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Silver, eine junge und verträumte Silberfüchsin, war nie davon ausgegangen, dass sich etwas an dem unbekümmerten Leben mit ihrer Familie ändern könnte, bis ihre Welt durch ein traumatisches Ereignis aus den Fugen gerät. Eine Geschichte über eine äußere und innere Reise des Erwachsenwerdens. Über die Zerbrechlichkeit dessen, was wir als sicher erachten und die Beständigkeit dessen, was wir nie erwartet hätten. Über Freundschaft, Familie, Liebe und Intrigen, die Verarbeitung von Trauer und das Durchbrechen von festgefahrenen Denkmustern.
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Seitenzahl: 688
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Bellisae
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
©2021 Bellisae
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-3590-9
Danke an Pascal, ohne den die digitalen Aspekte dieses Projekts in der Form gar nicht möglich gewesen wären. Danke an Anke für ihre Lektorats- und Korrekturarbeit. Danke an Valli für ihren kritischen Blick. Und danke an Daniel, der dieses Buch mehr als einmal gelesen hat.
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Silver [ˈsɪlvə] Silberfüchsin
Stürmisch [ˈʃtʏrmɪʃ] Silberfuchs
Munter [ˈmʊntɐ] Silberfuchs
Sage [seɪdʒ] Silberfuchs(links)
Whitestar [waɪtstɑː] Polarfüchsin(rechts)
Marder [ˈmaʁdɐ] Baummarder
Own [ˈoʊn] Feldhäsin
Kühl [kyːl] Rotfuchs
Heart [hɑːt] Rotfüchsin
Zart [tsaːɐt] Rotfüchsin
Cunning [ˈkʌnɪŋ] Rotfuchs
Wind [vɪnt] Rotfuchs
Wintry [ˈwɪntɹɪ] Rotfüchsin
Bluefire [bluːˈfaɪə] Blaufuchs
Crass [kɹæs] Fuchswolf
Dry [dɹaɪ] Feldhase
Vinous [vinjəs] Eichhörnchen
Alle Zeichnungen (und noch mehr) sind auch auf der Mondschein-Homepage zu finden: https://mondschein-saga.de/
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Prolog
Erste Schritte
Erfahrungen
Illusionen
Abschied
Der Eid der Tiere
Kurz bevor er starb
Reviere
Hilf mir
Pläne
Zurückgelassen
Dunkle Gedanken
Zielscheibe
Zweifel
Intrigen
Flucht
Skrupel
Nicht die ganze Wahrheit
Jagdsaison
Zwischen den Zeilen
Wiederfindung
Konfrontation
Ist das geklärt?
Ohnmacht
Rettung
Die wahren Gründe
Liebe …?
Vertrauen
Sehnsüchte
Gerechtigkeit?
Licht und Schatten
In Schutt und Asche
Und, wie leuchtet der Mond heute?
Epilog
Sie konnte den Mond nicht sehen.
Angst mit der Möglichkeit einzugreifen, der Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, konnte das Stärkste in einer Person hervorbringen. Man kann an das Limit seiner Kräfte reichen, darüber hinaus sogar, wenn es bedeutete, dass man diejenigen retten konnte, die man liebte. Man würde alles zurückstellen, um dieses Ziel zu erreichen – wenn man die Möglichkeit dazu hatte.
Angst um jemanden zu haben, wenn man genau wusste, dass man nichts tun konnte, rein gar nichts, um einzuschreiten – das bedeutete Ohnmacht in der grausamsten Form.
Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht mischte sich mit Furcht, die sich in ihrer Brust verfestigte – als wäre diese dort zu Hause, als wäre sie im Laufe ihres Lebens zu ihrer zweiten Haut gewachsen, beißend und zerrend. Das speiende Gefühl der Angst entbrannte und breitete sich aus bis in jede ihrer vier dunkelgrauen Pfoten und die Spitze ihres Schwanzes. Niemals um sich selbst, immer um andere. Immer die Angst davor, diejenigen zu verlieren, die ihr am meisten bedeuteten. Immer das nagende Gefühl des Verlustes, das sich dabei durch ihren Körper fraß. Die Panik riss ihr Herz zu allen Seiten und ihr Bauch krampfte sich zu einem festen Klumpen. Es fühlte sich an, als wäre sie gelähmt und gleichzeitig kurz vorm Zerspringen. Als würde sie ersticken und doch immer weiter nach nicht vorhandenem Sauerstoff japsen.
Ruß hatte sich auf ihrem silbernen Fell abgesetzt und sie schmeckte ihn auf der Zunge. Rauch brannte noch immer in ihren Augen. Asche flog durch die Luft, Flammen tanzten über den Wald und Qualm erstreckte sich über die schwarze Himmelsdecke. Aber sie war sicher.
Sie war sicher.
Wie surreal und hohl sie dieses Wissen plötzlich werden ließ. Es ging nicht um sie. Es ging niemals um sie. Das war das Schlimme.
Das Wasser stand der Silberfüchsin bis zum Hals – wortwörtlich. Die Flüssigkeit sog an ihr und tränkte ihren Pelz, ließ ihn schwer werden. Ihr Artgenosse watete kaum merklich neben ihr und die Häsin klammerte sich krampfhaft an ihren Rücken. Niemand sagte ein Wort. Keine Worte der Welt könnten auch etwas an dem zerstörerischen und gleichsam atemberaubenden Schauspiel ändern. Keine Worte konnten Leben retten, nicht in diesem Fall.
So sahen sie voller Horror und Machtlosigkeit zu, wie das heiße Licht alles verschlang, das ihm in die Quere kam. Alles und jeden.
Und während all dessen – konnte sie den Mond nicht sehen.
Die dunklen Pfoten einer jungen Silberfüchsin flogen geradezu über die vom Wind umschmeichelten Gräser einer kleinen Lichtung und berührten den Erdboden nur, um anschließend zu einem weiteren, langen Sprung anzusetzen. Frische Luft füllte ihre Lungen bei jedem Atemzug. Jedes Mal, wenn sie den Boden verlassen hatte, schlossen sich für einen Moment ihre weißen Lider und sie stellte sich vor, sie würde schweben, fliegen oder gleiten – Hauptsache etwas, das sie weit, weit weg von der normalen Welt brachte. Sie entspannte sich. Sie befreite sich.
Als sie die Vorderfüße ausstreckte und die Erde unter diesen erwartete, spürte sie plötzlich Druck auf ihren beiden Flanken, von Pfotenballen ausgeübt. Ehe sie ihre Augen öffnete, kam der Schwung eines springenden Tieres hinzu und riss sie aus vollem Anlauf zu Boden. Sie überschlugen sich, rissen kleine Erdbrocken und Grasfetzen mit sich, während sich das noch unbekannte Wesen ununterbrochen an den Körper der Silberfüchsin klammerte. Überrumpelt wurde die kleine Jägerin augenblicklich aus ihrer Trance in die Wirklichkeit zurück entführt. Ein amüsiertes Lachen drang zu ihr hindurch, dessen Ursprung sich direkt hinter und über ihr befand.
Sie musste sich gar nicht mehr fragen, was passiert war. Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie die grausilberne Gestalt ihres älteren Bruders erblickte. Lachend krümmte sich dieser über die Füchsin und lehnte sich dabei voll und ganz auf das Rückgrat seiner Schwester. Diese schaute ihn über die Schulter genervt und zugleich bittend an, bevor sie sich schließlich zu Wort meldete. »Sehr witzig, Stürmisch. Kannst du jetzt bitte neben mir weiter lachen, anstatt halb auf mir zu sitzen?«
Ja, er ging tatsächlich runter. Nachdem er sich, um sich aufzurichten, noch einmal vollends auf die Wirbelsäule der kleinen Fähe gestützt hatte. Mit aufgerissenen Augenlidern und gespreizten Zehen nahm sie den abrupten Schmerz in ihrem Rücken wahr. »Danke«, keuchte sie ironisch. Allerdings wusste sie nie, ob ihr Bruder so etwas mit Absicht machte oder einfach nur ungeschickt und tapsig war. Das schallende Gelächter des Silberfuchses ebbte zu ihrer Erleichterung ab und Stürmisch zwinkerte seiner Schwester zu. »’Tschuldigung Silver, aber dieser Sprung war wirklich genial, findest du nicht?«
»Ach, du meinst diesen Sturz auf die harte Erde?«, entgegnete diese. »Ja, der war super.«
»Hast du gesehen, wie du geguckt hast?«
»Nein, ich hatte aber eine tolle Sicht auf den Grasboden.«
Immer noch euphorisch hopste der Jungfuchs hin und her. »Das hat Spaß gemacht!«
»Du brauchst wohl immer einen Kick, nicht wahr? Aber das nächste Mal vielleicht so, dass ich mich nicht halb zu Tode erschrecke.«
»Blablabla, Spielverderberin«, murmelte er und verdrehte die Augen.
Nachdem sie sich gereckt und ihre Wirbelsäule wieder in Form gebracht hatte, richtete sich Silver auf und fuhr einige Male mit ihrer rosa Zunge über das betroffene Rückenfell. Nachdenklich zuckten ihre Ohren und ihr Blick wanderte in das Wäldchen, das sie ihr Zuhause nannte.
»Weißt du, wo Munter ist?«, erkundigte sie sich nach ihrem kleinen Bruder und erschien plötzlich abwesend, als wäre ein Schalter umgelegt.
»Keinen Schimmer. Wollte er nicht zum Bach?«
»Ich glaube eher, er ist inzwischen wieder bei Mutter.« Silver stand ohne ein weiteres Wort auf und ging in Richtung Höhle. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schaute Stürmisch seiner Schwester hinterher. In einem Moment so spitzzüngig, im nächsten wie in einer Traumwelt gefangen. Nach einem kleinen Seufzer erhob auch er sich und folgte der Silberfüchsin zu ihrem gemeinsamen Bau, bei dem ihre Mutter höchstwahrscheinlich schon wartete.
Friedlich, gleichmäßig, aber kaum erkennbar wogten die dünnen Stängel von Haselnusssträuchern und Heckenkirschen zusammen mit den lilafarbenen Blüten von Flieder immer von einer Seite zur anderen. Die Bodengewächse wuchsen von einem dichten Wirrwarr aus Blättern und Ästen zu einem undurchdringlichen Sträucherwald, welcher sich direkt neben einem dem Boden zugeneigten Felsvorsprung gepflanzt hatte. An der Stelle, an der der Fels in den stark bewucherten Grasboden mündete, formte sich ein ovales Loch, das durch einen unterirdischen Gang eines Baus direkt in seinen warmen und gemütlichen Kessel führte.
Neben jenem Eingang stand ein Fuchsjunges, welches gespannt und zugleich verträumt den Klängen und Bewegungen der Natur lauschte. Jede unbekannte Regung wurde von den kristallblauen Augen des jungen Rüden wahrgenommen und neugierig gemustert. Ein schneeweißes, dichtes Fell überzog seinen kleinen Körper und bedeckte fast jede Stelle. Lediglich die Ohren sowie seine Schwanzspitze waren schwarz gezeichnet. Jener Schwanz wippte spielerisch von einer Seite zur anderen, zeigte aber auch gleichzeitig, wie unaufmerksam und verträumt der Welpe war.
»Munter?«
Ein leichtes Zucken durchfuhr den kleinen Fuchs und blinzelnd schaute er sich zu der Stimme um, die seinen Namen gerufen hatte.
»Ja, Mama?«, fragte er mit einem solch unschuldigen Klang, dass sich ein zufriedenes Lächeln in dem Gesicht seiner ebenfalls schneeweißen Mutter bildete.
»Weißt du, wo deine Geschwister sind?«
Whitestar hatte Kinder haben wollen, wirklich. Und sie liebte ihre Kinder, keine Frage. Aber das eine Mal reichte ihr für ihr gesamtes Leben, ganz ehrlich. Ständig waren sie unterwegs, wenn sie es nicht sein sollten und wo sie es nicht sein sollten. Einmal geblinzelt und schon waren sie irgendwo im Wald verschwunden. Das war ein echter Knochenjob. Am liebsten hatte sie sie gehabt, als sie noch nicht laufen konnten.
Munter legte ein schwarzes Ohr zur Seite, ehe er ratlos antwortete, als fiele ihm erst jetzt auf, dass er ja ganz alleine war. »Nein«, beantwortete er die Frage seiner Mutter, was diese am liebsten mit einem augenrollenden ›Natürlich nicht‹ kommentiert hätte. »Ich habe Silver zuletzt gesehen, als ich zum Bach …« Sich selbst unterbrechend drehte er seinen Kopf, als plötzlich aus einer Lücke zweier aneinander gewachsener Eichen eine silberne Pelzkugel geräuschvoll hervor hüpfte. »Na ihr?«, begrüßte Stürmisch seine Mutter und seinen kleinen Bruder, während er fröhlich zu ihnen hin tapste.
Die helle Füchsin spitzte ortend die Ohren. »Wo ist Silver?«
»Öhm …«, machte der Jungfuchs und blickte sich fragend zu der Richtung um, aus der er gekommen war. Gerade in diesem Moment entdeckte er seine Schwester, wie sie leicht verspielt hervor tänzelte. »Jupp, da ist sie«, meinte er schließlich mit zufriedenem Unterton.
Whitestar seufzte erleichtert auf und setzte sich auf ihre Hinterfüße. »Ihr kostet mich vielleicht Nerven«, raunte sie nicht hörbar, bevor sie lauter weiterredete. »Hört mal, ihr drei«, fing sie an und versammelte somit ihre Jungen um sich herum. »Ihr könnt nicht immer einfach so davonlaufen, wenn’s euch gerade mal passt. Es ist gefährlich da draußen. Es ist sehr gefährlich. Erinnert ihr euch etwa nicht mehr an diesen langen, steinartigen Weg, von dem ich euch erzählt habe? Die Menschen fahren dort mit ihren blitzschnellen Maschinen herum. Ihr dürft niemals, aber auch wirklich niemals auch nur in die Nähe dieser ›Straße‹ kommen, versteht ihr das?«
Die Stimme der Füchsin war durchdringend und sie hoffte inständig, dass ihre Kinder die Worte ernst nahmen. Ein leichtes Nicken ging von jedem der jungen Tiere aus, aber die Polarfüchsin wusste nicht, ob sie die Bedrohung als solche auch wirklich begriffen.
»Sind alle Menschen böse, Mutter?«, wollte Stürmisch wissen, der die Fähe wissbegierig ansah.
»Nun …«, stockte diese und dachte einen Augenblick darüber nach, wie sie ihre Antwort formulieren sollte, bevor ein unterschwelliges Grinsen aufleuchtete. »Nur die, die ich gebissen habe«, ließ sie augenzwinkernd verlauten, wurde aber wieder ernster, ehe die Wichtigkeit der Frage vergessen werden konnte. »Aber ich denke, ich hatte noch zu wenig Berührungen mit Menschen, um entscheiden zu können, ob sie alle böse sind oder nicht. Allerdings habe ich auch nicht vor, das herauszufinden, nur um meinen Wissensdurst zu stillen. Wir kommen doch wunderbar ohne sie aus, oder? Also belassen wir es dabei.«
Ein zustimmendes Nicken ging von dem ältesten der drei aus. Er schien sich damit zufrieden zu geben und legte sich gähnend in das üppige Gras.
»Aber«, fügte die Mutter der Welpen mit scharfem Ton hinzu, »ich weiß ganz sicher, dass die Straße böse und grausam ist … verstanden?«
Wieder nickten alle eifrig und ließen die Jägerin hoffen.
Während die Sonne ihre goldenen Strahlen auf die Erde niederließ, diese wohlig erwärmte und der sanfte Wind seinen entspannten Rundgang durch das Wäldchen machte, versuchte eine gestresste Whitestar, ihren Schützlingen das Jagen beizubringen, wobei das Reißen des Geduldfadens nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
»Bitte!«, knirschte die Füchsin genervt, als sich Stürmisch gerade mal wieder einem gelben Schmetterling zuwandte, Munter gebannt auf ein herunterfallendes Blatt starrte und Silver sich räkelte und der Sonne zuzwinkerte. Whitestar zwang sich, einen aufmunternden Tonfall anzuschlagen.
»Hey Leute, je schneller ihr das lernt, desto schneller seid ihr mich los.«
Na gut – zugegeben – das war sarkastisch.
»Stürmisch!«, forderte sie deshalb nun ganz direkt ihren Ältesten auf, da keiner so recht reagierte. »Komm her und fang sie, so wie ich es vorgemacht habe.« Dabei deutete sie auf den Kadaver einer grauen Maus. Den Nager fixierend, spuckte der Silberfuchs die restlichen Flügel des hellgelben Flattertiers aus, als er jagdlustig mit zusammengekniffenen Augen, aber spielerisch in Angriffsposition ging. Ein Wippen von einem Hinterlauf auf den anderen folgte und gleich darauf setzte er zum Sprung an. Seine weißen Pfoten pressten sich mit solcher Zielsicherheit und Wucht auf den leblosen Körper des kleinen Tieres, dass es mit Sicherheit seinen letzten Atemzug genommen hätte, wäre es nicht schon tot gewesen.
Whitestar lächelte zufrieden. »Beeindruckend.«
Ermutigt von Stürmischs Erfolg, richtete sich die Jüngste der Familie auf und strich mit ihren dunklen Füßen trabend im Halbkreis um die Maus herum. Sie legte ihre Ohren an und duckte sich jagdbereit. Mit zwei etwas unbeholfenen Sätzen landete auch sie auf dem mitgenommenen Kadaver und blickte im Folgenden ihre Mutter mit wild wedelnder Rute erwartungsvoll an. Dieser entwich ein flüchtiges Lachen und sie hob einladend ihre rechte Vorderpfote. Erfreut quiekte Silver auf und glitt langsam und genussvoll unter der Pfote ihrer Mutter hindurch, sodass diese sie streichelte.
Stürmisch war inzwischen schon wieder auf Wanderschaft, wobei er aber nicht vergaß, regelmäßig zu überprüfen, wie sich seine Geschwister anstellten.
»Munter, jetzt bist du dran.«
Das verdächtig breite Grinsen auf Munters Gesicht hätte als Vorwarnung reichen müssen. Auch das spielerische Funkeln in seinen Augen hätte die Absichten des Polarfuchses erahnen lassen können. Dem war aber nicht so. Der unternehmungslustige, schwarz-weiße Schwanz des jungen Rüden wippte unregelmäßig von einer Seite zur anderen und mit tapsigen, aber zügigen Schritten steuerte er auf seine Beute zu.
Ein Satz vor die Maus, ein Biss in ihren kleinen Körper und schon spurtete der Jungfuchs mit dem Kadaver zwischen seinen Zähnen tiefer in das Wäldchen hinein – ohne dass es einer der drei übrig gebliebenen Tiere so schnell hätte realisieren können.
Verdutzt und mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Silver, wie ihr Bruder im Schutz der Bäume verschwand. Ohne darüber nachzudenken, was ihre Mutter dazu zu sagen haben könnte, folgte sie dem jungen Polarfuchs voller Eifer.
Eine kleine Jagd war die Folge.
Silver rannte oft alleine durch den Wald. Jedes Mal stellte sie sich vor, sie könne fliegen und jedes Mal wurde sie dadurch ein bisschen schneller. Es trainierte ihren kleinen Körper und dadurch dauerte es nicht mehr lange, bis sie Munter eingeholt hatte.
Ein riesiger Sprung führte dazu, dass die Silberfähe den Rüden erreichte, sich an ihn klammerte, und dieser dadurch aus dem Gleichgewicht geriet. Die beiden Jungtiere rollten einen mit Gras überwucherten Hang hinunter. Lachend, prustend und aufeinander liegend erfreuten sie sich des glücklichen Augenblicks, die Maus schon längst vergessen.
Abrupt wurden die Geschwister durch eine schwere Last unterbrochen, die auf ihnen gelandet war. Stürmischs Gelächter führte jedoch dazu, dass sich die beiden schnell von ihrem Schreck erholten und sorgte dafür, dass auch sie wieder ins Lachen einstimmten.
Whitestars Schritte konnten die drei schon wahrnehmen, doch das war von geringerem Interesse als die gute Laune, die sie momentan verspürten. Eine friedlichere und harmonischere Familienidylle konnten sich die Welpen kaum vorstellen. Doch so idyllisch sah es nur innerhalb ihres Wäldchens aus, nur innerhalb ihres Jagdgebiets, nur innerhalb ihres bisherigen Lebens.
Sage legte seine Beute behutsam im Dickicht nahe der Straße ab. Vorsichtig und wachsam schlich der Silberfuchs unter den Sträuchern entlang und kam so dem grauen Weg immer näher. Die schwachen Sonnenstrahlen, die bald vom Nachthimmel verschluckt werden würden, fielen durch die dichten Böschungen herab und sprenkelten das silberne Fell des Rüden. Immer weiter drang er zu dem Asphaltweg vor und immer nervöser wurde er dabei. Seine Ohren zuckten in jede Richtung, in der nur das geringste Geräusch zu hören war. Seine Rute zog vor Aufregung unwillkürliche Bögen durch die Luft und währenddessen kam er der Straße immer näher. Er streckte seinen Kopf vorsichtig aus den Büschen heraus. Kurz zuvor hatte er das Quietschen eines Fahrzeuges gehört, das hier entlang gefahren war. Ein solches Geräusch verhieß nichts Gutes, denn es konnte nur bedeuten, dass dem Fahrzeug etwas im Weg gewesen war.
Nun wusste Sage, was es gewesen war. Ein Igel, der offensichtlich zu langsam gewesen war, um dem Auto zu entkommen. Er lag halb überfahren in der Mitte des blutverschmierten Weges. Er lebte trotz alledem.
Sage erstarrte. Der Anblick des Tieres war grausam, ohne Frage, doch er sah dort nicht mehr nur den Igel. Jeder könnte dort liegen. Viele hatten es schon getan.
Das Tier schnaufte schwer, regte sich aber nicht weiter und hing nur bewegungslos da. Sage konnte den Anblick nicht länger ertragen – den Anblick der Folgen von Maschinen, die die Macht besaßen, ein Leben von einem auf den anderen Moment grundlos zu beenden. So wich er langsam zurück.
Seufzend saß er einen Moment lang nur da. Der Igel war bei weitem nicht das erste Opfer gewesen. Eine lange Reihe von Tieren, die genauso qualvoll hatten sterben müssen, ließ sich aufzählen. Und Sage bezweifelte sehr, dass der Igel der letzte sein würde.
Der Sonnenuntergang spielte mit seinen orange-gelben Lichtern und hinterließ seine farbigen Strahlen auf den Höhen und Tiefen des Wäldchens. Eine kühle Brise kündigte den baldigen Beginn der Nacht an. Einige Tiere legten sich bereits zur Ruhe, während andere gerade erst erwachten.
Woche um Woche war vergangen und die Jagdtechnik der drei Fuchswelpen sowie der Umgang mit ihrer Umwelt verfeinerte sich zusehends.
Die drei Jungtiere warteten bereits vor ihrer Höhle, dösig und noch verschlafen. Während Silvers Bemühungen darauf fixiert waren, ihre Augen offen zu halten, wanderte Stürmischs Hinterlauf gelangweilt an die Rückseite des Kopfes und begann, an seinem schwarzen Ohr zu kratzen, während er überdeutlich stöhnte. Silver schielte zu ihm hinüber, als ein demonstratives Gähnen folgte. Sein darauffolgender tiefer Seufzer ließ nun auch die Silberfüchsin aufstöhnen.
»Wenn dir so langweilig ist, könntest du ja mal deine erste Jagd starten«, schlug Silver genervt vor, denn Stürmischs ständige Nörgelei war zum Fell raufen.
»Pah, ich werde sowieso der erste von uns sein, der eine Beute nach Hause bringt, wetten?« Der Rüde plusterte sich siegessicher auf.
Silver grinste ungläubig. »Dann lauf am besten schon mal los.«
»Ha-Ha-Ha«, machte Stürmisch leicht eingeschnappt. »Das werde ich früh genug, aber wie schön, dass ihr ja sooo am Jagen interessiert seid.«
Mit diesen Worten ging er mit erhobenem Kopf in Richtung Höhle und schlüpfte kurz darauf in das Loch hinein.
Ein amüsiertes Kichern ging sowohl von Silver als auch von Munter aus. Die beiden zwinkerten sich vielsagend zu.
»Glaubst du, er macht es wirklich?«, wollte sie von ihrem Bruder wissen. »Ich meine, er weiß doch, dass Mutter uns noch so lange versorgen wird, bis wir sicherer sind.«
»Wer weiß.« Munter zuckte nur die Schultern und wedelte danach mit dem Schwanz. Blaue Kinderaugen teilten ihr wortlos mit, dass es so viel Schöneres gab, als sich übers Jagen Gedanken zu machen.
Silver erwiderte Munters freundliches Grinsen. Sie richtete sich etwas schwerfällig auf und trapste über das Gras zu ihm hinüber. Kurz darauf ließ sie sich zufrieden fallen und kuschelte sich an seinen weißen Pelz. Lächelnd legte dieser seinen Kopf auf Silvers angenehm warmen Körper.
Auch Whitestar kuschelte sich ganz und gar in das wollige Fell ihres Gefährten, bei dem sie sich gerade vollends geborgen fühlte. Es war einer dieser Augenblicke, in denen alles perfekt schien, alle Probleme verblassten und das Schöne umso mehr zum Vorschein trat.
Stürmisch hatte sich soeben zu ihnen gesellt und säuberte sich aus Langweile in einer Ecke der Höhle.
Die Polarfüchsin legte den Kopf auf ihre Pfoten und spürte eine verträumte Zufriedenheit. »Könnte es eigentlich noch schöner sein?«
Sages Lippen formten sich zu einem Lächeln. »Kaum, denke ich«, war seine Antwort. »Wir sind hier wirklich gut aufgehoben. Zumindest relativ gut …«
Eigentlich war die Frage ja eher rhetorischer Natur gewesen, aber schön. »Ich weiß, an was du denkst.« Die Fähe wurde merkbar ernster. »Allerdings finde ich, dass wir uns darüber keine zu großen Sorgen machen dürfen. Wir müssen unsere Kinder warnen, aber mehr können wir nicht tun.«
»Du weißt doch noch, dass wir darüber gesprochen haben, das Gebiet, in dem sie sich aufhalten dürfen, streng einzugrenzen.«
»Und du weißt hoffentlich noch, dass ich das für sinnlos gehalten habe«, entgegnete sie trocken.
»Könntest du mir noch mal sagen, warum«, schnappte er.
Whitestar seufzte und richtete ihren Kopf auf. »Wir können die Gefahr nicht weiterhin vor ihnen verschließen. Sie sind keine kleinen Welpen mehr. In ihrem späteren Leben werden sie auch nicht ohne Risiko leben und sie müssen lernen, Bedrohungen einzuschätzen.«
»Das heißt im Klartext, sie müssen erst überfahren werden, damit sie lernen, eine Gefahr einzuschätzen«, kommentierte Sage sarkastisch.
»Natürlich nicht. Zumindest nicht in so krasser Form, wie du es darstellst.« Sie schüttelte genervt den Kopf. »Ich denke jedoch, dass sie eine Gefahr spüren müssen, um damit umgehen zu können.«
»Witzig, dass du das sagst, wo du doch diejenige bist, die immer im Zickzack läuft, wenn sie mal wieder unterwegs sind.«
»Ja, aber das sind meine Ängste und ich darf durchdrehen, solange mir bewusst ist, dass es ihrer Entwicklung nicht förderlich wäre, sie geradezu einzusperren.« Sie legte den Kopf schief, ein vielsagender Blick ruhte in ihren Augen, ihre Stimme wurde leiser, sodass dieser letzte Satz nur zu Sage vordrang. »Wir beide wissen, dass wir ihnen schon genug vorenthalten.«
Grimmig musterte der Silberfuchs seine Gefährtin. Er wusste nicht, wie sie am besten vorgehen sollten, zumal sie beide und ihre Vorfahren eine ganz spezielle Vergangenheit hatten, von denen sie ihren Kindern auf seinen Wunsch hin jedoch bisher nichts erzählt hatten. Doch auch bei dieser Entscheidung war sich der Silberfuchs nicht mehr sicher, ob es die richtige gewesen war.
Schweigen füllte den hohlen Bau und auch Stürmisch, der die Unterhaltung am Rande mit angehört hatte, dachte über die Worte seiner Eltern nach. Er hatte keinesfalls vor, als unwissendes und naives Tier aufzuwachsen. Er würde kein Problem damit haben, die ›Gefahr zu spüren‹ und mit ihr gemeinsam das Leben zu ergründen. Warum auch? Wenn er seiner Mutter zuhörte, schien es sowieso unausweichlich zu sein.
Seine Entschlossenheit schlug augenblicklich in Euphorie um, als er an die Jagd dachte. Die Chance, seine Geschicklichkeit beweisen zu können, der Nervenkitzel – der Gedanke daran ließ sein Herz immer schneller schlagen, während er seine Krallen in den weichen Erdboden presste. Alles in ihm brannte und zwang ihn aufzuspringen.
Verwundert richteten Sage und Whitestar ihre Augen auf ihren Sohn. »Ist irgendetwas?«, erkundigte sich der Rüde.
»Nein. Ja!«, platzte es aus Stürmisch heraus und kurz darauf verkündete er sein Vorhaben. »Ich werde auf die Jagd gehen.«
Während die Polarfüchsin vor Stolz erstrahlte, blickte Sage eher besorgt drein. »Du machst das doch jetzt nicht nur wegen des Gespräches zwischen mir und deiner Mutter … oder?«
»Ähm … «, stockte der junge Rüde, »nein … ja.«
»Ist das deine neue Lieblingsaussage?«, fragte Sage spitz.
»Nein«, antwortete Stürmisch nun bestimmt. »Ich hab schon länger drüber nachgedacht, alleine jagen zu gehen.«
»Und das ist auch genau richtig so«, warf Whitestar ein und schaute ihren Gefährten mahnend an. »Trotzdem …«, fuhr sie fort. »Pass auf, dass du nicht in die Nähe der Straße kommst. Sie ist und bleibt ein unberechenbares Risiko für uns. Unberechenbarer und gefährlicher als unsere natürlichen Gefahren.«
Stürmisch nickte vertrauensvoll und verließ daraufhin den unterirdischen Bau.
Er sprintete geradezu über die orangefarbene Erde, zielstrebig Richtung Waldinneres. Doch sehr weit kam er nicht. Noch bevor er das Dickicht betreten konnte, nahm er antrabende Schritte wahr. Er sah Silver auf sich zu laufen, an die er bei dem Verlassen der Höhle gar nicht mehr gedacht hatte. »Ach du …«, lautete seine abweisende Feststellung. Er war immer noch gekränkt wegen ihrer Worte und hatte auch vor, dies zu zeigen.
Die Rute der silbernen Fähe zuckte nervös und in ihrem Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab, was den Rüden schon etwas stutzen ließ.
»Wohin gehst du?«, wollte sie wissen.
Stürmisch plusterte sich erhaben auf und verlieh seinen folgenden Worten durch eine angemessene Pause den gebührenden Nachdruck. »Ich gehe jagen … allein.«
»… wirklich?«, fragte Silver und zog die Lider zusammen. »Du machst das doch nicht nur, um dich zu beweisen, oder?«
»Was zur Hölle habt ihr eigentlich alle?«, stieß der Rüde genervt aus. »Also nochmal zum Mitdenken … Nein! Ich bin alt genug, verstanden? Es ist alles ganz normal.«
»Okay, okay«, wehrte die Füchsin den Ausbruch ihres Bruders ab. »Ich will nur … ich will nur, dass du vorsichtig da draußen bist.«
»Da draußen?«, lachte Stürmisch. »Das ist kein anderes Gebiet als das, was wir die ganze Zeit durchstreift haben.«
»Ich weiß…« Silver zog beschämt ihren Kopf zurück. »Trotzdem …«
Der Fuchs hielt für einen Moment inne und betrachtete seine beunruhigte kleine Schwester. Momente, in denen sie so realistisch dachte, gab es, keine Frage, doch die meiste Zeit war sie doch eher träumerisch abwesend. Anscheinend hatte ihr vorheriger Wortwechsel etwas in ihr zum Grübeln gebracht, auch wenn er nicht wirklich wusste was. Doch er merkte, dass ihn ihre Besorgnis sehr rührte und so konnte er es sich nicht verkneifen, seine Zunge über ihre weiße Schnauze gleiten zu lassen. Lächelnd schaute sie ihm in seine blauen Augen und spürte dabei eine brüderliche Fürsorge von ihm ausgehen.
»Keine Panik, Schwesterchen«, beruhigte Stürmisch sie. »Ich bin vorsichtig.«
Es wunderte ihn selbst, aber der junge Fuchs hatte seit dem Gespräch mit Silver tatsächlich das verpflichtende Gefühl, auf sich aufzupassen. Er fühlte sich irgendwie so groß und erwachsen und verantwortungsbewusst. Das gefiel ihm – bis zu dem Zeitpunkt, als der verführerische Duft eines Kaninchens in seine feine Nase gelangte. All diese verantwortungsbewussten Gefühle ebbten auf einmal radikal ab.
Es dauerte nicht lange, bis Stürmisch das Tier aufgespürt hatte und obgleich das Langohr ziemlich groß für den jungen Jäger war, spannte er alle seine Muskeln an und bereitete sich voller Vorfreude und Zielstrebigkeit zum Sprung vor. Als das bräunlich gefärbte Kaninchen nicht weit an der Deckung des Silberfuchses vorbei hoppelte, sprang Stürmisch dem Pflanzenfresser hinterher. Ein geschickter Haken des Tieres sorgte jedoch dafür, dass der übermütige Rüde im Leeren landete. Etwas verdattert blickte er auf den dunklen Grund zwischen seinen weißen Pfoten, während das Kaninchen schon längst im Wald verschwunden war.
Nach anfänglicher Enttäuschung stieg Ehrgeiz in ihm auf. So leicht würde er sich bestimmt nicht unterkriegen lassen. Dieses freche Ding würde ihm nicht einfach so entkommen. Er richtete sich entschlossen auf und begann voller Tatendrang der Fährte seiner Wunschbeute zu folgen.
Silver, die nach dem – nach ihren Maßstäben – sehr ernsten Gespräch mit Stürmisch wieder zu dem dösenden Munter zurück getrabt war, hatte sich schon wieder vollends in ihre eigene Welt eingemummt. Strahlend blickte sie den Polarfuchs an, während ihre Rute mit vollster Zufriedenheit um die Läufe schlug. Die schwachen Strahlen der Sonne wurden soeben vom Horizont verschluckt und so kuschelte sich die Silberfähe im dunklen Mantel der Nacht wieder neben ihren Bruder und beide taten genau dasselbe, ohne sich auch nur im Geringsten miteinander abgesprochen zu haben.
Sie lauschten. Sie lauschten den Unmengen an rauschenden Blättern, die in der Nacht wie ein großes Schattenspiel um ihren Ast tanzten. Sie lauschten dem entfernt plätschernden Bach, der fröhlich seinen Weg immer weiter fortsetzte. Sie lauschten dem sanft hallenden Gezwitscher und den Flügelschlägen der Vögel, welche sich bald zum Schlafen auf einen geschützten Baum zurückziehen würden. Sie lauschten jenen Mäusen, die raschelnd durch das hohe Gras huschten, um endlich in ihr wohl behütetes Heim zu gelangen. Sie lauschten der Mücke, die einfach nicht von ihren Ohren fortfliegen wollte. Sie lauschten jedem noch so kleinen Geräusch, das sich in ihrer Umgebung abspielte, aus dem einfachen Grund, sich in diese ruhige, besonnene Welt ganz und gar einfügen zu wollen.
Derart zufrieden und entspannt zu sein, konnte Stürmisch nicht von sich behaupten. Er saß an dem Stamm einer gewaltigen Buche und hatte sich zwischen zwei herausragenden Wurzeln positioniert, während die kühle Abendluft unangenehm gegen sein Fell peitschte. Zerknirscht starrte er in die Dunkelheit und fragte sich allmählich, was er hier eigentlich zu suchen hatte. Sein Jagdziel war ihm auch das zweite Mal entkommen und hatte sich nun wohl in seinem gemütlichen Bau verkrochen. Sicher vor dem Silberfuchs und allen anderen sich selbst überschätzenden Jagdanfängern hier im Wald.
Enttäuscht kaute Stürmisch auf seinen Zähnen herum und überlegte, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Eigentlich hatte er aufgrund der Misserfolge kein Interesse mehr daran, sich auch nur einen Millimeter irgendwohin zu bewegen. Jedoch zwang ihn sein Stolz dazu, sich auf seine Läufe zu stellen und sich auf die Suche nach einer anderen Beute zu machen. Ein kurzes, heftiges Schütteln, das dazu dienen sollte, die Last auf seinen Schultern loszuwerden, gefolgt von ein paar lustlosen Schritten, sorgte dafür, den Kreislauf des jungen Rüden wieder etwas anzukurbeln. Langsam trabte er los, um sich ein weiteres Mal auf die Jagd vorzubereiten. Er hatte diesmal nicht vor, sich an ein so großes Tier wie ein Kaninchen zu wagen. Er gestand sich ein, dass er sich zu viel zugetraut hatte. Immerhin war dies seine erste Jagd und so sollte er sich auch mit etwas Kleinerem zufriedengeben.
Der Versuch, sich dies einzureden, hemmte vielleicht oberflächlich die Selbstenttäuschung, doch in Wirklichkeit würde er sich sein Versagen nicht so schnell verzeihen.
Mühsam durchwand er einen dicht bewachsenen Teil des Waldes. Dornenbüsche und Brennnesseln hatten sich hier breitgemacht und ihre Wurzeln und Äste waren tief ineinander verankert. Es gab nur wenige Stellen, durch die ein Tier mit der Größe eines Fuchses hindurch gelangen konnte, und selbst dort stachen die spitzen Äste und Dornen den Körper des Jägers. Eigentlich kein besonders gutes Jagdgebiet, aber die verschiedensten Arten von Mäusen hatten hier ihre Kolonien und Behausungen, so zumindest berichteten seine Eltern immer. Der Gedanke an eine saftige Wühlmaus ließ den Rüden das Brennen der Stiche verdrängen und er bemühte sich nun konzentriert, den Geruch einer Maus aufzuspüren und dabei so leise wie möglich durch die Hecken zu gelangen.
Er hatte Glück. Eine Spitzmaus beschnupperte gerade ausführlich einen längeren Grasstängel, welcher auf den kleinen Händen des Tieres hin und her wanderte.
Stürmisch fixierte den Nager, er sah nur noch das braune Tier, sonst war ihm alles egal. Die kleinen Stiche an seinem Körper waren bereits völlig vergessen und seine Muskeln verhärteten sich zusehends. Er war bereit. Er wusste, was er zu tun hatte. Der Sprung folgte.
Heftig wurde er an seinem Hinterlauf festgehalten, es war als schnüre ihm jemand seine Pfote ab. Der Schwanz der Maus klemmte zwischen seinen fest zusammengebissenen Zähnen und das kleine Tier zerrte, scharrte und rannte so heftig, wie es dies wohl noch nie zuvor getan hatte. Stürmisch zog unterdessen an seinem Hinterlauf, von dem er nicht wusste, woran er festhing. In diesem Augenblick wand sich der dünne Schwanz der Spitzmaus aus dem Mund des Rüden und der Nager verschwand im dichten Geäst des Sträucherwaldes.
Ungläubig starrte Stürmisch hinterher.
Sie war ihm entwischt.
Dieses winzige Tier war ihm entkommen. Und nur wegen – was zum Teufel hatte ihn eigentlich um sein Abendessen gebracht? Genervt und unvorstellbar wütend musterte der Silberrüde die recht dünne, aber sehr zähe Wurzel eines Dornenbusches, die seine weiße Hinterpfote wie eine Schlinge umfasste. Knurrend riss er den Übeltäter durch, zerbiss und zerkratzte das Stück aufs Übelste, sodass man schließlich nicht mehr erkennen konnte, worum es sich gehandelt hatte. Zunächst schnaufte er noch von Zorn erfüllt, dann jedoch schlug sein Gemütszustand augenblicklich um. Sich fast ängstlich umsehend stand er inmitten der hohen Gewächse, die ihre spitzen Dornen bedrohlich auf ihn hinab gerichtet hatten. Er konnte sich kaum bewegen, ohne dass irgendeine der Pflanzen seinen Körper verletzte. Erst jetzt bemerkte er wieder die hundert kleinen brennenden Stiche an seinem Körper, die sich von den Läufen bis zu seinen Ohren erstreckten. Dieses Brennen wurde von Sekunde zu Sekunde stärker und ließ ihn das Brennnesselfeld samt seiner Übermütigkeit verfluchen.
Gedemütigt und enttäuscht von sich selbst rollte er sich zwischen dem bedrohlich wirkenden Geäst der Hecken zusammen. Er bettete den Kopf auf seinen Schwanz und schaute mit glasigen Augen in den schwarzen Himmel empor. Nicht einmal Sterne waren diese Nacht zu sehen, die dem Rüden etwas Trost hätten spenden können. Er begann zu frieren, als ihn eine kalte Böe des nächtlichen Windes erfasste und nicht mehr von ihm lassen wollte.
Er fühlte sich allein. Und als er sich nochmals in dem dichten Wirrwarr von Ästen umblickte, wurde ihm bewusst, dass er das auch war.
Erste Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter und brachten Wärme mit sich. Glitzernder Tau löste sich von den Blättern ab und die Vögel begannen ihren Morgengesang anzustimmen. Es dämmerte.
Silver war in den schönsten Träumen versunken, als ein kalter Tropfen auf ihre Nase traf. Die Fähe rümpfte diese und öffnete verschlafen die Augen. Bewegunglos beobachtete sie den Tau, wie er ihre schwarze Nase herunterlief und das Sonnenlicht für einen Moment in ihm brach. Ein Niesen folgte, das den Tropfen wegputzte.
Die Füchsin seufzte dösig und kam langsam aus ihrer Schlaftrunkenheit. Behutsam ließ sie ihre Augen über die Gegend wandern. Kristallartige Tropfen boten sich ihr von allen Seiten dar. Sie hüllten die Umgebung in ein glitzerndes Morgengewand und Silver fragte sich, ob sie nicht doch noch träumte. Ihre Lider waren gerade dabei wieder zuzuklappen, als es plötzlich unangenehm an ihrem rechten Ohr zog. Genervt wendete sie sich der freudig aufgeregten Stimme ihres weißen Bruders zu und beobachtete, wie er spielerisch um sie herumsprang.
»Gibt’s was Besonderes?«, warf die Füchsin ihm unterschwellig gereizt zu. Sie fragte sich, woher diese unerschütterliche Wachheit kam, die ihren Bruder wohl schlagartig überfallen hatte. Und wo es davon noch mehr gab.
»Was Besonderes? Sag mal, siehst du denn nicht, wie es hier aussieht? So einen schönen Morgen siehst du so schnell kein zweites Mal, er ist bezaubernd. Lass uns was unternehmen!«, forderte der Rüde sie auf, während er unaufhörlich auf und ab hopste.
»Was unternehmen?« Sie blinzelte ihm ungläubig zu. »Munter, mir fällt es schon schwer, die Augen offen zu halten. Lass mir noch einen Moment.«
»Sei nicht so träge, wo ist deine Abenteuerlust geblieben?«
»Übrigens, wusstest du schon, dass Füchse nachtaktiv sind?«, kommentierte sie spitz.
Munter lachte. »Na schön, dann geh ich eben alleine.« Er begann, seine Schwester in aller Geschmeidigkeit zu umkreisen, die ein junger Welpe aufbringen konnte und in einem schwärmerischen Tonfall weiter zu reden. »… durch die frischen Gräser mit Tau … durch die ersten Strahlen der Sonne … rieche an den ersten Blumen, die aufgehen … trinke das frische, kühle Wasser im Bach …«
»Du bist gar nicht so unschuldig, wie du aussiehst«, grinste Silver, die schon überzeugt war. Sie liebte die Streifzüge mit ihrem Bruder durch ihr Heimatgebiet, sie liebte es, morgens das erste Sonnenlicht zu tanken und jene Sachen zu erleben, die man nur am Tag erleben konnte. Sie liebte es, die Details ihrer Umwelt zu entdecken und zu bewundern und sie liebte es, dass sie dieses Glücksgefühl mit jemandem wie Munter teilen konnte. Jemanden, der es verstehen konnte.
Stürmisch befreite sich unterdessen aus den letzten Geästen des Dornenbuschfeldes. Er hatte die gesamte Nacht dort verbracht und dabei kein Auge zugetan. Sein ganzer Körper war mit winzigen Krusten überzogen, die ihn daran erinnerten, wie töricht und erfolglos er letzte Nacht gewesen war.
Der Jungfuchs trat nach einem tiefen Seufzer des Missmuts seinen Heimweg an. Doch er freute sich nicht darauf. Er hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, was er seinen Eltern erzählen sollte. Ehrlich gesagt wusste er auch nicht, wie sie reagieren würden. Enttäuschung würden sie vermutlich nicht offenkundig zeigen, aber würden sie welche empfinden?
Er versuchte, den gröbsten Frust von seinen Schultern zu schütteln, als er zerknirscht die kleine Lichtung betrat, in der ihr Bau lag. Mit verdrehtem Magen glitt er in das ovale Loch ein und kletterte durch den Eingangstunnel.
Sofort als Stürmisch den Kessel erreichte, drehte sich der weiße Kopf seiner Mutter nach ihm um. Ihre begierige Erwartung band einen noch größeren Knoten in Stürmischs Magengegend zusammen. Whitestar hatte jedoch nichts gefragt und so entgegnete der Jungfuchs auch nichts. Seine Läufe trugen ihn an die gegenüberliegende Wand der Höhle, wo er sich nach zwei Umdrehungen zu einer pelzigen Kugel zusammenrollte.
»Und?«, drang die für den Rüden unausstehlich ausfragende Stimme der weißen Fähe zu ihm hindurch.
»Was denn?«, fragte er mit bitterer Scheinheiligkeit, ohne seine Mutter anzuschauen. Den Kopf hatte er auf seinen Schwanz gelegt und sein Blick richtete sich schlicht und ergreifend ins Leere.
Whitestar zog vorwitzig eine Braue nach oben. Somit war klar, dass seine erste Jagd kein Erfolg gewesen war. Die junge Mutter hatte keinesfalls vor, ihren Sohn zu demütigen. Jedoch fand sie, dass es seiner Entwicklung nicht schaden würde, ein wenig an seinem doch sehr großen Stolz zu kratzen. »Wie war die Jagd?«, hakte sie daher nach.
Stürmisch kaute auf seinen Zähnen herum, während die gesamte Nacht noch einmal an ihm vorbeizog. Unterdessen bemerkte Whitestar die Besorgnis ihres Gefährten.
»Nicht so erfolgreich, wie ich es mir erhofft hatte«, war die vage Formulierung des Silberrüden.
Sage begutachtete seinen Sohn von Kopf bis Fuß. Sein Fell war zerzaust, in seinem Gesicht standen groß und breit die Folgen tiefer Demotivation und als wäre das nicht schon genug, war er bei genauerem Hinsehen von Kopf bis Fuß mit kleinen Stichen übersät.
»Du solltest das nicht zu ernst nehmen«, fing Whitestar an, Stürmisch zu belehren. »Selbst als erfahrener Jäger wirst du nicht immer erfolgreich sein.«
»Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe«, raunte der Silberfuchs mit unterschwelliger Abwertung gegenüber seiner Mutter, sah sie jedoch nicht an.
Diese tat die Situation ab. »Ts … was meist du, wie viele erfolglose Jagden ich schon hinter mir habe!«
»Ich glaube nicht, dass er damit alleine seine erfolglose Jagd meint«, meldete sich Sage zu Wort, der auf die vielen kleinen Wunden deutete. Entweder hatte die Füchsin diese vorher nicht bemerkt oder sie hatte sie ignoriert. Whitestar hielt einen Moment inne, aber aus ihrer Miene ließ sich nicht schließen, ob sie überrascht war. »Ist das der Grund, warum du die ganze Nacht fort warst?«, fragte sie lediglich und versuchte, ihrem wegblickenden Sohn in die Augen zu schauen.
»Wisst ihr was?« Stürmisch hob seinen Kopf mit genervter Visage empor. »Ich will jetzt nicht darüber reden. Also … wo treiben sich Silver und Munter eigentlich rum?«
Whitestar legte fragend ein Ohr zu Seite. »Ich dachte, sie wären draußen.«
»Ja, natürlich draußen«, glitt es Stürmisch mit sich überschlagender gereizter Stimme heraus, »aber wo genau?«
»Vor der Höhle, mein beleidigter Freund!«, feuerte die Füchsin zurück, die den Tonfall ihres Sohnes ganz und gar nicht mochte.
Die Ohren des Rüden zuckten verärgert, doch er bemerkte, dass Zurückhaltung angesagt war. »Dort sind sie aber nicht«, kam stattdessen kleinlaut hervor, was die jungen Eltern verwunderte sowie auch verängstigte.
Nein, die zwei Geschwister hatten ihren Eltern nichts von ihrem Ausflug erzählt. So etwas war in einer Traumwelt auch nicht nötig, die für die Jungfüchse so real erschien wie die tatsächliche Welt. Sicher und geschützt, mit ihrem Geschwisterteil an der Seite.
Ihr morgendlicher Spaziergang war in ein Fangspiel übergegangen. Fuchs und Füchsin rasten über Gräser und Büsche, über Stöcke und Steine und nichts konnte sie aufhalten oder gar ablenken. Ein weißes Fellbüschel durchquerte soeben einen Wurzel-Parkour, relativ dicht gefolgt von einem silbernen. Silver musste zugeben, dass sie Schwierigkeiten damit hatte, die manchmal sehr hoch herausragenden Wurzeln zu passieren. Umso verblüffter war sie, wie wenig Anstrengung dagegen Munter zu haben schien. Wenn sie nur wüsste, woher er seine Kraft nahm. Zwar war er am Ende eines Spiels für gewöhnlich körperlich ausgelaugt, jedoch bewunderte Silver ihn immer wieder wegen seiner Vitalität.
Jedes neue Hindernis kam der Fähe größer und größer vor und sie erwischte sich dabei, wie sie hechelnd nach Luft keuchte.
Okay, das reichte. Die Silberfüchsin kroch das kühle Unterholz entlang, bis sie außerhalb des Wurzelfeldes war. Nun sprintete sie parallel zu Munter los – keine Wurzeln, kaum Steine, sondern einfach nur Gras, über das man rennen konnte. Das war definitiv besser. Jetzt konnte sie wieder ihre Stärke nutzen, ihre Schnelligkeit. Unwillkürlich fielen ihr die Augen für einen Moment zu und sie begann, frische Kräuter und den Morgenduft zu riechen. Danach öffnete sie sie wieder und visierte Munter an. Jetzt war es an der Zeit, ihren Bruder einzuholen.
Ihre Läufe bewegten sich immer schneller und sie überflog die dichten Grasbüschel geradezu. In diesem Moment verließ auch Munter das Hindernisfeld und sprintete die Lichtung entlang. Die Luft peitschte ihm entgegen und wehte sein weißes, unschuldiges Fell umher, seine glasblauen, wachen Augen schlossen sich kurz, seine dunklen Ohren wurden zurückgedrückt. Er nahm nur noch das Rauschen des Windes wahr, der an ihm vorbeischoss. Seine Bahn war frei, sein Körper losgelöst und sein Herz trommelte vergnügt gegen seine Brust. In diesem Moment gab es nur ihn.
So hörte er nicht die Rufe seiner Eltern und auch nicht das Brummen eines Autos, das gerade die Straße entlangfuhr. Er nahm nicht einmal wahr, dass sich die Straße direkt vor ihm befand.
Seine Läufe, die ihn noch wenige Sekunden zuvor zu befreien schienen, führten ihn aus der Traumwelt direkt in die reale. Er hatte keine Zeit mehr, um zu erkennen, was das bedeutete.
Das Quietschen der Reifen drang wie ein Todesschrei in Silvers Trommelfell und ließ sie mit stechendem Herzen anhalten. Sie stolperte über den belaubten Boden, ihr Herz donnerte gegen ihre Schläfen. Sie wusste, es war etwas geschehen. Die Einzelheiten schwirrten in ihrem Kopf zu einem nicht begreifbaren Bild.
War das Blut? War da etwas Weißes? Sie konnte keine klaren Bilder erfassen. Ob aufgrund ihrer Position oder des Taubheitsgefühls, das plötzlich alle Sinne übermannt hatte, wusste sie nicht. Das Hämmern ihres Herzens hallte in ihren Ohren, sie spürte das pumpende Blut in jeder Ader ihres Körpers, als wollten sie alle miteinander zerplatzen.
So sehr, wie es in ihrem Körper wütete, so still war sie äußerlich. Keine Regung, kein Zucken, kein Zwinkern, nichts.
Selbst wenn sie sich der Straße hätte nähern wollen, wäre ihr das unmöglich gewesen. Ihren Pfoten waren unsichtbare Fesseln angelegt, ihr Körper war mit imaginärem Stein umschlossen, der drohte, sie zu erdrücken.
Das erste, das sie wieder wahrnahm, war ihr Atem. Schnell, heftig, panisch in kurzen, unterdrückten Schnappgeräuschen.
Auch sie hatte soeben die reale Welt betreten.
Blätter wirbelten zu beiden Seiten der drei Füchse auf, die sich voller Panik und böser Vorahnungen einen Weg zu Silver bahnten. Keuchend verlangsamten sich die Schritte von Sage, Whitestar und Stürmisch, bis sie schließlich bei der silbernen Füchsin ankamen.
Die kleine Fähe beachtete sie nicht, sie rührte sich nicht, sie stand wie eine Statue aus Stein einfach nur da. Die Familie folgte ihrem eiskalten, starren Blick, der in Richtung Straße führte.
Alle fühlten sich wie aus dem Leben geschleudert. Die Umgebung bis auf die Straße verschwand, der Sauerstoff schien urplötzlich aus der Luft gesogen zu sein und sie alle hofften, dass sie nur endlich jemand aus ihrem Alptraum wecken würde.
Sage taumelte benommen zur Straße hin, doch je näher er kam, desto schwächer wurden seine Glieder und er spürte, wie er zusammensackte.
Stürmisch hob zittrig eine Pfote und wollte sich ebenfalls dem Unfallort nähern, doch Whitestar hielt ihn zurück. Sie machte ihm klar, dass er zur Höhle zurückkehren sollte. Benebelt lief er ein paar Schritte rückwärts und ließ sich auf seine Hinterläufe sinken. Sein Blick wanderte zu Silver. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt. Er musterte sie von oben bis unten, ihren zitternden Körper. Silver hatte Glück gehabt, doch Stürmisch war bewusst, dass an diesem Morgen ein Teil von ihr gemeinsam mit Munter gestorben war.
Whitestars gläserne Augen hatten sich ebenfalls auf die Silberfähe gerichtet. Die Polarfüchsin schritt neben ihr Junges und betrachtete es eine Weile. Schließlich drückte sie ihre Tochter zur Seite und versuchte, sie von diesem Ort fortzubewegen. Silver war immer noch in Trance, starr und regungslos. Stürmisch wusste nicht, was sie von ihrer Umgebung noch wahrnahm, er wusste nicht einmal, ob sie sich der Anwesenheit ihrer Familie bewusst war. Wie einen leblosen Gegenstand ließ sich die Füchsin von ihrer Mutter vor sich herschieben. Sie wehrte sich nicht. Sie tat gar nichts.
Für Silver brach eine Welt zusammen. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser neuen Welt umgehen sollte, die hinter den Trümmern ihrer alten zum Vorschein trat – eine düstere, dreckige und unendlich ungerechte Welt. Die Schönheit der Natur wurde von dieser neuen Welt verschlungen, genauso wie jede Freude, die die Füchsin einmal empfunden hatte. Oftmals beobachtete sie den Tau, lauschte den Vögeln oder den rauschenden Blättern und versuchte verzweifelt, das Gefühl wiederzubekommen, das sie verloren und somit eine klaffende Wunde in ihr Herz gerissen hatte. Doch es war nicht mehr da. Alles was sie sah, war Wasser, das bestenfalls zum Trinken gut war, Federvieh, welches als Nahrung dienen konnte und Grünzeug, dessen Geräusche sie bei der Jagd behinderten. Und allmählich wurde ihr bewusst, dass diese wunderschöne Natur niemals real war. Alles, was ihr etwas bedeutet hatte, hatte nie existiert. Und das würde es auch nie – nie mehr.
Whitestar und Sage machte das Verhalten ihrer Tochter große Sorgen. Woche um Woche verging und sie zog sich immer weiter zurück, manchmal stundenlang und niemand wusste, wo sie war. Munters Tod saß jedem in den Knochen und noch lange würden sie ihn nicht verarbeitet haben, jedoch hatten die Eltern der Füchsin das ungute Gefühl, Silver würde diese Sache von der vollkommen falschen Seite anpacken. Wenn sie sich bemühten mit ihr zu reden, blockte sie ab. Wenn sie versuchten sich zu ihr zu legen, stand sie unter irgendeinem Vorwand auf und verschwand. Und niemand wusste, wie man ihr beistehen konnte.
An einem späten Nachmittag durchwanderte Stürmisch mit einer Maus im Maul den angenehm warmen Wald. Der Rüde verbesserte seine Jagdtechnik zusehends und wurde immer geschickter. Immer stärker werdende Muskeln, die seinen Körper durchzogen, kennzeichneten sein Älterwerden.
Kurz hielt er an und legte den toten Nager ab, damit er seine Zunge ein wenig heraushängen lassen konnte. In letzter Zeit hatte die Temperatur auffällig zugenommen, was Stürmisch jedoch ganz recht war, denn es war unheimlich entspannend, sich in der Sonne zu räkeln.
Leicht hechelnd überflog er das Gelände und überlegte sich einen Ort, an dem er seine Beute gebührend verspeisen konnte, als ihm etwas ins Sichtfeld fiel, was er nicht erwartet hatte. Nach kurzer Überlegung nahm er die Maus zwischen die Zähne und steuerte sein Ziel an.
Sie hatte ihn nicht bemerkt. Sie starrte weiter vor sich hin. Stürmisch warf ihr den Kadaver direkt vor ihre dunklen Pfoten, erst dann reagierte die Fähe. Silvers müder und erschreckend gleichgültiger Blick wanderte zu der Maus und musterte diese nichtssagend.
Der Silberfuchs betrachtete sein Gegenüber halb entsetzt, halb besorgt. »Gönn dir die, du bist schon abgemagert genug.« Doch Silvers Kopf drehte sich ausdruckslos wieder in seine vorherige Position. Stürmischs Besorgnis fraß sich daraufhin unangenehm durch seine Brust. Was er da sah, gefiel ihm nicht. Der Anblick der gebückten Haltung, des leeren Blickes und des dünnen Körpers seiner kleinen Schwester gab ihm geradezu einen Stich ins Herz.
»Es ist nicht gut, was du da machst«, sagte der Rüde frei heraus. Doch keine Reaktion seitens der Silberfüchsin. »Komm zu uns zurück, Silver«, setzte Stürmisch noch einmal vorsichtig an. »Wir vermissen dich.« Die Lefzen der jungen Fähe zuckten und er bemerke, wie sich ihre Lider zusammenzogen. Stürmisch seufzte ernüchtert und wollte sich wieder abwenden. »Vielleicht bekommst du ja noch Hunger«, meinte er noch leise, bevor er seine Wende vollendet hatte.
»Es ist schon merkwürdig, wie sich die Sicht auf die Dinge verändern kann, nicht wahr?«, drang eine nüchterne Stimme zu ihm durch und ließ den Rüden anhalten. Er wandte sich zurück zu Silver, die genauso da saß wie zuvor. Stürmisch folgte ihrem Blick und bemerkte erst jetzt, dass sie die ganze Zeit einen Schmetterling beobachtet hatte und nicht aus den Augen ließ.
Der Fuchs kehrte nochmals zurück und setzte sich behutsam neben seine Schwester. »Was hat sich verändert?«, ging er auf Silvers Bemerkung ein.
»Früher hätte ich diesen Schmetterling nicht aus den Augen lassen können, weil ich ihn als ›schön‹ empfunden hätte«, erklärte sie.
Er musterte sie abwartend. »Und heute?«
»Heute lasse ich ihn nicht aus den Augen, um herauszufinden, warum ich ihn damals nicht aus den Augen hätte lassen können.«
»Aber er ist doch ziemlich schön«, fand der Rüde.
»Nein, ist er nicht«, entgegnete Silver entschlossen. »Er ist eine Laune der Natur, das hat nichts mit Ästhetik zu tun.«
Stürmisch stockte zweifelnd. »Das finde ich nicht. Nur weil etwas der Natur entsprungen ist und dadurch vielleicht einen speziellen Nutzen hat, heißt das doch nicht, dass es nicht schön ist. Wo ist denn da die Logik?«
Keine Antwort.
Der Fuchs senkte seinen Kopf leicht, meinte aber bestimmt: »Munter hätte das genauso gesehen.«
Blitzartig drehte sich ihr Kopf zu Stürmisch. Leicht entsetzte und leicht überraschte Augen sahen ihn an. »Das ist es ja«, erwiderte sie. »Munter ist weg. Ebenso wie seine Ansichten.« Ruckartig stand sie auf und wollte gehen.
»Das ist, als würdest du Munter verleugnen«, warf Stürmisch ihr fast vorwurfsvoll hinterher.
»Nein«, widersprach Silver mit zittriger Stimme, »aber seine Ansichten erinnern mich daran, dass ich ihn verloren habe. Und sie erinnern mich daran, dass ich etwas meiner Selbst verloren habe.« Noch ein paar weitere Schritte entfernte sie sich.
»Du hast aber eine Familie, die dir helfen will«, fügte Stürmisch hinzu, was die Silberfüchsin noch einmal innehalten ließ, bevor sie jedoch ihre Bewegung fortsetzte und endgültig im Wald verschwand.
Das Herz schlug wild gegen ihre Brust, ihre Atmung war unregelmäßig und sie lief ständig auf und ab. Die Silberfüchsin wusste, dass Stürmisch recht hatte, sie wusste, dass sie sich zu sehr hängen ließ, doch in ihrem Inneren rebellierte sie dagegen, irgendetwas an ihrem Gemütszustand zu ändern. Sie konnte nicht einfach so weiter machen wie bisher und so tun, als wäre nichts geschehen. Sie konnte das, was sie verloren hatte, nicht ignorieren. Aber sie wusste auch, dass sie den Weg, den sie seit Munters Tod angetreten hatte, ebenfalls nicht fortführen konnte. Denn mit jedem Schritt, den sie auf diesem Pfad tat, konnte sie das, was gerade aus ihr wurde, immer weniger leiden.
Silver fühlte sich gefangen und wusste nicht, wie sie ihrer Vergangenheit und ihrer vermeintlichen Zukunft entfliehen sollte. Denn weder das eine noch das andere behagte ihr.
Es musste sich etwas ändern – und zwar drastisch. Das spürte die Fähe so deutlich wie noch nie zuvor. Und diese Veränderung musste bald eintreten, bevor sie daran zerbrach.
Stürmisch hatte unterdessen den Heimweg angetreten. Die Unterhaltung mit seiner Schwester hatte ihn sehr beunruhigt und mit jedem Schritt, den er näher an seinen Bau trat, lastete mehr und mehr ein unausstehlicher Druck auf seinem Herzen. Er spürte, wie er das Gespräch immer mehr realisierte. Und je mehr ihm klar wurde, dass Silver davonzugleiten drohte, desto nachdrücklicher wurde ihm bewusst, dass er die Silberfähe für immer verlieren könnte.
Seine Schritte wurden schneller und hektischer, bis er schließlich die Höhle erreichte, vor deren Eingang sich seine Eltern befanden. Sie sonnten sich noch ein wenig unter den gerade verschwindenden Strahlen. Doch in ihren Gesichtern war deutlich die in ihnen herrschende Anspannung abzulesen, die sie seit Munters Tod eigentlich nicht mehr abgelegt hatten.
Stürmisch trat auf die Lichtung mit einem Herzen, das inzwischen tiefer gerutscht war, als es der junge Rüde von sich gewohnt war.
»Ich muss mit euch über Silver sprechen«, begann er unvermittelt.
Sage horchte aufgeschreckt auf. »Ist was passiert?«
»Noch nicht«, lautete Stürmischs verbitterte Antwort, »aber ich habe wirklich Angst um sie. Vorhin habe ich sie im Wald getroffen, ihr … ihr hättet sie sehen müssen.« Als der Silberfuchs an den Wortwechsel dachte, schnürte es ihm noch weiter das Herz zu. »Sie war so gleichgültig und so unheimlich kalt. Ich sage euch, so habe ich sie nie zuvor gesehen.«
Die jungen Eltern tauschten besorgte, doch nicht wirklich überraschte Blicke aus.
Whitestar stand tief einatmend auf und legte den Kopf leicht zurück. »Wo ist sie jetzt?«
Während sie überlegten, wie man Silver wohl finden konnte, wusste die Familie nicht, dass sie direkt auf dem Weg zu ihnen war. Die Silberfüchsin hatte lange und intensiv über ihr Problem nachgedacht. Lange waren ihre Gedanken von einer Lösungsmöglichkeit zur anderen gestreift. Lange wusste sie nicht, wie sie sich selbst aus ihrem Tief heraushelfen konnte. Doch je mehr sie sich in dem Wäldchen umsah, je mehr ihr die Erinnerung hochkamen, desto mehr verdeutlichte sich der Ausweg. Sie konnte nicht behaupten, dass ihr diese Entscheidung leichtfiel. Einige Stunden hatte sich die Fähe zusammengerollt und mit nachdenklich geschlossenen Augen alles noch einmal überdacht. Sie war nach und nach die Möglichkeiten nochmals durchgegangen und hatte abgewogen, ob es noch andere Optionen gab. Doch keine der anderen waren Silver hilfreich erschienen.
Schweren Herzens und gleichzeitig auf merkwürdige Weise erleichtert, schritt sie in der inzwischen dunkel gewordenen Umgebung auf ihr Heim zu.
Unterdessen war Whitestar kurz vor dem Aufbruch, um sich auf die Suche nach ihrer Tochter zu begeben. Sie verspürte Ungewissheit darüber, wie sich die Dinge wohl entwickeln würden, aber ebenso Entschlossenheit, die Situation zu klären.
»Gerne kann jemand von euch ebenfalls losziehen, um Silver zu suchen, aber einer sollte hierbleiben, falls sie zur Höhle zurückkehrt.«
»Dann hätte der Jemand an der Höhle wohl das meiste Glück«, kommentierte eine Stimme aus den Bäumen, die die Familie umwenden ließ. Es war die Silberfüchsin, die aus dem Wäldchen heraus auf die Lichtung trat.
»Silver, wo hast du gesteckt?«, fragte ihre Mutter mahnend und besorgt zugleich.
Auch Sage trat ein paar Schritte auf seine Tochter zu. »Ja, du hast dich ganz schön zurückgezogen, weißt du das?«
Silver seufzte tief, spürte ein tiefes Bedauern und doch entschlossene Tatenkraft. »Ich weiß.«
Sage seufzte ebenfalls und verlieh seiner Mimik bei den folgenden Worten inniges Mitgefühl. »Hör mal zu … vielleicht haben wir ja irgendwie versäumt, dir zu vermitteln, dass du mit uns jederzeit über alles reden kannst, nach dem was geschehen ist. Was wir am wenigsten möchten, ist, dass du deine Trauer in dich hineinfrisst und leidest.«
Als die Fähe ihren Vater so betrachtete und ihm zuhörte, bildete sich nach langer Zeit wieder ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen und ihre Augen wurden leicht wässrig. »Ich danke dir«, beteuerte Silver mit fragiler Stimme. »Euch allen für eure Hilfe.« Ihr Ausdruck wurde brüchig, ihr Tonfall leiser aufgrund der Bedeutung ihrer Entscheidung. »Aber ich fürchte, das wird nicht reichen.«
Wieder ein Stich, den Stürmisch in seinem Herzen spürte. »Was willst du damit sagen?«
Ohne dass sie es wollte, schoss noch mehr Wasser in ihre Augen. Sie schluckte verzweifelt ihre Gefühle herunter. »Wenn ich … mich hier umsehe, mir das Wäldchen betrachte … dann sehe ich nicht mehr das wohlige, schützende Zuhause, das es früher einmal für mich war. Ich sehe Erinnerungen. Erinnerungen, die ich nicht mehr ertragen kann, die mir nichts als Kummer bieten können.«
»Was soll das bitte heißen?«, fuhr Stürmisch seine Schwester an. »Gibst du auf? Einfach so?!«
»Ich habe nicht vor, den Geist aufzugeben, falls du das meinst«, zischte Silver entschlossen zurück.
»Dann stell dich dem Problem!«, befahl der Silberrüde.
»Verstehst du denn nicht?«, versuchte die Fähe zu erklären. »Ich möchte hier keinesfalls aufgeben. Aber wenn ich hierbleibe, wo mir nichts bleibt außer diesen schrecklichen Erinnerungen, die einfach nicht aus meinem verdammten Kopf verschwinden wollen, wird genau das passieren.«
Schweigen umhüllte die Familie. Die Trauer und Enttäuschung dehnten sich förmlich aus, die Anspannung war greifbar. Sie legte sich wie Beton auf jeden einzelnen der Füchse nieder und es war nicht leicht, ihr standzuhalten.
»Du willst also weg von hier«, raunte Sage schließlich.
Silver blinzelte innehaltend, nickte dann aber entschieden.
Whitestar schüttelte ungläubig den Kopf. »Denkst du ernsthaft, dass du dadurch Frieden finden wirst? Die Erinnerungen sind in deinem Kopf. Und den wirst du nicht abschrauben und hierlassen können.«
»Ich weiß, dass ich nicht alles vergessen werde, sobald ich das Wäldchen verlasse«, antwortete die junge Füchsin leicht bissig, »aber hier werde ich viel intensiver, viel mehr an alles erinnert. Und ich weiß es, ich spüre es in jeder Faser meines Körpers, dass ich das nicht aushalten werde.«
»Ja, aber du hast keine Ahnung, was da draußen vor sich geht«, wandte Sage ein. »Du kennst diese Welt nicht, du kennst nur …«
»… diesen behüteten Ort hier?«, unterbrach Silver ihren Vater auffallend sarkastisch.
Wieder folgte Schweigen.
»Du kannst nicht mal richtig jagen«, argumentierte Whitestar halblaut, wohl wissend, dass dies nichts ändern würde.
»Meine Jagdkünste sind zwar nicht gerade ausgereift, aber gut genug, um zurecht zu kommen«, erwiderte ihre Tochter auch zugleich. Noch einmal überflog ihr Blick die Familie, dann schritt sie langsam zurück.
»Silver …«, versuchte Sage seine Tochter zu halten, obwohl auch ihm langsam mit erschreckender Erkenntnis bewusst wurde, dass ihre Entscheidung gefallen war.
»Ich habe euch sehr lieb«, verabschiedete sich die junge Füchsin mit zitternder Stimme im Rückwärtsgang und sie merkte erneut, dass Tränen erbarmungslos in ihren Augen brannten und mit Gewalt auszubrechen versuchten, um ihr tiefes Leid zu offenbaren. Sie wendete sich von den von Trauer erfüllten Gesichtern ab, die so erstarrt und fassungslos dreinschauten, und rannte los in die Nacht hinein. Sie schlug die Richtung der Felder ein und wurde dabei immer schneller. Doch dieser Abschied lastete so sehr auf ihr, dass sie sich plump und schwer fühlte. Ihre Augen füllten sich mit Wasser, bis sie nur noch eine verschwommene Umgebung wahrnahm, doch sie weigerte sich, die Tränen fallen zu lassen. Sie rannte bis sie schließlich aus der Sicht der Hinterlassenen vollends mit dem Mondschein verschmolz.
Die Familie fühlte sich wie mit eiserner Brutalität in den Boden gerammt. Sie hatten das Gefühl, zwei Familienmitglieder in kurzer Zeit verloren zu haben.
Silver rannte. Sie überquerte gerade die Grenzen des Wäldchens, ihres Zuhauses. Sie streifte die letzten Böschungen dieser Gegend, bevor sie schließlich zu den Stoppelfeldern gelangte. Sie hielt nicht an. Sie rannte geradewegs über die starren Spitzen hinweg. Kurz zuckte sie auf, als es schmerzhaft unter ihren Pfotenballen stach, doch sie kam nicht zum Stillstand. Sie versuchte die Stiche zu ignorieren, selbst nachdem sie bemerkte, dass ein paar dieser Stacheln ihr die Pfoten aufgeschürft hatten.
Noch eine ganze Weile hüpfte sie zwischen den Feldern hindurch, darauf bedacht zwischen den Stoppeln aufzutreten. Während sie sich auf diese Sache konzentrierte, merkte sie bald wie sie ruhiger wurde. Keine Tränen drückten mehr, auch wenn ihre Augen noch brannten. Sie fühlte sich in vielerlei Hinsicht leichter und doch so – erschöpft. Ausgelaugt.
Schließlich konnte sie das Ende der Felder erkennen und wurde daraufhin noch mal ein wenig schneller. Es dauerte nicht lange, da verließ die Fähe das Stachelfeld und berührte mit ihren Füßen weiches, federndes Gras.
Sie schritt auf einen nahe gelegenen Baum zu und ließ sich seufzend an seiner Borke niederfallen. Wärmend wand sie ihren buschigen Schwanz um ihren Körper und begann die schmerzenden Füße zu lecken.
Nach einer Weile betrachtete sie ihre Umgebung, die durch das helle Mondlicht wie versilbert aussah. Auf irgendeine Weise fühlte sie sich durch das Licht der hellen Scheibe beschützt. Es fühlte sich an, als würde sie sich mit dem Schein vereinen, was wohl auch zumindest äußerlich der Fall war. Irgendwie tröstete sie das, als wäre eine große Macht anwesend, die ihr versicherte, dass sie nicht alleine war.
Mitten in ihren Gedanken drang eine Stimme zu ihr hindurch. »Wer bist du denn?«
Irritiert blickte sich die Fähe um, spitzte angestrengt die Ohren und versuchte, irgendeine Gestalt zu erfassen. Vergebens. Als keine Antwort seitens der Silberfüchsin kam, ertönte die Stimme ein weiteres Mal. »Ich bin direkt über dir, meine Gute.«
Den Kopf leicht einziehend schaute Silver in die dichte Baumkrone, die sich über ihr emporhob. Erleichtert lockerte sie ihre Anspannung, als sie erkannte, dass die unbekannte Stimme zu einer Elster gehörte. »Wer will das denn wissen?«, war die Gegenfrage der Füchsin.
»Na, ich natürlich«, zwitscherte der Vogel amüsiert und ließ sich einen Ast tiefer fallen. »Es ist ungewöhnlich, hier draußen Füchse anzutreffen. Ihr haltet euch doch normalerweise nur innerhalb der Wäldchen auf.«
Silvers Ohr zuckte kurz auf. »Ich eben nicht«, erklang die schlichte Erklärung.