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Drei Erzählungen über das Momentum der Entscheidung, die Kraft der Liebe und den Schmerz des Abschieds. Bewegend, tragisch, zuweilen amüsant und manchmal verstörend direkt tragen die Geschichten den Leser in eine andere Welt. Für die einen sind die Wendungen des Lebens einfach nur Schicksal. Für andere ist es das bewusste oder intuitive Begehen eines durch die Qualität unserer Entscheidungen beeinflussbaren Pfades. Immer in der Gewissheit, dass alles Negative auch die Kraft zur Veränderung zum Guten in sich birgt und die Chance bietet, über sich selbst hinaus zu wachsen.
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Zuerst einmal danke ich unserem Schöpfer für alles was ich bekommen habe, um dieses Buch zu schreiben. Darüber hinaus danke ich Benjamin Plasa für Lektorat und all die mutmachende Gespräche. Und Joe für Design, Beratung, Mangement und vieles mehr.
Für Zoé
1. Kinder des Lichts
Bent und Miklos
Triamor
Schöne neue Zeit
Veränderung
Lupio Montaban
Waisenhaus
Ausflug
Einbruch
Eduard Francis McDermott
Entscheidung
Ein paar Jahre später
Suche nach Miklos
Neue Karten
Lilou
Abschied von Bell
Malcine
Verrat
Leben um Leben
Suche nach Lilou
Obrey
Befreiung
Das Ende
2. Übergangsleuchten
Tika
Antrag
Kepher
Liebe
Überfall
Verfolgung
Flucht
3. Hol´s das Leben
Filip
Alte Bekannte
Ruben
Abenteuer
Wandlung
Die große Stadt
Nichta
Handel
Verkauft
Mongur die Stadt
Friss oder Stirb
Der Blick des Jungen blieb an dem Pferd haften, das den Planwagen zog. Er besah sich eine Weile das Muskelspiel des Tieres unter dessen braunem Fell, bis sein Blick wieder von der wunderschönen Landschaft angezogen wurde. Sanfte Hügel mit unberührten Wiesen und Wäldern auf der einen, das große Gebirge mit seinen schneebedeckten Gipfeln, majestätisch und kraftvoll, auf der anderen Seite. Der Sommer war vorüber und der Wind rüttelte an den bereits welk gewordenen Blättern der in den Herbstfarben stehenden Bäume.
Der Name des Jungen war Miklos. Neben ihm auf dem Kutschbock saß sein Vater, Bent Niawarra. Ihrer beider Haut war von der Sommersonne der zurückliegenden Monate noch stark gebräunt, das Haar, das die fein und gerade geschnittenen Gesichter umrahmte, erblondet. Bent trug einen Vollbart, während sich bei seinem Sohn ein erster Flaum über der Oberlippe bildete.
Beide waren groß und sehnig, ihre Augen klar mit einem freundlichen Ausdruck. Die schwieligen Hände des Vaters verrieten den Handwerker, und auch der Junge hatte früh gelernt zuzupacken. Miklos war gerade dreizehn geworden, wirkte jedoch älter. Sein Wesen war durchdrungen von zögerlicher Vorsicht, obwohl er einen selbstbewussten Eindruck machte, und in seinen grauen Augen lag ein naturverbundenen Menschen eigenes Strahlen.
An den Seiten des Wagens waren Kisten und Fässer angebracht, und gleich mehrere Leitern, die auf dem Dach verzurrt waren, ragten hinten heraus. Die Plane, von Wind und Wetter arg mitgenommen, war an vielen Stellen geflickt worden.
Ursprünglich kamen die beiden aus dem Osten des Landes, von den langgezogenen Ebenen jenseits des großen Gebirges.
Viele Jahre Krieg hatte es im Land gegeben. Niemand wusste genau, warum. Bruder tötete Bruder, Schwester tötete Schwester. Angestachelt durch niedere Instinkte der Machthaber, zogen Armeen und wilde Horden brandschatzend durch den Kontinent. Verwüsteten, nahmen Leben und Nahrung.
Bents Frau Risa und Kasper, Miklos‘ älterer Bruder, starben an Hunger. Als man auch noch den Hof der Familie anzündete, flohen Bent und Miklos mit dem Planwagen in ein mehrere Tage entferntes Waldgebiet, um sich dort zu verstecken.
Die Niawarras wussten zu fischen, Fallen zu stellen, auch welche Beeren, Kräuter, Pilze und Wurzeln man essen konnte. So schafften Bent und Miklos es mit schweren Entbehrungen durch den glücklicherweise nicht sehr strengen Winter.
Dann war der Krieg plötzlich vorbei. Bent und Miklos hatten ihre Sachen gepackt, Susi vor den Wagen gespannt und waren zu ihrem alten Gehöft gefahren.
Nachbarn lugten verängstigt hinter halb geschlossenen Fensterläden der nur mehr wenigen Häuser hervor, als Bent und Miklos an den verkohlten Überresten ihres Hofes gehalten hatten. Jeder für sich war weinend und stumm am Grab der Lieben gestanden. Da jeder Stein, jeder Grashalm, jedes Stück Boden Erinnerungen in sich barg, die Glück nimmer zulassen würden, waren sie einfach weitergezogen.
Bent verstand geschickt mit seinen Händen umzugehen, und weil viele Menschen gestorben waren, wurde in nahezu jedem Dorf Hilfe benötigt. Ausbesserungsarbeiten an Haus und Dach, Reparaturen der Gerätschaften, Hilfe bei Aussaat, Ernte, Versorgung der Tiere. Doch nie gab es so viel Arbeit und Nahrung, dass sie hätten bleiben können. So zogen Vater und Sohn immer weiter und fanden mit der Zeit Gefallen am Leben auf der Straße. Im Winter, wenn Schnee und Kälte Reisen unmöglich machten, boten ihnen verlassene Landhäuser Quartier. Drei Jahre gingen so ins Land, ehe Bent an ihrer Lebensart zweifelte. Zum einen wollte er Miklos eine Schulbildung ermöglichen, zum anderen war sein Sohn noch zu jung so Bent etwas zustoßen würde. Also traf Bent die Entscheidung, in einer großen Stadt sesshaft zu werden. Traurig und enttäuscht vom Sinneswandel seines Vaters hatte Miklos erfolglos versucht, ihn umzustimmen.
Sie waren in Richtung Triamor unterwegs, der Hauptstadt des Landes, und fuhren auf einem Höhenweg zum Kamm eines der Ausläufer des großen Gebirges. Von rechts grüßten die zerklüfteten Bergriesen zur Abendruhe und wetteiferten um Bewunderung mit dem auf der linken Seite des Weges liegenden Fluss, auf dessen Oberfläche die untergehende Sonne eine goldene Straße zeichnete. Gerade als die Sonne den Rand der Erde berührte, erreichten die Niawarras den Kamm. Der Fluss vollzog unter ihnen eine Kurve um neunzig Grad in Richtung Stadt, und eine weite Ebene mit vielen Feldern erstreckte sich rechts des Ufers. Bent und Miklos konnten weit entfernt die Menschen gut erkennen, die von der Feldarbeit dem Sonnenuntergang zuströmten, in dessen Silhouette sich deutlich die Stadt Triamor abzeichnete. Die Sonnenstrahlen ergossen sich über die Häuser, brachen sich an den Giebeln und Schornsteinen, deren Rauch die Stadt in ein rötliches, bedrohlich wirkendes Licht tauchte.
Der offensichtliche Kontrast zwischen ihrem Leben in und mit der Natur und dem, was sie in der Stadt erwartete, erzeugte bei beiden eine Gänsehaut. Bent atmete tief durch und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er schnalzte mit der Zunge und lenkte die brave Susi abseits des Weges auf einen kleinen, von Felsen umgebenen Platz, um dort ihr Lager für die Nacht aufzuschlagen.
Triamor lag genau in einem S-förmigen Knick des Eru, der sich weit im Norden in einem weitläufigen Mangrovendelta mit dem großen Salzwasser verband. Der riesige Strom teilte das gesamte Land in zwei Hälften. Am westlichen Ufer erstreckte sich weites, fruchtbares Land, das hier und da von ein paar wenigen Bauern bewirtschaftet wurde. Die Ebene hätte der Stadt das Platzproblem gelöst, wenn sie denn besser zu erreichen gewesen wäre.
Der Eru war schwierig zu passieren, weil breit, mit tückischen Stromschnellen, Strudeln und Sandbänken, die sich ständig verschoben. Nicht selten hatten im Wasser treibende Baumstämme Boote umgerissen. Schmelz- und Regenwasser machte von Oktober bis April ein Hinüberkommen gänzlich unmöglich und hatte bis dato auch alle Versuche, eine Brücke zu errichten, buchstäblich hinfortgeschwemmt. Vier Tagesreisen flussaufwärts gab es eine riesige Furt, die nur unter großer Gefahr zu passieren war. Der Senat war deshalb sogar über die Landesgrenzen hinaus nach einer Lösung zu suchen bestrebt.
Das alte, fast ehrwürdig wirkende Rathaus stand auf einem großen, runden Platz und bildete das Zentrum der Stadt. Von hier gingen die vier Hauptstraßen ab, der Einfachheit halber nach ihren Himmelsrichtungen benannt. Die ringförmig um das Rathaus angelegten ersten zwölf Häuserreihen waren in einem raumgreifenden, eleganten Baustil errichtet worden. Dazu spendeten große Bäume in heißen Sommertagen sowohl in den gepflegten Innenhöfen als auch den Fußgängern auf der Vorderseite angenehme Kühlung.
Im Norden ein Moor, im Osten dringend benötigte Getreidefelder, im Süden und Westen der Fluss, war der Stadt keine Ausdehnung mehr möglich. Und doch strömten seit den Tagen des Krieges immer mehr Menschen vom Land hierher, um Zuflucht und Glück zu finden.
Außerhalb des zwölften Häuserrings herrschte bauliches Chaos. Da es mit einem raumgreifenden Baustil nicht mehr möglich war, den Bedarf an Wohnungen zu decken, wurden Straßen verengt und jeder freie Meter bebaut.
Die Morgensonne warf gerade ihre ersten wärmenden Strahlen über die taunasse Erde, als die Niawarras sich in die Schlange von Fuhrwerken in Richtung Stadt einreihten. Eine nicht enden wollende Karawane von Feldarbeitern sowie Ochsen- und Planwagen zog stadtauswärts an ihnen vorüber.
Bents Mundwinkel zuckten nervös, als sie nach langer Warterei am Stadttor den Befehl erhielten, ihr Gefährt, da sie keine Güter lieferten, an einem nahegelegenen großen Platz abzustellen.
Hinter dem Stadttor zeigte sich für Naturgewohnte eine heikle Welt. Das Getümmel der Menschen war so dicht, dass man den Boden, auf dem man ging, nicht sah. Dazwischen schoben fahrende Händler ächzend und schimpfend ihre Karren durch die Menge. Lastenträger suchten sich, verzweifelt schreiend, einen Weg zu bahnen. Kurierreiter, deren Pferde mit aufgerissenen Augen und angelegten Ohren durch die gedrängten Menschenleiber tänzelten. Leicht lief man Gefahr, unter die Räder der Wagen gedrückt zu werden, die sich durch die Menge arbeiteten.
Bent und Miklos bogen nervös-zittrig und schwer atmend in eine ruhige Seitenstraße ab. Ein alter Sattler, der gemütlich vor seinem Geschäft saß, gab Bent den Rat, sein Glück bei der Werft zu suchen. Als dieser schließlich erst gegen Mittag im Zunfthaus der Werftarbeiter vor John Relton stand, zog Bent seine Schultern nach hinten und brachte Spannung in seinen Körper, um sich seine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen.
Relton hatte das Sagen über die Arbeiter auf der Werft. Er war im letzten Lebensviertel, aber seine kurzen, grauen Haare gaben seinem Gesicht ein vitales Aussehen. Seine gegerbte, von Falten übersäte Haut zeugte von einem Arbeitsleben an frischer Luft. Er war der Prototyp eines Handwerkers. Schwielige Pranken, eine mittelgroße, gedrungene Gestalt mit einer riesigen Hakennase, deren Röte Trinkfestigkeit versprach. Doch hinter der in seiner Position benötigten Härte bezeugten Reltons Augen Gelassenheit und Güte. Der Mann war es gewohnt, schnell zu entscheiden. Mit einem kurzen Kennerblick gab er Bent die Möglichkeit, sich für den Rest des Tages auf der Werft zu beweisen.
Der rieb sich die geröteten Augen, als er am Abend voller Willen und Hoffnung und mit klopfendem Herzen erneut vor Relton stand. Nach kurzer Verhandlung bekam Bent nicht nur die Arbeitsstelle, sondern auch eine damit verbundene Wohnung bei der Werftzunft. „Der Junge“, raunte Relton, „kommt auf die Schule, die da um die Ecke liegt.“
Die Dunkelheit der Nacht tauchte Land und Stadt in Schwarz, als Bent und Miklos schlurfend und mit hängenden Schultern ihren Wagen erreichten. Bent ignorierte Susis mürrische Begrüßung und gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil. Miklos schob sich ein Stück Wurst in den Mund und kaute lustlos darauf herum, bis sie sich kurz darauf in ihre Decken wickelten und sich auf die gepolsterte Pritsche legten.
Durch Lärm und Hektik der Stadt litten beide an Kopfschmerzen. Obwohl Arbeit und sogar ein Zimmer erhalten, umfing Zweifel Bents Herz. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, schaffte es jedoch bald, alle Sorgen zu verscheuchen und schlief ermattet ein.
Miklos hingegen war hellwach. Seine Seele zitterte vom Lärm, dem Gestank, den Menschenmassen. Er ersehnte die Ruhe der Plätze, an denen sie sonst übernachtet hatten. Er vermisste, mit Blick ins knisternde Lagerfeuer, der Gedanken freien Lauf. Seine Seele suchte die stillen Gaben der Sterne, aus denen er in den klaren Nächten so viel Kraft und Trost geschöpft hatte. Ihm war, als läge ein großer Stein auf seinem Brustkorb, sein Atem ging pfeifend. Wie ein Ungeheuer schien die Stadt hinter der Mauer auf ihn zu lauern. Tief in Miklos flammte die Gewissheit auf, dass sein Vater eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Schweiß rann seine Stirn hinunter und das Zittern hielt ihn wach, bis er erschöpft in einen ohnmachtsartigen, dämmrigen Zustand verfiel.
Miklos fand in den folgenden Monaten seinen Platz sowohl in der Schule als auch im Leben in der Stadt. Mittlerweile an den Trubel gewöhnt, dachte er nur mehr selten an sein früheres Leben. Seine Sitznachbarin Elana und ihr Zwillingsbruder Marek hatten sich mit ihm angefreundet. Elana half ihm in der Schule. Er hingegen erklärte seinen Freunden Bäume und Sträucher und zeigte ihnen essbare Wurzeln, die er am Ufer des Eru, unweit des Moores, unter dem Schnee ausbuddelte.
Ab und an waren die Jungs auch allein unterwegs. Sie rauften sich, jagten Hasen und Schneehühner und schlichen in dunkle Hinterhöfe, um Prostituierte zu begaffen, die um betrunkene Freier buhlten. Manchmal saßen sie auch nördlich der Stadt am Ufer des Eru, unweit des Moores, beobachteten Tiere oder angelten, bis ihre Lippen blau vor Kälte waren.
Vor ein paar Wochen hatte Marek den ausrangierten Langbogen seines Vaters auf dem Dachboden gefunden. Sie hatten sich zeigen lassen, wie man ihn benutzte, und seitdem schossen sie damit wann immer sie konnten. Er lag versteckt in einem kleinen, verlassenen Fischerhaus, an dessen Außenwand sie eine Zielscheibe aufgemalt hatten.
Elana musste heute ihrer Mutter helfen. Die Jungen waren alleine unterwegs und hatten den Nachmittag über mit dem Bogen geschossen. Nun lagen sie rücklings auf einem Felsen am Fluss. Die Sonne war von Tag zu Tag kräftiger geworden und hatte das Gestein angenehm erwärmt. Marek warf im Liegen einen Stein im hohen Bogen ins Wasser, und wie beiläufig bemerkte er: „Elana ist ganz schön verknallt in dich.“
Miklos hatte gerade seinen Oberkörper aufgerichtet und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen den Flug eines Greifvogels am jenseitigen Ufer. Sein Herz machte einen Aussetzer. Hatte er richtig gehört? Mareks unverblümte Art hatte ihn schon oft in unangenehme Situationen gebracht.
Sein Freund blickte gedankenverloren ins blaue Nichts des Himmels und machte dabei den Anschein als könnte er kein Wässerchen trüben. „So wie es aussieht, bist du ja auch in sie verknallt.“
Miklos‘ Kinnlade fiel nach unten. Während er sich mit ungläubigem Blick zu seinem Freund drehte, suchte sein Mund Worte zu formen, brachte aber nur ein Krächzen hervor. Denn ja, es stimmte. In Elanas Gegenwart geriet Miklos‘ Gefühlswelt zunehmend in Wallung. Es hatte ein paar Wochen gedauert bis ihm klar geworden war, dass er sie liebte.
Während er immer noch krampfhaft überlegte, was er Marek erwidern konnte, rollte dieser sich zur Seite und guckte ihn, den Kopf mit dem Ellenbogen abstützend, geradewegs an. Sein Finger zeigte auf Miklos, während ein schelmisches Grinsen seine Mundwinkel umspielte. „Leugnen ist zwecklos!“
Miklos‘ Ohren nahmen die Farbe frischer Rosen in der Sommersonne an. Noch immer rang er nach Luft und klaren Worten. Nur stammelnd brachte er mühsam hervor: „Äh... Marek... das ist mir irgendwie...“ –
„… peinlich?“ Dass Miklos sich offensichtlich Gedanken darüber machte, was Marek dazu sagen und ob er seinen Segen geben würde, rechnete dieser ihm hoch an. „Für mich geht das in Ordnung.“ Es klang natürlich und ehrlich.
Miklos schwitzte, wollte mehr wissen und schaffte es, sich so weit zu sammeln, dass er, etwas zu schnell, fragen konnte: „Was hat sie denn gesagt?“
„Gar nix hat sie gesagt.“ Marek vollzog eine lässige Handbewegung. „Das braucht sie auch gar nicht. Sie ist meine Zwillingsschwester!“ Miklos verlor die Kontrolle über seine Gedanken. Freude und zögerliches Bangen stürmten mit solcher Heftigkeit auf ihn ein, dass ihm schwindelig wurde. Das Versprechen auf erwiderte Liebe, gestützt auf brüderliche Intuition, war ihm zu vage. Mit forschendem Blick suchte er hektisch ein Missverhältnis zwischen Mareks Mimik und seinem Inneren zu finden.
„Und du hättest wirklich nichts dagegen?“
Um seine Worte glaubhafter klingen zu lassen, verschwand für einen kurzen Moment das Lächeln aufs Mareks Gesicht.
„Wieso sollte ich etwas dagegen haben, Miklos?“ Er richtete sich auf. „Stell dir vor, sie würde sich stattdessen in irgend so einen Schwachkopf verknall...–“ Marek hielt inne, und da war es wieder – das Grinsen. „Aber warte mal... Wenn ich es mir so recht überlege: Der Hellste bist du ja auch wieder n...–“ Weiter kam er nicht, weil Miklos sich auf ihn warf und eine Balgerei begann, an deren Ende sie beinahe in den Fluss stürzten. Danach waren keine Worte mehr nötig. Die beiden schauten einander offen ins Gesicht. Glück und Dankbarkeit lagen in Miklos‘ Augen, während sich in Mareks Güte und Freundschaft zeigten. Oftmals verstand es Elanas Bruder, seine tieferen Gefühle hinter Frotzeleien und Späßen zu verbergen, aber dieses Mal tat er das nicht. Er ließ Miklos spüren, dass er seinen Segen hatte, weil er ihm vertraute.
Später am Abend, als sie wortlos durch die nur mäßig gefüllten Straßen gingen, war Miklos‘ Achtung für seinen Freund noch um ein Vielfaches gestiegen und er wusste nicht, worüber er sich mehr freuen sollte. Über das Glück einer wahren Freundschaft oder über die Nachricht, dass Elana auch für ihn Liebe empfand.
Damit änderte sich für Miklos alles. Der Tod seiner Mutter hatte ihn im tiefsten Seelengrund erschüttert. Er hatte begriffen, dass es nicht der Mensch war, der über das Leben bestimmte, sondern eine höhere Macht, die außerhalb seiner Kontrolle lag, was ihm panische Angst bereitete.
Das Grab seiner Mutter war zum Symbol dafür geworden, dass es im Leben keinen Halt geben konnte. Der Mensch scheinbar Spielball war von etwas, das er nicht sah und nicht verstand.
Als sie dann auch noch vom brennenden Hof gejagt wurden, war Miklos‘ Vertrauen ins Leben restlos mit den Flammen in Luft aufgegangen und eine eiserne Klaue hatte sein Herz umfasst. Mit dem Planwagen war es ihnen relativ gut ergangen. Und das hatte Miklos gereicht. Das Vorhaben seines Vaters, sich in der Stadt niederzulassen, war deshalb in seinen Augen furchteinflößend gewesen, weil es auch hieß, ein funktionierendes System gegen ein neues, eventuell unsicheres, einzutauschen. Und diese Angst hatte an ihm genagt. Der Gedanke, die Dinge um ihn herum könnten wieder außer Kontrolle geraten wie damals, war nicht zu ertragen gewesen.
Doch jetzt, seitdem sie in Triamor waren, geschahen nur wunderliche, schöne Dinge. Sein Vater war sogar befördert worden und Relton hatte ihm eine größere Unterkunft zugeteilt, die näher an Mareks und Elanas Elternhaus lag. Bereits im nächsten Monat würden sie umziehen.
Ebenso seine Freundschaft zu Marek, die Schule, die Klasse, die Lehrer, alles hatte sich zum Guten gewendet. Und jetzt auch noch Elana. Die Zeit mit ihr war das Schönste, was er bisher erlebt hatte. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein.
Alle erlebten einen unbeschwerten, schönen Frühlingsanfang. Mareks souveräner Charakter ließ durch Miklos‘ Beziehung zu seiner Schwester keine Verstimmung in ihrer Freundschaft zu. Und oft nahm sich Miklos in stiller Bewunderung ein Beispiel an ihm.
An einem herrlichen Frühlingstag zogen die Niawarras um. Miklos war außer sich vor Freude und die Niawarras feierten zusammen mit den Lugers, Mareks und Elanas Eltern, das Einweihungsfest.
Als Sonne und warme Frühlingsluft die Natur zu wecken begannen, hatten sich in Miklos‘ Seele viele Tore geöffnet. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der sich vertrauensvoll dem Leben öffnet.
Jemand kam während des Unterrichts in die Klasse und sagte, Miklos solle zum Schulleiter kommen. Sich keiner Schuld bewusst, fragte er sich auf dem Weg dahin, warum. Als er jedoch das Zimmer betrat und dort John Relton registrierte, der ihn mit bedrückter Miene ansah, war ihm, als schnürte ihm jemand die Kehle zu.
Bent Niawarra hatte an diesem Morgen mit seinem Trupp im Trockendock an einer Deckkabine gearbeitet. An die Reling gelehnt, hatte er auf einen Dachbalken geachtet, der mit dem Kran nach oben befördert wurde. Jemand hatte ihn von unten gerufen, und genau in dem Moment, als er sich umgedrehte, verschob sich der Balken in der Schlaufe, geriet aus der Balance und rutschte heraus. Bent wurde im Rücken getroffen, seine Brust gegen die Reling gequetscht, und er stürzte nahezu zehn Meter zu Boden. Als endlich ein Arzt eingetroffen war, konnte dieser nur noch den Tod Bent Niawarras feststellen. Mehrere Minuten lang hatte unter den Männern entsetztes Schweigen geherrscht.
Relton wurde informiert, während Bents Leichnam in eine nahe gelegene Lagerhalle getragen wurde. Relton hatte fürchterlich geflucht und geschimpft, derweil die Männer betroffen um den aufgebahrten Leichnam standen. Schließlich hatte er sich wieder gefasst, ein paar Befehle in die Runde gebellt, war zurück zum Zunfthaus gegangen, hatte abgeschlossen und sich, wieder entsetzlich fluchend, in Richtung Schule aufgemacht. Die Verhältnisse Bents waren ihm bekannt. Die beiden Männer hatten sich ein paarmal abends auf ein Bier getroffen und waren so was wie Freunde geworden.
Nachdem Miklos gehört hatte, was vorgefallen war, schaltete er innerlich ab. Teilnahmslos nahm er nur mehr wie durch dichte Nebelwolken das Geschehen um sich herum wahr. Relton brachte ihn schließlich mit einer Droschke zur Werft, wo sein Vater, mit einem Tuch bedeckt, aufgebahrt lag. Einer der Männer zog das Tuch weg als Miklos herantrat, und er war überrascht, weil es lediglich so aussah, als ob sein Vater schliefe. Miklos versuchte, sich Klarheit in seinen Gedanken zu verschaffen, aber es gelang ihm nicht. Er wollte mit seinem Vater reden, irgendwas tun, aber er konnte nur dastehen und auf dessen geschlossene Augen starren, wie wenn sich diese öffnen würden, so er nur fest genug daran glaubte.
Nach einer Weile brachten Männer eine große Holzkiste herein. Es dauerte bis Miklos begriff, dass es ein Sarg war. Nach außen sah er gefasst aus, aber innerlich wurde er förmlich zerrissen. Empört und ungläubig sah er zu, wie man seinen Vater anhob und in den Sarg legte. Miklos wollte die Männer anbrüllen, konnte aber nicht. Wie gelähmt war er zum Zuschauen gezwungen. Noch bevor der Deckel aufgelegt wurde, nahm Relton Miklos an der Schulter und führte ihn nach draußen. Von dem, was der Mann sagte, verstand er nur Wortfetzen, wie „nicht alleine wohnen“, und „Sachen holen“. Willenlos ließ Miklos sich von Relton in die Droschke hieven und nach Hause fahren. Und da er nicht in der Lage war, auch nur irgendetwas zu tun, nahm Relton eine Holzkiste, die noch aus der Zeit stammte, als die Niawarras mit Wagen und Pferd übers Land gefahren waren, und packte alles aus Miklos‘ Schrank hinein. Dann wuchtete er die Kiste auf seine Schultern, schob Miklos hinaus und verstaute beide in der Droschke.
Leichter Nebel zog vom Fluss kommend durch die am südlichen Ufer gelegenen Straßen und machte diese stellenweise so glatt, wie wenn sie mit Schmiere eingepinselt worden, als am frühen Abend das Gespann endlich vor einem großen, schäbigen Haus unweit des Ufers hielt. Über der Tür prangte ein verwittertes Schild auf dem in krakeliger Schrift „Waisenhaus“ stand.
Wieder wuchtete Relton sich die Kiste auf die Schulter und schob Miklos die Stufen hoch zur Eingangstür. Auf Reltons energisches Klopfen öffnete ihnen ein älterer, glatzköpfiger Herr, dessen graues Gesicht perfekt zu seinem grauen Umhang passte. Noch in der Eingangshalle redete Relton leise mit dem Mann, trat schließlich vor Miklos und legte seine großen, schwieligen Hände auf dessen Schultern.
„Tut mir leid, Junge“, sagte er verlegen. „Wird schon alles wieder gut werden“, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.
Als die große Eingangstür hinter John Relton ins Schloss fiel, kam Miklos ein wenig zur Besinnung, denn es war ihm, als fiele eine Gefängnistüre zu. Der Anblick der kalten Fliesen in der Eingangshalle ließ einen Angstschauer über seinen Rücken laufen, und er fühlte sich unendlich verloren und allein.
Verwirrt und niedergeschlagen folgte er dem grauen Mann zu einer Flügeltür, die zu einem Saal führte. Als Miklos in diesen hineintrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Augenblicklich wurde es absolut still und hundertdreizehn Jungen jedes Alters schauten ihn neugierig an. Man hätte eine Stricknadel fallen hören können, obwohl der Saal sehr groß und bis auf die letzte Ecke mit Tischen und Bänken zugestellt war. Es war gerade Abendbrotzeit und alle schauten gebannt auf Miklos, der nur zögerlich der Aufforderung nachkam, auf einer der Bänke Platz zu nehmen. Nach und nach widmeten sich alle anderen wieder ihren Schüsseln. Einer stellte Miklos einen Teller mit Essen hin, aber in sich versunken, war das Einzige, dessen er gewahr wurde, das Klappern der Bestecke um ihn herum.
Weil er nicht fähig gewesen war, auch nur einen Bissen hinunterzubringen, stand er nach dem Abendbrot mit knurrendem Magen im Amtsraum von Direktor Ebel. Dieser war älteren Semesters, groß gewachsen, sein Körper hager und hart. Eine spitze Nase und ein verhärmter Mund lagen eingebettet in humorlosen Gesichtszügen, die es seinem Gegenüber schwer machten, an das Gute im Menschen zu glauben.
Ungeachtet der schlimmen seelischen Zustände der Jungen, die hierhin kamen, hatte Ebel in den vielen Jahren seiner Tätigkeit in dieser Einrichtung nie den Idealismus verspürt, für irgendwen den Vater zu spielen. Viele der Jungen waren irgendwo aufgegriffen worden, hatten ihre Eltern verloren, waren verstört, unsicher, nicht selten aggressiv und verroht. Ihr Leid war unabänderlich und ein Tribut an die Realität, wie er sich auszudrücken pflegte.
Um ein geordnetes Auskommen aller zu ermöglichen, achtete Ebel auf die Einhaltung strenger Regeln. Den Rest überließ er der natürlichen Auslese, was dazu führte, dass kein Neuankömmling lange Zeit hatte zum Trauern. Die meisten hier waren raue Burschen, die nichts Anderes kannten als das Recht des Stärkeren, weswegen man auch den Neuen nichts vorzumachen brauchte. Je eher sie sich diesem unausgesprochenen Gesetz beugten, desto besser.
Der Direktor musterte Miklos wortlos eine Weile, der wie ein verletztes Wild stumm und unbeweglich den Boden anstierte. Endlich brach Ebel sein Schweigen, sprach floskelhaft sein Beileid aus, redete lapidar über die Gepflogenheiten der Anstalt und entließ Miklos alsbald wieder. Der Mann im grauen Kittel führte ihn durchs Treppenhaus in den oberen Stock zum Schlafsaal. Miklos nahm die Jungen, die auf der Treppe und im Gang umherliefen und spielten, kaum wahr.
Der Graukittel blieb an der Tür zum Schlafsaal stehen, als wäre es ein Feld, das er nicht betreten wollte. Miklos warf einen flüchtigen Blick in den schmucklosen Raum, der mit mehreren Bettreihen bis auf die letzte Ecke vollgestellt war.
Der Mann wandte sich an einen der Jungen.
„Hol Lupio!“, befahl er.
Lupio Montabans Vater war ein schwerreicher Adeliger aus der Küstenregion gewesen, der ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen seines Hofes gepflegt hatte. Als es schwanger wurde und dies nicht mehr verbergen konnte, ließ er es fortjagen. Ein paar Monate nach der Geburt war die junge Frau auf dem Weg in Richtung Triamor an den Strapazen und den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Berittene ausländische Händler hatten zufällig das schreiende Baby in der Nähe der Handelsstraße entdeckt und mitgenommen. In Triamor angekommen, drückten sie gleich am Stadttor das kleine Bündel in die Hände eines verdutzten Wachmannes, der nur „Mutter… - … tot“ verstand. Auf die Frage des Wachmanns, wie der kleine Knabe denn hieße, nannte der junge Kaufmann, der die Sprache schlecht beherrschte, seinen eigenen Namen: Helumbio Monvatan. Jemand brachte das Baby zum Waisenhaus, aus Helumbio Monvatan wurde Lupio Montaban und der Fall war erledigt.
Der kleine Lupio entwickelte sich prächtig und wuchs mit den Jahren zu einem stattlichen Jungen heran. Größer und kräftiger als seine Altersgenossen, waren seine Haare pechschwarz und so dick, dass sie kaum zu bändigen waren. Mit tiefen, dunklen Augen und einem sommers wie winters braunen Teint gesegnet, umwehte ihn der mysteriöse Hauch des Unbekannten und stets Gewollten, was ihn für das weibliche Geschlecht unwiderstehlich machte. Als Kleinkind hatte ihm mal einer der Großen aufgrund einer frechen Bemerkung die Nase krummgehauen. Doch das wirkte eher als natürliche Wachstumskorrektur, unterstrich es doch sein verwegenes Naturell.
Schon früh hatte Lupio gelernt, sich um der Vorteile willen, zumindest für den Moment, mit denen gut zu stellen, die Macht und Sagen hatten. Zu den Erwachsenen in der Anstalt war er nicht unfreundlich und hielt sich augenscheinlich an die Regeln. Allerdings war er jederzeit bereit, ihnen das Messer in den Rücken zu rammen. Denn Moral war ihm schlichtweg unbekannt, genauso wie Reue oder Scham, die er als Schwäche ansah. Für ihn war das Leben nur ein Spiel, in dem er sich nahm, was er kriegen konnte, und da heiligte der Zweck stets die Mittel. Zu all dem war Lupio enorm gerissen und alles andere als feige. In der Rangfolge der Jungen im Waisenhaus nahm er uneingeschränkt den obersten Platz ein, und den hatte er sich wahrlich meisterlich erkämpft durch Intrigen und nicht minder anhand purer Kraft und Brutalität. Einmal hatte er sich zwei seiner härtesten Konkurrenten gleichzeitig im Kampf gestellt. Sie hatten ihn unter einem Vorwand in den Keller gelockt. Statt zu versuchen zu fliehen, als er die Gefahr erkannte, hatte Lupio nur gegrinst, die Tür unter den verdutzten Gesichtern seiner beiden Gegner von innen zu gesperrt und den Schlüssel in die Hosentasche gesteckt. Alle drei waren übel zugerichtet gewesen, aber die Tür hatte der junge Montaban aufgeschlossen. Von da an hatte sich niemand mehr getraut, ihn herauszufordern.
Da er am längsten von allen im Waisenhaus war, hatte er schon viele Jungen, so wie jetzt Miklos, kommen und gehen sehen, und dabei gelernt, sie auf den ersten Blick einzuschätzen. Lupio beobachtete Miklos von dem Moment an, als dieser den Essenssaal betreten und sich unweit von ihm hingesetzt hatte. Neben dem verunsicherten Äußeren erkannte Lupio sofort, dass ein aufgeweckter und fähiger Mensch angekommen war, der, sobald sich Trauer und Verwirrung aufgelöst haben würden, sich allein ob seiner Intelligenz von den anderen unterscheiden würde.
Lupio war der Anführer in dem Heim und die anderen taten was er sagte, aber eben das war auch sein Problem. Sie alle waren nur seine Erfüllungsgehilfen, deren rohes Gemüt dem Stärkeren gehorchte. Niemand war an seiner Seite. Er hatte keinen gleichwertigen Freund oder besser gesagt, keine Nummer zwei neben sich, die er, soweit es Lupio überhaupt möglich war, ins Vertrauen ziehen konnte.
In der Vergangenheit hatte er sich schon einige Male darüber Gedanken gemacht und war zu dem Schluss gekommen, dass bisher einfach niemand das Zeug dazu gehabt hatte, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.
Dieser Miklos jedenfalls war ihm auf Anhieb sympathisch, und Lupio sah in dessen Augen etwas, das er bisher noch bei keinem anderen der Jungen gesehen hatte.
Weil Lupio noch niemals in seinem Leben jemanden geliebt hatte außer sich selbst, war die Trauer um einen anderen Menschen für ihn etwas Fremdes. Ja, mehr noch sogar, sie war wie eine Krankheit, die man abschütteln musste. Und obwohl Lupio das Leid in Miklos‘ Augen als Schwäche ansah, würde er warten, bis sich dieser davon befreit hatte, um zu sehen, ob seine Einschätzung dieses Neulings richtig war.
In einer schlaflosen Nacht, in der Miklos Gedanken an seinen Vater, seine Mutter und Geschwister durch den Kopf gingen, war er unfähig zu weinen. Ein großes Nichts war in ihm und taumelnd ergab er sich dem Leid. Der Glaube an das Gute, der in seinem Seelengrund gekeimt hatte, das Vertrauen in das Leben - alles dahin. Einzig die wie Lichtblitze einfallenden Gedanken an Elana hielten ihn davon ab, zum Fenster zu gehen und sich kopfüber nach unten zu stürzen. Die erschütternden, bis ins Tiefste seiner Seele eindringenden Schicksalsschläge rissen ihm den Boden unter den Füßen weg. Kein Ausweg, kein Licht, kein Halt. Obwohl Bett an Bett mit den anderen Jungen eingepfercht, trieben die kalten, fremden, weißgetünchten Wände des Schlafsaals die Urangst des Alleinseins an die Oberfläche seines verlorenen Gemüts. Mit bangem Unglauben hoffte Miklos, aus diesem Alptraum zu erwachen. Aber sein Vater war und blieb tot. Fragen gingen Miklos durch den Kopf. Was würde aus ihm werden? Wo genau war er überhaupt? Wie würde sein Leben aussehen? Wussten Elana und Marek, was geschehen war? Wie sollte er die beiden treffen?
Im Gang läutete die Glocke und augenblicklich wurde es im Saal geschäftig. Jungen sprangen aus ihren Betten, nahmen Tücher und Seife und gingen in den angrenzenden Waschraum.
Miklos zog gerade die Decke über den Kopf, als Lupio neben seinem Bett auftauchte.
„Guten Morgen“, sagte dieser freundlich.
Miklos schielte mit zusammen gekniffenen Augen unter der Decke hervor.
„Um fünf Uhr dreißig klingelt die Glocke, um sechs Uhr ist Morgenbrot. Kommst du um sechs Uhr eins, gehst du leer aus und machst den Abwasch!“ Lupio grinste.
Miklos hatte bereits Kopfschmerzen vor Hunger und sein Magen ließ im selben Moment ein lautes Knurren von sich hören. Wohl oder übel – er musste aufstehen. Unmotiviert rollte er sich zur Seite und setzte sich auf die Bettkante.
„Hab ich mir doch gedacht, dass das Bewegung in deine müden Knochen bringt.“ Lupio klopfte Miklos beherzt auf die Schulter.
Beim Essen war strikte Ruhe geboten. Wer dagegen verstieß, musste den Saal verlassen - natürlich ohne Essen. Miklos begrüßte das sehr, da ihm der Sinn sowieso nicht nach Reden stand.
Die anderen Jungen zwinkerten sich belustigt zu als sie sahen, wie er das Essen in sich hineinschaufelte. Die Portionen waren nicht gerade üppig und Miklos schaute sich bald gierig um, ob nicht irgendwo noch ein Stück Brot oder Wurst zu ergattern wäre. Seine direkten Nachbarn senkten die Köpfe und legten zum Schutz die Arme um die Schüsseln. Lupio saß am Kopfende der Tafel und hatte alles mit einem Schmunzeln verfolgt. Er nickte kaum merklich einem schmächtigen Jungen zwei Sitzplätze weiter zu, der dann mit missmutiger Miene Miklos von seiner Ration reichte. Der hatte von dem Vorgang nichts mitbekommen und bedankte sich bei dem vermeintlich edlen Spender, was dieser mit einem gezwungenen Zucken des Mundwinkels quittierte.
Als Direktor Ebel das Waisenhaus übernommen hatte, war die Anstalt in der Nachbarschaft alles andere als beliebt gewesen. Die Jungen hatten gestohlen und allerlei Unsinn angestellt. Fast täglich hatte sich die Stadtwache mit aufgebrachten Ladenbesitzern oder Nachbarn eingefunden. Aufgrund dessen hatte der Direktor einen eng getakteten Zeitplan entworfen, der die Jungen am Tage durchgehend beschäftigte. Nachbarn und umliegende Händler hatte es ihm gedankt.
Die Jungen hatten die Anstalt sauber zu halten, wuschen Wäsche, arbeiteten im, an das Haus angrenzenden Gemüsegarten, verrichteten kleine handwerkliche Arbeiten und ein paar Stunden in der Woche lernten sie Lesen und Schreiben. Ab Mittag wurden sie umliegenden Geschäften wie auch einer nahe gelegenen Schlachterei als Helfer für einfachste Arbeiten zugeteilt. Der Großteil des Lohns ging in Ebels private Tasche. Um acht war Abendessen.
Die Waisenanstalt lag am südöstlichsten Punkt der Stadt, nahe der Stadtmauer. Zu Elana und Marek brauchte es nahezu eine Stunde und die hatte Miklos am Tage nicht. Außer sonntags, wo ab Mittag jeder machen durfte, was er wollte – so es denn niemandem Ärger bereitete.
Beiläufig hatte Lupio gegenüber Miklos erwähnt, dass der Direktor bei Unpünktlichkeit oder Vernachlässigung der Pflichten sehr unangenehm werden konnte. Miklos waren sowohl der Zeitplan als auch der Direktor egal. Er musste seine Freunde sehen, mit jemandem reden. Getrieben von Sehnsucht und Verzweiflung machte er sich nach dem Mittagessen aus dem Staub. Elana und Marek, die von ihrem Schulleiter über die Ereignisse informiert worden waren, befanden sich gleichfalls nach der Schule auf dem Weg zum Waisenhaus.
Wie durch ein Wunder erblickte Miklos Elanas rotbraunen Lockenkopf inmitten der Masse auf dem voll belebten Rathausplatz und stürzte ihr schluchzend in die Arme.
Die drei setzten sich abseits, gegenüber eines Brunnens auf eine Bank, und Miklos fand Erleichterung im Gespräch mit seinen Freunden. Die Kirchturmuhr schlug bereits acht, als sich Marek taktvoll abwendete, um den beiden bei der Verabschiedung Raum für Intimität zu geben. Elana gab Miklos einen innigen Kuss und schaute ihm lange in die Augen. Gefühlvoll strich sie durch sein blondes, schulterlanges Haar und sagte, dass sie ihn liebe. Mit tief ergriffenem Gemüt und blutendem Herzen rannte Miklos zum Waisenhaus zurück, das er keuchend und mit brennender Lunge erreichte. Auf sein Klopfen öffnete Lupio die Tür, der sich zufällig gerade im Eingangsbereich mit ein paar anderen Jungen unterhielt und Miklos amüsiert begrüßte.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu rennen“, sagte er. „Habe dich versucht zu decken. Hat aber nicht geklappt.“ Er hob dabei wie zur Entschuldigung die Schultern.
Miklos rang, seinen Oberkörper auf die Knie abstützend, nach Luft. „Und was passiert jetzt?“
„Ich soll dich sobald du dich blicken lässt zum Direktor bringen. Der wird sich schon was einfallen lassen.“ Lupios Lächeln verursachte ein unangenehmes Ziehen in Miklos‘ Lenden.
Gerade als Direktor Ebel sich den verdienten Feierabend gönnen wollte, klopfte es an seiner Tür.
„Herein!“, rief er ärgerlich und augenblicklich betrat Lupio, mit Miklos im Schlepptau, den Raum. Die Gesichter der beiden Jungen standen im großen Kontrast zueinander. Lupio grinste bis über beide Ohren, während Miklos etwas ängstlich dreinschaute.
Für Lupio war der Neue nach wie vor ein Studienobjekt. Direktor Ebel würde ihm wahrscheinlich Stockschläge verabreichen, und Lupio war neugierig, wie Miklos diese wegstecken würde.
Lapidar hatte Lupio, kurz bevor sie in das Büro getreten waren, erwähnt: „Wird schon nicht so schlimm werden.“
Der Direktor gab ein gespieltes Maß an Anteilnahme für Miklos‘ Situation zum Ausdruck, aber erklärte emotionslos, dass die Regeln trotzdem um jeden Preis eingehalten werden müssten. Um auch Miklos‘ Verständnis dafür zu wecken, untermauerte Ebel sein kurzes Plädoyer mit zwanzig Stockschlägen auf dessen Allerwertesten. Lupio war zugegen als der Direktor, wie er sich später amüsiert ausdrückte, „den Taktstock schwang“. Neugierig beobachtete er das Konzert, bei dem Miklos sich stumm auf die Lippen biss.
In den darauffolgenden Tagen hatte Miklos Probleme zu schlafen, was sowohl an seinem schmerzenden Hinterteil als auch daran lag, dass er sich an sein neues Leben gewöhnen musste. Die vielen Aktivitäten, die er mitzumachen hatte, gaben ihm immerhin Struktur und es war nicht die Zeit übrig, viel zu grübeln. An seinem freien Tag nahm Miklos‘ Seele in tiefer Dankbarkeit die segnende Liebe Elanas in sich auf, während Marek Witze über seinen Hintern riss. Als ihr Beisammensein sich dem Ende neigte, war es Elana, die darauf achtete, dass Miklos pünktlich zum Abendbrot wieder zurück war.
Obwohl das Leben im Waisenhaus ihn in vielen Bereichen forderte, fing sich Miklos in den folgenden Monaten. Die Trauer um seinen Vater machte ihm noch oft das Leben schwer, doch arrangierte er sich mit den Umständen, die er als unabänderlich akzeptieren musste. Was ihn ständig bedrückte, war das Gefühl des Alleingelassenseins. Ihm fehlten die Mutter, der Vater. Der Halt und die Ratschläge, die sie ihm gegeben, die ihn bisher durch sein Leben geleitet hatten. Miklos würde vor allen Entscheidungen ohne ihre Hilfe stehen. Dies und die Ungewissheit über seine Zukunft machte ihm Angst und lastete immer schwerer auf ihm.
Jemand zupfte Miklos am Arm. Ist die Glocke defekt?, fragte er sich benommen. Als er die Augen öffnete, konnte er im Halbdunkel schemenhaft das Gesicht Lupios erkennen.
Sie hatten sich in den letzten Monaten angefreundet und bis auf die Sonntage, an denen er sich mit Elana und Marek traf, jede freie Minute miteinander verbracht. Miklos fand Gefallen an Lupios selbstbewusster Art, die auf ihn abstrahlte, ihm Auftrieb gab, und ihm half, positiver in die Zukunft zu schauen.
Lupio herrschte über die anderen Jungen im Waisenhaus. An seiner Seite bekam Miklos einen Vorgeschmack davon, wie es ist, in der Hierarchie oben zu stehen. Als Lupio gespürt hatte, dass Miklos psychisch wieder voll erholt war, war er ein Stück von ihm abgerückt. Miklos musste sich selbst beweisen und seinen Platz in der Hierarchie verteidigen, denn einen Schwächling hätte Lupio nie gleichrangig neben sich geduldet.
Als die anderen Jungen, in denen es bereits brodelte, merkten, dass Lupio sich nicht länger in Miklos‘ Angelegenheiten einmischen würde, war die Herausforderung prompt gekommen. Fast alle Auseinandersetzungen wurden im Waschraum ausgetragen. Abends nach dem Essen, wenn die Jungen frei hatten, bevor es zur Bettruhe ging, kam es oft zu Rangkämpfen. Draußen auf dem Flur sorgten ein paar von den Jüngeren dafür, dass es ein bisschen lauter war, während andere die Tür blockierten. So war man unter sich und niemand von den Erwachsenen bekam etwas mit.
Über das Becken gebeugt war Miklos gerade dabei gewesen, sein Gesicht zu waschen, als ihm jemand einen nassen Lappen quer über den Rücken schlug. Verdutzt hatte er aufgeblickt. Einer der Jungen hatte sich vor ihm aufgebaut. Die Pose eindeutig. Sofort war am Eingang ein Gedränge entstanden, jeder wollte sehen, was passieren würde. Miklos‘ Blick war auf Lupio gefallen, der in einer Ecke stand. Auf seinem Gesicht war deutlich zu lesen gewesen, dass er ebenfalls neugierig war, wie der Kampf ausgehen würde.
Obwohl Miklos Gewalt nicht mochte und es gegen sein Naturell ging, hatte er erkennen müssen, dass er ohne diese in der Rangfolge ganz nach unten fallen würde, und die Aussicht zu den, wie sich Lupio ausdrückte, Gossenleckern zu gehören, missfiel ihm sehr. Sein Gegner war ein roher Schläger. Klein, aber kräftig, mit einem Stiernacken und platter Nasenwurzel, hatte Miklos gegen ihn nicht die besten Chancen. Allerdings war Miklos vom Leben so enttäuscht, hatte so viele Schläge einstecken müssen, dass sich innerhalb dieses einen Moments der ganze Frust und alle Enttäuschung in einem unsagbaren Ausbruch von Aggression entluden. Ohne zu zögern war er mit solcher Heftigkeit auf seinen Gegner zugestürzt, dass dieser, wie auch alle Umstehenden, überrascht wurde. Rasend vor Wut, ohne die geringste Rücksicht auf sich selbst, hatte Miklos wie wahnsinnig, so entschlossen und unerbittlich zugeschlagen, dass er zum größten Erstaunen der meisten den Kampf für sich entschieden hatte. Die Verwandlung innerhalb eines Augenblickes vom eher ruhigen, freundlichen Kerl in ein wildes, unberechenbares Monster war so vollkommen gewesen, dass Miklos sich durch diesen einen Kampf aller Ambitionen der anderen Jungen ihn herauszufordern, entledigte. Niemand wollte gegen einen Wahnsinnigen kämpfen.
„Zieh dich an“, flüsterte Lupio leise und machte eine Kopfbewegung zum Zeichen, dass Miklos ihm folgen solle. Der hatte gelernt, weniger Fragen zu stellen, schälte sich benommen aus dem Bett und zog wankend Hose und Hemd an. Sie bahnten sich einen Weg hinaus aus dem Schlafsaal. Im Korridor angekommen, gingen sie wie auf rohen Eiern vorbei an der großen Treppe zu einem Wirtschaftsraum am anderen Ende des Gangs. Zu Miklos‘ Verwunderung kramte Lupio einen Schlüssel hervor und öffnete leise die Tür. Miklos konnte kaum die Hand vor Augen sehen, hingegen Lupio sich bestens auskannte. Schließlich gelangten sie an ein Fenster, durch das blasser Lichtschein drang. Wie selbstverständlich öffnete Lupio es und sprang auf den Sims.
Schlaftrunken fragte Miklos, was er da mache.
„Na, wonach sieht es denn aus?“ Lupio drehte sich auf dem Sims. „Und jetzt halt die Klappe und komm!“, befahl er und hangelte sich geschickt auf das darunterliegende Dach.
Über mehrere Vorsprünge kamen sie zu einem Wasserrohr, an dem sie hinunterglitten. Bald standen sie in einem Innenhof, passierten den Durchgang und befanden sich jäh auf der gepflasterten Straße. „Das ist ja unglaublich!“ Miklos fühlte sich wie nach einem Gefängnisausbruch.
Lupio schaute sich verstohlen um und legte den Finger auf die Lippen. „Leise, Mann!“
„Wo gehen wir denn hin?“ Miklos war aufgeregt wie ein Kind im Angesicht eines Weihnachtsbaums.
„Geduld, Geduld!“, presste Lupio hervor.
Vor den meisten Fenstern der Anstalt waren Gitter angebracht und es gab nur eine Vorder- und eine Seitentür. Das machte das Haus zu einem Gefängnis. An die Hauptschlüssel gab es kein Herankommen, außer an jenen des Wirtschaftsraums im oberen Stock. Lupio hatte mal die Gelegenheit gehabt, ihn „auszuleihen“, und eine Kopie des Schlüssels angefertigt.
So gingen die beiden in lockerer Unterhaltung in Richtung Hafen. Miklos wunderte sich, dass ihnen trotz der späten Stunde noch so viele Menschen begegneten. Lupio bog zielsicher mehrfach ab bis sie an eine zwielichtig aussehende Schänke gelangten mit dem Namen Bootsmann. Ohne ein Wort zu verlieren, öffnete Lupio die Tür, die hinter ihm wieder zuschlug. Miklos zögerte. Ein paar Sekunden später wurde die Tür von innen aufgestoßen und Lupio stand erneut im Eingang.
„Wo bleibst du denn?“, fragte er verständnislos. „Komm rein!“
Trubel und Lärm prallten mit solcher Wucht auf Miklos, dass er einen Schritt nach hinten wankte. Die spärlich flackernden Fettlampen an den Wänden verursachten in der von Schweiß und schwerem Rauch geschwängerten Luft ein infernales Spektakel. Die Spelunke bestand aus einem einzigen hoffnungslos überfüllten Raum, in dem sich ein Sammelsurium der untersten Gesellschaftsschichten Leib an Leib vergnügte. Ein bis an die Zähne mit Instrumenten bewaffnetes Dreimann-Orchester rang, in einem verzweifelten Kampf ohne Regeln, mit den Gästen um die Klangherrschaft im Raum. Die gesamte rechte Seite wurde vom Schanktisch eingenommen, an dem Gäste ihre Bestellungen genervten Wirtsleuten in die Gesichter schrien. Alle waren betrunken. Mit zittrigem Fuß setzte Miklos, gleichermaßen schockiert wie fasziniert, seinen ersten Schritt in den Bannkreis einer ihm bislang unbekannten Welt.
Während Lupio sich wie selbstverständlich einen Weg durch die Menge bahnte, hatte Miklos alle Mühe, an ihm dranzubleiben. Am Ende des Schanktisches stand ein bulliger Glatzkopf mit einer brutalen Visage. Bar aller guten Eigenschaften, die man auf dem Gesicht eines Menschen ablesen kann, verrieten seine finsteren Augen, dass er immerhin der einzige im Raum ohne Alkoholproblem war. Zuerst nahm Miklos an, der Typ müsse auf einer Art Podest stehen. Doch bei näherem Hinsehen wurde klar, der Mann war ein Riese. Sein Kopf reichte bis an die Decke.
Der Koloss verzog verächtlich das Gesicht als er Lupio erblickte, machte aber, wenn auch widerwillig, einen Schritt zur Seite und gab eine Tür frei, die vorher von seinem massigen Körper verdeckt worden war.
Lupio sagte im Vorbeigehen was zu ihm und deutete dabei auf Miklos. Bei dem löste der Blick des Riesen augenblicklich einen Fluchtreflex aus, jedoch konnte er sich ermannen und Lupio folgen. Nach Passieren eines kleinen Zwischenkorridors kamen sie in einen Salon, der Miklos, dessen Augen aufgrund des Qualms angefangen hatten zu tränen, vollends verblüffte. Hatten sie sich eben durch den Morast einer üblen Hafenkaschemme gekämpft, standen sie nun in einem höchst edel eingerichteten Glücksspielhaus. Miklos rieb sich seine juckenden Augen als könne er nicht glauben, was er sah. An mehreren Arten von Spieltischen standen oder saßen in teure Tücher gewandete Herren und Frauen in eleganten Kleidern. Der Boden war bedeckt mit dicken Teppichen, auf denen Miklos selbst in seinen klobigen Schuhen sich wie auf Moos wandeln fühlte. Sessel und Sofas waren mit schwarzem Leder bezogen. Servierer kredenzten auf silbernen Tabletts Getränke in regenbogenschimmernden Gläsern. Am Ende des Raumes befanden sich Séparées, von denen manche durch schwere rote Vorhänge verdeckt waren. Der Kontrast zwischen den beiden Räumen hätte nicht größer sein können.
Lupio wandte sich selbstsicher, mit dem ihm von der Natur gegebenen Herrscherinstinkt eines jungen Löwen, nach links, ging zielstrebig um eine Ecke herum und lehnte sich in einer dunklen Nische gegenüber einer Tür gegen die Wand. Miklos folgte ihm wie ein Schaf, dessen letzte Stunde geschlagen hatte. Offensichtlich warteten sie auf etwas und Miklos, der sich nicht getraute, auch nur einen Ton von sich zu geben, hatte Zeit, sich etwas zu sammeln und genauer umzuschauen. Er zählte insgesamt acht große Tische, an denen etliche Männer und Frauen spielten. Was gespielt wurde, konnte Miklos nicht sagen, aber es lagen viele Gold- und Silbermünzen auf den Tischen, die im Licht der Kristallkronleuchter verführerisch funkelten.
Miklos schämte sich seiner lumpigen Kleidung, die im großen Gegensatz zu der der Gäste stand. Lupio machte sich offensichtlich darüber keine Gedanken. Er trug seine abgewetzte, löchrige Hose und seine durchgelaufenen Schuhe in der Gewissheit, dass der Tag nicht fern war, an dem er vom besten Schneider der Stadt eingekleidet werden würde. Aber nicht nur das. Lupio wusste, dass auch der Tag kommen musste, an dem er all diesen Menschen an Macht und Gold überlegen wäre. So viel war sicher.
Gerade als Miklos doch etwas bemerken wollte, öffnete sich die Tür vor ihnen. Ein Mann lugte heraus und nickte Lupio wortlos zu. „Bin gleich wieder da.“ Sprach‘s und verschwand.
Miklos hatte keine Zeit zu protestieren. Der Ohnmacht nahe war er heilfroh über das schummrige Licht in der Nische, stand mit schlotternden Knien und hochrotem Kopf an der Wand und suchte hektisch seine strubbeligen Haare glatt zu streichen. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit betrat Lupio erneut die Bildfläche und sie hasteten zum Ausgang. Im Korridor klopfte Lupio an die zweite Tür, die der Riese von außen öffnete. Diesmal bahnten sie sich nicht mehr den Weg durch die Spelunke, sondern gingen durch eine dritte Tür, durch die sie direkt in einen Innenhof gelangten. Der Riese machte hinter ihnen zu.
Als Miklos mit verwirrter Seelenwelt und weit aufgerissenen Augen endlich im Bett lag, war an Schlaf nicht zu denken. Der Bootsmann! Intensiv, laut, furchteinflößend. Das Glücksspielhaus! Maßlos, verschwenderisch, edel. Männer mit Geld und teuren Gewändern. Wunderschöne, elegante, begehrenswerte Frauen. Gerade sie übten auf Miklos eine Faszination aus, die er sich nicht erklären konnte. Und nicht minder das viele Geld. Miklos‘ Seele war hart getroffen. Der Bootsmann, das wusste er, war eine Welt, die er sicherlich früher oder später mal kennengelernt hätte. Aber das Glücksspielhaus? Das war etwas ganz anderes. Es hatte weit außerhalb seiner Vorstellungskraft gelegen. Auch seine Sicht auf Lupio, der sich so selbstsicher in einer Welt bewegte, die Miklos bisher völlig unbekannt gewesen war, ging auf in einer Woge aus Neid und Bewunderung. Miklos fragte sich, mit wem Lupio sich da getroffen hatte in dem Hinterzimmer. Doch so viel er auch in den Tagen danach fragte, Lupio war ihm immer ausgewichen, und so hatte Miklos irgendwann die Sache auf sich beruhen lassen.
„NEIN, Miklos!“ Elanas Stimme klang energisch.
„Liebst du mich denn nicht?“, fragte er hitzig.
„So auf jeden Fall nicht“, erwiderte sie ärgerlich, während sie ihre Bluse wieder herunterzog. Sie rutschte zur Seite, stand auf und knöpfte sich den Umhang zu.
„Ich muss jetzt gehen“, log sie, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Miklos schwieg.
Die beiden hatten es geschafft, sich in den letzten Monaten, zusätzlich zu Miklos‘ freiem Tag, auch noch in der Woche zu treffen, wobei Elana es auf sich nahm, durch die ganze Stadt zu laufen, um mit Miklos die freie Stunde vor dem Abendbrot zu verbringen. Sie hatten sogar darüber gesprochen, ihr Leben gemeinsam zu verbringen, zu heiraten. Elana hatte erlebt wie liebevoll Miklos war. Dazu war er groß und stattlich, sah gut aus und war intelligent genug, trotz aller Rückschläge, etwas aus seinem Leben zu machen. Auch war er stets respektvoll, höflich und zuvorkommend. Ein Partner, auf den sie sich verlassen konnte. Allerdings musste sie zugeben, dass sich sein Wesen in der letzten Zeit spürbar verändert hatte und den besten Beweis hatte er heute geliefert. Miklos wollte jetzt mehr von ihr als nur Liebkosungen und mit seinen Forderungen wurde er zunehmend drängender, geradezu energisch.
„Sehen wir uns am Sonntag?“ Obwohl sie erbost war darüber, wie ernst sie ihn hatte zurückweisen müssen, wollte sie sich nicht im Streit verabschieden.
„Hm...“ Miklos schaute uninteressiert zu Boden. Er war bockig wie ein kleines Kind, das seinen Willen nicht bekommen hatte.
Als Elana schließlich nach Hause ging, war sie immer noch verärgert über Miklos‘ Zudringlichkeit. Mehrfach hatte er sich über ihre mehr als deutlichen Neins hinweggesetzt und sich dann auch noch kühl von ihr verabschiedet. Sie zog den Umhang an ihrem Hals zusammen, atmete tief durch und verscheuchte alle nagenden Gedanken.
Miklos war hin und her gerissen. Lupio hatte ihm in den letzten Monaten oft von seinen Frauengeschichten erzählt und sich dabei über ihn lustig gemacht.
„Soll ich dich mal mit einer richtigen Frau bekannt machen?“, hatte er Miklos provoziert.
Hin und wieder war Miklos auch mit Marek unterwegs, dessen Anwesenheit sich positiv auf ihn auswirkte. Elanas Bruder strahlte nicht nur Lebensfreude, sondern auch Aufrichtigkeit aus, was es Miklos einfacher machte, sich auf die Werte zu besinnen, die er kannte. Doch das Leben im Heim war nicht einfach und die Zeit mit Elana und Marek begrenzt.
Es war wie ein Tauziehen um Miklos‘ Seele. Auf der einen Seite Elana und Marek und auf der anderen Lupio. Beide Seiten vertraten völlig unterschiedliche Lebensauffassungen, was Miklos verwirrte und mehr und mehr unter Druck setzte.
Lupio war ihm in einer anderen Art ein Freund. Alles was er tat und sagte, übte auf Miklos eine immer größere Faszination aus, die ihm früher unbekannt gewesen war. Lupio gab ihm Sicherheit und der Weg, den er Miklos vorlebte, versprach Freiheit und Leichtigkeit. Bei Lupio sah alles einfach aus. Sein Leben funktionierte von ganz allein. Sorgen kannte er nicht, weil er genau wusste, was er wollte und es sich einfach nahm. Da gab es kein Straucheln, kein Wanken. Nein, bei Lupio ging alles glatt. Und es ging nicht nur um das Thema Frauen, auch Gold und Geld bekam immer mehr einen Stellenwert in Miklos‘ Leben. Sich Dinge leisten zu können, die er sah beziehungsweise die ihm Lupio zeigte und die er immer brennender begehrte, rückte in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. Im nächsten Sommer musste Miklos, so lauteten die Regeln, mit sechzehn das Heim verlassen, sich Arbeit suchen und auf eigenen Beinen stehen. Aber wie sollte er jemals so viel Geld verdienen, um sich die Sachen kaufen zu können, die er begehrte? Er wollte so sein wie die feinen Herren, die er im Glücksspielhaus gesehen hatte. Und tief in seinem Herzen wollte auch er von schönen Frauen umgarnt werden und ihnen teure Sachen kaufen.
Die dunklen Wolken der Sorgen kamen immer näher und er fand einfach keinen Ausweg. Etwas in ihm suchte auszubrechen, sich zu befreien, doch war die Frage: wie?
„Los Schlafmütze, steh auf!“ Wieder war es mitten in der Nacht. „Wir haben was zu erledigen.“
Miklos sah wie durch einen Schleier Lupios Gesicht vor sich.
Missmutig griff er nach seinen Klamotten. In der letzten Zeit waren beide wöchentlich nachts aus der Enge des Waisenhauses geflüchtet, stundenlang in den Straßen umhergezogen und hatten sich ihre Zukunft ausgemalt. Auf Zehenspitzen waren sie manchmal in die Hinterhöfe der herrschaftlichen Häuser geschlichen und hatte die Menschen beobachtet, die spätnachts noch bei Kerzenschein hinter den Fensterscheiben zu sehen waren. Die Vorstellung, alles tun und kaufen zu können, drang immer mehr in Miklos‘ Herz und sie berauschten sich an den Gedanken an Frauen, Gold und Macht. Obschon sie alt genug aussahen, waren sie doch immer auf der Hut vor den Nachtwächtern, die durch die Stadt patrouillierten. Lupio hatte darauf bestanden, genau herauszubekommen, wer wann wo seine Runde drehte, und so waren sie in der Lage, schon im Vorfeld jeder möglichen unangenehmen Konfrontation aus dem Wege zu gehen.
Als sie auf der menschenleeren Straße angekommen waren, raunte Miklos Lupio an.
„Warum sagst du mir nicht einfach mal vorher Bescheid, anstatt mich jedes Mal aus dem Schlaf zu rütteln!?“
„Weil du dann nicht mitkommen würdest. Und jetzt jammer‘ nicht herum wie ‘n kleines Mädchen.“ Lupio schlug Miklos lachend auf die Schulter.
Er hatte Recht. Miklos hätte wahrscheinlich abgelehnt. Nicht dass es ihm uninteressant war, nachts eine Runde zu machen. Allein der Kitzel war schon die Sache wert. Aber er schlief halt auch gerne und das hätte wohl den Ausschlag gegeben. Überhaupt war er sich sicher, dass Lupio, trotzdem er immer ausgeschlafen aussah, so manches Mal ohne ihn einen Ausflug machte. Vielleicht traf er sich mit Frauen oder ging in den Bootsmann. Miklos konnte es nicht genau sagen, und aus Lupio war in dieser Hinsicht nichts herauszubringen. Wenn Miklos mal seinerseits den Vorschlag machte, lehnte Lupio dies stets kategorisch ab. Er wollte dies offensichtlich selbst bestimmen.
Noch immer ein bisschen benommen, rieb Miklos sich das Gesicht. „Wo geht’s hin?“
„Wirst schon sehen.“ Lupio hielt sich bedeckt bis sie wieder in den Hinterhof des Bootsmann kamen, aus dem gedämpft Musik hervordrang. Lupio ging zielstrebig auf die Tür zu und klopfte an. Nichts tat sich. Dann schlug er mit der Faust so laut dagegen, dass Miklos zusammenzuckte. Endlich wurde die Tür geöffnet und der Riese steckte geduckt seinen Kopf nach draußen. Miklos standen die Haare zu Berge.
Feindselig schaute der Glatzkopf die beiden an: „Ich bin nicht taub!“, zischte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor.
„Ich habe leise geklopft und du hast nicht aufgemacht“, warf Lupio ihm kühn entgegen.
Der Türgriff knirschte unter der Pranke des Riesen. Es war deutlich zu sehen, dass er sich stark zusammennehmen musste, um Lupio nicht einen Faustschlag zu versetzen. Seine Augen glühten einen Moment auf, dann aber drehte er sich nach innen und griff über den Türrahmen. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, lag eine Eisenstange darin.
„Versau es nicht, Hosenscheißer!“, sagte der Riese spöttisch und warf sie Lupio vor die Füße. Zu Miklos‘ großer Erleichterung schluckte sein Kumpel eine Antwort hinunter, hob die Stange auf und schob sie sich in den Hosenbund. Ohne einen weiteren Kommentar verließen sie den Innenhof.
Miklos kannte Lupio mittlerweile recht gut. Hinter der ruhigen Fassade brodelte ein Vulkan, weshalb er erst mal keine Fragen stellte. Nach einer Weile kamen sie in den Innenstadtbereich und Lupio bewegte sich vorsichtiger. Bald übertrug sich seine Spannung auch auf Miklos und sie schlichen wie Katzen durch die Straßen, hier und da bestrahlt vom Mondschein, der zuweilen durch die tiefhängende Wolkendecke brach und wie ein hungriges Gespenst über die kalten Häuserfassaden strich.
Unerwartet blieb Lupio in einem Häuserschatten stehen und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Sie befanden sich im zweiten Ring der Innenstadt, und gerade als Miklos weitergehen wollte, schlüpfte sein Kumpel kurzerhand in einen Häuserzwischengang.
„Lupio!?“
„Schnauze! Komm!“, drang es gepresst aus dem Dunkel.
Es war stockdunkel. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Miklos‘ Herz schlug ihm bis zum Hals, als er versehentlich gegen Lupio stieß.
„Pass doch auf, wo du hintrittst, Hornochse!“ Lupio versetzte ihm mit der flachen Hand einen Wischer über den Hinterkopf. Miklos revanchierte sich mit einem Ellenbogenbuffer in die Seite.
„Aufhören jetzt, und Ruhe, Mann!“ zischte Lupio.
Miklos‘ Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und er sah, dass sie genau vor der Hintertür des Hauses standen. Lupio hielt bereits die Eisenstange in seiner Hand.
„Was hast du vor?“ Miklos konnte nicht glauben was er sah. „Etwa einbrechen?“
„Natürlich nicht.“ Lupios Stimme klang zuckersüß. Und im nächsten Moment fügte er spöttisch hinzu: „WIR brechen ein!“
Er setzte die Eisenstange an das Schloss. „Zieh deine Jacke aus und press sie dagegen. Das dämpft das Geräusch.“
Adrenalin benebelte Miklos‘ Sinne. Er wollte wegrennen, aber schon drückte Lupio das Brecheisen langsam herum. Miklos schaffte es gerade noch, seine Jacke auszuziehen und sie gegen den Ansatz des Eisens zu pressen. Mit einem leisen Knacken sprang die Verriegelung auf. Lupio öffnete die Tür und machte einen Schritt ins Innere des Hauses, wobei er Miklos am Kragen hinter sich herzog.
Lupio schloss die Tür und Miklos wechselte zur Schnappatmung.
„Frag gar nicht erst“, sagte Lupio leise. „Es ist niemand zu Hause.“ „Woher willst du das wissen?“, krächzte Miklos. Eben hatten sie noch einen harmlosen Nachtspaziergang gemacht und nun standen sie im Untergeschoss einer fremden Villa.
„Jetzt hör mir mal zu!“ Lupios Stimme nahm einen gefährlichen Unterton an und er kam so dicht an Miklos‘ Gesicht, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten.
„Wenn du dich jetzt nicht endlich zusammenreißt, da ist die Tür! Du kannst jederzeit geh‘n.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Ich sage dir, es ist niemand zu Hause, und wenn du aufhörst, dich wie eine Heulsuse zu benehmen, werden wir in drei Minuten wieder draußen sein ohne dass jemand etwas merkt.“ Lupio hielt den Zeigefinger vor Miklos‘ Augen. „Also?“
Woher wusste Lupio, dass niemand da war, und überhaupt: Was wollte er hier? Und was hatte der Riese damit zu tun? Tausend Fragen schossen Miklos durch den Kopf, aber am Ende entschied eine einzige Sache. Lupio war ihm ein Freund. Vielleicht nicht in der Art wie Marek es war, aber bisher hatte Miklos sich immer auf ihn verlassen können. Wenn er jetzt ging, brauchte er Lupio nicht mehr unter die Augen zu kommen, so viel war sicher. Also entschied sich Miklos, zu bleiben. Lupio wusste immer einen Weg und er würde sie auch hier heil herausbringen. Deshalb beruhigte er sich und nickte. „Gut.“
Augenblicklich veränderte sich Lupios Gesicht. „Na also, geht doch.“ Er setzte wieder sein strahlendes Lächeln auf und klopfte Miklos aufmunternd auf die Schulter. „Entspann dich und folge mir.“
Sie erklommen auf Zehenspitzen die Stufen zum Eingangsbereich, der mit Steinplatten ausgelegt war und auf denen Miklos das Gefühl hatte, das Dröhnen ihrer Schuhe müsse man bis zum Stadttor hören. Lupio wandte sich zur Seite und betrat einen Raum, in dem schwaches Mondlicht auf einen großen Schreibtisch fiel. Er zog an der Schublade, doch sie war verschlossen. Erneut setzte er die Eisenstange an. Ein leises Knacken und sie sprang auf. Lupio entnahm einen großen Umschlag, besah ihn sich kurz und steckte ihn dann in sein Hemd.
„Das war‘s. Lass uns verschwinden!“ Er schloss die Schublade.