Mond des verharschten Schnees - Waubgeshig Rice - E-Book

Mond des verharschten Schnees E-Book

Waubgeshig Rice

0,0

Beschreibung

Sie haben die größte anzunehmende Katastrophe eigentlich schon hinter sich: Die Familien der Anishinaabe wurde aus ihrer Heimat in ein Reservat im unwirtlichen nördlichsten Teil Kanadas vertrieben, wo die Winter unendlich erscheinen. Doch in diesem Winter überschlagen sich plötzlich die Ereignisse. Die Bewohner des kleinen Städtchens haben einen ausgeprägten Familien- und Nachbarschaftssinn und sind bewandert in Überlebenstechniken wie der Jagd. Aber es gibt auch Konflikte zwischen den Generationen, zwischen Traditionalisten und Erneuerern, Probleme mit Alkohol und eine hohe Suizidrate. Dann droht plötzlich neues Ungemach: Im beginnenden Winter fällt der Strom aus, der spärliche Kontakt zur weit entfernten Außenwelt bricht vollständig ab, die Vorräte schwinden. Damit die Einwohner nicht in Panik geraten, muss der Gemeinderat ständig abwägen, wie viel Wahrheit ihnen zuzumuten ist und wie die Vorräte gerecht rationiert werden können. Aus dem Nichts taucht in dieser angespannten Situation ein unbekannter weißer Ranger auf, der um Einlass in die indigene Gemeinschaft bittet. Schnell stellt sich heraus, dass ihm nicht zu trauen ist, denn er treibt gefährliche Machtspiele. Doch so viel ist sicher: Jeder Winter geht einmal zu Ende.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 281

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die kanadische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

Moon of the crusted snow bei ECW Press in Toronto.

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.

Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.

Wir danken dem Canada Council for the Arts für die Unterstützung der Übersetzung.

E-Book-Ausgabe 2021

© Waubgeshig Rice, 2018

© 2021 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Gemäldes

von David Caesar; www.davidcaesar.com.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143204

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2842 3

www.wagenbach.de

Für meinen Sohn Jiikwis,

der wie ein schönes,

helles Licht

in unsere Zukunft weist.

Erster Teil

DagwaaginHerbst

Eins

Ein Knall rollte durch diese Landschaft hoch im Norden, ein flüchtiger Augenblick der Unrast in der stillen Nachmittagsluft. Nicht weit entfernt fiel ein großer Elchbulle. Evan Whitesky stand auf, warf sich das Gewehr über die rechte Schulter, rückte den neonorangefarbenen Hut zurecht und ging langsam auf seine Beute zu. Einen Augenblick lang überlagerte der Gestank des Schießpulvers den frischen Geruch nach nahendem Winter.

Seine grauen Stiefel schoben sich durch das gilbende Gras der Lichtung. Evan war zufrieden. Seit dem frühen Morgen war er schon unterwegs, und diesen Bullen hatte er seit der Mittagszeit verfolgt. Die Herbstjagd neigte sich dem Ende entgegen, und er wollte noch mehr Nahrung einlagern. Die Lebensmittel aus dem Süden waren teuer. Und sie schmeckten nie so gut wie das Fleisch, das er selbst heranschaffte, was ihn außerdem mehr befriedigte.

Der Elch war tot, als Evan wenige Augenblicke später neben ihm stand. Wuchtige Geweihschaufeln ragten aus dem Kopf. Offen und leer blickten die Augen, und die Zunge des Bullen hing ins Gras. Evan fasste in die rechte Tasche seiner Cargohosen und zog einen kleinen, vom jahrelangen Gebrauch ausgeblichenen und blankgescheuerten Lederbeutel heraus. Er hob ihn auf Brusthöhe und legte ihn sich auf die Handfläche. Mit dem Daumen fuhr er über das kleine Perlenmuster in der Mitte und tastete nach den Stellen, an denen Perlen fehlten. Ich werde Auntie bitten, im Herbst die Stickerei zu erneuern, dachte er.

Evan betrachtete das hübsche Muster: ein schwarzer Bär in einem roten Kreis mit weißem Rand. Mindestens die Hälfte der äußeren weißen Perlen fehlte, und neben dem Bärenkopf und seinen Hinterbeinen prangten kahle Stellen. Er löste den Lederriemen und schnippte sich etwas Tabak in die offene Hand, der aus einer Plastikpackung Zigarettentabak stammte, die er auf der Herfahrt in der Handelsstation gekauft hatte. Bevor er das Haus verließ, hatte er nicht daran gedacht, den trockenen, unbehandelten Tabak aus seinem Medizinbeutel mitzunehmen. Die industriell gefertigten Blättchen schienen aneinander zu kleben. Deshalb schüttelte er das winzige Häufchen kurz in der linken Hand, um es dann mit den Fingern aufzunehmen. Er schloss die Augen.

»Gchi-manidoo«, sprach er laut. »Großer Geist, ich sage dir heute miigwech für das Leben, das du uns geschenkt hast.« Er atmete tief ein und hielt inne. Das war für ihn immer noch ungewohnt. »Miigwech für meine Familie. Und die Gemeinschaft, in der ich lebe. Miigwech dafür, dass wir gesund sind. Chi-miigwech für das Leben, das zu beenden du mir heute gestattet hast, für diesen moozoo, mit dem ich meine Familie ernähren kann.« Es war ihm immer noch unangenehm, dieses Dankgebet bis auf wenige Worte Ojibwe in Englisch zu sprechen. Trotzdem fühlte er sich gut in dem Glauben, dass er auf gewisse Art etwas zurückgab.

Evan bedankte sich für das gute Leben, das er zu führen versuchte. Er entschuldigte sich dafür, nicht fließend in seiner Muttersprache beten zu können, und bat um eine ergiebige Herbstjagd für alle. Er versprach, sich weiter Mühe zu geben, trotz der Versuchung durch all die schlechten Einflüsse um ihn herum, sein Leben in Würde zu gestalten. Er beendete sein Gebet mit einem letzten kräftigen miigwech und krümelte den Tabak vor dem Elch auf die Erde. Das war seine Opfergabe an den Schöpfer und die Mutter Erde dafür, dass sie ihm gestattet hatten, dieses Leben zu nehmen. Auf diese Weise etwas zurückzugeben war Brauch bei den Anishinaabe, wie er ihn verstand.

Sein Kopf war klar. Der Adrenalinschub nach dem Abschuss hielt nur kurz an, ebenso wie seine Gewissensbisse, weil er ein Leben beendet hatte. Evan jagte fast schon sein ganzes Leben. Als er fünf war, hatte sein Vater ihm beigebracht, die Spuren der Tiere im Umkreis ihres Dorfes zu lesen und ihnen zu folgen. Nun, fast zwanzig Jahre später, war er allein unterwegs, auf den Spuren eigener Beute, mit der er seine junge Familie ernährte. Als er noch ein unerfahrener Jäger war, hielten das Mitgefühl und die Trauer nach dem Drücken des Abzugs tagelang an. Inzwischen war er selbst Vater, und die Notwendigkeit überwand Widerstreben und Reue.

Der ist echt riesig, dachte er. Er warf noch einen Blick auf den Elchbullen und kehrte zu der Stelle im Wald zurück, an der er am Morgen seinen Pick-up abgestellt hatte. Er würde das Tier hier zerlegen müssen; es war zu groß, um es ohne Hilfe auf den Anhänger seines Pick-ups wuchten zu können. Manchmal ließ er seine Beute nach der Jagd im offenen Feld zurück und kam am nächsten Tag mit Helfern wieder. Aber diesmal hatte er keine Abdeckplanen oder Decken dabei, mit denen er den Elch zudecken und seinen Geruch vor Raubtieren verbergen konnte. Und die Kühle der Luft sagte ihm, dass er sich beeilen sollte.

Ein tieforangefarbenes Glühen überzog die Landschaft. Die Sonne näherte sich dem Untergang und setzte dem dunklen Immergrün der Kiefern und Fichten, die hinter dem Höhenrücken aufragten, Schlaglichter auf. Während er zu seinem Fahrzeug lief, färbte sich der Himmel in ein dunkleres Blau, und die Luft kühlte weiter merklich ab. Über seinem Kopf brach ein kleiner Gänseschwarm die Stille, klagte über seinen Wanderflug gen Süden. Ich dachte, sie wären schon alle fort. Wenn er mit diesem verspäteten Schwarm gerechnet hätte, wäre er mit seiner Schrotflinte aufgebrochen und hätte der Tagesbeute noch etwas hinzugefügt. Andererseits hatte er bereits einen reichlichen Vorrat gerupfter und halbierter Gänse zu Hause in der Gefriertruhe; es spielte also keine so große Rolle.

Er erreichte seinen Pick-up und stieg ein. Dann drehte er den Zündschlüssel im Schloss. Das schroffe Rumpeln des Motors lärmte über das Feld und jagte den angenehm schrägen Schreien der Gänse hinterher. Er hatte nicht erwartet, so nahe der Stelle, an der er kurz nach Morgengrauen angehalten hatte, auf einen Elch zu treffen. Den Tag über war er ausgedehnte Bereiche des offenen Geländes wie des dichten Waldes abgegangen und hatte schon aufgeben wollen, als er auf seinem Weg zurück zum Fahrzeug eine geeignete Stelle fand, von der aus er eine kleine Lichtung überblicken konnte. Dass er beschloss zu warten, hatte sich gelohnt.

Der Pick-up drückte das hohe Gras platt. In Gedanken überschlug Evan schnell die Fleischmenge, die sie bislang für den Winter zur Verfügung hatten: drei Elche, zehn Gänse, über dreißig Fische (Forellen und Hechte), dazu vier Kaninchen – im Verlauf des Winters sollten aber noch weitere Kaninchen in die Falle gehen. Das war mehr als genug für seine vierköpfige Familie, und er plante, viel Fleisch zu verschenken. So hielt man das in ihrer Gemeinschaft. Er wollte mit seinen Eltern teilen, mit seinen Geschwistern und ihren Familien und mit seiner Schwiegerfamilie. Und außerdem etwas für andere zurücklegen, die vor Winterende vielleicht in Schwierigkeiten gerieten und sich dann nicht mehr das teure Hackfleisch und die Hühnerschlegel leisten könnten, die mit Lkw oder Flugzeug aus dem Süden angeliefert wurden.

Evan schauderte bei dem Gedanken, nur noch abgepacktes Essen zu sich nehmen zu müssen. »Schlechtes Elchfleisch ist immer noch besser als ein gutes Schweinskotelett«, sagte sein Vater immer. Wenn er musste, aß Evan Fleisch aus dem Süden, fühlte sich davon aber abgestoßen. Er hatte als kleiner Junge jagen gelernt, weil es zur Tradition gehörte und auch weil es notwendig war. Jagen war schwieriger, als Fleisch im Laden zu kaufen, doch es war ökonomischer und dankbarer. In erster Linie zählte aber, dass Jagen, Fischen und im Einklang mit der Natur zu sein Brauch bei den Anishinaabe war. Und Evan gab sich Mühe, dieser Tradition gerecht zu werden.

Der Pick-up hielt neben dem toten Elch. Evan schaltete die Zündung aus und griff nach dem grünen Leinensack, der hinter ihm an einem Gestell befestigt war. Er holte vier große Wildsäcke für die kleineren Fleischstücke und die Innereien heraus, warf sie auf den Boden neben dem Tier und zog sein scharfes Klappmesser hervor. Er musste das Tier schnell zerlegen, weil es bald dunkel werden würde.

Als er sich bückte, um einen Hinterlauf aufzuheben und gegen seinen Oberkörper zu drücken, stieg ihm die Geruchsspur des Bullen scharf in die Nase. Zügig und gekonnt begann er auf der Hüftinnenseite zu schneiden. Das Fell ließ sich leicht durchtrennen, und darunter wurden die weißen Sehnen und das blaurote Muskelfleisch sichtbar. Er schnitt weiter, drückte mit der anderen Schulter gegen den Lauf und renkte das Hüftgelenk aus.

Nachdem er das Hinterviertel abgetrennt hatte, schleppte Evan es zur Ladefläche hinüber. Er spürte, wie es in seinen Armen und Schultern brannte, als er das Fleisch über den Rand hievte und auf den Sperrholzboden legte. Nacheinander legte er alle Läufe ordentlich auf der breiten Ladefläche aus, trennte dann das Fleisch von Rücken und Nacken ab, weidete das Übrige aus und füllte es in die Wildfleischsäcke.

Er hatte das Fell nur sehr widerstrebend zerschnitten. Wären sein Vater und einige Cousins oder Kumpel bei ihm gewesen, hätten sie den Elch im Ganzen auf einen Pick-up laden und das Häuten und Säubern zu Hause machen können. Dort hätten sie die Decke säubern und anschließend gerben können, damit sie zu Trommelfellen, Mokassins, Handschuhen und Kleidungsstücken verarbeitet werden konnte.

Als Evan fertig war, hatte sich die Sonne bereits hinter den Horizont geschoben, und es war fast Nacht. Die Fahrt nach Hause war nicht lang, und er kannte diesen Wald so gut wie sich selbst, wollte aber nicht, dass Nicole sich um ihn Sorgen machte, und steuerte deshalb sein Fahrzeug zu dem Pfad zurück, der direkt in sein Dorf führte.

Evan rollte auf den einfachen rechteckigen Kasten seines Hauses zu. Im Wohnzimmer brannte Licht, aber im übrigen Haus war es dunkel. Die Kinder müssen im Bett sein, dachte er. Er zog seinen Jackenärmel hoch und sah auf die Uhr. Es war schon längst Maiingans und Nangohns’ Schlafenszeit. Er würde sie erst am Morgen sehen.

Er fuhr rückwärts an den Schuppen heran, in dem sich ein Gefrierschrank, ein Kühlschrank, ein großer Holztisch, Fanghaken und alles Weitere befanden, das er benötigte, um den Elch zu verarbeiten. Die Nacht würde kalt werden, aber nicht so sehr, dass das Fleisch gefror. Er verfrachtete alles nach drinnen, warf die schwere Tür zu und schloss sie ab, dann ging er ins Haus.

Evan trat durch die Eingangstür in eine ungewöhnliche Stille. Der Flachbildfernseher an der Wohnzimmerwand war ausgeschaltet. Normalerweise sah Nicole sich um diese Zeit eine Sitcom oder einen Krimi an. »Aaniin?«, machte Evan sich bemerkbar und hob dabei die Stimme am Ende des Wortes, als wolle er fragen, was los war.

»Oh, hey«, antwortete seine Partnerin. »Da bist du ja.«

»Hier ist es so still«, erwiderte Evan und zog seine schwere Jagdkluft aus.

»Ja, die Schüssel ist vorhin ausgefallen«, antwortete Nicole und trat ins Wohnzimmer. »Weißnich, was los ist. Muss wohl durch den Wind offline sein oder so.«

»Das ist komisch. Ich hatte erwartet, dass du dich wie immer um diese Zeit auf dem Sofa breitgemacht hast«, stichelte er mit einem verschmitzten Grinsen.

»Schön wär’s. Und wie war’s da draußen?«

»Hab noch nen Elch erlegt.«

»Toll!«

»Ja, hab den ganzen Tag gebraucht. Den Vormittag über hab ich überhaupt nichts entdeckt. Wollte schon aufgeben, da hab ich ihn auf dem Weg zurück zum Pick-up gesehen. Musste ihn draußen zerteilen. Hat länger gedauert als gedacht.«

»Wir können deinen Eltern etwas davon abgeben, oder?«

»Ja, das hatte ich vor.«

Er zog seine Stiefel aus, bevor er auf Socken ins Wohnzimmer trat. »Handy war tot. Hätt dich sonst angerufen, um dir Bescheid zu sagen.«

»Hab ich mir gedacht«, sagte sie.

Evan langte nach dem Ladekabel, das auf dem Beistelltisch neben dem Sofa lag, und schloss sein Handy an. Den schwarzen Kapuzenpullover zog er aus und warf ihn über einen Holzstuhl. Plötzlich bemerkte er, dass er Hunger hatte.

»Hey, wo bleibt meine Süßigkeit?«, neckte Nicole ihn.

»Oh!« Er trat dicht an sie heran, die Lippen übertrieben gespitzt. Sacht legte er seine Hände auf ihre Hüften und gab ihr einen Kuss.

»Hunger?«, fragte sie.

»Ja, ist mir grade erst aufgefallen«, antwortete er. Er hatte sein letztes Sandwich gegessen, kurz bevor er den Elch entdeckte. »Der chi-moozoo hat mich wohl abgelenkt.«

»Ich hab dir einen Teller in den Kühlschrank gestellt. Musst ihn bloß in die Mikrowelle schieben. Hast Glück, dass die Kinder dir was übrig gelassen haben.«

Sie schob ihn sacht zum Kühlschrank, und er nahm den Teller heraus, zog die Alufolie ab und entdeckte einen sparsam gewürzten Hühnerschlegel, Kartoffelbrei und Tiefkühlerbsen. Während er darauf wartete, dass die Mahlzeit warm wurde, knurrte sein Magen.

Evan Whitesky und Nicole McCloud kannten sich schon seit frühen Kindertagen. Anhand seiner Erinnerungen an sie konnte er den eigenen Lebensweg zurückverfolgen und sie umgekehrt ebenso. Er dachte an das erste Mal, als er sie im Sommer, bevor sie in den Kindergarten kamen, im See schwimmen gesehen hatte. Sie trug einen hellblauen Badeanzug und hatte ihr nasses Haar zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Danielle, ihre ältere Schwester, passte auf sie auf. Nicole lachte unterdessen aus vollem Hals.

Das nächste Mal kreuzten sich ihre Wege am ersten Tag im Kindergarten. Noch heute neckte sie ihn mit den peinlichen Klamotten, die er an jenem Tag getragen hatte: einen schlabberigen Overall und ein rotes T-Shirt mit ausgeblichenen gelben Zeichentrickfiguren darauf. Dazu einen Topfschnitt, der seinen Kopf übergroß aussehen ließ. Weil er so schüchtern war, sagte er an jenem Vormittag kaum ein Wort, und kurz bevor der Kindergarten mittags zu Ende ging, weinte er nach seiner Mutter. Mit nassen Wangen und triefender Nase lief er nach Hause.

In einer Gemeinschaft, die so klein wie die ihre war, war es ungewöhnlich, wenn man einander nicht irgendwie kannte. Ihre Eltern waren zwar miteinander bekannt, aber nicht befreundet oder miteinander verwandt – seine Mom und ihr Dad stammten aus unterschiedlichen Reservaten im Süden. Entscheidend war, dass Nicole und Evan nicht verwandt waren, und das bestimmte sie vielleicht dazu, wechselseitige Neugier zu wecken, in der Grundschule Freunde zu werden und ein Paar in der Highschool. Aus zunächst unschuldiger Anziehung entwickelte sich intensive Leidenschaft, und die entfaltete sich schließlich – obwohl sie ein Jahr getrennt waren, während Nicole ein College im Süden besuchte – zu einer liebevollen Partnerschaft, aus der zwei Kinder hervorgingen. Maiingan, das älteste, war fünf und besuchte morgens die Schule. Die dreijährige Nangohns war noch zu Hause bei Nicole.

Es waren die Kinder, derentwegen Evan auf Jagd in den Wald zog. Sie zu ernähren motivierte ihn stets, diese Arbeit zu erledigen. Er hatte noch nicht alle Jagdtage genommen, die ihm auf seiner Mechanikerstelle im Public Works Department der Gemeinde zustanden, und so entschloss er sich, den nächsten Vormittag darauf zu verwenden, den Elch fertig zu zerlegen. Das Piepen der Mikrowelle unterbrach ihn in seinen Gedanken, und er langte nach seinem Teller. Dann setzte er sich Nicole gegenüber an den Tisch.

»Na ja, wenn der Fernseher nicht geht, musst du mich wohl oder übel unterhalten«, sagte er.

»Wir könnten uns tatsächlich mal unterhalten müssen!«, konterte sie. Ihr schwarzes Haar, das er besonders mochte, wenn sie es offen trug, hatte sie zu einem festen, praktischen Pferdeschwanz zurückgekämmt. Sie kniff die braunen Augen zusammen, als sie lachte. Er schmunzelte und fing an zu essen. Dabei achtete er darauf, dass kein Kartoffelbrei in seinem ungleichmäßigen Kinnbart hängen blieb.

»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann es hier zuletzt so leise war wie jetzt«, sagte sie. Er nickte. »Wir sollten den Fernseher und den Computer öfter mal auslassen«, fuhr sie fort. »Und die Kinder rausschicken, solange es noch geht.«

In den kommenden Wochen würden die Temperaturen sinken, und dann würde der Schnee kommen. Kurz darauf würde der See zufrieren, und Eis und Schnee würden sie über die nächsten sechs Monate begleiten. Wie alle Menschen in den vielen Reservaten im Norden würde sie der lange, gnadenlose Winter von der Außenwelt abschneiden und ihre Bewegungsfreiheit auf einen kleinen Radius um das Dorf herum begrenzen, der nur so weit reichte, wie es die halbe Tankfüllung eines Schneemobils erlaubte.

Evan hatte aufgegessen. Unter dem Gewicht der Erschöpfung fielen ihm die Augen zu. Er zog die dichten schwarzen Augenbrauen hoch, um das zu verhindern. »Dieser moozoo hat mich ganz schön geschafft.«

Nicole langte unter dem Tisch hindurch und streichelte seinen Oberschenkel. »Du bist ein guter Mann«, sagte sie. »Du solltest schlafen gehen. Morgen ist wieder ein langer Tag. Meine nookomis sagt immer wieder, dass es diesmal einen rauen Winter geben wird.«

Zwei

Das schnelle, hohe Summen des Weckers weckte sie. Matte rote Ziffern verkündeten, dass es sechs Uhr dreißig war. Weil sie nichts aus dem Kinderzimmer hörte, drückte Nicole auf den Schlummerknopf. Evan drehte sich um, von ihr weg. Das Licht der Morgendämmerung war noch nicht durch die Spalten zwischen den Gardinen gekrochen. Noch hing dunstig der Schlaf im Zimmer.

Wieder summte der Wecker, und diesmal setzte Nicole sich auf und schwenkte die Füße über die Bettkante. Sie stand auf, tastete im Dunkeln nach ihrem Morgenmantel und warf ihn sich über.

»Kümmerst du dich um sie?«, murmelte Evan.

»Ja, mach dir keine Gedanken. Du hattest gestern einen langen Tag. Schlaf ruhig weiter. Ich mach ihnen Frühstück.«

Kurz darauf wachte er vom Geplapper der Kinder in der Küche auf. Er hörte etwas über eine ihrer Lieblingssendungen im Fernsehen, was er aber nur undeutlich verstand.

Die Schüssel wird wohl immer noch nicht wieder funktionieren, dachte er. Normalerweise reden sie nicht so viel.

Auf dem Fußboden entdeckte er ein paar Klamotten und streifte sich eine Trainingshose und ein T-Shirt über. Er blinzelte, als er aus dem Flur in die Küche trat. Die Sonne stand jetzt ein gutes Stück über dem Horizont und schien von Osten her durch das große Panoramafenster.

Nangohns’ Rattenschwänze tanzten, als sie den Kopf in seine Richtung drehte. »Hi, Daddy!«

»Mino gizheb«, antwortete Evan. »Guten Morgen, mein Schatz!« Er trat an den Tisch und küsste sie auf die Stirn. Sie strahlte ihn an, während er sich umdrehte, um seinem Sohn einen guten Morgen zu wünschen. »Hey, Kumpel!« Evan strubbelte das kurze braune Haar des Jungen.

»Guten Morgen, Dad«, antwortete Maiingan. Evan ging in die Küche, küsste Nicole auf die Wange und goss sich einen schwarzen Kaffee ein.

Die Morgensonne umfing die Ahornbäume und Eichen vor dem Haus und überglänzte sie in tiefem Braun und Gold. Die Bäume und einige Wildtiere in der Umgebung bereiteten sich auf den Winterschlaf vor, die Menschen hingegen auf die alljährliche große Prüfung. Manchmal beneidete Evan die Bäume und die Schwarzbären, die den Winter einfach verpassten.

Ein Schluck vom heißen, starken Kaffee schreckte ihn aus seinen Gedanken, und er ging hinüber, um einen Blick auf sein Handy zu werfen. Nangohns und Maiingan lächelten ihn vom Bildschirm an. Keine Nachrichten oder Mitteilungen. Dabei war sein Handy den ganzen gestrigen Nachmittag ohne Strom gewesen. Er nahm es in die Hand, um es zu überprüfen, und stellte fest, dass in der linken oberen Ecke keinerlei Balken zu sehen waren.

»Kein Handyempfang«, murmelte er.

»Ehrlich?«, fragte Nicole nach. »Ich seh mal auf meinem nach.« Sie ging ins Schlafzimmer, kam nach einem Augenblick zurück und schaute angestrengt auf ihr Handy. »Hmmm, meins ist auch aus.«

Ein Netzausfall war nichts Ungewöhnliches. Der Funkturm war erst vor wenigen Jahren gebaut worden, als man die Gemeinde endlich an das erweiterte Stromnetz angeschlossen hatte. Der Hintergrund war, dass die Bauunternehmer aus dem Süden ein stabiles Funksignal haben wollten, während sie in einer Bucht im Norden einen großen Staudamm errichteten. Als sie fort waren, blieb der Turm als neuer Luxus für die Menschen, die im Schutzgebiet wohnten. Die meisten hatten sich noch nicht so daran gewöhnt, dass ein Netzausfall echtes Frustgefühl oder gar Panik bewirkte.

»Was hast du heute vor, Dad?«

Die Stimme seines Sohnes führte Evans Aufmerksamkeit vom Handy wieder zu seiner Familie zurück. Er drehte sich zur Küche um. »N’gwis, mein Junge«, antwortete er, »ich habe viel zu tun. Ein Elch – ein moozoo – hat sich uns gestern geopfert.«

»Du hast einen Elch geschossen?«

»Yep. Einen großen. Ich hab lange gebraucht, ihn aus dem Wald zu holen. Deswegen war ich noch nicht zu Hause, als ihr gestern Abend ins Bett gegangen seid.«

»Cool!«

Der Junge brannte darauf, mit dem Vater auf seine erste Jagd zu gehen, doch das würde erst in ein paar Jahren möglich sein. Evan war mit neun mit seinem Vater auf seine erste richtige Jagd gegangen, nachdem er sich über einen längeren Zeitraum Wissen über Land und Natur angeeignet hatte. In jenem Herbst hatte er seinen ersten Bock geschossen. Damals opferte man keinen Tabak, wenn man ein Tier getötet hatte, um es später zu essen – über diese Zeremonie erfuhr Evan erst vor einigen Jahren, als eine der Altvorderen ihrer Gemeinschaft es auf sich nahm, ihm und einigen anderen jungen Leuten etwas über die althergebrachten Sitten beizubringen.

Maiingan schob den letzten Löffel Müsli in den Mund. Er legte den Löffel ab, hob die Schüssel hoch und trank den letzten Rest Milch. Nicole kam in Jeans und grauem Kapuzenpullover aus dem Schlafzimmer, das Haar zu einem festen Knoten gebunden. Sie drängte ihren Sohn, die Schüssel in den Ausguss zu stellen und sich für die Schule anzuziehen, während Evan das übrige Geschirr vom Tisch abräumte. Er stapelte es auf dem Tresen, stöpselte den Ausguss zu und drehte das heiße Wasser auf.

Während er ein wenig Spülmittel in das Wasser gab, überlegte er, wie lange die Handys ausfallen könnten. Scheiße, dachte er, ich wollte doch Isaiah bitten, rüberzukommen und mir mit dem Elch zu helfen. Er hielt inne und musste lächeln. Das Festnetz! Die meisten älteren Leute benutzten es immer noch, und da die Funkverbindung unzuverlässig war, besaßen auch Evan und Nicole ein solches Telefon. Evan nahm den Hörer des Haustelefons ab und war erleichtert, das vertraute Freizeichen zu hören.

»Darf ich auch mit auf die Jagd kommen, Daddy?«, fragte Nangohns hinter ihm.

»Eh n’daanis«, antwortete er. »Darfst du, mein Mädchen. Aber erst, wenn du älter bist.«

»Wo ist der moozoo?«

»Moozoo gojing. Der ist draußen.«

»Kann ich ihn sehen?«

»Gaawiin, noch nicht, mein Schatz. Er ist noch nicht fertig.«

»Okay.«

Er nahm ihre kleinen Hände in seine, sah in ihre großen braunen Augen und lächelte. Ihre Rattenschwänzchen standen vom Kopf ab wie die Antennen des alten Fernsehers. Die Fragen des kleinen Mädchens beschäftigten Evan oft lange, und er war überzeugt, dass sie, obwohl sie so jung war, die Weisheit zahlloser Generationen in sich trug. Sie hatte eine alte Seele. Er wünschte sich, dass sie alles hinterfragte. Er wünschte sich, dass sie zu einem starken und intelligenten Menschen heranwuchs. Er wünschte sich, dass sie eine Anführerin wurde.

Die morgendliche Stille war unheimlich, aber wohltuend. In der Woche lief der Fernseher oft während der ganzen morgendlichen Routine und samstags wegen der Zeichentrickfilme. Evan nahm an, dass der Satellitenempfang immer noch gestört war. Es konnte auch sein, dass Nicole sich nicht die Mühe gemacht hatte, das zu überprüfen. Den Kindern schien es nichts auszumachen, dass sie am Tisch statt auf dem Sofa frühstückten. Weißnich, was sie ihnen gesagt hat, dachte er, aber es funktioniert. Vielleicht konnten sie auch künftig den Fernseher am Morgen ausgeschaltet lassen.

Die Kinder hörten stets auf Nicole, und er wusste zu schätzen, wie sie ihre Kinder anleitete, geduldig und voller Liebe und Respekt. Er dachte darüber nach, wie ihre Erziehung mit den Lehren übereinstimmte, die er sich gerade aneignete, konnte sich aber nicht so recht konzentrieren, und so fuhr er sich mit den Fingern über sein kurzgeschorenes Haar und ließ den Gedanken fallen.

Als Evan ein kleiner Junge war, hatte es in der Gemeinde kein Satellitenfernsehen gegeben. Lediglich ein CBC-Signal, das von einem Funkturm in der Nähe der Bucht kam und von den Zimmerantennen eingefangen werden konnte, solange es keinen Sturm gab. Die Leute besaßen allerdings Videorekorder, und die Kassetten vertrieben ihm und seinen Geschwistern die Zeit, wenn sie drinnen bleiben mussten. In seiner Erinnerung hatten sie aber meist draußen gespielt.

Nicole kam mit dem fertig angezogenen Maiingan im Schlepptau zurück. »Okay, ich bring den Jungen in die Schule.«

»Wir gehen nicht weg.« Evan sah zu ihrer beider Tochter hinüber, die immer noch am Tisch saß und ihn strahlend anlächelte. »Dann winken wir deinem Bruder mal zum Abschied«, meinte er. Er hob sie hoch. Sie stellten sich ans Fenster und winkten, während Nicole und Maiingan in den blauen Pick-up stiegen und aus der Einfahrt fuhren.

Maiingan gehörte zu den gerade einmal zwölf Schülern in seiner Klasse. Die Grundschule der Gemeinde war klein und bestand aus wenig mehr als hundert Schülern. Sie befand sich in einem neu errichteten Gebäude, und die Menschen im Reservat waren glücklich darüber, dass ihre Kinder endlich in einer ordentlichen Umgebung unterrichtet werden konnten. Nicole und Evan hatten noch in provisorischen Klassenzimmern aus schäbig-schimmligen Fertigbauteilen gelernt, die schließlich glücklicherweise zusammengefallen waren.

In den letzten Jahren war die Infrastruktur des Schutzgebietes weiter verbessert worden. Dazu gehörte auch der Anschluss an das Stromnetz. Es blieben zwar noch die alten Dieselgeneratoren in Reserve, mit denen sie jahrzehntelang ihre Glühlampen und Haushaltsgeräte betrieben hatten, aber sie brauchten sie jetzt nicht mehr, und die Gemeindeverwaltung musste nicht mehr un­ ablässig Diesel für sie anliefern lassen. Die Stromleitungen hatten auch ermöglicht, dass eine dauerhafte Servicestraße gebaut wurde, die über dreihundert Kilometer nach Süden verlief und Anschluss an die Hauptautobahn bot. Dadurch waren sie weniger vom Flugverkehr abhängig, wenn sie Vorräte benötigten oder reisen wollten. Jetzt stand es ihnen frei, auf eigene Faust loszufahren, zumindest theoretisch. Oft spielten aber entweder das Wetter oder eine mangelnde Instandhaltung diesen Vorhaben einen Streich.

Evan schaute auf Nangohns hinab. Hier hat sich vieles verändert, dachte er. Für dich wird es viel besser sein, mein Sternchen.

Als Nicole zurückkam, räumte er gerade die letzten Spielsachen der Kinder im Wohnzimmer auf und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Er nippte am blauen Kaffeebecher und sah aus dem Küchenfenster. Ich mach mich besser ans Werk, dachte er. »Ich geh in den Schuppen rüber«, rief er. »Muss den Elch fertig machen.«

Draußen war es kalt, und streng rochen die auf dem Boden welkenden Blätter. Irgendwo in der Nähe brannte ein Feuer. Evan schaute instinktiv nach Süden, ob Anzeichen von Bewegung oder Leben zu erkennen waren. Aber abgesehen vom fernen Klang des Motors eines Allradfahrzeugs, das sich aus dem Dorfzentrum nördlich seines zu Hauses näherte, war alles ruhig. Bald darauf kam das Fahrzeug ins Blickfeld, und er erkannte seinen Freund Isaiah North in voller Reservatsherbstmontur – Neonweste über Tarnjacke. Isaiah bog in die Einfahrt ein, parkte neben dem blauen Pick-up und stellte den Motor ab. Als er sich beim Aussteigen auf das Trittbrett stellte, ragte sein schlanker, hochgewachsener Körper über das Dach des Pick-ups. »Was geht ab, Kumpel?«

»Nicht viel, Izzy«, antwortete Evan. »Wollte gerade in den Schuppen rüber. Hab gestern einen Elch geschossen.«

»Gut. Einen Bullen?«

»Yep.«

Isaiah nahm seine Kappe ab und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, dickes Haar, während Evan die Verandastufen hinunterstieg. Er war einen Kopf kleiner als sein Freund.

»Hab mir gedacht, dass du was geschossen hast«, meinte Isaiah. »Weil ich den ganzen Tag über nichts von dir gehört hab. Wollte dir heute Morgen eine SMS schicken, bekam aber kein Netz.«

»Ja, bei mir genauso«, sagte Evan und zog sein Handy aus der Tasche, um noch mal nachzusehen. Immer noch nichts. »Wollte dir auch eine Nachricht schicken, dachte mir aber, dass du sowieso vorbeikommen würdest.«

»Das kannst du nicht vor mir verbergen, wenn du nen großen, alten Bullen hier hast!«, erklärte sein Freund und breitete weit die Arme aus.

»Super, dann kannst du mir helfen, ihn fertig zu zerlegen. Vielleicht geb ich dir dann auch ein paar Streifen vom Rücken.«

»Pffft, Geizhals!«

Evan kicherte und verpasste Isaiah, als er an ihm vorbei zum Schuppen ging, einen Schlag auf die Schulter.

Drei

Die Tage wurden kürzer. Dennoch blieb der Herbst überwiegend sonnig, und der außergewöhnlich anhaltende blaue Himmel hatte den Winter bislang im Zaum gehalten. Wieder war so ein leuchtender Tag, bis weit in den Nachmittag hinein. Evan langte nach seiner Sonnenbrille, die neben dem nutzlosen Handy lag, und schob sie auf seinen Anglernetzhut. Im Fernseher an der Wand, fast zwei Tage schon außer Betrieb, sah er kurz sein Spiegelbild. Er dachte daran, wie viel er bei einem Trip in die Großstadt im Frühjahr für Handy und Fernseher bezahlt hatte, und es ärgerte ihn, dass er im Augenblick keins der beiden Geräte benutzen konnte.

»Meinst du, dass es am Wetter liegt?«, hatte Evan Isaiah gefragt, während sie mit dem Elch beschäftigt waren.

»Glaub nicht. Vielleicht einfach schlechte Empfänger. Im Rez kriegen wir doch nie gute Sachen.«

Evan musste lächeln, als er sich an diese Unterhaltung erinnerte. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm zwei große Gefrierbeutel mit Elchfleisch heraus. In jedem durchsichtigen Beutel, auf dem mit schwarzem Filzstift das Datum vermerkt war, befand sich ein großes Schulterstück. Er ging hinaus zu seinem Pick-up, öffnete die Tür und warf das Fleisch auf den Beifahrersitz. Dann hievte er sich selbst hinein und startete den Motor.

Die Fahrt zum Haus seiner Eltern dauerte nicht lange. Er stellte den Radiosender der Gemeinde ein, Rez 98,1 auf UKW. Ein bluesiger Song erfüllte das Fahrerhaus. Gut, immerhin haben wir noch das Radio, dachte er. Dann geht es eben zurück in die Vergangenheit. Rez 98,1 sendete von einer mobilen Station vor dem Büro des Gemeindeverbands meist bekannte, vorgefertigte Songabfolgen, die von Nachrichten aus der Gemeinde und aktuellen Wetterberichten unterbrochen wurden. Live-Sendungen gab es nur, wenn Vinny, der ortsansässige Radiomacher, im Studio war.

Klappernd schlug Schotter gegen die Radkästen des Pick-ups, als Evan durch das stille Rez fuhr. Für Baseball oder zum Angeln war es zu kalt, jedoch nicht kalt genug für Eis auf der Freilufteisbahn, und so stellte er sich vor, dass die meisten Kinder zu Hause Videospiele spielten oder DVDs ansahen. Er fuhr links an der Eisbahn vorbei, die leer und dunkel unter einem grauen Blechdach lag. Auch die Eisbahn war erst in der letzten Zeit entstanden. Wenn es die schon gegeben hätte, als ich jünger war, dachte er, hätte ich vielleicht im Eishockey Karriere machen können.

In Wahrheit aber hatte Evan diesen Ort nie verlassen wollen. Die Geborgenheit und Vertrautheit in seiner Gemeinschaft und die Nähe zur Natur machten aus ihm einen stolzen Rez-Bewohner. Er hatte nach der Oberschule nicht den Wunsch verspürt, ein College zu besuchen, auch keins der Gemeindecolleges in den umliegenden Städten, geschweige denn eins der Colleges in den größeren Städten des Nordens wie Gibson oder Everton Mills. Es gab zwar im Rez nur wenige Jobs, aber dafür auch kaum Konkurrenz, vor allem nicht im Bereich Instandhaltung und Infrastruktur. Weil sein Vater Dan beim Straßenamt arbeitete, hatte er dort angefangen. Evan hatte zunächst Teilzeit gearbeitet und die übrigen Stunden mit Jagen und Angeln verbracht.

Evan bog nach rechts in die dritte Straße hinter der Eisbahn ein und nahm dann die vierte Einfahrt auf der linken Seite. Bevor er losgefahren war, hatte er sich vergewissert, ob sie zu Hause waren, und sich dabei amüsiert, dass er anstelle der üblichen einzeiligen SMS an seinen Vater über das Festnetz angerufen hatte. Er parkte vor dem Flachbau mit der roten Vinylverkleidung und dem hoch gelegenen Keller, in dem er aufgewachsen war. Er stieg aus seinem Pick-up und ging hinter das Haus, wo sein Vater, wie er wusste, ein Elchfell gerbte.

»Pass auf, wenn du dich so bückst«, sagte Evan. »Das tut deinem Rücken nicht gut. Außerdem könnte ein Bulle da draußen seine Gelegenheit wittern und sich rächen wollen!« Er lachte laut.

Dan schabte weiter an der dicken gelben Elchdecke, die er in einen rechteckigen Rahmen gespannt hatte. »Mach dich nützlich und nimm den Schaber da unten«, sagte er. Von dem blauen Plastikbehälter, den sein Vater häufig zum Einweichen der Felle benutzte, nahm Evan einen zweiten Schaber und stellte sich rechts neben Dan.

Anfangs arbeiteten sie, wie so oft, schweigend. Normalerweise redeten sie erst, wenn die Arbeit erledigt war. Ob sie ein Fell gerbten, den Fang aus dem Fischernetz holten oder sich um Reparaturen an ihren Häusern kümmerten, für sie galt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Evan war überzeugt, dass er dadurch gelernt hatte, anzupacken und eine Arbeit zu Ende zu bringen.

Evan trieb das Schabeisen in die weicher werdende Decke, schälte Fleisch und Fett von der Haut. Dan arbeitete schon seit dem gestrigen Abend daran und war fast fertig. Eigentlich brauchte er Evans Hilfe nicht, doch Augenblicke wie dieser waren etwas Besonderes; eine Vertrautheit legte sich um sie, die nur ihnen allein gehörte.

Als die Decke vollständig gereinigt war, traten die beiden Männer einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten – zukünftige Mokassins, Handschuhe und Beutel. Zwar musste das dichte braune Haar auf der Haut noch entfernt werden, aber das würde nicht viel länger dauern.

Dan drehte sich zu Evan um. »Zigarettenpause?«

»Ja, gute Idee.«

Beide zogen eine rote, rechteckige Schachtel aus der linken Tasche ihrer Jagdwesten, die einander bis aufs Haar glichen. Fast gleichzeitig nahmen sie jeder eine Zigarette heraus, zündeten sie an und verstauten Packung und Feuerzeug wieder in der Weste. Tief sog Evan den Rauch ein, legte den Kopf in den Nacken und stieß ihn nach oben in die kühle Novemberluft aus. Dan setzte sich auf einen Holzkloben neben den Plastikbehältern.