Mondfäden und Märchengarn - Scharuk Husain - E-Book

Mondfäden und Märchengarn E-Book

Scharuk Husain

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Beschreibung

Sie legen Kleider und Juwelen ab, sind Meisterinnen der Verwandlung und leben wild und gefährlich. Sie sind geschickte Jägerinnen, furchtlose Kämpferinnen und gewandte Händlerinnen, dinieren mit Königen, Bauern und Seemännern. Sie brechen auf in Wüsten voller Fantasiestaub, treffen auf Zauberstuten, Dämonen und Menschenfresserinnen. Wenn der Schleier der Nacht sich über die Welt legt, lassen sie den Mond schmelzen, und wenn das Blut der Sonne den Himmel rot färbt, ziehen sie in den Krieg. Mit Wagemut und Fantasie finden die Frauen in diesen Märchen ihren Weg, so verschlungen er auch sein mag. Scharuk Husain hat ihnen nachgespürt und ihre Geschichten aus allen Ecken der Welt zusammengetragen.

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Seitenzahl: 419

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Über dieses Buch

In dieser Sammlung von Märchen aus verschiedenen Kulturen und Zeiten durchbrechen Frauen, als Männer verkleidet, ungehindert die Schranken und triumphieren, wo Männer versagt haben. Kaum haben sie das Männergewand angezogen, bezweifelt keiner, daß sie ohne weiteres das Zeug zum Rechtsanwalt, Arzt oder Ritter haben - manchmal werden sie sogar König.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Scharuk Husain (*1950 in Pakistan) ist Autorin und Psychotherapeutin. Sie studierte Orientalistik und Afrikanistik, hat Theaterstücke, Belletristik und Sachbücher verfasst und an Drehbüchern für Merchant Ivory und Disney mitgearbeitet. Sie beschäftigt sich intensiv mit Mythen und Folklore.

Zur Webseite von Scharuk Husain.

Ruth Melcer lebt als Übersetzerin aus dem Hebräischen in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Scharuk Husain

Mondfäden und Märchengarn

Geschichten von heimlichen Heldinnen

Aus dem Englischen von Ruth Melcer

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Women Who Wear the Breeches bei Virago Press, London.

Originaltitel: Women Who Wear Breeches (1995)

© by Scharuk Husain 1995

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Piero di Cosimo (1462–1521), Andromeda liberata da Perseo (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30706-3

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Version vom 22.09.2022, 18:24h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

MONDFÄDEN UND MÄRCHENGARN

VorwortKönigsrätselAuf FreiersfüßenEndlich gut aufgehobenRubine für einen HundDie Ballade von Mary AmbreeDie Maus, das Ding und der ZauberstabStaubkorn GottesEin verschlungener PfadEin Gewand aus MondfädenEs kommt, wie’s kommtDer Feigling und die HeldinEine Frage der EhreAnmerkungenDank

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Über Scharuk Husain

Über Ruth Melcer

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Für Ruth Petrie

Vorwort

Ich war zehn, als ich zum ersten Mal die Geschichte einer Frau hörte, die sich als Mann verkleidet hatte. Die Erzählung handelte von der Tochter eines Hufschmieds, die einen jungen Rabauken von einem König heiratete und sich dann als Mann verkleidete, um ihn vor einer bösen Prinzessin zu retten.

Die forsche Tochter des Hufschmieds mit ihrem unerschütterlichen Lebensmut begeisterte mich. Sie war fest entschlossen, ihrem Mann Respekt abzufordern. Sie war willens, die Spielregeln des Lebens gegen dieses selbst zu kehren. Sie hatte ein so erfrischendes »Tu-was-dir-passt«-Auftreten. Sie ging jedes Risiko ein, ergriff jede sich bietende Gelegenheit und bahnte sich unbekümmert ihren Weg zum Erfolg. Sie trug den Sieg davon, und ich hatte angebissen.

Die Tochter des Hufschmieds tat die Dinge, von denen man mir als kleinem Kind gesagt hatte, sie seien falsch, und die mein Kinderherz dennoch weiterhin reizten. Sie widersprach, sie war eigensinnig und ungehorsam, sie log und betrog. Sie war das böse Mädchen in Person, ein Typ, mit dem mir die Erwachsenen den Umgang verboten hätten. Und wie viel Spaß sie dabei hatte, wild und gefährlich zu leben!

Die Geschichte wurde mir von einem grimmig aussehenden Mann von der Nordwestgrenze Pakistans erzählt, der vorübergehend den Nachtwächter im Haus unserer Familie in Karatschi vertrat. Er freute sich von ganzem Herzen über die tollen Streiche der Heldin – die Spötteleien, die Betrügereien und schließlich die Niederlage ihres Ehemanns. Zugegeben, seine Version der Geschichte betonte nicht, dass die Tochter des Hufschmieds unter ganz anderen Voraussetzungen und Bedingungen zum König zurückkehrte. Er schloss die Geschichte mit einer Rechtfertigung des Königs, doch sein Ton und seine Haltung zeigten, dass er von ihrem Sieg hingerissen war.

Im Rückblick wird mir klar, dass der Grenzbewohner die Geschichte mit so viel Gusto und solcher Dynamik vorgetragen hatte, weil er sich mit der Heldin identifizierte. Er und sie wurden austauschbar, wenn er von ihr bald in der maskulinen, bald in der femininen Form sprach, zugleich weibliche und männliche Züge hervorhob. Sie war das perfekte Zwitterwesen, das sowohl das Beschützende als auch das Durchsetzungsvermögen in Mann und Frau repräsentierte. Und die Frage, warum ihr Ehemann sie nicht wiedererkannt hatte, obwohl er doch ihr Gemahl war, oder was mit der bösen Prinzessin geschah, war Nebensache – die Zuhörerin und der Erzähler konzentrierten sich voll und ganz auf die Bedürfnisse der Heldin und hofften und bangten mit ihr und ihrer wilden Entschlossenheit, diese zu stillen. 

Ich durchstöberte die Bibliotheksregale nach weiteren Heldinnen wie ihr und fand überall Verkleidungskünstlerinnen: bei Enid Blyton wie bei Shakespeare, in China und in Afrika, in Europa und im Orient, in klassischer und moderner Literatur, und dazu authentische historische Fälle. Aber keine war im Entferntesten so aufregend und wagemutig wie die unwiderstehliche, anarchische Verkleidungskünstlerin in meinem Märchen. Über die Jahre wurde meine Suche noch aufregender: Ich pickte mir die Geschichten einzeln aus den Erinnerungen von Erzählern und aus verschiedenen Anthologien heraus, bis ich ein ansehnliches Knäuel dieses besonderen Märchengarns beisammenhatte, das die vielen Eigenschaften der Frau feiert – von Pflichttreue bis Verrat, von Ehrlichkeit bis Betrügerei, von Hingabe bis Respektlosigkeit.

Überall in der Welt sind die Geschichten über Verkleidungskünstlerinnen reich und vielfältig, doch mit der Zeit konnte ich einzelne Gruppierungen ausmachen: Geschichten aus dem Orient zum Beispiel zeigen häufiger aristokratische Heldinnen, die auf dem Weg zur Erfüllung ihrer traditionellen Märchenaufgabe gegen Ungeheuer und Dämonen kämpfen müssen, während sich die Frauen in Nordeuropa lieber in Uniform kleiden, Kriege führen und zur See fahren. Einige Frauen wählen den Weg des Asketen und riskieren auf diese Weise ihr Leben, andere, insbesondere in der italienischen Novelle, werden von eifersüchtigen, um die Keuschheit ihrer Ehefrau besorgten Gatten dazu getrieben, sich Mönchskutten überzuwerfen. Aber es gibt keine festen Regeln außer dieser: Jede Frau verschafft sich aus der Verkleidung einen Vorteil.

Das Anziehen von Männerkleidung – Machtkleidung in höchster Potenz – ist das äußerlich sichtbare Anzeichen für eine Verschiebung der Werte und Wahrnehmungen der Heldin. Wenn sie dann ihre Erfahrung mit beiden Lebensweisen gemacht hat, ist sie frei, ihre Wahl zu treffen. Indem die Heldin ihre Schleier, Kleider und Juwelen ablegt, wirft sie auch ihre Fesseln ab. Die Männerkleidung ist das Symbol ihrer Befreiung. Und wir alle wissen, welche Anstrengungen es eine Frau kostet, wenn aller Augen auf sie gerichtet sind und nur darauf warten, dass sie in einer Männerwelt ihr Frausein verrät.

Märchen rücken dieses Ungleichgewicht unmittelbar und befriedigend zurecht. Hier durchbrechen Frauen, als Männer verkleidet, ungehindert die von männlicher Macht errichteten Schranken und schwingen sich zu enormer Größe auf – wie die Tochter des Hufschmieds triumphieren sie auch dort, wo Männer versagt haben. Es stellt sich heraus, dass sie ohne Weiteres das Zeug zum Rechtsanwalt, Arzt oder Ritter haben – manchmal werden sie sogar König. Doch um in die weiten Gebiete ihrer unerforschten, ungenutzten inneren weiblichen Landschaft vorzudringen und die Kraft, von deren Existenz allein sie wissen, unter Beweis zu stellen, müssen sie zuerst in Männerkleidung schlüpfen. In Hosen können sie dann die zu dieser Kleidung gehörigen Qualitäten ausleben – Waghalsigkeit, offen gezeigte Sexualität und Unabhängigkeit. Und obwohl die Prinzessin als Märchenfigur natürlich nicht wegzudenken ist, ist sie keineswegs die Einzige, die sich dieser List bedient: Bäuerinnen, Priestertöchter, Frauen von Schneidern, Schuhmachern und Ärzten – sie alle steigen buchstäblich in die Hosen, wenn sie einen Grund dazu haben.

Ich habe festgestellt, dass in Geschichten von Verkleidungskünstlerinnen fast immer ein Prozess am Werk ist. Die Heldin reagiert auf ein Bedürfnis oder einen Ruf; sie verwandelt sich schnell und vollständig (oft auch heimlich), um dieses Bedürfnis zu stillen; schließlich offenbart sie nach Erfüllung ihrer Mission ihre Verkleidung vor denen, die ihr wichtig sind, und kehrt zu ihrer früheren Normalität zurück. Dieser Prozess verändert sie jedoch nachhaltig und markiert eine wichtige Wende in ihrem Leben.

Eine Frau in Gestalt eines Mannes ist das äußerste Symbol von Täuschung oder Metamorphose, und da Märchen, die im Bereich des Unwahrscheinlichen angesiedelt sind, schon immer ein ideales Mittel für Anspielungen auf das Untergründige, Verborgene waren, ermöglicht diese Figur eine taugliche, manchmal erheiternde Bezugnahme auf Themen, die im Allgemeinen tabu sind. So zum Beispiel die Homoerotik – Frauen verlieben sich in als Männer verkleidete Frauen, als Männer verkleidete Frauen verlieben sich in Frauen, Männer verlieben sich in Frauen, obwohl sie sie für Männer halten. Doch der lineare und fest vorgegebene Ablauf des traditionellen Märchens stellt lediglich die provokative Frage in den Raum und geht dann weiter, ohne die Sache näher zu untersuchen. Beschließt die Leserin, der Leser, die Sache weiterzuverfolgen, dann hat das Märchen eines seiner Ziele erreicht – den Geist zum Überschreiten des vorhandenen Rahmens anzuregen, die Fantasie zu beflügeln.

Zweifelsohne bringt die Verwandlung Schwierigkeiten mit sich. Über die Jahrhunderte konditioniert, eignen sich Männer den Raum auf andere Weise an als Frauen. Vermutlich, weil sie auf den Begriff des »äußerlichen Raumes« eingestimmt sind, versuchen sie, diesen zu erobern, indem sie sich mit Händen und Füßen auf ihn stürzen und ihn umklammern und dazu benutzen, ihren Körper mit einem Nimbus zu umgeben, der sie beschützen und größer erscheinen lassen soll. Frauen hingegen passen sich der Beschränkung auf einen »Innenraum« an; sie neigen dazu, sich zu verschließen und mit überkreuzten, dicht aneinanderliegenden Beinen den Raum auszusperren, die Arme eng an den Körper gepresst. Männer und Frauen klingen verschieden und sehen anders aus, sie reagieren unterschiedlich. Wir glauben, wir könnten sie auch ohne ihre unterschiedliche Kleidung auseinanderhalten. Wir sprechen von »männlichen« Frauen und »weiblichen« Männern.

Entgegen der landläufigen Meinung zeichnen Märchen keine Klischees. Wie Träume symbolisieren sie Qualitäten und verborgene Potenziale. Sie lassen beträchtlichen Spielraum – so verlieben sich zum Beispiel kleine Mädchen und heiraten, und zwar ohne jegliche Angabe, ob und wie viel Zeit inzwischen verstrichen ist. Wir könnten dies damit erklären, dass es in den vergangenen Zeiten von »Es war einmal« für Mädchen nicht ungewöhnlich war zu heiraten, noch ehe sie im heiratsfähigen Alter waren; damals trugen Männer oft langes Haar; abgesehen von Schleier und Turban unterschied sich die Kleidung orientalischer Männer kaum von derjenigen der Frauen. Dennoch: Da die verkleidete Heldin sich selbst ständig in Situationen bringt, in denen sie entlarvt werden könnte, ist sie permanent in Gefahr, entdeckt und erkannt zu werden.

Verrat, Betrug und Unsittlichkeit konnten in den Zeiten von »Es war einmal« mit Kerker oder gar mit Tod bestraft werden. Im fünften Buch Mose, dem Deuteronomium, eingebettet zwischen einem freundlichen Vers, der einen Mann dazu ermahnt, seinem Nächsten beizustehen, dessen geschwächtem Ochsen wieder auf die Beine zu helfen, und einem anderen Vers, der gemahnt, brütende Vogeleltern in ihrem Nest zu schonen, fand ich zu meinem Entsetzen folgenden Einschub, der zur Grundlage grausamer Urteilssprüche gegen Verkleidungskünstlerinnen und -künstler wurde: »Nicht sei Mannsgerät an einem Weib, nicht kleide sich ein Mann in Weibes Gewandtuch, denn ihm deinem Gott ein Gräuel ist, allwer dies tut.« (Deut. 22,5)

Bei Urvölkern und in frühen Zivilisationen bestand der Zweck von Mythos und Märchen darin, die Zuhörer in unterhaltsamer Weise darauf vorzubereiten, was im wahren Leben auf sie zukommen konnte. In gewisser Weise ist das noch heute so. Geschichten der Völker aus aller Welt zeigen das Leben als eine Reihe von Aufgaben, die mittels einer Kombination aus beharrlicher Entschlossenheit, Kühnheit, Risikofreude und unerklärlichen Glückssträhnen bewältigt werden können. Das Leben lässt sich nicht voraussagen, denn es verläuft nicht nach einer erkennbaren Logik. Mythos und Geschichte lehren auch, dass das Überleben auf verschiedene Weisen gesichert werden kann: durch Trug oder Redlichkeit, Fleiß oder Faulheit, Duckmäuserei oder Mut, Aktivität oder Passivität – und durch ein Verbinden dieser Gegensätze. Jede Situation wird nach ihren einzigartigen Vorzügen beurteilt – die Heldin des einen Märchens mag das Verhalten einer Schurkin in einem anderen Märchen nachahmen. Märchen kommen aus dem Land, wo Ungehorsam sich bezahlt machen, Faulheit reiche Belohnung einbringen und Täuschung in Ehre münden kann. Kurz, es ist das Land der Verheißung – das Land, in dem nichts unmöglich ist, wo das Urteil, wenn es denn je dazu kommt, erstaunlich milde ausfallen kann. Und die Verkleidungskünstlerin verkörpert die erfolgreiche Verbindung der Gegensätze.

Auf dem indisch-pakistanischen Subkontinent, wo ich aufwuchs – und besonders in meiner eigenen Familie –, war Geschichtenerzählen eine hochangesehene Beschäftigung. Europäische Märchenklassiker, die Brüder Grimm, Hans Christian Andersen und die Bücher von Andrew Lang teilten sich den Platz im Regal mit orientalischen Wälzern wie dem Epos von Amir Hamza und den Chronicles of Azaad – und Burtons englische Übersetzung von Tausendundeiner Nacht war die Brücke zwischen diesen Welten. Geschichten waren allgegenwärtig, von American-Junior-Classic-Comics bis hin zu Sammelbänden griechischer, römischer und ägyptischer Mythologie. Die vielfältige Rolle von Geschichten, Fabeln und Sprichwörtern, die für Lob oder Tadel herhielten oder wie Karten- oder Brettspiele dem gemeinsamen Zeitvertreib dienten, ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Diese Geschichten waren lebendig und einflussreich und vermittelten Lebensauffassungen, wünschenswerte Ergebnisse, religiöse Vorstellungen und moralische Perspektiven. Frauen, die sich wie Männer kleideten, brachten daher eine berechtigte weibliche Fantasie zum Ausdruck – das Sichlösen von den Fesseln ihres Geschlechts. Für eine Frau war das Ablegen der Frauenkleider gleichbedeutend mit dem Ablegen der dazugehörigen Person. Und die Veränderung reichte noch tiefer, nämlich bis ins Innerste ihrer Persönlichkeit und ihrer Seele, und brachte die Zauberkräfte von List und Fantasie zutage.

Ich bekenne freiheraus: Ich bin von der Beherztheit dieser Heldinnen noch immer verzaubert – von ihrer mutigen, unverblümten Forderung des Rechts auf Selbstdarstellung, von ihrer Entschlossenheit, auf beiden Hochzeiten zu tanzen, von der Selbstverständlichkeit, mit der sie aus dem Frausein heraus- und wieder in dieses hineinschlüpfen. Als Kind hatte ich nie das Gefühl, dass jemand in meinem Umfeld dies missbilligte. An der allgemeinen Form des Märchens gab es nichts, was einer Zensur bedurft hätte. Die Verankerung des Märchens in den Landen der weiten Ferne, in Zeiten, in die sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt, genügte, um die drohende Subversion in Schach zu halten und zugleich das unerschöpfliche und magische Potenzial für Erfüllung zu bieten.

Die offensichtlich erbauliche Wirkung des Märchens von der Verkleidungskünstlerin rührt von zwei entscheidenden Faktoren her: Die Heldin erhält für ihre Errungenschaften bedingungslose Anerkennung, worauf ihr Lebensstil eine Frage der freien Wahl wird. Dies verändert in subtiler, nachhaltiger und unwiderruflicher Weise ihren gesellschaftlichen Status.

Von Verwandlungen handelt jedes Märchen in seinem Innersten, und die Verkleidungskünstlerin ist geradezu ein Paradebeispiel für diesen Vorgang. Wie in der Geschichte, die mir der Nachtwächter erzählte, wird die wichtigere innere Wandlung von der konkreten äußeren Veränderung überlagert. Doch ist es die durch das Erlebnis der Heldin hervorgerufene innerliche Umkehr, die letztlich eine neue Wendung in die »alte« Situation bringt: Eine tyrannisierte Ehefrau fühlt sich nicht länger ausgenutzt, auch wenn sie weiterhin dieselben Pflichten erfüllt, und die Tochter, die die Freilassung ihres Vaters aus dem Kerker bewirkt hat, kehrt mit einem neuen Verständnis ihrer Rolle in die Frauengemächer zurück.

Ich habe mich entschieden, in meiner Version der Geschichten diesen inneren Wandlungsprozess von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit in irgendeiner Form zu zeigen. Nie hegte ich Zweifel daran, dass die Heldinnen meiner Sammlung aus Legenden und Märchen stammen würden, doch beim Schreiben merkte ich, dass ich meiner Muse oft bessere Dienste erwies als meiner Wissenschaft. Als Volkskundlerin und Sammlerin von Volksmärchen fühlte ich mich genötigt, Struktur und Inhalt der Geschichten so zu belassen, wie ich sie zum ersten Mal gehört oder gelesen hatte. Als Schriftstellerin wollte ich mir aber die Freiheit nehmen, die Figuren über ihre reine Funktion hinaus weiterzuentwickeln, ihre Motive zu untersuchen, über ihre Probleme nachzudenken, deren Lösung zu bejubeln. Doch Märchen gleichen eher Erinnerungen als Romanen, vielleicht sind sie gar eine Form von Geschichtsschreibung. Es gab sie schon lange, ehe ich meinen Stift aufs Papier setzte, und ich ertappte mich dabei, wie ich mit ihnen Verhandlungen führte, so wie man beim Schreiben eines historischen Romans über eine berühmte Persönlichkeit mit der geschichtlichen Wahrheit verhandeln würde; man nimmt leichte Veränderungen in der Chronologie vor, stellt gewisse Aspekte im Leben der dargestellten Person heraus, andere Elemente nimmt man zurück – und hofft dabei, den Kern des Ganzen nicht zu verzerren. Oder man handelt ähnlich wie ein Therapeut, der an Situationen teilhat, in denen das Unaussprechliche aussprechbar, das Unbenennbare benannt werden muss. Benennen und in der Folge Aneignen sind die beiden entscheidenden Schritte der Integration; das Gute, das Böse und das Zweifelhafte sind allesamt Teil des Ganzen, und die Verkleidungskünstlerin spiegelt diese Synthese wider.

In einigen Fällen bedeutete dies nicht mehr, als der Heldin einen Namen zu geben, während ich in anderen Fällen versteckte Neigungen erforschte – Homosexualität, Hemmungslosigkeit, den Kampf der Geschlechter – jene Fragen, die mir als Kind von zehn Jahren so nebensächlich erschienen waren. Ich habe versucht, den charakteristischen Ton der jeweiligen Situation in einer Geschichte herauszuarbeiten – ob derb, ironisch, ernst oder urkomisch. Die Puristin in mir ist getröstet durch das Wissen, dass die Handlung unter all den Einzelheiten unbestreitbar dieselbe bleibt.

Ich habe diese Geschichten im Geist des Geschichtenerzählens geschrieben und dabei der Versuchung widerstanden, den Erzählungen, die über meine eigene kulturelle Erfahrung hinausgehen, eine literarische oder historische Authentizität zu verleihen. Wie eine Geschichtenerzählerin bin ich meinen Instinkten gefolgt, habe die Persönlichkeit der Hauptfiguren mit mehr Fleisch modelliert, auf dem Weg Denkpausen eingelegt, den Randfiguren eine eigene Entwicklung zugestanden – und bin den unbeantworteten Fragen nachgegangen, die mir einfielen, als Erwachsener und schon als Kind: in Atem gehalten und fasziniert vom Wagemut und der stolzen Unabhängigkeit der Frauen, die in die Hosen steigen.

Scharuk Husain, London, 1995

Königsrätsel

Wasili Wasiljewitsch? Wasilissa Wasiljewna? Ist es eine Frau? Ist es ein Mann? Des Priesters Tochter? Des Priesters Sohn? König Barakat stand vor einem Rätsel. Er war so verdutzt, dass er gar den Hinterhof des Palastes aufsuchte, um sich von der alten Hexe, die dort wohnte, Rat zu holen. Und auf diese Weise erfuhr Wasilissas Diener von seiner Verwirrung und seiner Neugier.

Wasilissa Wasiljewna schlug sich auf die Schenkel und lachte. »Der König will also wissen, ob ich eine Frau bin. Mich wundert, dass ihn das so beschäftigt!«

»Nun«, antwortete der Diener, »ich vermute, das ist kein Wunder. Wo, sagtet Ihr, ist er Euch begegnet?«

»Ich bin ihm begegnet«, verbesserte Wasilissa ihren Diener. »Ich war im Wald auf Jagd, und er auch. Hinter mir, über dem Rücken meiner grauen Stute – du weißt schon, die mit der grauen Mähne –, hing ein Sack voll Wild, als plötzlich der König mit ganz ordentlicher Jagdbeute auftauchte. Ich grüßte ihn von fern und ritt meines Weges.«

»Dann«, schloss der Diener an Wasilissas Stelle, »ist es tatsächlich kein Wunder. Ihr rittet davon, ohne innezuhalten, um den König zu grüßen, wie andere es tun würden. Da wurde er neugierig und fragte seinen Reitknecht: ›Wer ist der junge Mann?‹, und der Reitknecht antwortete: ›Nicht ein Mann, Herr, sondern eine Frau – die Tochter des Priesters –, Wasilissa Wasiljewna.‹ Und genau zur gleichen Zeit sagte ein anderer Begleiter: ›Das ist der tüchtige Jäger Wasili Wasiljewitsch.‹ Also war der König verwirrt.«

Wasilissa lachte laut auf. »›Wer ist dieser Mann‹, was? Überraschend ist es wohl nicht, aus dieser Entfernung und bei meiner Jagdkleidung. Er ist bestimmt nicht der Erste, und er wird auch nicht der Letzte sein. Es ist ja für viele ein Rätsel. Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Wenn ich eine Frau bin, warum trage ich Reithosen? Jeder will eine Antwort. Nur ich selbst habe noch nie darüber nachgedacht!«

Sie stand auf, kippte ihr übliches Glas Wodka, gab ein scharfes Zischen von sich, als er ihr durch die Kehle rann, und spannte die Lippen über den Zähnen. Sie liebte dieses Gefühl von Hitze, das sich in ihrer Brust ausbreitete, wenn der Wodka ihren Hals hinunterjagte. Sie nahm es mit den trinkfestesten Männern auf, jawohl, sie, Wasilissa Wasiljewna, obgleich ihr Vater, der sanfte Priester Wasili, sie ständig mahnte, dass es sich für eine Frau nicht schicke, Wodka zu trinken.

»Wir werden wahrscheinlich noch mehr vom König hören, obwohl ich mir nicht so recht vorstellen kann, was er von der alten Hexe zu erfahren hofft – außer einem Haufen abergläubischen Mumpitz.«

Sie lachte leise in sich hinein, während sie aufstand und sich die Hosen glatt strich. Ihr Vater sah sie gerne hübsch und ordentlich, und sie selbst achtete peinlich auf ihr Aussehen. Noch immer lachend, schlenderte sie zum Studierzimmer des alten Wasili. Er würde Gefallen an der Geschichte finden, da war sie sich sicher.

Sie trat ein, wie immer, ohne anzuklopfen; der Priester war dabei, einen Brief zu lesen – siehe da!, mit dem königlichen Wappen.

»Ein Brief des Königs?«, fragte Wasilissa, ohne eine Spur von Überraschung in der Stimme.

»Woher weißt du das?«, entgegnete ihr Vater erstaunt.

»Nun, Vater, ich habe sozusagen erwartet, von ihm zu hören.«

Der alte Wasili schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. »Tochter, Tochter«, verkündete er, »ich wage es nicht, dich nach dem Grund für so eine Erwartung zu fragen.«

»Das ist aber schade, Vater«, lachte Wasilissa, »weil ich nämlich hergekommen bin, um es dir zu erzählen.«

Der Priester gab sich geschlagen: »Nun, dann sprich.«

Also erzählte Wasilissa ihrem Vater von der Begegnung, nahm dann den Brief und las. »Ehrwürdiger Priester Wasili«, schrieb König Barakat, »ich wünsche, dass Ihr Eurem Sohn Wasili Wasiljewitsch gestattet, mich in meinem Palast zu besuchen und am königlichen Tisch mit mir das Brot zu brechen.« Wasilissa lachte laut heraus.

»Wünscht er nun mit einer Frau zu dinieren«, fragte der Priester scharfsinnig, »oder mit einem Jäger seines Ranges?«

»Ein guter Jäger bin ich allemal, ganz gleich, ob man mich nun einen Mann oder eine Frau nennt. Aber genau deswegen, weil er das eben nicht weiß, möchte Barakat, dass ich mit ihm speise. Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Bin ich der Sohn des Priesters? Oder seine Tochter? Armer König Barakat! Er ist so verzweifelt, dass er schon alte Weiber um Rat bittet. Und dabei sind es doch immer die Frauen, über die man ihrer eitlen Neugier wegen herzieht.«

Wasilissa Wasiljewna? Wasili Wasiljewitsch? Mann oder Frau? Des Priesters Tochter, des Priesters Sohn? Wasilissa konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als Barakat, seinen Argwohn meisterhaft verbergend, sie höflich begrüßte. Beim Eintreten verneigte sich Wasilissa tief, bekreuzigte sich und hob ihre Hände zum Gebet, und der König war über ihre formelle und korrekte Begrüßung hocherfreut. Tatsächlich war er den ganzen Abend über so gastfreundlich und charmant, dass Wasilissa ihrer Täuschung wegen einen Anflug von Schuldgefühl verspürte – doch nicht lange. Schließlich hoffte Barakat seinerseits, sie zu überlisten, indem er vorgab, bezüglich ihres Geschlechts nicht verwirrt zu sein oder sich den Kopf zu zerbrechen. So blieb Wasilissa auf der Hut vor der Falle, die er auf den Rat der Alten hin für sie ausgelegt hatte und die er irgendwann würde zuschnappen lassen. Doch nichts dergleichen geschah, und der Abend ging friedlich zu Ende.

Schließlich begleitete der König Wasilissa zur Eingangshalle, dankte ihr für ihren Besuch und sagte, wie sehr er den Abend genossen habe. Und als sie seinen Dank und die Komplimente erwiderte, fiel ihr Blick auf einen Wandteppich, der neben einer Sammlung von Gewehren, Schwertern und anderen Waffen an der Wand hing. Ein auffälliges, merkwürdig grobes Stück, das man eher im Haus eines Bauern erwartet hätte: Die einzelnen Elemente standen im Widerstreit miteinander – die Farben grell, die Stickerei jedoch exquisit, die Gedanken edel, die Umsetzung aber plump. Der Wandteppich war nur deshalb bemerkenswert, weil er unter einer Sammlung von Kampfgerät hing, und da der Wodka Wasilissa in gelöste Stimmung versetzt hatte, sprach sie ungehemmt.

»Wie seltsam, einen Wandteppich zu Euren Schwertern zu hängen, König Barakat«, bemerkte sie. »Und dazu noch einen, den ich in einem Palast nicht erwarten würde! Im Haus meines Vaters fändet Ihr keinen wertlosen, mädchenhaften Tand dieser Art. Das würden wir nicht dulden, weder Vater noch ich.«

Und ehe der König sprechen konnte, verschwand Wasilissa Wasiljewna.

»Der König hat wieder die alte Hexe besucht«, berichtete ihr Diener, der nun zum Spion geworden war. »Er sagte, ihr Plan sei fehlgeschlagen.«

»Welcher Plan?«, fragte Wasilissa.

»Nun, anscheinend hatte die alte Frau dem König gesagt, er solle den Wandteppich aufhängen. ›Ist es eine Frau‹, behauptete sie, ›wird er ihr sofort auffallen; ist es ein Mann, werden ihm die Gewehre auffallen.‹ Nach diesem Rat hat der König gehandelt, aber es hat ihm nicht weitergeholfen.«

»Das kann man wohl sagen«, prustete Wasilissa, und der Schalk blitzte in ihren Augen. »Die Gewehre erwähnte ich kaum, den Wandteppich dagegen sehr wohl, bedachte ihn jedoch nur mit Spott. Armer König Barakat.«

Es dauerte keine ganze Woche, da sandte der König erneut eine Einladung für Wasilissa. Wie es sich schickte, war die Bitte, Wasili Wasiljewitsch zum Abendessen laden zu dürfen, an ihren Vater gerichtet. Wieder sattelte Wasilissa ihre graue Stute, schwang sich auf den Rücken des treuen Tieres und machte sich auf zum Palast. Und auch diesmal konnte sie bei der Erinnerung an die vergebliche List des Königs ihre diebische Freude kaum verbergen. Den ganzen Abend über blieb sie wachsam, um nicht in eine Falle zu tappen. Sie genoss die Unterhaltung und des Königs Gesellschaft, doch das Essen war diesmal nicht so schmackhaft wie bei der ersten Einladung. Jedes Mal, wenn sie einen Bissen nahm, stießen ihre Zähne auf harte Knollen. Zuerst war Wasilissa höflich, spuckte sie verstohlen in ihre Hand und warf sie unter den Tisch. Schließlich aber untersuchte sie einen vollen Löffel mit verstohlenem Blick genau, während sie mit dem König sprach, um ihn abzulenken. Die störenden Knollen waren rund und schimmerten.

»Perlen!«, erkannte sie zu ihrem Erstaunen. »Er hat die Speise mit Perlen versetzen lassen. Was für eine furchtbare Verschwendung!«

Mittlerweile hatten König Barakats angenehme Gesellschaft, seine Gastfreundschaft und der Wodka Wasilissas Zunge gelöst, und sie beklagte sich offen. »Gibt man bei Euch Perlen in die Kascha, König Barakat? Die Zähne könnte man sich daran ausbeißen! Solch mädchenhaften Luxus würden mein Vater und ich in unserem Hause nicht dulden, des seid versichert. Aber ich danke Euch trotz allem für Eure Gastfreundschaft.«

Und Wasilissa Wasiljewna rauschte aus dem Palast, ehe der König seinen Mund öffnen konnte, um ihr zu antworten.

Wieder ließ Wasilissa König Barakat in einem Zustand der Verwirrung zurück. Wieder ging er zu der alten Hexe, und wieder wurde Wasilissa berichtet, dass der König wegen seines erneuten Fehlschlags ziemlich bedrückt sei. Natürlich war es das alte Weib gewesen, das angeordnet hatte, die Perlen in die Buchweizengrütze zu geben.

»Eine Frau weiß, dass es Perlen sind, und sammelt sie in einer Ecke, um sie mitzunehmen«, versicherte sie dem König. »Ein Mann denkt, es seien Kieselsteinchen, und wirft sie unter den Tisch.«

Der König war nicht überzeugt.

»Er hat sie doch unter den Tisch geworfen, oder etwa nicht?«, brummelte die alte Hexe. »Das bedeutet, es ist ein Mann.«

»Er mag sie unter den Tisch geworfen haben«, wandte der König ein, »aber er wusste, dass es Perlen waren. Also haben wir nichts erreicht.«

Es kam also eine dritte Einladung. Wieder war sie an den Priester gerichtet, wieder war Wasili Wasiljewitsch gebeten, mit dem König zu speisen, und wieder schwang sich Wasilissa Wasiljewna auf ihre graue Stute und ritt zum Palast. Mittlerweile begann sie sich allerdings schon zu fragen, wie lange es noch dauern würde, bis ihr Vergnügen sich in Langeweile und schließlich in Ärger verwandeln würde. Noch freute sie sich aber darauf, den König zu besuchen und sich seinen Herausforderungen zu stellen. Er war ein großzügiger Gastgeber und ein unterhaltsamer Gesprächspartner, und die Zeit mit ihm verging aufs angenehmste.

Oh, wie liebte Wasilissa Wasiljewna das Spiel dieser Herausforderungen! So ein kniffliger und raffinierter geistiger Wettkampf war doch weit aufregender als das Parieren und Stoßen mit einer Fechtklinge. Und König Barakat war ein würdiger Partner, verstand es, sie in eine Unterhaltung zu verstricken, ihre Gedanken zu betören und sie zu amüsieren. Dennoch ließ er sie nicht ein einziges Mal erkennen, dass er etwas anderes im Sinn hatte, als ihre Gesellschaft zu genießen – die Gesellschaft des Priestersohns Wasili Wasiljewitsch. Seine Witze waren stets ein wenig gewagt – jedoch nie genug, um die Grenze zu verletzen; seine Fragen waren stets ein wenig bohrend – jedoch nie genug, um preiszugeben, dass er Ermittlungen anstellte, abwägte, das Terrain prüfte.

Er war ein schlauer Bursche, dieser König Barakat, doch für einen König war es nur recht und billig, diese Eigenschaften zu haben. Wasilissa Wasiljewna fand in ihm einen ebenbürtigen Gegner, und ihr gefiel die Vorstellung, dass er diese Fähigkeiten nicht bei Tisch mit einem einzelnen Gast ausgefeilt hatte, sondern nach und nach in Sälen und an Höfen, mit Ministern und Königen, über Staatsangelegenheiten, über Fragen von Krieg und Frieden, Leben und Tod. Nein, Barakat war zweifellos so scharfsinnig und berechnend und entschlossen, wie man nur irgend sein konnte.

An jenem Abend betrat Wasilissa die bereits vertraute Eingangshalle und blickte sorgfältig um sich, als sie ihr übliches Gebet für Land und König sprach, sich bekreuzigte und sich nach Osten und Westen und Norden und Süden verneigte. Hing etwas Neues an den Wänden? Gab es irgendetwas Ungewöhnliches? Etwas, wovor sie sich in Acht nehmen musste? Nichts – oder jedenfalls nichts, was sie auf Anhieb erkennen konnte.

Sie richtete sich auf und folgte dem König in den Speisesaal. Wie gewohnt überhäufte der König sie mit Speisen und Wodka, sie erörterten die treffsichersten Zielmethoden und prahlten mit ihren jeweiligen Leistungen beim Jagen, bei Redegefechten und beim Rätselraten. Und sie klatschten sich auf die Schenkel und kippten ein Gläschen Wodka nach dem anderen und amüsierten sich köstlich. Wasilissa indes fragte sich: »Hat der König seine Ermittlungen etwa eingestellt? Genießt er meine Gesellschaft so sehr, dass ihn sein Rätsel nicht mehr beschäftigt?«

Doch Barakats nächste Worte machten ihr wieder bewusst, dass der schlaue König sich bestens auf sein Geschäft verstand und es ihm gelungen war, sie abzulenken.

»Wasili Wasiljewitsch, wir sind nun seit geraumer Zeit Freunde. Und wir haben des Öfteren zusammen gespeist – und einander viele Geheimnisse anvertraut. Ich denke, es ist daher nicht unangebracht zu fragen, ob Ihr heute Abend das Bad mit mir teilen wollt. Das Wasser wird gerade eingelassen und geheizt, und ich wäre hocherfreut, wenn Ihr Euch zu mir ins königliche Badehaus gesellen würdet. So könnten wir unser Beisammensein noch etwas länger genießen.«

Auf Wasilissas Gesicht machte sich ein äußerst vergnügtes Grinsen breit. »Oh, König Barakat! Welch eine Auszeichnung! Mein letztes Bad liegt schon eine Weile zurück, was wäre da verlockender als ein großes, heißes Bad mit Euch? Schließlich ist Dampf für die Haut wie Regen für die hart gewordene Erde.« Sie verneigte sich tief. »Es ist mir eine Ehre, die Einladung anzunehmen.«

Barakat war natürlich vor Freude im siebten Himmel. Jetzt würde er endlich das Geheimnis lüften. Er legte seinen Arm um Wasilissas Schulter und führte sie sogleich zum Badehaus, wo ein Kammerdiener eintrat, um ihm beim Auskleiden behilflich zu sein.

Wasilissa entkleidete sich schnell im Nebenraum, ließ sich ins Bad gleiten und aalte sich eine Weile genießerisch in dem warmen Wasser, ehe sie dem König draußen zurief: »Seid Ihr schon fertig, Eure Majestät? Das Wasser ist heiß und dampft.«

»Ich bin fertig, Wasili Wasiljewitsch, nur noch mein Unterhemd, meine Gamaschen und die Stiefel«, antwortete der König. »Bald bin ich da.«

Da rieb sich Wasilissa am ganzen Körper mit Seife und Luffa ab, ehe sie erneut nach draußen rief: »Wie lange noch, Majestät? Ich fürchte, in der Winterluft wird sich der Dampf bald lichten.«

»Nur noch meine Stiefel und meine Gamaschen, Wasili Wasiljewitsch«, antwortete der König. »Gleich bin ich bei Euch.«

Da streifte sich Wasilissa die Seife vom Körper und rieb ihn von oben bis unten mit parfümierten Ölen ein und rief ein drittes Mal nach draußen: »Ihr müsstet nun doch mit Euren Stiefeln und Gamaschen fertig sein, Majestät?«

Und der König antwortete: »Während ich spreche, Wasili Wasiljewitsch, werden gerade meine Gamaschen abgenommen. Auf der Stelle bin ich bei Euch.«

Da stieg Wasilissa aus dem Bad, reihte die Schwämme und Bürsten, die Seifen und Parfüms fein säuberlich am Rand auf, kleidete sich an und verschwand.

Draußen schwang sie sich auf ihre graue Stute, schrieb schnell etwas auf ein Blatt Papier und übergab dieses ihrem Diener. »Gib das dem König«, befahl sie mit vor Lachen bebender Stimme.

»Ihr seid ein raffinierter alter Rabe, König Barakat«, lautete die Botschaft, »doch konntet Ihr den Falken im Flug nicht einholen. Es war nie meine Absicht, Geheimniskrämerei zu treiben. Ich hätte Euch gesagt, dass ich Wasilissa Wasiljewna bin und nicht Wasili Wasiljewitsch. Ihr hättet mich bloß zu fragen brauchen.«

Auf Freiersfüßen

Diese Geschichte beginnt mit einer Geschichte, die – so erschien es unserem Helden, dem stattlichen Cavaliere Ambrosio de l’Andriani aus Mailand – um ihn herum in jedermanns Munde war. Jedenfalls drang sie Ambrosio seit seiner Ankunft in Neapel von allen Seiten ins Ohr. Es war ebenso eine Geschichte, ein Stadtgespräch, ja vielleicht sollte man sie eher ein Gerücht nennen oder als Tratsch und Klatsch abtun. Sie handelte von Nola, der schönsten Frau Neapels – vielleicht sogar ganz Italiens. Ambrosio zweifelte bereits daran, auch nur annähernd die Wahrheit zu erfahren, denn diese Nola (sie hieß nicht wirklich so, aber da niemand ihren richtigen Namen kannte, wurde sie nach der Stadt benannt, aus der sie stammte) war geradezu unbeschreiblich. Niemand hatte sie je zu Gesicht bekommen, und so überschlugen sich die Schilderungen schier. Ein Mann schwor, er habe sie gesehen – ganz rosa und rosig und rundlich und üppig sei sie, mit güldenem Haar, das ihr in lockigen Wellen über Schultern und Rücken floss: eine voll erblühte Wasserblume auf einem sonnenüberfluteten Fluss von Gold. Ein anderer huldigte einer strengen Schönheit, bleich wie eine Lilie, mit großen Augen, dunkel wie die Schuld und tief wie die Reue, und Haaren, so schwarz wie die Sünde und straff aus dem Gesicht gekämmt, was ihre edlen Züge, ihre fein geschnittene Nase, ihren elegant geschwungenen Mund noch unterstrich. Sie war ein Geschöpf wie von der Hand eines Meisterbildhauers, von der Alabasterhaut bis hin zu den kühlen Gliedern bar jeder Leidenschaft – denn sie, nein!, sie würde sich nie jemandem hingeben. Sie war eben jenes Vorbild für Anstand, jener Ausbund an Tugend, jenes Beispiel für Keuschheit, das alle Männer zur Verzweiflung brachte. 

Ambrosio de l’Andriani aus Mailand verabscheute alle Äußerungen, die sie als keusches Wesen beschrieben. Diese Version lehnte er ab und wünschte sehnlichst, er könnte überhaupt allen Berichten über Nola entkommen. Doch sie wuchsen ihm von überall entgegen. Von hier, von da, aus der Luft, wie Blumen, die ein Zauberkünstler dem Mund der Männer abknöpfte, wie farbenfrohe Bänder, die nur zum Schein besonderen Genuss versprachen. Keusch konnte sie nicht sein; denn wenn sie es wäre, warum schirmte ihr Mann sie dann so verbissen ab und kettete sie so eifersüchtig an sich? Nein, tröstete sich Ambrosio, bestimmt hatte sie ihm in der Vergangenheit Anlass dazu gegeben. »Man kann andere nur beurteilen, indem man sich selbst als Maßstab nimmt«, sagte er immer, und ihm fiel kein anderer Beweggrund ein als Untreue oder die Neigung dazu, nachweisliche, offen gezeigte Untreue, die einen Mann veranlassen würde, seine Frau einzusperren und sie vor jeglichen Blicken verborgen zu halten. Und dieser Mann, ihr Ehemann, war derart eifersüchtig, dass er gar den Zorn des Herzogs von Kalabrien auf sich gezogen hatte, der mit vielerlei Schlichen – und immer erfolglos – versucht hatte, sich mit eigenen Augen von Nolas Schönheit zu überzeugen. Wie Nola nun wirklich aussah, wusste niemand, und angesichts der Erfahrung des Herzogs würde es wohl auch niemand je erfahren. Die Kundschafter des Herzogs hatten nämlich eine Entdeckung gemacht: Wenn Nolas Mann auf Reisen ging, begleitete sie ihn – als Mann verkleidet. Meist waren noch ein, zwei weitere Männer dabei; wie konnte man da wissen, welcher davon sie war?

Ambrosio schöpfte seinen Mut aus der Wahrscheinlichkeit, dass Nola einem außerehelichen Vergnügen nicht abgeneigt wäre und sich, hätte sie die Gelegenheit, nicht ungern darauf einließe. Er machte es sich zur Gewohnheit, auf der Straße vor dem bescheidenen Haus ihres Mannes herumzulungern.

JOANNI TORNESE – SCHUHMACHER FÜR CAVALIERI prangte auf dem Schild vor seinem Laden. Die Fenster der Wohnung im ersten Stock waren immer dunkel, die Vorhänge immer zugezogen, und Tornese war immer in seinem Laden.

»Wenn der Schuft doch nur mal das Haus verlassen würde«, stöhnte Ambrosio.

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich«, entgegnete sein Freund Tommaso Caracciolo. Er wirkte widerborstig, aber Ambrosio wusste, dass das nur seine Art war. »Wir wissen doch ganz genau, dass er das nicht tut.«

»Ach ja?«, erwiderte Ambrosio dumpf.

»Das sagen sie alle.«

»Wie viel von dem, was sie sagen, glauben wir?«, wollte Ambrosio wissen. »Dass sie gold- und schwarzhaarig zugleich ist, rosig wie ein Apfel und dabei weiß wie Schnee, üppig und zugleich knabenhaft – und das alles in ein und demselben Leib?«

Tommaso schüttelte den Kopf. Sein Freund war in einem hoffnungslosen Zustand. »Du hast hier und da und überall mit Frauen herumgehurt. Die Nacht, in der du dich nicht im Bett einer Frau vergnügt hättest, ist noch nicht da gewesen – und du hattest es nie nötig, dich lange umzusehen. Wieso wegen dieser einen Trübsal blasen?«

Er blickte Ambrosio an; abgezehrt sah er aus, gequält. Seine Augen waren trüb, außer wenn sie vermeinten, Nola an einem Fenster zu erspähen, seine Haut war fahl.

»Wie du aussiehst, wird sie kaum Gefallen an dir finden«, stichelte Tommaso. »Werde wieder Herr deiner selbst, Ambrosio, du musst ihr etwas bieten, für das es sich lohnt, ein Wagnis einzugehen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie je Gelegenheit dazu bekommt.«

»Wenn er doch nur mal weggehen würde. Nur für einen halben Tag.«

»Du weißt genau, dass er sie mitnimmt, wenn er ausgeht! Das ist das Einzige, worin sich alle einig sind.« Tommaso wurde langsam wütend auf seinen Freund. In letzter Zeit schien Ambrosio nur noch zu hören, was er wollte; für die Dinge, die er nicht hören wollte, entwickelte er hingegen eine wundersame Taubheit. Man musste einfach etwas unternehmen, sonst würde Ambrosio zugrunde gehen oder den Verstand verlieren.

»Geh in den Laden und lass dir ein paar Schuhe zeigen«, sagte er zu Ambrosio. »Setz dich an die Hintertür. Sie führt zum Hof und allen Schlafzimmerfenstern. Er wird dir den Rücken zukehren, und du hast eine glänzende Ausrede, um hinauszugehen und dir deinen Kauf im Tageslicht zu betrachten.«

So unternahm Ambrosio einen zögernden Schritt auf seine Bestimmung zu. Er betrat das Schuhgeschäft des Joanni Tornese, Schuhmacher für Cavalieri. Und er verlangte diesen Schuh und jenen Schuh zu sehen. Hatte der Mann nicht ein noch feineres Leder anzubieten, keinen eleganter geschwungenen Absatz, keine ansprechendere Farbauswahl? Hatte er keine größere Auswahl an Modellen? Etwas Originelleres? Helleres? Dunkleres? Frühlingshafteres? Festeres? Engeres? Weiteres? Schnallenschuhe? Schnabelschuhe? Die Forderungen nahmen kein Ende. Joanni Tornese, Schuhmacher für Cavalieri, wurde ganz wirr im Kopf und glaubte nicht mehr daran, ein Geschäft machen zu können. Aber er wollte diesen vielversprechenden Kunden keinesfalls verlieren, einen Modenarren, wie er im Buche stand, der, wenn es ihm gelänge, ihn hinreichend zufriedenzustellen, wahrscheinlich immer wiederkommen würde. Also ging er geflissentlich auf all die extravaganten Wünsche ein.

Die Zeit verging. Und Ambrosio de l’Andriani, der edle und stattliche Cavaliere, ließ seinerseits langsam alle Hoffnung fahren, dass dieses Gerücht in Frauengestalt je an einem der Fenster erscheinen würde. Doch er musste unbedingt dafür sorgen, dass er im Laden des Schuhmachers weiterhin jederzeit willkommen wäre. Die Eifersucht dieses Mannes war legendär; wenn er auch nur ahnte, dass der Cavaliere in seinem Laden war, um seiner Frau nachzustellen, würde er ihm den Zutritt verweigern. 

Ambrosios armem Kopf gingen die Forderungen aus und seinem Herzen die Hoffnung. Er beschloss, seine Augen noch ein letztes Mal über die Fenster gleiten zu lassen. »Wenn sie nicht da ist«, schwor er im Stillen, »verlasse ich den Laden, reise zurück nach Mailand und streiche sie für immer aus meinem Gedächtnis.«

Diese Entscheidung gab ihm seine Kraft zurück. Er stand auf, schlüpfte in einen Schuh, wirbelte elegant herum, zog ihn aus, seinen eigenen wieder an, hob den Schuh, den er soeben anprobiert hatte, hoch und ging hinüber zum Fenster, wo er ihn im Tageslicht betrachtete und in Richtung der gegenüberliegenden Fenster hochhielt.

Rot. Glühendes, glänzendes Tizianrot erfüllte seine Augen, wie manchmal, wenn er in der Sonne Zeigefinger und Daumen über die Nasenwurzel legte und seine Augenlider zudrückte. Ein feuriges, brennendes Rot – das Blut seiner eigenen Augenlider, wie er immer gedacht hatte. Doch nun sah er es am anderen Ende des sonnigen Hinterhofs hinter der durchsichtigen Glasscheibe leuchten.

Und was sah er sonst noch? Denn sein Herz stockte, als sie ihre Hand hob und auf die Stelle zeigte, an der er bei seinen früheren Versuchen, ihrer ansichtig zu werden, herumgelungert und sich nach ihr verzehrt hatte. Sie wusste Bescheid! Sie wusste Bescheid, und sie hieß ihn willkommen! Dann verschwand sie, und sein Mut mit ihr.

Doch halt! Da ist sie wieder und hebt ein Glas Wein, von anderem Rot – dunkel, wie das Blut der Jungfräulichkeit –, sie hebt es ihm entgegen, küsst es und zieht die Vorhänge zu. Er denkt, wenn er jetzt, auf der Stelle, erblindete, es könnte nicht schlimmer sein, als zu erleben, wie die duftigen Rüschen jener Vorhänge, die Bahn um Bahn über seinen Schmerz hinwegwallen, die rote Glut der unberührten Morgenröte aussperren.

»Sie sehen gut aus im Tageslicht«, murmelte er, ohne die Schuhe richtig wahrzunehmen. »Ich möchte sie mir an der Tür noch einmal genauer ansehen.«

Das Geschäft war geglückt. Und der vor Liebe trunkene und vor Erwartung schier platzende Cavaliere spendete dem Schuhmacher ein überschwängliches Lob und einen großzügigen Lohn. 

»Bald komme ich wieder und hole mir noch mehr von Euren Prachtexemplaren«, verkündete er. »Jeden Tag ein neues Paar Schuhe. Also gebt Euch Mühe, Meister Tornese, und Euer Vermögen ist gemacht!«

Als Ambrosio sich noch einmal umdrehte, sah er, dass Joanni Tornese seinen Laden geschlossen hatte.

»Den habe ich an den Rand der Erschöpfung gebracht!«, scherzte er, als er Tommaso die Begebenheit erzählte.

»Nicht so sehr, wie du seine Frau an den Rand der Erschöpfung bringen wirst – und dich selbst übrigens dazu«, wieherte Tommaso rau und hob und senkte anzüglich stöhnend seinen wuchtigen Körper.

Ambrosio war beleidigt. Derbe Gedanken über Nola – seine heiß geliebte, teure, schöne Nola –, das konnte er nicht ertragen. »Diesmal ist es für mich ganz anders«, knurrte er. Er würde ihr den Hof machen und sie umwerben und anbeten, und erst wenn sie bereit und willens und voller Lust wäre, würde er in ihr Bett steigen.

Es musste wirklich Liebe sein.

Von diesem Moment an hegte Ambrosio in seiner Vorstellung die verschiedensten Bilder von Nola. Manchmal war sie aufgebracht und er besänftigte sie, andere Male war sie unglücklich und er verwöhnte sie, dann wieder fürchtete sie, er würde sie nicht so schön finden, wie alle behaupteten, und er beruhigte sie: Für Geschichten von ihrer Schönheit sei er nie empfänglich gewesen; ihn habe das Geheimnisvolle an ihr gefesselt. Doch nun, da er sie gefunden habe, liebe er sie, die Frau, und nicht die Legende oder das Geheimnis, das sie umgab. Und hätte sie auch das Gesicht eines Eichhörnchens – er hätte schwören mögen, dass er sie selbst dann mit Leib und Seele liebte.

Wochen vergingen, und was ihn am Leben erhielt, war ihr Winken am Fenster, das Zuprosten durch die Fensterscheibe. Keuschheit bekam für ihn einen neuen Sinn. Es war plötzlich eine wunderbare Eigenschaft, und er war überzeugt, Nola sei davon durchdrungen und spare sich für ihrer beider Begegnung auf.

Jeden Morgen um zehn Uhr stattete er dem Schuhladen seinen Besuch ab und stellte sich so hin, dass er vom Fenster aus zu sehen war. In Gedanken baute er ihre täglichen Rendezvous über den sonnigen Hof hinweg zu bedeutungsvollen Begebenheiten in ihrer zwar aus der Ferne geführten, aber dennoch von Leidenschaft erfüllten, verborgenen Beziehung aus. Jede Tändelei geriet zu einer kostbaren Erinnerung. Er hatte sich verbeugt, sie hatte ihren Kopf geneigt. Er hatte gelächelt, sie hatte die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen: Jede Begegnung über die Stunden und Tage ihrer Liebschaft hinweg barg Reichtum und Erfüllung. Und auf Schuhe entwickelte er einen derart unstillbaren Appetit, dass er sich eine neue Unterkunft suchen musste, um sie alle unterbringen zu können.

Joanni Tornese, Schuhmacher für Cavalieri, wurde ein sehr glücklicher Mann, der seinen Reichtum täglich mehrte, als Ambrosios Freunde ebenfalls zu seinen festen Kunden zu zählen begannen und Ambrosios Rivalen ihn zu übertreffen suchten, indem sie zwei Paar Schuhe am Tag kauften und den von ihm gebotenen Lohn verdoppelten. Ambrosio jedoch kehrte nach jeder Begegnung bewegt und überschäumend, singend, glückstrahlend nach Hause zurück und ergänzte in seinen Tagträumen die Berührungen, die Bewegungen, die Wärme, die Nolas Person innewohnten. Sie waren Himmelskörper, die eine wichtige Rolle in der Ordnung des Kosmos spielten und einander umkreisten, um sicherzustellen, dass die Welt nicht aus den Fugen geriet. Sie waren füreinander bestimmt.

Dass er Tommaso zunehmend links liegen ließ, fiel Ambrosio kaum auf. Strahlenden Blicks und mit blühenden Wangen ging er durch die Welt, immer ein Lied auf den Lippen, und trieb all die jungen, feinen Damen der Gesellschaft und auch die weniger feinen samt all ihren Müttern ins nächstgelegene Heiligtum oder zu einem Zauberer oder einer Hexe, um seine Liebe herbeizubeten. Er hatte jedoch keine Liebe zu vergeben, außer an die Frau des Schuhmachers. Und er war es zufrieden, auszuharren und auf seine Gelegenheit zu lauern und in Gedanken zärtliche Annäherungsversuche zu unternehmen und sie weiterhin zu umwerben und ihr den Hof zu machen und für sie Geld zu verschwenden – alles unter der Nase ihres Mannes.

Da hörte er eines Tages vom Santa-Caterina-Fest in Formello. Es fand jedes Jahr statt, und jeder in der Umgebung besuchte es.

»Ich hoffe, Ihr findet die Zeit, mich auf dem Santa-Caterina-Fest in Formello ein wenig herumzuführen«, sagte er beiläufig, als er sein Paar Schuhe für den Tag kaufte. Er war darauf bedacht, an diesem Tag keine allzu großen Forderungen zu stellen. »Ich nehme doch an, Ihr geht hin?«

Tornese schien zu zaudern, und Ambrosio nutzte seine Verlegenheit aus. »Ah, ich verstehe, Signore, Ihr habt andere, wichtigere Verpflichtungen dort. Ich hätte Euch durch meine Bitte nicht in Verlegenheit bringen sollen.«

Tornese verbeugte sich liebedienerisch. »Ganz und gar nicht, mein Herr. Es wäre mir eine Ehre.«

»Kommt, Tornese, mit mir braucht Ihr nicht auf Förmlichkeit zu bestehen. Ihr wisst doch, dass ich nicht nachtragend bin. Ich weiß nicht so recht, ob ich überhaupt hingehen soll. Schließlich hat das Ereignis für mich keine besondere Bedeutung. Ich bin ein Fremder in Neapel – keine Verbindungen, keine Wurzeln, Ihr versteht.«

Tornese sah besorgt aus. Die Furche, die sich zwischen seinen buschigen schwarzen Augenbrauen bildete, gefiel Ambrosio.

»Ihr hingegen seid tief im hiesigen Brauchtum verwurzelt«, fuhr er listig fort. »Es war ein Fehler von mir, Euch in Verlegenheit zu bringen. Ich bitte um Verzeihung.«

»Ihr habt mich missverstanden, Cavaliere«, widersprach Tornese. »Die ungeheure Ehre hat mich einfach sprachlos gemacht. Ich hätte nie gedacht, dass Ihr mich zu Eurem Begleiter auserwählen würdet, da …«

Mit einer dramatischen Geste schloss Ambrosio Tornese in die Arme. »Guter Mann, ich betrachte Euch als Freund, merkt Ihr das nicht?« Und ohne ein weiteres Wort abzuwarten, legte er ein Säckchen Goldstücke auf den Tisch und stürmte davon. Bis er Nola durch sein Werben endlich den Fängen ihres Ehemannes entrissen hätte, würde er den Kerl mit Gold und Geschäften so gut entschädigt haben, dass er keinerlei Schuldgefühle mehr hegen musste. Außerdem war die Liebschaft zwischen ihm und Nola von Anfang bis Ende vorherbestimmt, daher blieb für Schuldgefühle sowieso kein Platz. Er war nichts als das Opfer seiner Bestimmung. Diese Angelegenheiten dauerten oft Jahre – ein Augenzwinkern Gottes, so sagten die Weisen, hat die Länge eines Jahrhunderts in menschlichem Zeitmaß. Ambrosio gab sich der Vorstellung hin, dass ihm die Parzen die Vereinigung mit seiner geliebten Nola für den Zeitpunkt zugestehen würden, der dafür vorherbestimmt war. Nicht einen Augenblick früher, nicht einen Augenblick später. Und er durfte nichts überstürzen oder antreiben oder vorwärtsstürmen und das Gleichgewicht und die Ordnung stören. Längst wäre er sonst nicht ein Mal, sondern hundert Male in Nolas Bett gewesen.