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Mohnblumenrot - Ein Sommerroman Ein rotes Kleid, eine rätselhafte Einladung zu einem Flughafengate und ein unbekannter Kommissar - der Start in ein neues Leben? Nachdem ein unerwarteter Verlobungsring Phiona aus ihrem Alltag reißt, stürzt sich die Studentin in ein Abenteuer, mit dem sie nie gerechnet hätte. Lügen, internationale Verbrechen, Fahndungen und Cinderella? Wird das märchenhafte Kriminalabenteuer mit einem Happy End glänzen können, oder werden die verworrenen Umstände Phiona am Schluss zum Verhängnis?
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das wassergrüne Prinzessinnenkleid
Die frühlingsgrünen Macramés
Die erdbeerrote Tasse
Die azurblauen Augen
Die pfirsichroten Tulpen
Die fliederfarbene Bettwäsche
Die smaragdgrüne Schachtel
Die weizenblonden Felder
Der rotgoldene Ring
Der staubgraue Mantel
Der silberne Anhänger
Der kobaltblaue Reisekoffer
Man spürt, wenn es das Richtige ist!
Die himbeerrosa Latzhose
Der walnussbraune Tweed
Das rosenrote Cocktailkleid
Das schokoladenbraune Butterspritzgebäck
Die graumelierten Kaffeebecher
Die dunkelblauen Wildlederschuhe
Die perlweißen Rosen
Der grasgrüne Traktor
Das korallrote Notizheft
Die marineblauen Cocktails
Die brombeervioletten Riemchensandalen
Der saphirblaue Kamm
Der zitronengelbe Limoncello
Das champagnerfarbene Brunnenwasser
Der nachthimmelblaue Artikel
Der regenbogenbunte Kaffee
Das kürbisorangene Wachssiegel
Das veilchenblaue Sofa
Der mohnblumenrote Strauß
Das mintgrüne Tableau
Das himmelblaue Heferl
Er konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Damals war er noch mit Renate zusammen gewesen. Sie waren gemeinsam auf einen Ball gegangen. Er hatte dort eigentlich gar nicht hingewollt – diese Schickimicki-Gesellschaft, wie er sie nannte, war nichts für ihn und dort würde er nie hineinpassen. Den ganzen Abend über hatte er alle paar Minuten auf die Uhr geschaut und gehofft, dass bald Mitternacht wurde. Er hatte mit Renate ausgemacht, dass sie nach der Mitternachtseinlage gehen würden. Bereits der Sektempfang hatte sich in die Länge gezogen.
Renate unterhielt sich blendend mit ein paar Schickimicki-Leuten, dem einen oder anderen Politiker und anderen wichtigen Leuten der Szene. Emil fand, dass sie alle gar nicht so wichtig aussahen. Er erinnerte sich an einen Vergleich, den sein Vater gerne anstellte. Empfänge, auf denen sich die Spitze des Landes tummelte, seien nichts anderes als Balztanz in der Tierwelt. Zunächst fände ein vergnügliches Beschnuppern statt. Dem konnte Emil, wenn er sich so umsah, nur zustimmen.
Renate hatte ihm auf der Hinfahrt verraten, dass die meisten Gäste des Abends ausschließlich wegen des Networkens da wären. Letztendlich ginge es darum, seine Konkurrenten zu übertrumpfen und als Gewinner des Abends hervorzutreten. Während eine Rede nach der anderen gehalten wurde, stießen sich die Platzhirsche unter den Ballgästen die Hörner ab. Emil hatte kein Interesse daran, Teil des Naturschauspiels zu sein. Er war noch Student und zufrieden mit seinem Platz in der Gesellschaft.
An dem kleinen Stehtischchen, auf dem außer den Gläsern noch genau eine Schale mit Erdnüssen Platz hatte, standen außer Renate und Emil noch drei andere Personen.
Das Lachen der Dame links neben ihm hätte Gläser zerspringen lassen können. Sie trug ein langes schwarzes Samtkleid, das entlang ihres rechten Beines weit aufgeschlitzt war und einen üppigen Ausschnitt hatte, der ihre Oberweite betonte. Dazu trug sie große Kreolen und eine am Hals enganliegende, mit Glitzersteinen bestückte Kette. Wäre die Kreolen-Lady ein Tier, dann wäre sie eine langbeinige Gazelle.
Neben ihr stand ein etwas rundlicher Mann mit Halbglatze und Schnurrbart. Er war meistens der Grund für das ohrenbetäubende Gelächter der Dame mit dem Samtkleid und eindeutig ein Seelöwe. Zu guter Letzt: Prince Charming. Ein junger Mann in einem dunkelblauen Anzug mit einem blendend weißen Lächeln und stahlblauen Augen. Ein unsympathischer Typ. Renate hing an seinen Lippen, aber Emil war das egal. Für seine Freundin war dies die Nacht des Jahres. Es waren viele Leute auf dem Ball, die ihrer Karriere ein Sprungbrett bieten konnten.
Seit Wochen hatte sie sich auf diesen Abend vorbereitet und die Gästeliste studiert. Die Herrschaften an ihrem Tisch waren ohne Zweifel einflussreiche Leute, doch obwohl Renate ihre Namen in den letzten Tagen bestimmt zigmal erwähnt hatte, wollten sie Emil nicht einfallen. Er wollte nur, dass es bald vorbei war. Ein paarmal Augenrollen und einige tiefe Seufzer entkamen ihm, abgesehen davon spielte er die perfekte Rolle des unterstützenden Partners. Umso langweiliger ihm wurde, desto mehr Details fielen ihm auf. Über den tanzenden Paaren schwebten siebzehn prunkvolle Kronleuchter, es gab fünf Notausgänge und Sitzplätze für gut zweihundert Gäste.
Er war kurz davor, in den Tiefen seiner Gedanken zu verschwinden und begann, die Absätze der Feststiege zu zählen, als sie den Saal betrat. Sie stand auf der obersten Stufe und ließ ihren Blick über den Raum schweifen. Sie sah nicht aus wie eine von diesen Schickimicki-Leuten! Nicht überladen mit Make-up oder überteuertem Schmuck. Ihre blonden Haare fielen ihr in Locken über die Schultern. Sie trug ein wassergrünes Prinzessinnenkleid. Eng bis zur Hüfte, ab da fiel es locker wie ein Wasserfall zu Boden. Ihre zierliche Taille schmückte ein dünnes Bändchen, das zu einer Masche gebunden war. Sie sah aus wie Cinderella, eine Prinzessin, die nur darauf wartete, von ihrem Prinzen die Stufen hinab begleitet zu werden.
Sie bemerkte Emil gar nicht, aber für diesen war es der Moment. Der Moment, in dem der Abend zu leuchten begann. „Man spürt, wenn es das Richtige ist“, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt. Er blendete alles um sich herum aus. Er vergaß Renate, die neben ihm stand, die Schickimicki-Gesellschaft und sogar, dass er alles hier hasste! Er hatte nur Augen für sie. Er schaute dem Cinderella-Mädchen dabei zu, wie sie die Stufen hinabschwebte und an ihm vorbeiging.
Er wollte sie ansprechen, da war der Moment vorbei und seine Chance vertan. Seine Affirmation war nicht fleischlicher Natur, sein Interesse nicht durch ihr Aussehen geweckt. Sie strahlte etwas aus, das ihm im tiefsten Inneren mitteilte, dass es seine Aufgabe war, dieses bezaubernde Geschöpf für den Rest seines Lebens zu beschützen. So musste sich Liebe auf den ersten Blick anfühlen.
In einem Moment lebte er sein Leben und im nächsten schrie jede Zelle seines Körpers danach, diese Frau glücklich zu machen, koste es, was es wolle. Den restlichen Abend über hielt er Ausschau nach ihr, doch sie war nicht aufzufinden. Als hätte sich der Boden unter ihren Füßen aufgetan und sie zurück in den Disneyfilm geholt, aus dem sie entwischt war. Noch viele Tage nach dem Ball ließ ihn das Cinderella-Mädchen nicht los.
Ein dicker, beige eingefärbter Tropfen landete auf ihrem linken Zeigefinger, verweilte dort einen Moment, rutschte seitwärts hinunter und verschwand zwischen dem V und der Leertaste. Ein zweiter kündigte seinen Weg an und machte eine Punktlandung auf dem F. Letzterer hinterließ ein grießgroßes Körnchen auf der Tastatur. Mit dem Unterschied, dass es dunkelbraun statt sandfarben war. Erde.
Phiona klappte ihren Laptop zu. Cindy war gerade dabei, die Blumenampeln über ihrem Kopf zu wässern. Offensichtlich war eines der Macramés undicht. Phionas Blick wanderte von den kleinen braunen Lacken neben ihrem Laptop hinauf zu der Kellnerin. Diese balancierte wie so oft auf einem Sessel, der, um an die hängenden Blumen zu kommen, auf einem der wackeligen Kaffeetischchen stand. Der Turm samt Cindy schwankte gefährlich. Wie ein Baum, der sich während eines Herbststurmes unter den Kräften des Windes bog.
„Hats dich erwischt? Das tut mir leid, Liebes!“
Phiona half ihr von ihrem Gerüst. Dabei kniff sie ein Auge zu, da sich die frühe Morgensonne ihren flachen Weg ins Café suchte. Bevor Cindy das Lokal gleich aufsperren würde, setzte sie sich noch einen Moment lang zu ihrem Schützling. Sie lächelten sich an, sagten kein Wort.
In Kürze würde hier die Hölle los sein. Es war fast schon ein Ritual der beiden, die Ruhe zu genießen, bevor sie selbst das eigene Wort nicht mehr verstehen würden. Unterzuckerte Geschäftsmänner und Business-Women, nach Kaffee lechzende Mütter auf dem Weg zum Spielplatz und arbeitsplatzsuchende Freiberufler fassten die Kundschaft zu dieser Zeit gut zusammen. Alle anderen, zweifelsfrei die ohne Kinder, schliefen entweder noch oder hatten das Los eines Jobs gezogen, der sie noch vor den Öffnungszeiten des Poppys am Arbeitsplatz verlangte. Fehlte nur mehr eine Gruppe: berufstätige Mütter. Sie schliefen bestimmt nicht mehr, doch zwischen Frühstücksflocken vorbereiten und Jausenbrote schmieren blieb selten Zeit, vor der Arbeit noch in einem Café vorbeizuschauen.
„Ihr Kaffee, junges Fräulein.“ Stellte Cindy später am Vormittag einen großen Caffè Latte auf den kleinen Tisch vor Phiona, serviert in einer hellblauen Tasse, wie an fast jedem Tag. Phiona speicherte, seufzte und klappte dann ihren Laptop zu.
Cindy arbeitete hier bereits seit geraumer Zeit, war 62 Jahre alt und die Seele des Cafés. Ihre herzliche, warme Art machte die Atmosphäre des Ladens erst aus und für den ein oder anderen Gast hatte sie oft einen willkommenen Rat bei der Hand. Jeden Tag trug sie ihre rot-weiß gestreifte Uniform, die aus einem knielangen, ärmellosen Kleid und einer weißen Schürze bestand. Cindy hatte ein Paar weiße Medizinschuhe an, deren Riemen dem Fuß über den Tag genügend Halt boten. Besonders hübsch waren sie nicht, doch erstens konnte ihr das niemand verübeln – den ganzen Tag war sie nur damit beschäftigt, flink von einem Tisch zum nächsten zu huschen, denn das Café war gut besucht und Cindy wollte jedem Gast gerecht werden – und zweitens sahen die Schuhe an ihr irgendwie süß aus, fand Phiona, sie passten zum Gesamterscheinungsbild. Die Dame trug ihre blonden Haare zu einem wilden Knödel hochgesteckt.
Wenn Phiona nachmittags ins Poppys kam, hingen Cindy meist schon einige Strähnen ins Gesicht. Manchmal war ihre Freundin etwas zerstreut, doch in das Café steckte sie ihr ganzes Herz. In Wahrheit war sie es, die den Laden schmiss.
„Vielen Dank, Cindy.“ Phiona lächelte sie an. Die ältere Dame kannte das Mädchen mittlerweile ziemlich gut, daher entging ihr der Blick auf den leeren Teller nicht. „Kommt sofort!“, trällerte sie mit lieblicher Stimme. Cindy drehte auf einem Fuß um und verschwand hinter dem Tresen, um kurze Zeit später mit einem neuen Stück Apfelkuchen zurückzukehren.
Phiona kam hierher, um zu lernen oder an ihrem Buch weiterzuschreiben. Manchmal war sie so vertieft in die Welt ihres Romans, dass sie die Zeit vergaß. Heute war so ein Tag. Das Schicksal einer ihrer Buchfiguren lag gerade in den Händen des Bösewichts. Unabhängig davon, dass Phiona den Charakter des Mörders in ihrem Krimi ebenso selbst kreiert hatte, fühlte sie mit den Opfern mit, als wären sie ihre Freunde.
Obwohl es in letzter Zeit etwas schwierig mit dem Roman gewesen war, huschten ihre Finger immer noch schneller über die Tastatur, wenn es um ihre Schützlinge ging, als wenn es sich um Texte fürs Studium drehte. Phiona studierte seit geraumer Zeit Journalismus. Derzeit kam sie wenig voran, sowohl mit den Prüfungen als auch mit dem Buch. Ihr fehlte es an Inspiration.
Als Cindy vorbeikam, zog sie eine Augenbraue hoch, was so viel hieß wie: „Möchtest du noch ein Stück Kuchen, Liebes?“ Phiona winkte ab, zwei Stück mussten für heute reichen. Sie unterhielt sich kurz mit Cindy und beschloss dann, einsehen zu müssen, dass hier heute nicht mehr viel zu erreichen war. Nach dem Zahlen wickelte sie sich ihren pfirsichfarbenen Schal um den Hals. Sie befreite ihre dunkelbraunen Locken aus den Schlingen und trat hinaus, wo sie ein kräftiger Windstoß im Freien willkommen hieß.
„Ah bäh!“ Wie andere Mädchen es schafften, mit so einer Mähne aufzuwachen und auszusehen wie Dornröschen nach ihrem 100-jährigen Schönheitsschlaf, war ihr unerklärlich. Sie brauchte erst mal zwei Minuten, um ihr Gesicht von dem Wirrwarr aus Locken zu befreien, die Haare aus ihrem Mund zu entfernen und das verdrehte Shirt zu richten! Sie drehte sich um zu Joshua, beugte sich über seine Schulter und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.
„Guten Morgen!“ Als Antwort bekam sie nur ein Grummeln. Sie überlegte kurz, ob sie es riskieren sollte, noch einmal die Augen zu schließen, rollte sich dann aber auf ihre Seite und schwang erst das linke, dann das rechte Bein über die Bettkante. Mit einem Ruck stand sie auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Ihr erster Weg nach dem Aufstehen führte immer in die Küche.
Durch die verquollenen Augen sah sie gerade so viel, dass sie den Einschaltknopf der Kaffeemaschine fand. Während diese aufwärmte und seltsame Geräusche von sich gab, schleppte sie sich ins Bad, bereute wie jeden Tag den ersten Blick in den Spiegel und setzte sich aufs Klo. Zurück in der Küche wurde das Frühstück vorbereitet.
Der Kaffee tröpfelte in die Kanne. Die ersten Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die Jalousien und warfen ein gestreiftes Schattenspiel auf das Parkett. Phiona stapelte Butter, Toasts, Marmeladen und Nutella auf der kleinen Theke über der Arbeitsfläche auf – alles, was zu einem kleinen Frühstück gehörte. Nicht, dass sie keinen Esstisch hatten, aber an der kleinen Bar war es viel gemütlicher und so viel Platz brauchten sie nicht. Außerdem stand der Esstisch mindestens sieben Schritte weiter weg. Gerade als die Kaffeemaschine den kleinen „Ich bin fertig“-Piepston von sich gab, erschien auch Joshua auf der Bildfläche.
Jeden Tag das gleiche Spiel. Sie frühstückten gemeinsam. Phiona schnitt die Weckerl auf und beschmierte sie mit Butter und Joshua belegte das eine mit Käse und verteilte Erdbeermarmelade auf dem anderen. Sie schenkte den Kaffee in die Heferl, er leerte die Milch dazu – sie waren ein eingespieltes Team. Während des Frühstücks erzählten sie sich von ihren Plänen für den heutigen Tag.
Die Heferl waren Phionas ganzer Stolz. Sechs weiße Tassen im Schrank wären ihr zu fade. Sie hat große, kleine, runde, bauchige, schmale, welche mit Aufdruck, Muster, Fotodruck, mit Henkel, ohne Henkel, aus Ländern aller Welt, die Farbpalette einmal von vorn bis hinten durch. Die Nagellacksammlungen anderer Frauen war Phionas Tassensammlung. Aus jedem Land, das sie bereist hatte, stand eine Tasse in ihrem Regal, wobei diese nicht immer unmittelbar etwas mit dem Land oder dessen Kultur zu tun hatte.
Als sie einmal für einen nachmittäglichen Einkaufsbummel in Ungarn gewesen war, hatte sie in einem kleinen Geschäft am Rande der Einkaufsstraße eine Tasse gefunden, auf der ein Schimpanse abgebildet gewesen war, der vor sich einen riesigen Teller voll Spaghetti stehen hatte. Mit beiden Armen schaufelte er sich die Nudeln in den Mund und hatte dabei ein breites Grinsen auf den Lippen. Sie hatte nicht widerstehen können, diese Tasse gehörte einfach in ihre Küche.
Auch eine ihrer Lieblingstassen war jene, die Joshua ihr aus Istanbul mitgebracht hatte. Eine erdbeerrote, kleine Trinkschale ohne Henkel, die großflächig mit einem orientalischen Muster verziert war. Ihr Freund wusste, wie man Phiona eine Freude machen konnte. Aus diesem Grund hatte er einen Kasten für sie freigeräumt, als sie zu ihm gezogen war. Einen zweitürigen Hängeschrank über der Spüle. Im Nachhinein ließ Phiona die Türen durch Glas ersetzen, sodass die Tassen immer gut zu sehen waren.
„Gehst du heute wieder ins Poppys?“
„Mal schaun, kommst du vorbei?“
Er würde nicht vorbeikommen. Eigentlich störte sie das nicht. Das Café war ihr Rückzugsort. Dort kam sie oft zur Ruhe oder hatte Zeit, um nachzudenken. Außerdem brauchte sie, um ihr Buch zu schreiben, sowieso einen klaren Kopf. Trotzdem wäre es manchmal nett gewesen, wenn sie sich mit Joshua einen Apfel-Mürbteig-Kuchen hätte teilen können. Aber so war es nun mal und so war es gut. Sie stand auf und räumte den Tisch ab. Mit einem feuchten Fetzen wischte sie die letzten Brösel von der Theke.
Zum Glück muss sie heute nicht zur Uni. Solche Tage nutzte sie entweder, um sich mit Freunden zu treffen, zu lernen oder für ihr Buch. Sie beobachtete Joshua dabei, wie er sich das Sakko glattstrich und dabei plagte, einen ordentlichen Krawatten-Knoten zu binden. Eine Zeitlang grinste sie nur, wartete ab, bis er letztendlich doch auf sie zukam, knapp vor ihr stehen blieb und sie mit einem treuen Dackelblick von oben ansah.
„Könntest du bitte?“ Zwischen ihnen waren nicht viele Worte nötig, um einander zu verstehen. Zweimal rundherum, nach hinten, vorne drüber, durch die Schlaufe, festziehen, fertig! Als Dankeschön küsste er sie auf den Mund. Nach einem kurzen Schmatzer löste er sich von ihr und hastete zur Haustür.
„Bis dann!“, rief sie ihm noch hinterher, dann fiel die Tür ins Schloss, nur um kurz darauf wieder aufgerissen zu werden.
„Was hast du vergessen?“
Er kam zurück, ging auf sie zu und flüsterte: „Ich liebe dich!“ Er drückte ihr ein Bussi auf die Wange und fügte hinzu: „Das hab ich vergessen. Jetzt kann ich los.“
„Zeig‘s ihnen!“
Joshua war Jus-Student und arbeitete nebenbei in einer großen Anwaltskanzlei. Zwar durfte er selbst noch keine Fälle übernehmen, aber er unterstützte die Anwälte tatkräftig. Sollte er seine Wichtigkeit am Arbeitsplatz mal vergessen, stärkte Phiona ihm den Rücken. Gerade als sie in einen ausführlichen Tagtraum über ihre Zukunft an Seite eines erfolgreichen Anwalts verfallen wollte, läutete das Telefon.
„Hallo Oma!“ Ihre Großmutter rief sie zweimal in der Woche an und fragte sie, wie es ihr ging, wie es im Studium lief und ob der Joshua und sie sich noch lieb hatten.
„Ja, ich kann dich hören Oma, wie geht es dir?“ „Na, sagen wir gut. Du weißt ja, wie das ist.“
„Ja, Omi, ich weiß. Wie geht es euch mit der Erdbeerernte?“
„Ja, du kommst ja auch nicht vorbei, wiest klein warst, bist öfter vorbeigekommen. Weißt noch, wiest bei der Ernte selbst immer dabei warst? Mehr gegessen als gesammelt hast du, du kleine Miss Naseweiß!“ Gelächter schallte aus dem Hörer.
„Ja Omi, aber da hab ich auch noch nicht studiert.“
Oma schlug vor, dass sie ihr echte Topfenmarillenknödel machen konnte, wenn sie sie mal wieder besuchen würde.
„Omi, ich muss jetzt auflegen, ich hab dich ganz toll lieb und fang mein Bussi ja gut auf, dass es dir nicht entwischt!“
„Baba, mein Herzilein.“
Phiona zerriss es jedes Mal das Herz, wenn sie auflegte. Sie liebte ihre Großmutter. Es stimmte, dass sie früher viel öfter bei ihr gewesen war. Aber mit Uni und Co war es schwer, dem Alltag zu entfliehen, um nach Oberösterreich zu fahren. Auch wenn sie sich oft wünschte, es wäre anders. Phiona sah lächelnd zum Schreibtisch.
Vor ein paar Tagen hatten sie und Joshua ihren Urlaub geplant. Über zwei Jahre war es her, dass sich die beiden zuletzt ein paar Tage Entspannung zu zweit gegönnt hatten. Joshua war immer überaus eingespannt gewesen in der Kanzlei. Im Juni aber ging es für zwei Wochen nach Frankreich. Phiona konnte es gar nicht erwarten! Zuerst würden sie ein paar Tage in Paris verbringen und dann mehr ans Land fahren, Richtung Atlantikküste. Ein richtiger kleiner Roadtrip, nur zu zweit. Die Tickets dafür bewahrte sie in der obersten Lade im Schreibtisch auf.
Die Landschaft zog an ihm vorbei. Nur wenn er sich konzentrierte, konnte er durch die verwischten Farben der Wälder und Felder auch einzelne Bäume erkennen. Doch dazu fehlte ihm die Kraft. Mit halb geschlossenen Augen lehnte sich Emil an die kalte Scheibe des Zuges. Er fühlte sich, als hätte er Beruhigungsmittel geschluckt. Gleichzeitig war er sich sicher, dass ihn der Lärm in seinem Kopf auch noch das letzte bisschen Verstand rauben würde, wenn in seinen Gedanken nicht bald Ruhe einkehren würde. Seit Tagen hatte er kaum einen Bissen runtergebracht.
Emil war ein anständiger Mann. Ordentlich und nie scheu, Verantwortung zu übernehmen. Er hatte sich nie als etwas Besonderes gefühlt, doch täglich bemühte er sich, die beste Version des Mannes zu werden, die er sein konnte.
Er fragte sich, ob es nicht längst Zeit zum Aussteigen gewesen wäre. Just in diesem Moment sah er einen Schaffner schnurstracks auf sich zumarschieren. So etwas hatte ihn noch nie nervös machen können, schließlich hatte er jederzeit eventuell benötigte Dokumente wie sein Zugticket parat.
Noch bevor der Schaffner ihn erreicht hatte, griff er in seine linke Brusttasche. Was dann geschah, spielte sich binnen Sekunden in den Tiefen seines Gedächtnisses ab. Die Trennung von Renate, der Rauswurf, das Loch, in dem er die letzten Nächte zugebracht hatte, die verbrannte Kleidung und das letzte saubere Jackett, das er heute Morgen mit dem, das er zuvor angehabt hatte, vertauscht haben musste. Als er den Tweed an seinem Ellenbogen ein Stück drehte und den gelben Fleck sah, hörte er auf, nach dem Ticket zu suchen. Das steckte nämlich fein säuberlich gefaltet in der linken Brusttasche des Jacketts, welches am einzigen Haken in seinem Motel hing.
„Sir, ihr Ticket bitte.“
Zehn Minuten später fand sich Emil auf einem kleinen Trampelpfad zwischen den Zuggleisen und Feldern wieder. Er schaute auf seine Schuhe, sie waren schwarz. Wer zog schwarze Schuhe zu einem maronibraunen Nadelstreifenanzug an? Nur jemand, der keine anderen Optionen mehr hatte, weil seine Freundin alle anderen Paare entsorgt hatte. Dabei war sie diejenige gewesen, die eines Tages aus heiterem Himmel mit ihrer Affäre in die Küche geplatzt war.
Die Kurse an der Universität würden frühestens im September in das neue Semester starten. Bis er wieder ins Studentenheim ziehen konnte, musste eine Übergangslösung her. Da sein mickriger Studentenjob als Barkeeper kaum mehr als ein überschaubares Taschengeld abwarf, blieb Emil nichts anders über als sein letztes Erspartes für ein lausiges Motel-Zimmer hinzublechen. Das Zugticket allein war eine Investition gewesen.
Er blickte auf seine, nun durch den erdigen Boden dreckigen, Schuhe und zweifelte daran, ob er überhaupt in die richtige Richtung lief. Heute war Semesterstart und der Campus seiner Universität veranstaltete das alljährliche Herbstfest, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Emil war ganz und gar nicht nach Feiern zumute und noch weniger Lust hatte er darauf, sich unter das Gedränge hunderter Studenten zu mischen. Doch leider wurden an diesem Tag auch die Plätze für die Studentenheime verteilt und für die Zimmereinteilung musste man anwesend sein. Zumindest würde er dann aus diesem stinkenden Loch von Motel-Zimmer rauskommen.
Emil hatte keine Uhr, weshalb er schätzte, dass er etwa eine gute Dreiviertelstunde unterwegs gewesen sein musste, als er endlich die Stadtgrenze und die direkt dahinter liegenden Tore des Campus erkannte. Über dem schmiedeeisernen Bogen hing ein monströses Banner, auf dem in orangefarbenem Monospace „WELCOME“ geschrieben stand.
Der gesamte Campus sah aus wie die Kulisse eines amerikanischen Halloween-Films. Der Platz vor dem Haupteingang, der gleichzeitig den Zugang zur Bibliothek darstellte, war über und über geschmückt mit Kürbissen aller Farben und Formen. Links und rechts vom weißen Teppich, der vor dem Tor zum Eingang ausgerollt war, waren quadratische Heuballen zu Tischen aufgetürmt worden. Es gab Punsch und gelbes Popcorn. Eine menschengroße Vogelscheuche zeigte den Weg zu den Anmeldeständen. Emil musste einmal quer über den Platz, wo die Zimmereinteilung der älteren Semester stattfand.
Es war ein trüber Tag, doch in diesem Moment schien ihm, als würde sich die Wolkendecke einen Spalt weit öffnen, um ihn auf jemand Besonderen aufmerksam zu machen. Als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet, blieb Emils Blick an einer jungen Frau hängen. Engelsgleich stand sie etwa fünfzehn Meter von ihm entfernt hinter einem Heu-Tisch und verteilte Formulare an die Studenten. Ihre lichtblonden Locken wirbelten bei jedem warmen Luftzug, der den Herbst ankündigte, um ihre zierliche Stupsnase. Wie das Glück es so wollte, musste er sich vor ihrem Tisch anstellen. Vor ihm standen ausschließlich Studenten aus höheren Semestern. Ein paar von ihnen kannte er vom Sehen.
„Brauchst du auch ein Zimmer?“ Als sich der Mann vor ihm umdrehte, erkannte er einen Studienkollegen, mit dem er letztes Semester ein paar Kurse gemeinsam belegt hatte.
„Ja, eigentlich schon vorgestern!“, antwortete Emil. Die beiden mussten lachen. Es war allgemein bekannt, dass das Studentenheim am Campus immer noch die günstigste Möglichkeit zum Wohnen war. Die Studenten, die während den Ferien nicht außer Landes arbeiteten, zogen für die Zeit zurück ins Elternhaus oder mussten sich wie Emil eine teure Bleibe suchen. In jedem Fall waren die Zimmer im Studentenheim heiß begehrt. Es war eines seiner ersten entspannten Gespräche seit dem Drama mit Renate, in dem ihm ein befreiendes Lachen über die Lippen kam. Nach dem ersten Wortwechsel über das Wetter war Emil so vertieft in das Gespräch, dass er gar nicht mitbekam, wie schnell sich die Warteschlange vorwärtsbewegte.
„Der Nächste, bitte. Was kann ich für dich tun?“ Azurblaue Augen, in denen er sich hätte verlieren können, wie in den Tiefen des Ozeans, warteten auf eine Antwort. Emil stand, wie vom Donner gerührt, vor der jungen Dame. Der Wind fuhr ihr durch die Mähne und wirbelte ihr erneut einige Strähnen ins Gesicht. In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Cinderella!“
„Wohin gehst du?“
Immer die gleiche Frage, immer die gleiche Antwort.
„Ins Poppys, zum Mittagessen bin ich zurück.“
Joshua saß auf der Couch und las Zeitung. Phiona merkte, dass er ein Augenrollen zu unterdrücken versuchte. Sie wusste ja, es war Samstag, allerdings war sie unter der Woche meist mit dem Studium beschäftigt, da wollte sie sich zumindest am Wochenende ein paar Stunden Zeit fürs Schreiben nehmen. Zu Hause konnte sie das nicht. Sie brauchte ihren Raum. Außerdem mochte Phiona es, wenn ein leichter Hintergrundlärm herrschte. Nichts Störendes. Leute, die sich unterhielten, das Klimpern von Geschirr oder der Motor eines in der Ferne vorbeifahrenden Busses. War es zu leise, konnte sie sich einfach nicht so gut konzentrieren. Das Poppys war perfekt dafür.
In der Regel unterstütze Joshua sie, wo er nur konnte. Mit einer wesentlichen Ausnahme. Als Phiona und Joshua sich kennengelernt hatten, hatte sie Kunstgeschichte studiert. In ihrer Freizeit hatte sie viel geschrieben. Allerdings damals noch Liebesromane statt Krimis. Sie hatte hauptsächlich studiert, weil es sie interessiert hatte.
Ihr gefiel die Vorstellung, Ahnung von Kunst zu haben. Die Geschichte von Gebäuden zu kennen, die schon viel länger auf der Welt waren als sie. Durch Museen gehen zu können und dabei Ahnung zu haben, welche Hintergründe die Gemälde und Skulpturen hatten.
Ein Großteil ihrer Leidenschaft war jedoch für das Schreiben reserviert. Joshua sah darin keine Zukunft, zumindest keine lukrative. Er konnte nicht verstehen, dass Phiona das Kreieren von Romanfiguren und das Erschaffen derer Realitäten mehr gab als Geld jemals hätte können.
„Auf die Chance, Bestsellerautor zu werden, würde ich besser nicht setzen!“, hatte er mal gemeint und ohne einen Bestseller zu landen, hätte man keine Chance, auch nur ansatzweise seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Er hatte ihr geraten, sich zumindest auf ein zweites Standbein zu lehnen. Was sie dann auch getan hatte. Sie hatte ihr Kunstgeschichtestudium abgebrochen und begonnen, Journalismus zu studieren.
Phiona konnte sich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern. Als sie Joshua die Neuigkeiten beim Abendessen verkündet hatte, hatte er kaum merkbar den Kopf gehoben und in etwa gesagt: „Gut, irgendwann wird es die Leute nicht mehr interessieren, wie man vor hunderten Jahren gemalt hat, aber an ihrer Sensationsgeilheit wird sich nie etwas ändern.“
Daher kam das gelegentliche Augenverdrehen, wenn Phiona sagte, sie würde ins Poppys gehen. Er wusste genau, dass sie die Zeit dort gerne zum Schreiben verwendete und hielt es nach wie vor für Zeitverschwendung. Zumindest hierbei ließ sich Phiona kein schlechtes Gewissen machen.
Sie drückte ihm einen Schmatzer auf die Backe, schnappte sich ihren Schal und verließ die Wohnung. Sie zog die Eingangstür hinter sich zu und schloss im Gehen die letzten Knöpfe ihres beigen Mantels. Es war zwar schon fast Sommer, aber um diese Uhrzeit war es dennoch etwas frisch.
Die Wände im Stiegenhaus waren längst nicht mehr so weiß, wie sie es mal gewesen waren und auch das Stiegen-Geländer des alten Wohnhauses war abgegriffen. Sie galoppierte die Steinstufen hinunter.
Fünf Stockwerke weiter unten fiel ihr auf, dass sie ihren Autoschlüssel am Küchentisch hatte liegen lassen. Sie atmete tief durch die Nase ein und überlegte, ob sie noch einmal schnell zurücklaufen sollte. Es würde vermutlich nicht länger als zwei Minuten dauern. Trotzdem verwarf sie den Gedanken und beschloss, stattdessen die U-Bahn zu nehmen. Es waren bloß vier Stationen von hier und die nächste Möglichkeit, einzusteigen, war praktisch um die Ecke.
Auf dem Weg zum Bahnsteig begegnete sie einigen merkwürdigen Gestalten. Einer jungen Dame, die ihre Pumps in den Händen trug. Sie fuhr sich, die Finger zu einem Kamm umfunktioniert, mehrmals durch die langen blonden Haare. Als sie in etwa auf gleicher Höhe waren, trafen sich ihre Blicke. Die junge Frau verdrehte die Augen. Erst da bemerkte Phiona, dass sie sie wohl zu auffällig ins Visier genommen hatte und schaute schnell weg.
Obwohl Wochenende war, sah sie einige wenige Geschäftsmänner, die auf dem Weg in die Arbeit waren. Sie blickten alle paar Minuten auf die Uhr oder telefonierten teilweise lautstark. Einer von ihnen starrte einen älteren Mann an, der zusammengekauert neben dem Bahnsteig an eine Bank gelehnt schlief. Vor ihm stand ein leerer Joghurtbecher. Beim Vorbeigehen sah Phiona, dass außer ein paar Kupferlingen nur einige Zigarettenstummeln darin lagen. Angewidert vom fehlenden Respekt, den andere ihren Mitmenschen zumuteten, kramte sie in ihrer Jackentasche und ließ eine Zweieuromünze in den Becher plumpsen.
Eine warnende Durchsage ertönte und die Bahn fuhr ein. Alle stürmten zu den Eingängen, als ob sie dann früher zu ihren Terminen kommen würden. In Wahrheit verzögerte sich dadurch der Vorgang des Ein- und Aussteigens nur. Eng gedrängt wie Pinguine, die sich bei einem eisigen Windsturm gegenseitig wärmten, standen alle in der U-Bahn und überlegten jetzt schon mal, wie sie sich am schnellsten einen Weg nach draußen bahnen könnten, sobald sie an ihrer Station halten würde. Phiona hasste den Geruch in U-Bahnen. Man konnte nie genau ausmachen, wem oder was man den störenden Duft zu verdanken hatte – wahrscheinlich war das auch besser so.