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In den Nächten des Blutmondes werden die Werwölfe geboren. Sie wachsen wie jedes andere Kind auf. Bis sich ihre Sinne schärfen und ihnen ein Fell wächst. Bis sie sich verwandeln und die Freiheit suchen, sie selbst zu sein, grenzenlos zu leben und zu lieben. Aus verschiedenen Zeiten kommend, unter verschiedenen Umständen erwachsen geworden, finden zwei Wölfe zueinander und suchen gemeinsam nach ihrer Geschichte. Sie treffen nicht nur auf ihresgleichen, sondern auch auf ihren Feind. Auf eine tödliche Bedrohung, die sich gut zu tarnen weiß. Mondfarben ist kein Kinderbuch. Es kommen Tod, Mord und suizidale Gedanken vor. Eine der handelnden Personen ist non binär und wird mit wechselnden Pronomen adressiert.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Frieda Niklas
Mondfarben
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Frieda Niklas
Umschlag:Relix
https://www.instagram.com/relixtheartist/
Verantwortlich
für den Inhalt:Frieda Niklas
c/o Postflex #7636
Emsdettener Str. 10
48268 Greven
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Die Werwölfe sind in die Stadt gekommen, um ihren Welpen zu finden. Bevor die Jagd beginnt.
In den Nächten des Blutmondes werden die Werwölfe geboren. Sie wachsen wie jedes andere Kind auf. Bis sich ihre Sinne schärfen und ihnen ein Fell wächst. Bis sie sich verwandeln und die Freiheit suchen, sie selbst zu sein, grenzenlos zu leben und zu lieben.
Aus verschiedenen Zeiten kommend, unter verschiedenen Umständen erwachsen geworden, finden zwei Wölfezueinander und suchen gemeinsam nach ihrer Geschichte. Sie treffen nicht nur auf ihresgleichen, sondern auch auf ihren Feind. Auf eine tödliche Bedrohung, die sich gut zu tarnen weiß.
Mondfarben ist queer, trans* und divers.
Es kommen Tod, Mord und suizidale Gedanken vor.
Einigen Kapiteln sind Zitate aus Märchen der Brüder Grimm vorangestellt.
Immer derselbe Alptraum, seit Monaten. Es fängt ganz alltäglich an mit einer Fahrradfahrt von der Schule oder vom Training nach Hause. Der Weg führt durch das Wohnviertel. Links und rechts alte Villen hinter eisernen Zäunen. Überall Lorbeerhecken, Hortensienbüsche und Rhododendren in allen Farben. Im Traum wird das Grün immer höher und dichter, rückt näher heran. Die Häuser sind plötzlich verschwunden. Da, wo der Weg zum Horizont ansteigt, steht eine Gestalt vor der untergehenden Sonne. Sie hebt ihren Arm und winkt. Der Wind verweht die Worte, die sie ruft. In dem Moment rutscht das Fahrrad weg. Ray landet mitten in einer gelben, metallisch riechenden Pfütze. Es ist nicht leicht aufzustehen, die Flüssigkeit ist zugleich klebrig und glitschig. Ray rutscht mehrmals aus. Aber als er endlich aufrecht steht, ist die Farbe der Flüssigkeit dunkelrot. Es ist Blut. Eine riesige Blutlache. Das Blut ist überall, an Rays Kleidung, an den Händen und den Reifen des Fahrrads. Es liegt als Geschmack von Salz und Kupfer auf seiner Zunge.
Komm zu mir. Die Gestalt am Horizont winkt, den Arm hochgereckt. Ihr Gesicht liegt im Schatten, umrahmt von dichten Locken durch die das Licht der untergehenden Sonne seine roten Strahlen wirft.
Du bist nicht allein!
In diesem Moment schreckt Ray hoch und sieht sich im Zimmer um. Durch einen Spalt unter der Jalousie dringt ein silbriger Faden Mondlicht und wirft ein zittriges Flimmern auf die Wand gegenüber. Du bist nicht allein, hallen die Worte nach. Als würden sie jetzt gerade erst gesagt. Als kämen sie mit dem zarten Mondstrahl in das Zimmer. Ray legt die Stirn auf die Knie und die Arme um die Schienbeine. Auf den Handflächen ist nicht mehr das klebrig, glitschige Gefühl von Blut, sondern das des schon ziemlich üppigen Haars an Rays Schienenbeinen. Es gibt noch andere Veränderungen. Die leisen, hohen Töne, die Ray hören kann. Mit Sicherheit war das nicht immer so. Auch die extreme Empfindlichkeit gegen Gerüche ist neu. Ray wünscht sich, alles das würde wieder verschwinden. Zusammen mit den Träumen. Er steht auf und geht zum Fenster, schiebt die Jalousie hoch. Die Nacht ist hell, der Mond kreisrund. Am Rand von Rachels Sichtfeld ist eine Bewegung. Als würde eine menschliche Gestalt sich bücken und ihre Schnürsenkel binden. Aber als Ray den Blick dahin wendet, ist der Bürgersteig leer. In der Lorbeerhecke vor dem Haus schräg gegenüber raschelt es leise. Ein dunkler Schatten zieht sich zwischen die Zweige und Blätter zurück. Ein schlanker Hund. Oder wahrscheinlicher: eine langhaarige Katze, die in dem nebelhaften Licht größer wirkt als sie ist. Denn ein Hund streunt doch nicht allein herum, denkt Ray. Und doch … Es sah nicht wie eine Katze aus.
Da ist eine Stimme in Rays Kopf. Worte, die auf dem Mondstrahl durch das Fenster schweben:
Du bist nicht allein, kleiner Welpe. Du bist nicht allein.
Du musst wissen, dass du nicht allein bist. Es gab uns zu allen Zeiten überall auf der Welt. Wir haben Zeugnisse unserer Existenz gesehen. Wir haben von unseresgleichen in Überlieferungen, Sagen und Mythen gelesen. Was ich dir heute erzähle, ist nicht unsere Geschichte. Es ist nur der Teil, der ich bin, der ich war.
Meine Geschichte beginnt wie ein Märchen.
„Es waren eine Königin und ein König…“
Dieses Märchen wirst du kennen. Es waren die Grimms, die ein Königspaar aus ihnen machten. Doch waren sie in Wirklichkeit eine Fürstin und ein Fürst.
„…die sprachen jeden Tag: ‚Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!‘, und kriegten immer keins. Da gingen Jahre der enttäuschten Hoffnungen und der Sorge ins Land. Eines Nachts träumte die Fürstin von einem Frosch, der sprach zu ihr ‚Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.‘ Was der Frosch gesagt hatte, das geschah.“
An einem Abend im Herbst, als der Mond rot über dem Horizont stand, brachte sie das Kind zur Welt. Das Fürstenpaar war überglücklich. Sie nannten die Prinzessin Laura, ein Name, den die Fürstin aus ihrer alten Heimat Florenz in das Land gebracht hatte. Laura lernte noch vor ihrem ersten Geburtstag laufen, sie lachte viel und sprach früh die ersten Worte. Im zweiten Jahr wurden ihre Augen grün wie angelaufenes Kupfer, ihre Locken rot und golden wie das Herbstlaub. Die Mutter beobachtete das Kind beim Spiel im Schlosspark, als ein Windstoß goldgelbe Blätter von den Bäumen schüttelte. Es war, als gingen glänzende Münzen um die Prinzessin herum vom Himmel nieder. Sie breitete mit einem fröhlichen Seufzer die Arme aus und drehte sich um sich selbst. Die Fürstin lächelte bei diesem Anblick aus ihrem übervollen Herzen. Und gerade in diesem Moment fühlte sie deutlich, dass sie wieder schwanger war.
War die erste Schwangerschaft voller fröhlicher Erwartung, so war die zweite ruhig und heiter. Am Ende gebar die Fürstin einen Jungen. Der sah seiner Schwester so ähnlich wie ein Zwilling, darum wurde er Leander genannt. Die Geschwister waren in allem eins. Sie malten und stickten gemeinsam, sie ritten miteinander aus und übten sich im Gebrauch von Pfeil und Bogen. Auch wurden sie gemeinsam und in der gleichen Weise unterrichtet. Obschon Laura älter war und von rascherem Verstand, ihrem Bruder bald in allem mehr als an Jahren voraus, hätte sie ihn nie von ihrer Seite gelassen. Von ihr lernte er leicht, was ihm die Gelehrten nicht zu erklären vermochten. Manchmal dachte er, sie wisse vielleicht einen Zauber, mit dem sie die Worte, Zahlen und Formeln in sein Denken übertrug. Die Geschwister freuten sich aber nicht allein der Geistesübungen. Gemeinsam entzogen sie sich der Kinderfrau, um im Wald auf Bäume zu klettern oder im nahen Flüsschen zu schwimmen. Sie waren glücklich Tag für Tag.
Das war das Märchen, das mein Leben war.
Ich schaue heute anders auf diese Zeit. Wie eine Zuschauerin auf ein anderes Leben. Das Leben vor der Veränderung: Die feinen Härchen auf Armen und Beinen. Am Anfang kaum anders als der Haarwuchs, der sich mit dem erwachsen werden des Körpers einstellt. Doch schon bald ein wenig dichter, so, dass meine Aufmerksamkeit erregt war, aber noch nicht mein Argwohn. Ich gewöhnte mich daran, auch sogar an die festen, rötlichen Haare, die hart und glatt den ersten Flaum bald überdeckten. Nach und nach war es wie ein Fell auf meinem ganzen Körper, zuletzt sogar im Gesicht. Die Gelehrten bei Hofe hatten keine Erklärung. Meine Eltern schickten nach Ärzten aus aller Welt, weise Frauen wurden befragt. Niemand wusste einen Rat.
Am höfischen Leben nahm ich nun nicht mehr Teil. Ich scheute die mitleidigen Blicke ebenso wie die ängstlichen. Der Fürst und die Fürstin nahmen meine Abwesenheit erleichtert zur Kenntnis. Das Ungewöhnliche willkommen zu heißen ist schwieriger als wir zugeben würden. Liebten sie mich weniger, weil mein Körper sich auf so seltsame Weise verändert hatte? Diesen Argwohn hätten sie sicher zurückgewiesen. ‚Alle meine Kinder waren ersehnt und willkommen!‘, hörte ich die Fürstin Jahre später sagen. Und sie hatte gewiss nicht gelogen. Leander und ich hatten eine glückliche Kindheit.
Ganz anders Guillaume. Er wird dir seine Geschichte einmal selbst erzählen. Auch wenn ich sie kenne wie meine eigene, gehört sie mir doch nicht.
So lange Guillaume denken konnte, war sein Leben Arbeit gewesen. Sein Elternhaus war in seiner Erinnerung nur Schatten und Geräusche. Das Gekreische vieler Geschwister, die laute Stimme der Mutter, die sich über das Geschnatter hin Gehör zu verschaffen suchte. Der Vater meist stumm dazwischen, doch wenn er etwas zu sagen hatte, tat er es mit donnerndem Gebrüll. Guillaumes Kindheit war Lärm. Danach kam die Arbeit, sobald er alt genug war zu verstehen, was im Stall und auf dem Acker zu tun war. Dann, im Kloster von Pontigny tat er andere Arbeiten. Er lernte den Weinbau, was ihm später im Leben von Nutzen sein würde. Am liebsten aber half er in der Küche, obwohl es schwer war, die Eimer und Kessel und Platten mit Speisen zu schleppen. Doch vor allem hieß es, von dem essen zu dürfen, was die frommen Brüder übrig gelassen hatten. Wie getrübt seine Erinnerung an seine frühe Kindheit auch war, er wusste sicher, dass er nie so satt gewesen war. Dass Essen nie zuvor so gut geschmeckt hatte.
So wie ihm ging es den meisten anderen. Jungen, die aus ihren Familien heraus gekauft im Kloster die schweren Arbeiten verrichteten. Als junge Männer gingen sie in ihr Dorf zurück und ihre jüngeren Brüder nahmen ihren Platz ein. Sie selbst fanden dann eine Frau, hatten ihre eigene Familie, gaben einen oder zwei ihrer Söhne für eine Zeit ins Kloster. Und so immer fort. Niemand dachte je darüber nach. Alle Wege waren klar und vorbestimmt. Was nicht auf dem Weg lag, konnte nur göttlich oder dämonisch sein.
Das Dämonische begegnete Guillaumes, als er älter wurde. Er sah die Zeichen früh. Sie verwirrten ihn, aber sie ängstigten ihn nicht.
„Wenn man das Böse sieht, würde man dann nicht Angst haben?“ fragte er den Novizen, der ihm den Gebrauch des Schermessers zeigte.
„Ich habe keine Erfahrung mit dem Bösen“, sagte dieser. Er führte die Klinge sanft über Guillaumes linke Wange.
„Aber ihr studiert das Böse doch“, sagte Guillaume.
Der Novize legte das Messer weg.
„Du hast etwas gesehen, was Böse sein könnte, aber du bist dir nicht sicher?“, fragte er. Guillaume sah zu Boden. Der Novize betrachtete sein Gesicht mit konzentriertem Blick, bevor er die Klinge wieder aufnahm.
„Manchmal kommt das Böse im leuchtenden Gewand zu uns, um uns zu verwirren.“ Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: „Du würdest es doch aber sicher bemerken, wenn du zu bösem Handeln verführt werden sollst.“
„Das ist es nicht“, sagte Guillaume. Er wusste sich nicht zu erklären. Hätte er sich schon so ausdrücken können, wie er es noch lernen sollte, hätte er vielleicht gesagt, dass er keine Angst vor dem Bösen fühlte. Nicht im Wachen, aber in der Nacht suchte sie ihn heim. Oft träumte ihm von einem Tier, das sich aufrecht auf seinen Hinterläufen mit ausgestreckte Pranken auf ihn zu bewegte. Groß wie er selbst, kam der Wolfskopf seinem Gesicht so nah, dass er seinen heißen Atem spürte. Während er zurück wich, näherte sich Guillaume einem Feuer, das bis zum Himmel loderte und das Läuten mächtiger Glocken erklang. Dann schrak Guillaume auf und schlich aus dem gemeinsamen Nachtlager der Gehilfen in das Badehaus und rasierte sich von Kopf bis Fuß. Diese Stunde in der Nacht war die einzige, in der er allein war. In der ungewohnten Stille hing er seinem wiederkehrenden Traum nach. Wo er das Tier hätte fürchten müssen, flößten ihm Feuer und Glocken viel größere Angst ein. Ohne Zweifel drohte ihm das Feuer, wenn er nachts allein im Badehaus entdeckt würde, wie er sich das dichter werdende Fell von der Haut schnitt. Der alte Bruder Desiderius, seit vielen Jahren der Gärtner und Apotheker des Klosters, wurde schließlich seine Rettung. Manche sagten, er hätte schon den Kräutergarten gepflegt, als der Vorgänger des jetzigen Abts noch nicht im Amt war, was ein Alter jenseits aller Vorstellung bedeutete. Bei Tisch war sein Platz gleich neben dem Abt. An einem Abend winkte er Guillaume zu sich. Dieser hatte schon oft den Blick des Alten auf sich gefühlt, ganz als würden die blinden Augen ihn ständig beobachteten. Er fühlte sich daher unwohl, doch als er sich näherte, hörte er den alten Mann einige freundliche Worte sprechen, die ihm jede Sorge nahmen. Seinen Blick ein wenig hebend, erkannte Guillaume, dass er sich getäuscht haben musste, denn der Bruder Apotheker bewegte seine Lippen nicht. Erst als Guillaume vor ihm stand, sagte er mit seiner brüchigen Stimme: „Komm morgen früh gleich nach Laudes zu mir in den Garten, Junge. Ich spreche mit dem Cellerar, dass er dich mir zuteilt.“ Damit lächelte er wieder und nickte, zum Zeichen, dass alles gesagt sei.
Guillaume verließ die Küche nicht gern. Doch war es nicht an ihm, sich seine Arbeit auszusuchen. Von dem alten Desiderius lernte er mit der Zeit alles über Kräuter. Es waren so viele, dass Guillaume zuerst dachte, er werde sie niemals unterscheiden können. Die Formen der winzigen Blättchen schienen ihm zu ähnlich. Der blinde Apotheker hatte keine Schwierigkeiten, jede einzelne Pflanze zu erkennen, an ihrem Geruch und an der Textur von Blättern und Stängeln.
„Es sind manche dabei, die dir nützlich sein können“, sagte er an Guillaumes ersten Tag im Garten. Wie zufällig strich der Bruder Apotheker mit seiner knorrigen Hand über Guillaumes behaarten Arm.
„Ganz wie ich dachte. Diese alte Nase täuscht sich nicht.“ Guillaume erschrak, er zog seinen Ärmel so weit herunter, wie er konnte, und schaute zur Seite.
Desiderius sagte: „Ich habe schon manchem wie dir geholfen.“
Also gab es andere, die wie er waren. Guillaume hätte gern mehr darüber erfahren, aber Desiderius sprach bereits wieder über die Kräuter.
„Von den Blüten dieser beiden bereitest du wässrige Auszüge mit Hilfe von Dampf. Ich werde dir zeigen, wie es geht. Du kannst sie in größeren Mengen herstellen und in einer Flasche gut verschlossenen aufheben. Die anderen Kräuter sind einfacher zu verarbeiten. Hiervon trocknest du nur die Blätter und hier die ganze Pflanze. Auch diese kannst du gut als Vorrat halten. Aus den getrockneten Teilen brühst du einen Tee. Und dann gibst du diese Blätter frisch dazu und ebenso einige Tropfen des Auszuges.“
Desiderius sah in Guillaumes verwirrtes Gesicht und ließ wieder sein schelmisches Kichern hören.
„Wir bereiten es gemeinsam zu. So oft, bis du es allein kannst. Du wirst sehen, bald kennst du jeden Handgriff, ohne ihn zu bedenken.“
„Brauchen wir denn viel davon?“, fragte Guillaume.
„Du nimmst jeden Tag einen Schluck von dem Gebräu“, sagte Bruder Desiderius, „das ist fast immer ausreichend. Dennoch sollst du die Zubereitung genau lernen. Auch wie du sie aufschreibst und lesen kannst, damit du sie niemals vergisst. Du trägst die Samen immer bei dir. Für den Tag, wo du deinesgleichen triffst.“
„Meinesgleichen?“ Guillaume konnte die Frage nicht zurück halten. Er vergaß allen Anstand und sah dem Bruder direkt in die Augen. Für einen winzigen Moment schienen sie klar und führten ihn in eine weit entfernte Zeit. Guillaume fühlte Schwindel in sich aufsteigen. Für einen Wimpernschlag schien ihm Desiderius‘ Gesicht glatt und jung. Doch dann waren die Augen des alten Mannes wieder trüb und schauten von ihm weg zum Horizont.
„Gott hat in seiner unendlichen Weisheit und Güte zu allem, was er schuf, ein anderes geschaffen. Ein jedes Ding hat sein Anderes, damit es nicht allein sei. Und alles hat auch sein Widerpart. Auf das wir, so uns etwas leiden macht, ein Mittel finden, uns davon zu erlösen.“
Guillaume fragte sich später oft, ob Bruder Desiderius einstmals die Kräuter für sich selbst verwendet hatte. Aber er wagte nicht, den Apotheker darauf anzusprechen. Er selbst trank jeden Tag von dem Gebräu. Selbst noch ein Löffel Honig milderte den bitteren Geschmack des Getränks kaum, aber Guillaume gewöhnte sich gerne daran, denn bereits nach der ersten Gabe ließ der Haarwuchs an seinem Körper nach. Und nachdem er sich noch einmal ganz rasiert hatte, blieb seine Haut glatt, solange er täglich seinen Schluck zu sich nahm. Er konnte es schon bald ohne Hilfe zubereiten. Als nächstes lernte er, die Samen zu gewinnen und die Kräuter aus ihnen zu ziehen. Es war kein leichtes Unterfangen. Ständiges Bemühen war nötig, Geduld und Hingabe. Nichts, was ihm in der Hetze und dem Lärm seiner Familie gelingen konnte. Er sah mit jedem Tag, dass es kein zurück mehr für ihn gab. Daher fragte er Desiderius, wie er ganz im Kloster bleiben könnte, als ein Laienbruder vielleicht. Aber der Alte sagte schlicht: „Das ist nicht dein Weg. Auch wirst du den Tee nicht ewig brauchen. Lass die Zeit ihre Arbeit tun.“ Und wieder einmal waren seine Augen für einen Moment klar, sein Blick ging tief bis in Guillaumes Innerstes. Da war eine Sehnsucht in Guillaume, die mit den Jahren stärker wurde. Ein wachsendes Verlangen, nach etwas, für das er keine Worte hatte, das mit dem Wind vom Wald her zu ihm kam. Da war der Wein und die Felder und noch mehr Felder. Und dennoch er konnte den Wald riechen, so fern er auch war. Manchmal in der Nacht lag Guillaume lange wach und lauschte auf die Herzschläge seiner Kameraden. Sie verwandelten sich in wildes Glockengeläut, wenn sein Alptraum kam. Die Bestie trieb ihn noch immer zum Feuer. Als er sich dem Bruder Desiderius anvertraute, gab dieser ihm einen weiteres Kraut für besseren Schlaf. Falls er Antworten hatte, behielt er sie für sich. Guillaume wusste nicht einmal, welche Fragen er stellen sollte. Er tat seine Arbeit. Im Weinberg, im Kräutergarten und wieder im Weinberg, je nach Jahreszeit. Was an seinem Innersten zerrte, wurde größer. Es zwang ihn eines Tages, sich in einem unbeobachteten Moment auf den Boden zu knien und die Hände vor sich zu setzen.
Die Veränderung kam mit einem Schauer, es schüttelte ihn, seine Muskeln verkrampften sich. Dann entspannte er sich wieder. Und genoss. Genoss seinen wölfischen Körper, die schiere Kraft seiner Muskeln, den Geruch seines Fells. Doch er gönnte sich den Duft des Glücks kaum eine Minute, dann überkam ihn die Furcht vor Entdeckung. Sie trieb ihn auf die Hinterläufe, und im Aufrichten war er wieder ein Mensch und seine Haut war glatt und ohne Makel. Guillaume probierte es sofort noch einmal und in den Tagen danach immer wieder. Er hatte eine Fähigkeit, die er nicht erlernt und nicht gekannt hatte. Er hatte sie nicht gerufen. Sie hatte sich ihm offenbart ohne sein Wollen. Sie war ihm leicht und lieb. Und war doch etwas, das ihn in das Feuer bringen konnte oder in das Wasser. Es war eine dunkle Zeit. Sie warf lange Schatten.
Das Lachen ist wie Schläge in seinem Rücken.
Mit den Eltern oder der Schwester darüber zu sprechen, hat keinen Sinn. Er kann es nicht mehr hören, dieses ewige: „Sie müssen doch nicht über dich lachen, Ray. Meistens ist man nicht halb so wichtig für andere, wie man denkt.“
Ja, na klar.
Wenn eine Gruppe Mädchen gerade dann zu lachen anfängt, wenn du vorbeikommst, mit wem hat das dann wohl zu tun? Er muss darüber nicht spekulieren. Er sieht es in ihren Gesichtern, in den angespannten Muskeln unter der der zart gepuderten Haut. Im Flattern ihrer Augenlider, dem hektischen Hin und Her ihrer Pupillen. In jedem noch so knappen Zusammenpressen der von Lipgloss schimmernden Lippen. Diese Mädchen sind dauergestresst. Ihre Bemühungen um ihre Frisuren und ihre Kleidung haben vielleicht die gewünschte Wirkung, aber ganz sicher sind sie sich da nie. Entspannung empfinden sie nur, wenn sich ihre Panik im Lachen über andere entlädt. Über Ray zu lachen fällt ihnen leicht. Und er hört es immer, egal wie leise das Gekicher ist. Selbst wenn sie am anderen Ende des Flurs stehen und die Köpfe zusammen stecken, erkennt Ray die Spuren von schlechtem Gewissen auf ihren Gesichtern.
Er verkriecht sich in fast jeder Pause in der Schulbibliothek. Andere kommen, leihen Bücher aus, gehen wieder. Aber seit einiger Zeit ist da ein Junge aus der Parallel-Klasse, der sich auch länger dort aufhält. Er ist meistens als erster da, sitzt gerne hinten auf einem der Sitzsäcke. Dann bleibt Ray ganz vorn und schaut nur manchmal neugierig zu ihm hin. Der Raum ist kleiner geworden, seit der neue Junge immer öfter da hinten sitzt. Ray findet auch gute Bücher in den Regalen gleich bei der Tür.
An den Nachmittagen ist Ray meistens als erster zu Hause. Er genießt die Stille, lässt seine Gedanken zur Ruhe kommen. Denkt, ja, an den Jungen in der Bibliothek. Ray würde gerne … was? Was soll er sagen, was nicht missverständlich ist? Wie ihn nicht verwirren oder belästigen?
Hannah lächelt ein sehr breites Lächeln. Dann muss sie sich ducken, um dem Kissen auszuweichen, das Ray nach ihr geworfen hat.
„Hey“, ruft sie mit gespielter Empörung. Sie lachen beide.
„Als ob es immer ums verknallt sein geht“, sagt Ray.
„Okay“, sagt Hannah gedehnt. „Aber du würdest ihn gerne kennen lernen.“ Sie schnappt sich das Kissen, das hinter ihr auf dem Boden gelandet ist, und knautscht es in ihrem Schoß. Ray breitet die Arme aus mit nach oben gedrehten Handflächen.
„Frag ihn halt, wie er heißt“, sagt Hannah.
Ja, na klar. Für Hannah ist das leicht. Sie ist wahnsinnig beliebt in ihrer Stufe. Ray wäre seiner Schwester gerne ein bisschen ähnlicher. So frisch und entspannt. Mit dieser Lust an ein paar leicht gesprochenen Worten. Die Ray nun einmal nicht hat. Weil die Worte, wenn er sie überhaupt findet, viel zu oft seine Kehle verstopfen und das Atmen schwer machen.
„Das kann ich doch nicht einfach so.“
Hannah steht auf und setzt sich neben Ray auf das Bett. Das Kissen legt sie in seine Arme.
„Du brauchst ja nur einen Einstieg“, sagt Hannah sanft. „So wie ‚Hallo ich bin Ray, wie heißt du?‘ – dann geht es ganz von selbst weiter.“ Sie steht vom Bett auf und geht durch Rays Zimmer, bleibt beim Bücherregal stehen.
„Du brauchst nur einen Anfang. Ihr seid in einer Bibliothek, also rede über Bücher. Was liest du gern, was er. Das geht doch.“ Hannah spricht so selbstverständlich, dass Ray fast selbst daran glaubt.
Am nächsten Tag ist der Junge nicht in der Bibliothek. Und am Tag darauf hat Ray keine Gelegenheit hinzugehen. Und dann sind sie beide zur gleichen Zeit da, aber Ray traut sich nicht, ihn anzusprechen.
„Du musst dich wohl fühlen“, sagt Hannah. „Du könntest deinen Lieblingshoodie anziehen.“
Der Hoodie, den Ray am liebsten trägt, ist innen ganz flauschig. Und er hat diesen Aufdruck auf der schwarzen Baumwolle. Eine Reihe von Pilzen. Ihre verschiedenen Farben, die die natürliche Farbe der jeweiligen Pilzsorte überzeichnen, bilden einen Regenbogen.
„Vielleicht too much Rainbow?“, fragt Ray.
„Aber er hat dich doch garantiert schon in diesem Hoodie gesehen.“
Ray denkt einen Moment nach. „Vielleicht. Ich meine, wenn er mich überhaupt beachtet hat.“
Tatsächlich trägt er diesen Hoodie am nächsten Tag. Und fühlt sich wohl und sicher darin.
Der Unterricht am Morgen scheint sich ewig hinzuziehen. Ray springt mit dem ersten Schlag des Pausengongs auf und rennt so schnell wie möglich die Treppen runter. Unten schließt die Lehrerin gerade die Bibliothek auf.
„Hallo Rachel“, sagt sie freundlich und nimmt ihren Platz an dem kleinen Pult neben der Tür ein.
„Guten Morgen, Frau Weber“, antwortet Ray und geht direkt bis ganz nach hinten durch. Dramen und Gedichte. Ray schnappt sich wahllos irgendein Buch und lässt sich in einen der Sitzsäcke fallen. Gerade bevor die Lehrerin „Hallo Yunis“ sagt.
Der Junge grüßt zurück, macht einen Schritt in den Raum und zögert kurz. Dann geht er zu seiner gewohnten Ecke, nimmt ein Buch aus dem Regal und setzt sich. Frau Weber sitzt über den Schreibtisch gebeugt, vertieft in eine Broschüre. Ray lehnt sich ein wenig zu dem Jungen hin und flüstert: „Hi.“ Es kommt irgendwie krächzend raus. Der Junge blinzelt kurz und schaut auf, während Ray sich räuspert.
„Hi. Yunis?“
Yunis nickt und sagt: „Hi.“
Frau Weber steht auf und ruft nach hinten: „Rachel, Yunis, ich muss gerade mal raus. Könnt ihr euch kurz um die Ausleihen kümmern?“
Sie schauen hoch und sagen fast gleichzeitig: „Ja, Frau Weber.“ Und Yunis setzt noch hinzu: „Sie können sich auf uns verlassen.“ Er klappt sein Buch zu, als sich die Tür hinter der Lehrerin schließt.
„Rachel“, sagt er langsam und betont, mit einem zischenden „tsch“ und einem leicht gedehnten „l“.
„Ich bin aber lieber Ray.“
„Okay. Ray“, wiederholt Yunis. Noch versteht er nicht, dass es mehr ist als ein Spitzname. Einer seiner Mundwinkel hebt sich zu einem schiefen Lächeln. Das sieht witzig aus. Und freundlich.
Bücher, Bücher, Bücher, denkt Ray. Ihm fällt plötzlich nicht mehr ein, was er über Bücher sagen könnte. Das Schweigen scheint schon viel zu lange zu dauern. Auch Yunis sucht nach einem Thema.
Was liest du denn so?, denkt Ray.
Yunis blinzelt verwirrt. Er dreht das Buch in seinen Händen um und schaut sich das Cover an, als wäre es ganz neu für ihn.
„Äh, ‚Frühlingserwachen‘ von Wedekind.“
Ray hält den Atem an. Hat er es denn laut gefragt? Doch eigentlich nicht, oder? Seine Verwirrung lässt die Unterhaltung erneut stocken.
Schließlich sagt Yunis: „Haben deine Eltern eine Vorliebe für englische Namen?“ Ray merkt, dass Yunis sich blöd vorkommt wegen dieser Frage. Aber er selbst ist erleichtert, dass das Gespräch wieder in Gang kommt.
„Meine Mutter kommt aus England. Sie ist nach dem Auslandsstudium hier hängen geblieben.“
„Cool.“
„Und deine Eltern?“, fragt Ray. Ein Mädchen kommt rein und sucht was im Fantasy-Regal.
„Mein Vater arbeitet in Frankfurt. Er ist nur am Wochenende zu Hause.“
„Oh. Ich meinte eigentlich… Was ist mit deinen Großeltern oder deren Elter. Ich meine, wo kommen die her?“ Ray muss lachen. „Ach komm, sag schon.“
Sie lachen gemeinsam. Wie einfach das ist.
Das Mädchen schaut sich nach ihnen um, mit zwei Büchern in der Hand und fragt nach der Lehrerin. Yunis steht auf und geht zum Pult. Dann kommen noch zwei Schüler aus der Unterstufe und als die Pause vorbei ist, haben sie nicht so viel geredet, aber der Anfang ist gemacht. Am nächsten Morgen steht Yunis vor dem Schulgelände und winkt Ray zu. Sie schlendern zusammen über den Pausenhof. Wie die Klasse darauf reagiert ist Ray plötzlich total egal.
Yunis bedeutet Delphin.
„Das ist wunderschön“, sagt Ray.
„Bedeutet Rachel auch irgendwas?“
Ray zieht die Nase kraus. „Es kommt nur darauf an, was Ray bedeutet.“
Yunis zuckt mit den Schultern. „Ich könnte es googeln.“
„Hey!“, ruft Ray und schaut sich lachend um. Keine Mitschüler aus der Klasse in der Nähe. Dennoch flüstert Ray: „Rachel bedeutet Mutterschaf.“
Yunis prustet vor Lachen. „Kein Wunder, dass du Ray sein willst.“
Sie lachen zusammen bis Ray sagt: „Nein. Weil ich Ray bin.“
„Ja, verstehe“, sagt Yunis aber Ray weiß, dass das nicht ganz richtig ist. Wird es aber noch. Jetzt lacht Yunis wieder. „Ist aber auch ein Tier“, keucht er.
Ray hat das Lachen noch in sich, als der Unterricht anfängt.
Bis der Lehrer die Tafel aufklappt. Da hat jemand ein Herz auf die Innenseite gemalt und zwei Buchstaben hineingeschrieben: T & L. Alle lachen, manche übertrieben laut. Ray kann sehen, dass Lena hochrot geworden ist. Von hinten brüllt Tim: „Au Mann, Philipp!“
Der Lehrer nimmt den Schwamm und deutet damit auf Philipp. Der hebt gleichzeitig Schultern, Hände und Augenbrauen. Seine Überraschung ist echt. Ray schaut sich um. Felix, Max und Paul schauen gleichmütig. Herr Thomas fordert Philipp auf, die Tafel zu wischen. Aber Philipp bleibt sitzen, schiebt die Unterlippe leicht vor.
„Er war das nicht!“ Alle schauen in Rays Richtung.
„Rachel, hast du gesehen, wer das an die Tafel gemalt hat?“, fragt der Lehrer.
Ray lässt den Blick durch die Klasse schweifen. Meistens machen die Jungs so was. Aber die schauen alle neugierig zurück. Kein Ausweichen, keine Verlegenheit. Die Mädchen genau so, bis auf Emily, die stur auf den Lehrer blickt. Sie denkt: Von wegen, Rachel hat gar nichts gesehen.