezielte Fausthiebe später deutlich kooperativer. Als erstes schrieb er die genannten Worte auf ein Stück Papier. Der nächste Teil der Operation war etwas schwieriger. Sie mussten Lars Meyer dazu bringen, dass er sich bei der Sternredaktion auf den Redaktionsserver einloggte. Der Auftraggeber hatte verlangt, dass bestimmte Texte gelöscht werden sollten. Als Lars Meyer realisierte, was von ihm verlangt wurde, bäumte er sich noch einmal auf. Ihm schien mittlerweile klar zu sein, dass dies böse enden könnte. Nach weiteren Schlägen röchelte er schließlich sabbernd und weinend aufhören, aufhören