Mondteufel - Astrid Korten - E-Book
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Astrid Korten

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Beschreibung

+++NEUERSCHEINUNG+++NEUERSCHEINUNG VOLLMOND: Zeit für Angst, für Verlogenheit, für Lügen, für Mord. Zeit für den Mondteufel. Stellas Bruder Jordi wird im Alter von acht Jahren ermordet. Kurz nach dem Mord werden drei Jugendliche verhaftet und aufgrund eines Indizienprozesses zu zehn und acht Jahren Haft verurteilt. Dreißig Jahre später erleidet die 42-jährige Stella eine Hirnblutung und wird in die Rehabilitationsklinik Euphoria verlegt. Wochen vergehen, an die sich Stella nach dem „Aufwachen“ nicht erinnern kann. Sie erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Mann sie urplötzlich verlassen hat. Auch geschehen seltsame Dinge in der Klinik. Sie fragt sich, wem sie noch trauen kann, seitdem ihr Gedächtnis sie im Stich lässt. Langsam beschleicht Stella das ungute Gefühl, dass nicht alle Veränderungen auf ihre Hirnblutung zurückzuführen sind …

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Inhaltsverzeichnis

Vollmond

Über das Buch: MONDTEUFEL

MONDTEUFEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

MONDTEUFEL

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

MONDTEUFEL

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

MONDTEUFEL

Kapitel 26

Kapitel 27

MONDTEUFEL

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

MONDTEUFEL

Kapitel 33

Kapitel 34

MONDTEUFEL

Kapitel 35

Kapitel 36

MONDTEUFEL

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

MONDTEUFEL

Kapitel 41

MONDTEUFEL

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

MONDTEUFEL

Kapitel 47

Mondteufel

Kapitel 48

Mondteufel

Kapitel 49

Mondteufel

Kapitel 50

Mondteufel

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Nachweis

Danksagung

Impressum

Vollmond

Eine endlose Leere

hat Tausend Gedanken,

mit Mängeln behaftet.

Vollmond

Zeit für Angst,

für Verlogenheit,

für Lügen, für Mord.

Zeit für den Mondteufel.

Über das Buch: MONDTEUFEL

Stellas Bruder Jordi wird im Alter von acht Jahren ermordet. Kurz nach dem Mord werden drei Jugendliche verhaftet und aufgrund eines Indizienprozesses zu zehn und acht Jahren Haft verurteilt.

Dreißig Jahre später erleidet die 42-jährige Stella eine Hirnblutung und wird in die Rehabilitationsklinik Euphoria verlegt. Wochen vergehen, an die sich Stella nach dem „Aufwachen“ nicht erinnern kann. Sie erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Mann sie urplötzlich verlassen hat. Auch geschehen seltsame Dinge in der Klinik.

Sie fragt sich, wem sie noch trauen kann, seitdem ihr Gedächtnis sie im Stich lässt.

Langsam beschleicht Stella das ungute Gefühl, dass nicht alle Veränderungen auf ihre Hirnblutung zurückzuführen sind …

MONDTEUFEL

Sternzeichen Schütze

Das silberne Licht des Mondes umhüllt mich mit einem geheimnisvollen Schleier. Die Dächer, die sein Licht widerspiegeln, schimmern weiß. Ähnlich gespenstisch sehen auch die Bäume aus, die Zweige erinnern mich an die knöchernen Finger einer alten Frau.

Dem Vollmond werden besonders Kräfte nachgesagt. Er entflamme Liebende und sorge für Fruchtbarkeit, doch seine Macht soll Menschen auch unruhig und aggressiv machen. Möglich, dass daraus der Mythos vom wütenden Werwolf entstand. Immer wieder wird das Phänomen des Vollmondes auf unterschiedliche Weise beschrieben, von der Mondkrankheit über jaulende Wölfe im Wald, deren spitze Nasen auf die leuchtende Kugel am Himmel gerichtet sind, bis hin zum unruhigen Verhalten von Kindern und Erwachsenen. Einige nennen es Aberglaube, andere nehmen es ernst und treffen auf dieser Grundlage weitreichende Entscheidungen.

Seit meiner frühesten Kindheit habe ich mich bei Vollmond wohl gefühlt. Schon immer übte der Mond in seiner vollen Pracht eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Ich bin bei Vollmond ausgeglichener, selbstbewusster, ruhiger, ich habe eine Mondseele. Ich möchte die ganze Nacht draußen verbringen und endlos auf dieses besondere Licht blicken, welches mit keinem anderen Leuchten verglichen werden kann. Ich lasse sein Licht tief auf mich einwirken, ein Licht, das mich wach hält, mir Ehrfurcht einflößt, mich tröstet, wärmt und mir Mut gibt. Manchmal mache ich einen Vollmondspaziergang durch die Straßen und die anfangs eher gespenstisch anmutende Stimmung wechselt innerhalb kurzer Zeit durch die tiefe Verbundenheit mit dem Mond. Eine solche Gelegenheit eignet sich wunderbar, um einen Plan in die Tat umzusetzen. Auch dazu dient die Kraft des Mondes. Was ich mir vorgenommen habe, kann also nur bei Vollmond gelingen.

Heute Nacht ist Vollmond.

Aber heute Nacht ist es dafür noch zu früh.

Ich stecke voller Marotten, da bin ich mir sicher. Aber was sind schon Marotten? Tierkreiszeichen finde ich beispielsweise schon mein ganzes Leben lang interessant. Faszinierend. Fesselnd. Dabei sollte ich besser an anderen Dingen Gefallen finden. Aber es ist, wie es ist.

Ich verabscheue Schmutz und hasse unsaubere Gedanken. Mir wird übel beim Anblick von fettigen Fingerabdrücken an Türen, einer Explosion aus silbrigen Staubpartikeln auf dem Fernseher oder Essensresten in einem Kochtopf. Ich hasse den Unrat, den Hausmüll, faulendes Obst oder den Schimmel im Keller.

Ich liebe die Farbe Weiß. Weiß ist die Farbe des Todes.

Der Tod ist rein, weshalb ich mich auch nicht vor Leichen ekle. Ein toter Körper ist nur eine Hülle. Ich kümmere mich stets sehr sorgfältig um einen Toten und lasse mir Zeit. Ich spreche mit ihm, schaue ihn mir genau an, atme den Duft des Todes ein oder schnuppere das köstliche Leben, bevor ich es auslösche. Selbst, wenn ich junges Leben vor mir habe, verspüre ich diesen verräterischen Drang zu töten. Es ist eine zwanghafte, heimtückische Begierde, die mich erfasst, sobald sich mir jemand in den Weg stellt. Diese Lust zwingt mich zu Taten, über die ich später nicht mehr nachdenken möchte.

Mein neues Opfer wird ein im neunten Tierkreis Geborener sein: ein Schütze. In diesem Jahr stand der Mond der Schützen bis Oktober im Jupiter, was Wohlstand, Erfolg und Anerkennung bedeutet. Und zu allem Überfluss hat sich die finanzielle Situation der Schützen in der zweiten Jahreshälfte auch erheblich verbessert. Ich hatte nicht so viel Glück wie die Schützen dieser Welt. Der Schütze glaubt, ihm könne nichts passieren …

Ich hätte gern den Mut eines Schützen, sein Leben-macht-Spaß-Talent, sein unbesiegbares Charisma, seine optimistische Lebenseinstellung und sein unerschütterliches Selbstvertrauen. Der Schütze nimmt sein Ziel ins Visier, spannt den Bogen und schießt den Pfeil geradewegs dorthin. Treffer! Ja, so sind sie: stets treffsicher, zielstrebig und feurig.

Ich hasse angeberische, realitätsfremde Schützen.

Diese Woche wird es passieren. Schließlich haben wir Vollmond. Ich habe eine Schützin im Visier und mir unzählige Szenarien ausgedacht, aber sie alle verworfen, wegen Nichtdurchführbarkeit, zu hohem Risiko, falschem Zeitpunkt und idiotischer Angst.

Ich hatte nicht den Mut, war nicht in der richtigen Stimmung. Und es sollte eine saubere Angelegenheit werden. Es muss sauber sein, kein Tropfen Blut darf fließen bei Vollmond.

Am Mittwoch wird es geschehen. Am Mittwoch nehme ich mir die alte Frau vor. Ihr Mond steht im Jupiter, hat sie gesagt und behauptet, 2020 sei ihr Glücksjahr. Doch das Jahr ist fast vorbei, das Glück verbraucht.

Ich sehne mich wieder nach der Ruhe in meinem Kopf.

Kapitel 1

Jeder Mensch erhält nach seiner Geburt einen Namen und mit ihm fängt eine Geschichte an. Der Name ist der erste Hinweis auf unsere Identität. Er sagt uns, ob wir ein Mann oder eine Frau sind, woher wir kommen und welche Richtung wir einschlagen sollen. Wir verbinden Namen mit gewissen Eigenschaften. Geben wir einer Person den Namen „Leo“ oder „Lion“ verbinden wir ihn mit der Macht und der Stärke eines Löwen. Selbst das Böse hat zahlreiche Namen, wie Satan, Luzifer oder Mephisto. In meinem Fall hat das Böse viele Namen: Lüge, Betrug, Rache, Mord.

Ein Name gibt aber niemals Auskunft darüber, wer wir sind. Nur der Mensch ist zu einer narrativen Geschichte fähig. Nur er denkt in Ursache und Wirkung, wir sehen komplexe Zusammenhänge und haben unsere Gesellschaft auf der Grundlage dieser Gesetze aufgebaut. Wir gehen zur Schule, lassen uns ausbilden, um zu einer Person zu werden, die wir sein möchten. Ein Mensch wird durch eine Geschichte geprägt, die mit ihm erzählt wird, die er selbst erzählen will. Er reflektiert seine Existenz in sie und eines Tages fügt sich alles zusammen. Aber es kann auch anders kommen und das Kartenhaus seiner Geschichte stürzt ein.

Die Geschichte, die mit unserer Geburt beginnt, nimmt ihren Verlauf in unserem Geburtsort. Wir werden von Menschen geprägt, die uns geboren haben, und zu welcher Zeit. Vor allem aber werden wir von den Menschen geprägt und angespornt, die in unser Leben treten. Unsere Familie, unsere Freunde, unsere Feinde. Menschen, die wir beeindrucken und von denen wir geliebt werden wollen. Und jene Menschen, die wir lieben. Sie ändern unseren Weg und wir tun es für sie. Sie sind Passanten oder immerwährende Begleiter.

Wir passen unsere Persönlichkeit ständig der Geschichte an, die wir erzählen wollen. Wir alle leben mit erfundenen und geträumten Identitäten. Diese fiktive Identität treibt uns voran, hält uns wach und macht uns hungrig. Denn morgen beginnt ein neues Leben, weil wir jeden Tag hoffen, dass aus uns eine neue Person wird – jemand, der wir wahrscheinlich nie sein werden. Morgen wird es geschehen, morgen beginnt ein neues Kapitel.

Es geschah plötzlich. Von einem Tag auf den anderen wurde ich ein anderer Mensch. Und von einem Tag auf den anderen wurde ich durch eine Hirnblutung aus dem Leben gerissen, und als ich wieder aufwachte, fegte das Böse wie ein heftiger Sturm durch mein Leben.

Ich will nicht behaupten, dass es keine Vorzeichen gegeben hätte. Ich habe sie nur nicht gesehen. Ähnlich erging es mir bei meiner Erkrankung. Ich erinnere mich, dass ich einige Tage zuvor manchmal ratlos mitten im Wohnzimmer stehenblieb, als wüsste ich nicht mehr, was ich als Nächstes tun sollte, als wäre mir plötzlich etwas entfallen. Manchmal stockte ich auch mitten im Satz und verlor meine Gedanken. Dann suchte ich nach einem Wort und traf auf ein anderes. Oder traf auf nichts als Leere, auf eine Falle, die ich umgehen musste. Sekunden später waren die Welt und mein Leben wieder in Ordnung.

Und dann kam jener Herbsttag, der sich durch nichts Ungewöhnliches ankündigte. Vorher ging es. Danach ging nichts mehr. Ich erinnere mich an mehrere Pieptöne, die plötzlich die Stille in meinem Kopf störten, dann hörte ich den Klang einer Trommel. Die Paukenschläge lösten den Tinnitus ab und wurden ohrenbetäubend laut. Ich begriff, dass ich die Kellertreppe im Haus meiner Mutter nicht hinuntergehen durfte und die Blumenvase immer noch holen konnte, wenn sich in meinem Kopf wieder Ruhe eingestellt hatte. Doch in der nächsten Sekunden löste sich meine Welt in nichts auf, und jetzt bin ich offenbar aufgewacht.

Meine Augen sind starr auf die gegenüberliegende weiße Wand gerichtet, aber meine Gedanken sind weit jenseits der Helligkeit.

Ich sehe große bunte Kreise auf weißem Hintergrund, mein Blick hinter einem unsichtbaren Schleier, in dem mein Verstand sich als Gefangener wiederfindet.

Ich atme ein, aber mein Zwerchfell blockiert. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Umgebung, zwinge mich, aus dem Nebel hervorzutreten, der parasitäre Gedanken in meinen Geist gewebt hat. Ausatmen. Den Gedankennebel vertreiben.

Als Erstes nehme ich Pieptöne wahr. Dann ist da das leise Surren eines anderen Gerätes. Schließlich dringt der Duft von Tee in meine Nase. Ausatmen. Den Gedankennebel vertreiben. Ich öffne die Augen. Es hat funktioniert. Die bunten Kreise auf der weißen Wand haben die Form eines Bildes angenommen: Eine zarte Blumenwiese, die den Frühling ankündigt.

Ich blicke zur Seite. Der Monitor neben meinem Bett zeigt die ruhige Verlaufskurve meiner Herzfrequenz, kein hektisches Stakkato.

Ich bin nicht mehr im Haus meiner Mutter. Ich sitze auf einer Bettkante und eine junge Frau in hellblauer Schwesterntracht fragt mich, ob ich noch eine Tasse Tee möchte. Ein zarter Duft umgibt sie, der mich an Maiglöckchen erinnert. Ich glaube, ich mag Maiglöckchen, aber sicher bin ich mir nicht.

Ich schaue mich um und entdecke neben meinem Bett eine Gehhilfe. Offenbar bin ich in einem Krankenhaus und die junge, dunkelhaarige Frau an meinem Bett ist vermutlich eine Krankenschwester. Aber wieso bin ich hier? Ist Julian in der Nähe? Hat meine Mutter mich hierher gebracht? Ich schlucke.

„Möchten Sie noch eine Tasse Tee, Stella?“, fragt die junge Frau noch einmal und legt ihre Hand auf meine Schulter.

Unsere Blicke kreuzen sich. „Ich mag keinen Tee“, antworte ich.

Jetzt legt sie ihre Hand vor den Mund und lächelt spitzbübisch. „Sie mögen keinen Tee mehr? Aber wie ist das nur möglich?“

Vielleicht träume ich nur?

„Sie meinen es ernst, nicht wahr? Ich bin überrascht, denn seit Sie hier sind, haben Sie jeden Tag Tee getrunken.“ Wieder ein verschmitztes Lächeln.

Ich blicke mich nervös um. Rechts von mir ist ein großes Fenster, links eine Tür. Habe ich tatsächlich jeden Tag in diesem Zimmer Tee getrunken? Um wie viele Tage geht es denn hier? Vielleicht sollte ich das einfach nicht alles für bare Münze nehmen.

Die hübsche Krankenschwester schenkt mir eine weitere Tasse Tee ein.

Ich mag wirklich keinen Tee!Ich möchte einen Kaffee!

Aber ich sollte mich jetzt wohl besser beherrschen. Irgendetwas ist passiert, und ich werde schon herausfinden, was es sein könnte. Ich fange von vorne an. Das machen Julian und ich auch immer, wenn wir miteinander streiten. Dann kappt einer von uns den Streit und schlägt vor, von vorn anzufangen. Für gewöhnlich bin ich das.

Noch einmal, los geht's! Vielleicht hilft es, wenn ich eine Geste mache, während ich sie um etwas bitte. Dieses junge Ding im gestreiften Blauweiß hat vermutlich wenig Erfahrung mit Menschen, die nach längerer Zeit wieder aufwachen. Mir fehlen ein paar Stunden, das ist mir jetzt klar, und währenddessen wurde ich offenbar hierher gebracht. Ob in meinem Kopf etwas passiert ist? Ich taste vorsichtig meinen Hinterkopf, dort, wo jene Trommelschläge waren. Keine kahlen Stellen, auch keine Verbände. Also keine Wunde am Kopf. Glück gehabt. Dennoch herrscht Chaos im Oberstübchen.

„Erinnern Sie sich, was passiert ist?“, fragt sie freundlich und lächelt mich wieder an. In ihrem Gesichtsausdruck liegt echte Zärtlichkeit. Nicht das übliche gespielte Mitgefühl oder der eine peinlich berührte Blick einer Pflegekraft.

Ich zögere. Sie spricht weiter, aber ich habe mich längst geistig ausgeklinkt, einen unsichtbaren Punkt gesetzt. Irgendwann komme ich wieder aus meiner Gedankenblase. Ich senke den Blick und frage mich, wie wohl ihr Name ist.

„Ich werde jetzt Dr. Bremen rufen.“ Sie schaut auf ihre Uhr. „Ich glaube, er hat seine Visite auf Station E beendet. Warten Sie bitte einen Moment.“ An der Tür dreht sie sich noch einmal um. „Sie wissen doch noch, wer ich bin?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Leonie, Ihre Betreuerin. Bis gleich, Stella.“

Sie kennt meinen Namen.

Schwer atmend strecke ich die Hand nach der Wand aus. Keine großen bunten Kreise. Nur das leuchtende Weiß des Todes, dem ich entkommen bin.

Kapitel 2

Ich erinnere mich. Mein Name ist Stella Hoffmann. Vor fast 42 Jahren gaben ihn mir meine Eltern: Ida und Erik Hoffmann. Sie hatten sich den Namen ein paar Monate vor meiner Geburt überlegt, als sie erfuhren, dass ich ein Mädchen war.

„Wenn du ein Junge gewesen wärst“, sagte meine Mutter, als ob es eine echte Option gewesen wäre, „wenn du ein Junge gewesen wärst, hätten wir dich Thomas genannt. Oder Alexander.“

Leonie kennt also meinen Namen. Was weiß sie sonst noch? Habe ich mich bei ihr bedankt? Danke für den Tee, obwohl ich ihn nicht mag. Danke für ihr Sich-um-mich-kümmern. Ein echtes Danke. Als Ausdruck meiner Anerkennung. Ich habe es ihr gewiss schon gesagt.

Betreuerin? Warum sagt sie nicht einfach Krankenschwester? Wie lange bin ich denn schon hier? Welches Datum haben wir heute? In welchem Krankenhaus bin ich untergebracht? Alles ist hier so unwirklich. Ich sehe mich um. Auf der Fensterbank liegt eine Zeitschrift. Wenn ich mich nicht täusche, ist es ein Klatschblatt, das Titelblatt ist ein Hochglanzfoto von Meghan und Harry und Baby Archie.

Beim Aufstehen wird mir sofort schwindelig. Ich halte mich am Bett fest und gehe ganz langsam zum Fenster, was sich nicht als einfach erweist. Der Schwindel zwingt mich, mich wieder aufs Bett zu setzen. Mein Kopf hämmert, dröhnende Kopfschmerzen foltern mich. Ich schließe kurz die Augen und versuche, meine Atmung zu beruhigen.

Eine frühe Erinnerung blitzt auf. Ich höre die Stimme meines achtjährigen Bruders Jordi: ‚Darf ich bei dir schlafen, Stella? Lässt du das Licht wieder an? Bleibst du bei mir? Kannst du die Tür offenlassen? Bitte …?‘

Ich lächle. Jordis Stimme ist eine zugleich schöne und eine traurige, schmerzliche Erinnerung. ‚Können wir beide zusammen frühstücken? Stella, hast du Angst? Weißt du, wo mein Kindergarten ist? Und du lässt bestimmt das Licht an? Bringst du mich ins Bett? Mami ist krank.‘

Oh Jordi …

Leonie betritt in Begleitung eines kleinen Mannes mein Zimmer, sie holen mich in die Gegenwart zurück. „Hey Stella, da bin ich wieder“, sagt sie.

Wieso wieder?

Der Mann kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Ich denke, dass Sie soweit sind und wissen wollen, was mit Ihnen passiert ist. Ich bin Felix Bremen. Wir haben uns schon einmal gesehen, aber bis zum heutigen Tag haben sie mir noch keine Fragen gestellt. Ich fand es sinnvoller zu warten, bis Sie ganz bei uns sind. Übrigens nennen mich alle hier beim Vornamen. So fällt es etwas leichter, sich weniger förmlich zu unterhalten. Sind Sie einverstanden?“

Ich nicke. Bremen … Zwerg würde zu ihm passen. Felix Zwerg. Das hätte mir gefallen.

„Gut. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt sind Sie ja wieder da, Stella. Seit Sie hier sind, haben Sie praktisch wie ein Autopilot reagiert. Jetzt scheinen Sie Ihre Umgebung und das Geschehen um Sie herum wieder bewusst wahrzunehmen.“

Wovon spricht dieser Mann? Ich frage mich, was ich in einer Autopilotphase wohl angestellt haben könnte.

„Wissen Sie, wo Sie sind, Stella?“, fragt Felix.

„In … in einem Krankenhaus?“, antworte ich zögerlich.

Felix beugt sich zu mir herüber. „Sie wurden vor fünf Wochen in der Universitätsklinik operiert und haben dort zwei Wochen verbracht. Sie hatten nach einem Aneurysma eine Hirnblutung. Das Aneurysma wurde durch eine Vene aus Ihrer Leiste behoben. Nach der Operation waren Sie schnell wieder bei Bewusstsein. Sie reagierten zwar auf Anweisungen, aber Sie schienen nicht wirklich aufzuwachen. Sie konnten mit Stimulationen nicht gut umgehen und lehnten alles ab, was mit fester Nahrung zu tun hatte. Sie wollten nur trinken und infolgedessen bekamen sie flüssige Nahrung. Deshalb sind Sie körperlich auch jetzt noch sehr schwach. Ihr behandelnder Arzt hat entschieden Sie für eine Weile in einem Pflegeheim unterzubringen. Und hier sind Sie nun, in der Rehabilitationsabteilung des Pflegeheims Euphoria. Verstehen Sie, was ich Ihnen sage, Stella?“

Lastendes Schweigen breitet sich aus.

Felix sieht mich an. „Was bedrückt Sie, Stella?“

„Ich weiß nicht. Das alles macht mir Angst“, antworte ich leise.

„Verstehe. Können Sie sich an irgendetwas erinnern?“

Ich lege meine linke Hand auf die Stelle am Kopf, wo das Poltern zum ersten Mal auftrat.

„Ah, Sie erinnern sich also an den Moment, als es passierte. Hatten Sie Kopfschmerzen?“

„Ja … Aber Freddy war damals noch nicht da.“ Ich klammere mich noch fester an das Bett, als würde es unter meinem Gewicht schwanken, aber vielleicht verliere ich auch gerade den Boden unter den Füßen. „Da waren zuerst Paukenschläge.“

Felix nickt zufrieden. „Freddy?“

„Dieses Hämmern vergleiche ich mit einem Straßenarbeiter, der mit einem Schlagbohrer mein Hirn bearbeitet. Ich nenne ihn Freddy.“

Er schmunzelt. „Sie haben also ein Hämmern wahrgenommen. Und wissen Sie, wo Sie in diesem Moment waren?“

„Bei meiner Mutter. Ich wollte eine Vase aus dem Keller holen. Ich habe etwas fallen lassen, wollte meine Mutter rufen, aber mein Kiefer war angespannt. Die Worte weigerten sich zu kommen. Das Hämmern in meinem Kopf hielt mich davon ab, die Treppe hinunter zu gehen.“

„Eine weise Entscheidung“, lobt Felix. „Sind Sie danach sofort gestürzt?“

„Ich weiß es nicht mehr genau. Aber da war plötzlich ein Gedanke: Ich habe einen Schlaganfall. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine knickten ein und dann … Ab da ist alles weg.“

Er nickt. „Sie haben damals das Bewusstsein verloren. Ihre Mutter wählte sofort den Notruf und ein Krankenwagen brachte Sie in die Universitätsklinik, wo ein Scan ein Aneurysma zeigte.“

Ich schließe die Augen ganz fest.

Felix berührt meinen Arm. „Sind es zu viele Informationen auf einmal?“

Ich öffne meine Augen wieder. „Ja.“

Er geht auf die Fensterbank zu und nimmt die Zeitschrift in die Hand. „Können Sie lesen, was hier geschrieben steht, Stella?“

„GALA. Das Foto zeigt die abtrünnigen Sprösslinge des britischen Königshauses.“

Felix grinst und legt das Magazin wieder beiseite. „Ich habe mich vorhin vorgestellt. Sagte ich, dass mein Name Paul sei?“

Ich bin nicht in der Stimmung für irgendwelche dämlichen Spielchen.

Felix hört nicht auf. „Oder habe ich gesagt, mein Name sei Felix?“

Ich nicke brav. Noch bestimmen Sie, Doktor Zwerg.

„Sie verstehen mich, Sie können also Informationen speichern. Sie sind wirklich wach, Sie sprechen zusammenhängend, wir können also anfangen“, sagt Felix.

„Ich habe es verloren.“

Warum sage ich das?

„Was haben Sie verloren, Stella?“

„Irgendeine Erinnerung. Irgendetwas. Ich kann es noch nicht sehen. Aber ich spüre es. Es zerreißt sich … Es entzieht sich. Ich musste vorhin daran denken.“

„Sie werden sich wieder erinnern, Stella. Nach einer solchen Operation muss sich das Gehirn mit seinen Erinnerungen neu sortieren. Machen Sie sich keine Gedanken. Das Verlorene kommt zurück.“

„Aber ich weiß nicht, ob ich das unbedingt möchte.“

Ich sehe, dass der Zwerg seine Ohren spitzt. „Warum nicht?“, fragt er.

„Weil es nichts Gutes ist. Ich glaube, es ist böse und das macht mir Angst.“

„Haben Sie heute zu Mittag gegessen?“

„Nicht so richtig.“ Ich kann nicht anders, ich muss gähnen. Wie mache ich ihm klar, dass ich nur erschöpft bin und nicht unhöflich sein will?

Felix lächelt. „Ich sehe, Sie sind müde. Ruhen Sie sich ein bisschen aus.“ Er schaut auf die Armbanduhr. „Ich bin für ein paar Stunden außer Haus, aber ich komme später wieder. Dann erzählen Sie mir von dem Verlorenen. Leonie wird bei Ihnen bleiben.“ Er hebt zum Abschied die Hand und verlässt das Zimmer.

Leonie schüttelt die Kissen auf meinem Bett. „Legen Sie sich jetzt bitte hin, Stella. Sie brauchen ein Päuschen. Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann drücken Sie den Knopf, und dann bin ich sofort bei Ihnen, okay? Ich sehe in einer halben Stunde wieder nach Ihnen, Stella.“

Ich gehorche und lege mich brav ins Bett.

Stella …

Als feststand, dass die Frucht im Mutterleib weiblich war, sollte ich nur einen Namen bekommen: Stella. Stella bedeutet ‚Stern‘, das wurde mir schon früh erklärt.

„Wolltest du, dass ich ein ‚Star‘ werde“, habe ich Mom einmal gefragt, als ich sechzehn war und bei weitem kein Star, sondern eine zurückgezogene, lahme Jugendliche, und voller Wut. Mein bester Freund war der Videorekorder, den ich mir als Aushilfe im Supermarkt verdient hatte.

„Natürlich nicht“, hatte Mom geantwortet. „Dein Vater suchte nach einem Namen, der schön klang.“

Ja, das hatte Mom gesagt, daran erinnere ich mich.

Meine Gedanken verlieren sich, jene, die Widerstand leisten, die urteilen, die vergiften. Wohin gehen die Gedanken nur, die aufbauen und zerstören, wenn die Welt zerfließt?

Wo oder was ist dieses Böse, an das ich mich nicht erinnere?

Ich würde liebend gern das Böse seinem Schicksal überlassen. Kann ich das? Muss man sich dem nicht widersetzen? Der Gedanke ist wie ein Schlag in den Magen.

Warum gehen mir diese Dinge durch den Kopf?

Meine Augenlider werden schwer.

Kapitel 3

Mein Handy klingelt, ich angle es aus meiner Handtasche. Es ist meine Mutter, sie will bestimmt wissen, wo ich bleibe. Ich drücke die grüne Hörertaste.

„Mom, ich bin fast da.“

„Du bist die liebenswerteste Verspätung, die ich kenne, Stella“, erwidert Mom. „Übrigens habe ich mir vor ein paar Tagen einige Fotos von Jordi angesehen und etwas entdeckt, das mich beschäftigt und mich beunruhigt, etwas, das mir Angst macht. Du darfst es aber niemandem sagen. Ich möchte es zuerst mit dir besprechen. Und dann habe ich noch eine Überraschung für dich. Hast du auch an die Sahnetorte gedacht?“

„Ja, Mom, mit zusätzlichen Schokoladenflocken, die der Konditor höchstpersönlich für Dich auf den Kuchen gestreut hat. Was beschäftigt dich, Mom? Und was ist das für eine Überraschung?“, bohre ich weiter.

Ich höre ihr Lachen.

„Du warst schon als Kind sehr neugierig. Wenn ich es dir sagen würde, wäre es doch keine Überraschung mehr. Und am Telefon kann ich dir schon mal gar nicht sagen, was mich beunruhigt. Wer weiß, wer da alles mithört …“

Etwas stimmt nicht mit meinem Gesicht. Ich gebe mir einen Klaps auf die Wange.

„Hey, ganz ruhig“, sagt Julian leise.

Ich öffne meine Augen und blicke suchend nach meinem Handy.

„Das kann kein schöner Traum gewesen sein, vermute ich mal“, sagt Julian. „Hallo, mein Schatz. Leonie sagte mir, dass du aufgewacht bist, da musste ich sofort zu dir kommen.“ Er streckt seine Arme nach mir aus.

Ich kuschele mich an ihn, spüre seine Lippen auf meiner Stirn. „Ich träumte, dass meine Mutter mich gerade angerufen hat“, sage ich. „Ich möchte Mom gerne sehen.“

Er antwortet nicht, reibt seinen Dreitagebart. Die Geste löst in mir ein ungutes Gefühl aus.

Ich blicke aus dem Fenster, um mich für einen Augenblick in den grauen, von Tropfen gepeitschten Windungen zu verlieren. „Ich möchte meine Mutter sehen, Julian!“, wiederhole ich wie ein ungezogenes Kind.

Plötzlich schluchzt Julian. „Ich hatte solche Angst um dich, Stella, solche Angst! Es sah aus, als würdest du zwar jeden von uns erkennen, aber du bist wie ein Zombie herumgelaufen. Und dann wolltest du nichts essen, deshalb hast du auch so stark abgenommen.“

Und ich dachte, meine Hose wäre mir zu eng. Hm … Gewichtsverlust. Nun, dann hat das Ganze hier auch eine gute Seite.

Julian streicht mir eine Haarlocke aus dem Gesicht. „Ich habe Karamell-Mousse für dich gemacht, aber ohne Rum, das verkraftet dein Magen im Moment noch nicht. Möchtest du?“ Er hält mir den Plastikbecher mit der Mousse unter die Nase.

Ich schiebe seine Hand weg. Hat er nicht gehört, dass ich meine Mutter sehen will? Wieso redet er wie ein Wasserfall?

„Okay, ich werde die Mousse in den Kühlschrank stellen“, sagt er irritiert und reibt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Vielleicht magst du sie ja später.“

Ich möchte etwas Nettes sagen. „Lieb von dir, danke dir.“ Mehr fällt mir nicht ein.

Dank dir. Danke für alles. Tausend Dank. Habe ich Mom für ihre Liebe genug gedankt? Was ist mit meinem kleinen Bruder Jordi? War ich ihm nah genug, war ich präsent und beständig genug? Ich weiß es nicht. Ich möchte mich auch an die vergangenen Tage und Wochen in Euphoria erinnern, aber ich habe sie verloren wie meine letzten Tage mit Jordi. Ich erinnere mich nur an unsere Gespräche, unser Lächeln und unser Schweigen. Schon vor dem Aneurysma kamen mir gemeinsam erlebte Momente stets in den Sinn. Manche habe ich vergessen. Die, die ich verpasst habe, wurden erfunden. Daran erinnere ich mich. Aber ich habe die Tage verloren, als mir klar wurde, dass etwas mit Jordi passiert sein musste, und dass unsere Zeit von nun an bemessen sein würde. Die Tage habe ich verloren.

Julian ist fast auf dem Flur, als er sich plötzlich umdreht. „Es wird schon wieder“, sagt er und abermals ist Erschütterung und Trauer in seiner Stimme zu hören. Die Traurigkeit lässt sein Gesicht ein wenig welken. Dann ist er fort. Ich kann mich nicht erinnern, dass er gesagt hat, er müsse irgendwohin. Warum verschwindet er einfach so? Egal, es ist ohnehin alles zu anstrengend für mich.

Ich habe gemischte Gefühle. Eine Hirnblutung bedeutet demnach verlieren und von vorn zu beginnen, jede oder fast jede Stunde ein Defizit, eine Beeinträchtigung, einen Schaden verkraften zu müssen. So habe ich es zumindest vor Augen. Auf der Einnahmenseite steht erst einmal gar nichts mehr.

Aber von vorn beginnen besagt: Eines Tages wieder laufen können oder gehen, mich bücken und etwas aufheben, einen klaren Gedanken fassen, das Gedächtnis wiedererlangen, sprechen lernen, die Worte wiederfinden wie das Gleichgewicht, das Zeitgefühl, den Schlaf, das Gehör und bei alldem nicht den Verstand zu verlieren. Ein ständiger Kampf sich neu anzupassen, sich neu zu organisieren, ohne Hilfe zurechtzukommen, über Rückschläge hinwegzugehen, weil ich nichts zu verlieren habe.

Nichts mehr zu verlieren haben? Warum denke ich das? Und woher weiß ich, was die Folgen einer Hirnblutung sind? Ein Teil von mir spürt, wie die Flamme für das Leben gerade wieder entfacht, aber der andere Teil ist voller Zweifel. Dieser lebt isoliert in diesem Krankenzimmer, voller Erinnerungslücken. Ich stehe auf, aber setze mich gleich wieder hin. Es ist, als ob ein Teil meines Körpers nicht teilnimmt. Aber ich will mich nicht im Strom treiben lassen, der mich manchmal gewaltig, dann wieder sanft mit sich zieht. Der Arzt sprach von Kraftverlust. Ich denke, der Zwerg und ich sollten bald etwas dagegen unternehmen. Ich fühle mich wie eine alte Hündin als ich in Richtung Waschbecken schlurfe, Schritt für Schritt, während ich mich an der Gehhilfe festklammere. Ich kenne das Zimmer auswendig. Jede Möglichkeit mich abzustützen. Rechte Hand, linke Hand.

Zuerst muss ich das Waschbecken erreichen, mich am Rand festhalten und einen Blick in den Spiegel werfen, um zu sehen, ob ich auch aussehe wie ein Zombie und ob noch etwas an mir dran ist.

Als ich das Badezimmer betrete, überfällt mich eine heftige Migräne. Ich presse eine Hand an meinen Kopf, taumle und krümme mich vor Schmerzen.

„Nein … Bitte nicht … Nicht jetzt, ich bitte dich …“, flüstere ich. Meine Stimme hallt wie ein fernes Echo. Ich schluchze laut und zwinge mich, meinen Atem zu beruhigen. Unterdrücke meine Übelkeit. Schlagartig bin ich wieder ganz ruhig und richte mich auf, brauche ein paar Sekunden, um mich von dem Schock zu erholen. Das Hämmern in meinem Kopf lässt nach, der Anfall ist vorüber.

Ich starre in mein Gesicht, sehe deutlich die Kontur meiner Wangenknochen, das stachelige Haar. Die dunklen Ränder unter den Augen, die fahle Gesichtsfarbe. Gestern sah ich definitiv besser aus. Oder vorgestern. Oder irgendwann einmal. Zeit ist plötzlich ein seltsamer Begriff. Ich drehe den Wasserhahn auf, warte, höre das Wasser laufen und betrachte mich weiter. Drehe mich nach links, nach rechts. Das Nachthemd hängt an meinem Oberkörper herunter. Mein Bauch ist flach wie mein Po. Keine Rundungen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so dünn gewesen zu sein. Da ist nichts Leuchtendes mehr an mir. Die Kopfschmerzen lassen sich an meinem Gesicht ablesen und in meiner Stimme hören: „Oh mein Gott“. Mit bloßem Auge sehe ich die Folgen des Aneurysmas, an meinem Körper, höre sie in meinen Adern pochen. In einem geschlossenen Kreislauf. Meine Augen weiten sich, mein Körper fühlt sich taub an. Ich sitze in der Falle. Erbreche mich und starre weiter wie hypnotisiert den Spiegel an.

Die Tür schwingt wieder auf, Julian und Leonie betreten gemeinsam das Zimmer. Um mich herum winden und dehnen sich die Geräusche. Das pulsierende Summen verstärkt sich und bringt einen Tinnitus hervor, der wie die Flöte einer Teekanne in meinen Ohren pfeift. Meine Mundwinkel zucken. Ich lasse meinen Unterkiefer spielen, um die Geräusche zu bändigen, die in meinen Schädel dringen. Vergeblich.

Tränen treten mir vor Anstrengung in die Augen. Ich greife nach einem Papiertaschentuch und wische die Galle in den Mundwinkeln weg. Danach hebe ich langsam den Kopf und stütze mich auf die Gehhilfe, suche festen Stand, schlurfe zurück ins Zimmer und lege mich ins Bett. Der Tinnitus wird leiser und verabschiedet sich nach einigen Minuten ganz. Ich juble innerlich, bin in letzter Sekunde wieder aus dem Abgrund aufgetaucht.

Leonie trägt ein Tablett und stellt es auf den Nachttisch. „Frischer Orangensaft, eine Flasche Proteine und Kekse“, flötet sie.

„Und ich habe dir die Kokosnuss-Kekse mitgebracht“, murmelt Julian. „Die magst du doch so gern.“

Ich schaue auf die Kekse, dann zu dem Mann, der behauptet, dass sie mir schmecken. Er ist wunderschön, ein jugendlicher Typ, seine grau-blauen Paul-Newman-Augen funkeln wie Scheinwerfer. Ich spüre die Wärme in meine Wangen aufsteigen und glaube, dass meine Gedanken mich erröten lassen. Meine Freundinnen halten es für ziemlich fragwürdig, dass ich mit einem elf Jahre jüngeren Mann verheiratet bin. Julian glaubt, dass sie selber gerne einen jungen Adonis in ihrem Bett hätten. Ich vermisse meine Freundinnen und möchte auch sie sehen, aber zuerst soll meine Mutter mich besuchen. „Ich würde Mom gerne sehen, Julian.“ Einen Augenblick lang versinke ich in Gedanken. Denke über das Ungesagte zwischen uns nach.

„Ist dir eigentlich bewusst, dass du fast gestorben wärst, Stella?“

Er ist wütend. Diese Feststellung sagt mir, dass ich Emotionen erkennen kann. Gut.

„Das wird schon wieder.“ Ich lächle ihn an.

„Dann darf ich dich doch wohl auch hier besuchen, wenn ich das möchte. Um mich davon zu überzeugen, dass es dir gutgeht!“

In meinem Unterbewusstsein regt sich etwas. Wo ist Mom? Ich schaudere.

„Alles ist gut, Julian. Ich finde mich ja gerade erst wieder.“

„Okay.“ Er schweigt eine Weile, in seine Überlegungen verloren. Dann verscheucht er offensichtlich die Enttäuschung wie einen bösen Gedanken.

„Mach dir bitte keine Sorgen, Julian. Mom hat einmal gesagt: Wenn der Mond dich liebt, was macht es dann, wenn die Sterne verblassen?“

Er hebt fragend die Augenbrauen.

„Das war eine Anspielung auf mein momentanes Äußeres.“

Er betrachtet mich einen Moment lang. „Möchtest du zum Friseur? Es gibt hier im Haus einen. Ich könnte dort einen Termin vereinbaren, wenn du möchtest.“

„Ja, später vielleicht. Das alles überfordert mich noch.“ Ich lasse ein gedankenvolles Schweigen eintreten. Und dann beugt er sich zu mir vor, starrt mich an. Er spricht leise, als wollte er mir ein Geheimnis mitteilen. „Weißt du, Stella, es wird alles gut werden“, sagt er. Wieder sind da Tränen in seinen Augen.

Einige Sekunden lang sehe ich ihn an, versuche zu ermessen, was das Gesagte bedeutet. Was es mir jetzt bedeutet. Ich sehe das leichte Zittern seines Kinns, das neu an ihm ist. Ein Zeichen für Angst, für Verlogenheit oder aufsteigende Gefühle? Es ist ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst und ich kann es nicht richtig deuten. Noch nicht, obwohl ich Fortschritte mache und mein Kopf ist klar. Ich werde es herausfinden. Die Wahrheit liegt stets im Detail. Und wieder verschiebt sich etwas in mir, etwas trudelt an die Oberfläche, etwas Böses.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Etwas ist oberfaul.

Kapitel 4

Ich träume von einem Dorf, seelenlos. Umgeben von dichten Wäldern. Ich schwebe.

Da ist ein sprudelnder Bach, eine Straße, eine Schule. Kinder. Eine mit Blumen gesprenkelte Wiese, nahe am Wald. Ein dunkler Fluss. Nebelschwaden.

Die Nacht schärft dort die Sinne, die Schatten und die Geräusche kommen, die Geheimnisse vertiefen sich.

Ein Wäldchen.

Kinder stehen dort dicht nebeneinander. Lockige Haare umrahmen ihre jungen Gesichter. Ihre Augen funkeln in der Finsternis. Ihre Haltung verspricht nichts Gutes.

Ich kann sie trotz des Nebels sehen. Schwach treibt die Nacht das Echo ihrer Flüsterstimmen bis zum Wald.

Später höre ich ein Wimmern.

„Das muss aufhören“, sagen die Kinder.

Ein Schrei. Undurchdringlich.

Ich halte mir die Ohren zu.

Dann ist es still.

Jemand steht neben meinem Bett. Ich spüre ihn, nehme den zarten Hauch von Desinfektionsmittel wahr und öffne die Augen. Es ist Dr. Zwerg.

„Sie haben geträumt.“

„Woher wissen Sie das?“

„Sie haben Jordi gerufen und sich die Ohren zugehalten. Wer ist Jordi?“

„Mein kleiner Bruder. Er starb im Alter von acht Jahren.“

„Oh, das tut mir leid. War er krank?“

Ich zögere. In mir ist plötzlich eine Unruhe, die ich mir nicht erklären kann. „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht.“ Mein Kopf dröhnt. „Ist das normal?“

„War das schon immer so, Stella? Dass die Erinnerung an Jordis Tod lückenhaft war?“

Ich zucke die Schultern. „Keine Ahnung. Vermutlich“, antworte ich.

Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir die Dämmerung. Kann es sein, dass ich den Tag verschlafen habe? Welchen Wochentag haben wir heute? Welchen Monat?

Es ist November, ich erinnere mich. Obwohl …

Felix hat gesagt, dass ich zwei Wochen in der Universitätsklinik verbracht hätte und danach in unser Pflegeheim Euphoria verlegt wurde. Ich war am 15. November bei meiner Mutter, hatte eine große Sahnetorte dabei, weil Mom mit mir etwas feiern wollte. Und sie wollte mir sagen, was sie beschäftigt. Sie wollte nicht, dass ich mit jemandem über ihre Überraschung spreche, nicht einmal mit Julian. Ich habe mein Wort gehalten. Mir gefällt es, dass ich wieder in der Lage bin, zumindest meine Gedanken einigermaßen zu ordnen.

Zwei Wochen in der Universitätsklinik? Dann war ich bis Ende November dort. Dann müsste es jetzt Dezember sein?

Ich verkrampfe, meine Hände zittern und mein Puls beschleunigt sich.

„Ich sehe, dass Sie noch über etwas grübeln“, sagt Felix.

„Habe ich den ganz Tag verschlafen?“

Er nickt. „Lassen Sie uns versuchen, jene Fragen, die Sie auf dem Herzen haben, ein wenig zu ordnen. Ein urplötzliches Zuviel an Informationen wird Ihnen zusätzlich Kopfschmerzen verursachen und damit werden Sie bestimmt nicht einverstanden sein. Ich kann mir vorstellen, dass Sie wissen möchten, welcher Tag heute ist, oder?“

Hm … Felix kann also auch noch Gedanken lesen.

„Heute ist der neunzehnte Dezember“, fährt er fort. „Ihre Hirnblutung ist fast auf den Tag fünf Wochen her. Es geschah um halb sechs nachmittags im Haus Ihrer Mutter, die sofort den Notruf wählte. Kurz darauf wurden Sie in der Uniklinik operiert. Erinnern Sie sich?“

Ich habe demnach fünf Wochen meines Lebens verloren. Einfach so! Weg! Verloren wie die Gedanken und die Erinnerungen der vergangenen drei Wochen. Aber zumindest sind die Worte da.

„Als Sie aufwachten, war klar, dass Sie aufnahmefähig waren und alles verstanden, was wir Ihnen sagten, Stella. Sie hatten zwar einige Wortfindungsstörungen, aber die waren von kurzer Dauer. Sie reagierten angemessen und schienen jeden Besucher zu erkennen.“

Jeden? Wer hat mich denn dort besucht?

„Es ist gut möglich, dass Sie sich an nichts mehr von all dem erinnern.“ Felix lächelt, er versucht mich zu beruhigen. „Jeder Gedanke ist wie ein ins Wasser fallender Tropfen, der die Oberfläche wellt. Zu viele Fragen, zu viele Gedanken, zu viele Kreise im Wasser. Wenn das Gehirn solche Schläge einsteckt, reagiert der Mensch ferngesteuert wie ein Autopilot. Was vertraut ist, dringt zu ihnen durch, aber Ihr Gehirn hat es nicht gespeichert. Das ist zu anstrengend, diese Energie steht vorübergehend nicht zu Verfügung. Das ist auch der Grund, warum man keine Fragen stellt. Zu anstrengend.“

Etwas stimmt hier nicht. Ich bin ein viel zu neugieriger Mensch.

„Wollte ich denn gar nicht wissen, was passiert ist?“

Felix sieht mich nachdenklich an. „Das war nicht eindeutig. Sie waren zeitweise aus unbegreiflichen Gründen ohne Sprache, später haben Sie kaum gesprochen, aber Sie schienen zu verstehen, was Ihnen gesagt wurde. In der Uniklinik hatten Sie nach der Operation starke Kopfschmerzen. Als Sie hier aufgenommen wurden, begannen wir sofort mit der Physiotherapie, soweit es die Kopfschmerzen erlaubten. Manchmal hielten sie völlig desorientiert mitten im Satz inne und verzichteten auf ein fehlendes Wort und gingen direkt zum nächsten über. Aber ich lernte, ihren Gedanken zu folgen. Und dann kamen die Worte und die Sprache wurde wieder flüssig. Sie haben um jedes Wort gekämpft. Um jeden Schritt. Jeden Zentimeter. Sie sagten immer wieder: Von vorne beginnen. Nichts aufgeben. Keine Silbe, keinen Konsonanten. Und schon gar nicht den Körper. Wir machten zehn Minuten lang Übungen, bis Sie Ihren Sättigungspunkt erreicht hatten. Sie haben noch viel geschlafen und Sie wurden regelmäßig zum Essen und Trinken aufgeweckt. Mit dem Trinken lief es gut, das Essen war und ist immer noch ein Problem. Deshalb bekommen sie hier auch proteinreiche Flüssignahrung.“

Übungen, viel geschlafen, zum Essen und Trinken aufgewacht, mit der Physiotherapie begonnen?

„Ich weiß nicht, wovon Sie da reden. Mein Verstand war also wie trübe Flüssigkeit, dann wieder wie ein klares Gewässer. Ich kann mich an nichts erinnern von dem, was Sie da gerade behaupten.“

Jemand klopft an der Tür.

„Ich glaube, Ihr Mann möchte Sie besuchen“, sagt Felix. „Er wartet schon eine Weile und möchte Ihnen etwas sagen.“

Mein Kopf schmerzt, füllt sich mit Nebel.

Die Tür wird geöffnet, Julian bleibt im Türrahmen stehen. Er ist blass und schaut an mir vorbei.

„Es fällt Julian schwer, ihnen etwas mitzuteilen“, fährt Felix fort und nimmt einen Stuhl. Setzt sich neben mich. „In der Uniklinik waren Sie noch zu schwach. Deshalb riet Ihr behandelnder Arzt Ihrem Mann, den Vorfall nicht zur Sprache zu bringen.“

Vorfall?

Julian legt eine Hand vor den Mund. Tränen rinnen ihm über die Wangen.

Meine Kopfschmerzen sind jetzt kaum zu ertragen und bereiten mir Übelkeit. „Was für ein Vorfall? Was ist los, Julian?“

„Wir sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, Ihnen zu sagen, was mit Ihrer Mutter passiert ist“, sagt Felix.

Plötzlich kann ich kaum noch atmen. Die Stille, die in das Zimmer eingezogen ist, macht mir Angst. Ich sehe Julian an.

„M … Möchtest du es wissen, Stella?“, stammelt er.

Was muss ich wissen? Was machen sie mit mir?

„Es ist schrecklich, aber du musst es ja einmal erfahren. Deine Mutter verstarb sechs Tage nach deiner Hirnblutung. Sie war wegen dir sehr aufgewühlt und hat vermutlich ihre Medikamente nicht mehr eingenommen.“ Seine Stimme zittert. „Ich war so sehr mit dir beschäftigt, dass sie mir einfach nicht in den Sinn kam. Ich mache mir schwere Vorwürfe und hätte ihr mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Als Emma mich anrief, weil sie Ihre Mutter nicht erreichen konnte, bin ich sofort zu ihr gefahren. Ich habe deinen Hausschlüssel benutzt. Dort fand ich sie dann.“

Aus Nichtbegreifen wird Fassungslosigkeit, aus Entsetzen Panik. Mom … Ich habe mehrmals von ihr geträumt, es gab Varianten. Entweder weil die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse nach und nach genauer wurde oder weil ich selbst einzelne Details hinzufügte, die ich für bemerkenswert hielt. Ich habe nie von ihrem Tod geträumt, nur von Moms plötzlich aufgetretener Angst, die sie beim Betrachten von Jordis Fotos in Besitz nahm.

Mit der schlichten Wahrheit seiner Worte kommt der Dolch, der mein Herz durchbohrt. Der Schmerz ist kurz und heftig. Ich zittere am ganzen Leib, das Pochen in meinem Körper will nicht aufhören. Ich schüttelte den Kopf, breche in Tränen aus. „Nein! Nein!“ Das heftige Schluchzen lässt mich am ganzen Körper beben. Ich drehte mich auf die Seite und übergebe mich. Meine Wangen stehen in Flammen.

Julian berührt meine Schulter. Er sieht widerlich aus, unappetitlich und schmutzig.

„Du hast nicht auf sie aufgepasst. Du hast saubere Arbeit geleistet“, schreie ich ihn an.

Mom ist … Überraschung … ist tot … Mom … Satzfetzen wirbeln wie Steine auf mich herab. Ich will einen Gedanken festhalten, er fliegt davon. Mein Gehör nimmt Geräusche wahr, das Sinnesorgan lässt sich nicht abschalten. Mein Herz pochte wild.

Ich spüre, wie jemand sich über mich beugt und eine Nadel meine Haut durchbohrt, fühle, wie eine kalte Flüssigkeit durch meine Vene fließt und Sekunden später meinen Körper erwärmte.

Die Dunkelheit umarmt mich.

Kapitel 5

„Sie kommt wieder zu sich“, sagt jemand.

Ich öffne meine Augen.

Felix beugt sich über mich.

Gut.

Ich möchte in mein Haus zurückkehren, in meinem Bett aufwachen und meine Mutter anrufen. Wir werden über den vermeintlich fatalen Herzinfarkt gemeinsam lachen.

„Ich bin seit Ewigkeiten eine vorbildliche Herzpatientin, Stella, und weiß, wie wichtig diese Pillen für mich sind. Außerdem bin ich zu klar im Kopf, um den Überblick zu verlieren“, wird Mom mir sagen. Und dann wird sie mir ihr Geheimnis verraten, mir sagen, was sie beschäftigt. Höchste Zeit für ein klärendes Gespräch.

Ich habe Angst vor einer schlaflosen Nacht in diesem Bett, aus Angst vor dem nächsten Morgen, in dem ich erkennen muss, dass ich mein Leben nie wieder in die alten Bahnen lenken kann, weil Mom fort ist.

Ich befinde mich in einem Traum. Jetzt ist es kein Albtraum, die Farben und Formen der Dinge offenbaren es mir. Ich muss Dr. Zwerg und Leonie davon erzählen, ja, ich werde ihnen sagen, dass ich einen Traum hatte, in dem die Erinnerungen und die verlorenen Wochen plötzlich wieder da waren. Es war so leicht, ich brauchte weder ihre Kärtchen noch ihre Bilder um eine Erinnerung zu wecken.

Es ist so ermüdend, die ganze Zeit nur zu suchen und zu suchen, es schlaucht und erschöpft und zermürbt einen. Ich habe alles, was ich brauche, meine Erinnerungen, die verlorenen Wochen und Leonie, die mir am Abend zur Belohnung eine köstliche Praline bringt. Ich brauche sonst nichts, außer die Erinnerung an Jordi. Ja, das ärgert mich und etwas sagt mir, dass diese Erinnerung existenziell ist. Aber eins nach dem anderen. Nach meiner Entlassung werde ich mich auf die Suche nach meinem kleinen Bruder begeben. Auch diese Erinnerung wird mich einholen.

Felix macht sich bemerkbar und räuspert sich. Vielleicht ist da noch ein kleiner Schimmer im Dunkeln, ein Leuchtturm in einer Nebelwelt. „Es muss ein Schock für Sie sein. Der Tod Ihrer Mutter tut mir sehr leid, Stella. Ihr Mann erwähnte, dass Sie eine sehr enge Bindung hatten?“

Mein Atem stockt. Ich schnappe nach Luft. Ich will das nicht hören und presse meine beiden Hände gegen meine Ohren und kann nur noch schreien. Jemand packt mich, ich stoße die Arme weg und trete gegen eine Wade.

Julian flucht.

„Ihre Frau braucht jetzt Ruhe“, besänftigt ihn Felix.

Ich höre, wie kurz darauf die Zimmertür geschlossen wird und öffne wieder die Augen. Julian ist fort.

Felix reicht mir ein Glas Wasser. „Nehmen Sie bitte einen Schluck. Es wird Ihnen guttun.“

Ich gehorche.

Er nimmt einen Umschlag aus seiner Jackentasche. „Dieser Brief wurde Ihnen aus der Uniklinik nachgesandt“, sagt er und legt das Kuvert auf den Nachttisch. „Es tut mir sehr leid, dass Sie jetzt auch noch den Tod Ihrer Mutter bewältigen müssen, Stella. Fragen Sie mich einfach, wenn Sie etwas wissen wollen. Wir können aber auch später weitermachen, wenn Sie sich etwas beruhigt haben.“

Ich werfe einen Blick auf den Umschlag, erkenne die Handschrift nicht.

Meine Gedanken schweifen ab, eine ferne Erinnerung an ein Gespräch mit Mom kommt auf. Ich blende den Zwerg aus …

„Wenn ich alt bin, Stella, dann werde ich mich fest in einen Sessel schmiegen und die Musik von Tschaikowsky hören. Ich werde die Augen schließen, um das Gefühl eines tanzenden Körpers wiederzufinden, und mir vorstellen, dass ich mit meinem gelösten, biegsamen und mir gehorsamen jungen Körper mit dir im Wohnzimmer tanze. Wenn ich alt bin, werde ich Stunden so zubringen. Aber ich werde bestimmt meine Medikamente nicht vergessen, denn ich möchte unendlich lange solche Momente genießen. Ja, ich werde die Augen schließen und mich mental in den Tanz projizieren. Weißt du noch, wie wir beide immer getanzt haben als du noch klein warst?“

„Ja, Mom. Ich erinnere mich an jede einzelne Bewegung.“

„Der Tanz mit dir hat mich über Jordis Tod hinweggetröstet, Stella.“

„Ich weiß, Mom.“

„Wenn ich alt bin, wenn ich alt werden sollte, dann wird mir das bleiben. Die Erinnerung an den Tanz mit dir, mein Liebling. Du bist mein Stern und eine wunderbare Tochter.“

Ich sehe Felix an. Bin wütend. Ich habe keine Fragen. „Wollen Sie mir weismachen, dass meine Mutter ihre Pillen nicht rechtzeitig eingenommen habe und deswegen gestorben sei? Erzählen Sie das doch dem Papst, aber lassen Sie mich mit dieser Absurdität in Ruhe!“

„Das ist eine deutliche Ansage. Okay, wir unterhalten uns später“, knurrt Felix.

„Ich möchte mit Emma sprechen. Sie ist meine Halbschwester. Und Julian soll mir mein Handy bringen. Wenn Sie meinen Mann irgendwo sehen, sagen Sie ihm, ich möchte den Ort sehen, an dem meine Mutter begraben wurde.“

Felix steht auf. „Ich werde veranlassen, dass Emma Ihre Nachricht erhält. Und ich schaue nach Ihrem Mann. Aber was Ihre Mutter betrifft … Sie wurde eingeäschert, Stella, es gibt keine Grabstelle. Ruhen Sie sich jetzt bitte aus. Sie dürfen sich nicht aufregen.“

Dröhnende Kopfschmerzen. Der Nebel in meinem Kopf formiert sich zu einer dichten Wolke, die mir den Atem raubt und einen Schwindelanfall verursacht.

---ENDE DER LESEPROBE---