Monique und der siebte Rabe - D.G. Ambronn - E-Book

Monique und der siebte Rabe E-Book

D.G. Ambronn

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Beschreibung

Im Landhaus ihrer englischen Freunde will Monique sich ein paar Tage erholen, aber kaum ist sie da, gibt es zum Frühstück eine Leiche. Und damit nicht genug! Ein brisantes Dossier aus den 30er-Jahren verschwindet. Also begibt Monique sich auf die Suche nach jenen Leuten, die für dieses Dossier offenbar über Leichen gehen. Was als Landhauskrimi beginnt, wird zur rasanten Jagd kreuz und quer durch London. Satirisch, spannend, voller Humor und Überraschungen.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch:

Im Landhaus ihrer englischen Freunde will Monique ein paar Tage relaxen, aber kaum ist sie da, gibt es zum Frühstück eine Leiche. Und damit nicht genug! Ein brisantes Dossier aus den 30er-Jahren verschwindet. Das soll Aufschluss geben über geheime Kontakte des englischen Königs zu Hitler-Deutschland, und um das Dokument in die Finger zu bekommen, gehen manche Leute offenbar über Leichen. Was als Landhauskrimi beginnt, wird zur rasanten Jagd auf das Wendover-Papier, die kreuz und quer durch London führt.

Eine neue spannend-humorvolle Satire um die Topagentin Monique Meurisse.

Der Autor:

D.G. Ambronn wurde am 3. Juli 1955 an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste geboren. Er studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie in Kiel und lebt auch heute noch im Norden, sofern er nicht gerade auf Reisen ist. Mit Dass du in Venedig wärst veröffentlichte er 2020 seinen ersten Roman, eine Hommage an Venedig und die Liebe. Es folgten weitere Romane und Sammlungen von Erzählungen und Kurzgeschichten.

Weitere Bücher von D.G. Ambronn in großer Schrift:

Monique und die Venezianische Vesper (Erzählung)

Ein tierischer Fall für den Kommissar (Kriminalroman)

Unbezähmbare Gezeiten (Kriminalroman)

Dass du in Venedig wärst (Roman)

Ausgewählte Erzählungen und Kurzgeschichten

Nicht wer die Wahrheit schwört, wird begünstiget,

noch wer gerecht ist,

Oder wer gut; nein mehr den Übelthäter, den schnöden

Freveler ehren sie hoch. Nicht Recht noch Mäßigung

trägt man

Noch in der Hand; es verlezt der böse den edleren Mann

auch,

Krumme Wort' aussprechend mit Trug, und das Falsche

beschwört er.

Hesiod, Erga (ca. 700 v. Chr.)

Vers 190-194

Übersetzung: Johann Heinrich Voß

Alle Anspielungen auf andere Werke aus

Literatur, Musik, bildender Kunst,

Malerei, Film und Fernsehen und aus allen

anderen Künsten und Wissenschaften sind NICHT

zufällig und ausschließlich zur Belustigung

der Leserinnen und Leser da.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

Monique konnte die Umgebung immer nur für wenige Sekundenbruchteile lang ungetrübt sehen. Dann verschwand alles sofort wieder hinter den Schlieren, die der Regen auf der Windschutzscheibe bildete. Verschleierte, diffuse Konturen, bis der Scheibenwischer einen kurzen Augenblick lang alles wieder klar und eindeutig erscheinen ließ. Es war eine herbstliche Landschaft da draußen. Die Bäume trugen kein Laub mehr, und die Welt sah grau aus. Sehr grau.

Sie hatte niemandem verraten, wo sie das Wochenende verbringen wollte. Das würde ihr eine Menge Ärger einhandeln, aber das war ihr im Augenblick egal. Jetzt sah sie megacoolen Wohlfühl-Tagen im Landhaus ihrer Freunde entgegen: im altehrwürdigen Salon am Kamin in saubequemen Möbeln herumlümmeln, so wie man es eines Tages vielleicht auch in Abrahams Schoß tun darf, mit den Gastgebern entspannt plaudern und in regelmäßigen Abständen leckeres Futter vorgesetzt bekommen. Und heute Nacht würde sie in einem Himmelbett schlafen und zwar in einem heimeligen Zimmer, das den Eindruck erweckte, als wären die letzten hundertfünfzig Jahre spurlos an ihm vorübergegangen. Dass Robert Kime, der Starinnenausstatter, seine ganze Kunstfertigkeit aufgewandt hatte, um diesen Eindruck entstehen zu lassen, diesen Gedanken drängte sie sofort in den Hintergrund.

Ja, und morgen früh würde sie wunderbar ausgeschlafen aufwachen, sich noch ein wenig in die Kissen kuscheln, bis jemand ihr eine Tasse Tee ans Bett brachte. Noch schöner wäre natürlich eine ganz, ganz große Tasse Milchkaffee, aber an einem solch herrlichen Morgen würde sie sich mit dem philosophischen Gedanken trösten, man könne nicht alles haben im Leben; manchmal verlangt das Schicksal Zugeständnisse, so schwer sie einem auch fallen mögen. Später würde sie ein Bad nehmen. Reichlich verführerische Badesalze würden ganz sicher zur Hand sein. Betört von deren Düften läge sie in der mitten im Raum freistehenden, altmodischen Badewanne im warmen Wasser. Ein wenig Dampf würde aufsteigen. Schwimmen würde sie wie … ja, wie einst in der Fruchtblase im Mutterleib, in vollkommener Harmonie mit der sie umgebenden Welt und in absoluter Sicherheit einfach nur SEIN. Irgendwann würde sich eine leise Ahnung von Hunger bemerkbar machen. Zeit zu frühstücken. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, wie sie aus der Wanne stieg, sich daraus erhob wie Aphrodite aus den Fluten. Ha! Genau so! Wie Aphrodite. Als hätte sie damals Botticelli Modell gestanden.

Als sie ihre Gedanken gerade auf ihr Frühstück richten wollte, Milchkaffee und zwei Brioches – Matsutani, der japanische Koch, kannte ihre Vorlieben und würde sicher extra für sie Brioches backen – just in jenem Moment, als sie gerade dabei war, die Tasse zum Mund zu führen und einen ersten Schluck Milchkaffee zu schlürfen … da riss James sie aus ihren Träumen.

„Wie hat Ihnen eigentlich der Bahnhof von Bradford gefallen, Miss Meurisse?“

„Ein wunderschöner Bahnhof.“ Monique erinnerte sich eigentlich nur noch, auf dem Weg zum Wagen unter James’ Regenschirm an einem blauen Fahrkartenautomaten vorbeigehastet zu sein. „Sehr modern und zweckmäßig.“

James sah vor sich das in riesengroßen Buchstaben auf dem Asphalt geschriebene Wort SLOW und bremste den Mark 2 schärfer ab, als nötig gewesen wäre. Der Fahrer hinter ihnen hupte erbost. Erst nachdem James voller Konzentration die Rechts- und die sich anschließende Linkskurve gemeistert hatte, erwiderte er:

„Er wurde 1848 gebaut. Wunderschöner honigfarbener Kalkstein hier aus der Gegend. Sogenannter Bath Stone. Der wurde schon von den Römern verwendet.“

„Was Sie nicht sagen, James!“

„Der Bahnhof wurde dann aber erst neun Jahre später eröffnet.“

„Hielten die Züge denn vorher nicht in Bradford?“

„Es waren noch keine Gleise da.“ James schwieg einen Moment, um sein Missfallen über die schlechte Planung zum Ausdruck zu bringen. „Damals bekam der Ort übrigens auch den Namenszusatz on-Avon. Es standen einfach zu viele Bradfords im Fahrplan. Und auch eine neue Uhrzeit wurde eingeführt. Es war nämlich so …“

Monique genoss das Dahinplätschern von James’ dozierender Stimme. Sie harmonierte so wunderbar mit dem Wisch-wasch-wisch-wasch des Scheibenwischers. Sie rätselte, ob das triste Grau der Beginn der Abenddämmerung war oder ob es schon den ganzen Tag so ausgesehen hatte. Entlaubte Bäume und Büsche bewegten sich auf sie zu, wurden immer größer und schneller, je näher sie kamen, wichen dann im letzten Moment nach links und rechts aus und ließen sie passieren. Monique war kurz davor einzunicken.

„Bis vor ein paar Jahren“, fuhr James gnadenlos fort, „hatten wir noch eine Direktverbindung nach London. Da konnte man von Bradford nach Paris fahren und musste nur das eine einzige Mal im Bahnhof Waterloo umsteigen. Aber das ist leider nun vorbei.“

James sagte das mit trauriger Stimme, und sie konnte seinen Kummer verstehen. Sie hatte vorhin recht lange in Salisbury auf dem Bahnsteig stehen und auf den Anschluss nach Bradford warten müssen. Und da sie nun im Nachhinein Trost fand im gemeinsamen Leid angesichts dieser Unbequemlichkeit, fielen ihr tatsächlich die Augen zu. Aber nur ein kleines Weilchen. Dann trat James schon wieder kräftig auf die Bremse. Sie waren bereits auf dem schmalen Feldweg, der zu ihrem Ziel führte.

Am Wegesrand stand ein Mann im Dress eines Tour-de-France-Teilnehmers, neben sich halb im Gebüsch eine geschrottete Rennmaschine. Wahrscheinlich, sagte sich Monique, ist er auf den Champs-Élysées falsch abgebogen und auf der Suche nach der Ziellinie mittlerweile hier angekommen. Ein fliegender Holländer der modernen Art sozusagen. Er war nicht mehr ganz jung, aber noch nicht in dem Alter, in dem man vom Zweirad auf den Rollator umsteigt. Der Radfahrer – oder sollte man ihn besser als ehemals Radfahrenden bezeichnen? Das Gerät, das ihn bis hierher gebracht hatte, würde von nun an seine Fortbewegung eher behindern als ihr förderlich sein – dieser Mensch also unterhielt sich mit einer kleinen Gestalt. War das ein Kind oder ein Erwachsener? Gehörte diese Person zu dem Wagen, der ein Stückchen entfernt stand und den Weg komplett versperrte?

„Oh Gott!“, stieß James hervor. „Das ist Miss Civitella.“ Als die Schrecksekunde all den ungezählten anderen Sekunden ins Reich der Vergangenheit gefolgt war, ergänzte er etwas gefasster: „Aunt Lulu. Sie haben sie noch nicht kennengelernt, nicht wahr?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, stieg er aus.

„Guten Tag, Miss Civitella.“

„Ah, James. Schön, Sie zu sehen.“

„Wenn Sie mir gestatten, Ma’am, möchte auch ich meiner Freude über die unverhoffte Begegnung Ausdruck verleihen.“

Die kleine Gestalt, die James Aunt Lulu genannt hatte und die eigentlich, wie Monique später erfuhr, auf den Namen Ludovica hörte (beziehungsweise nicht hörte), nickte gnädig. Sie war scheinbar eine Schwester von Methusalem. Oder vielleicht sogar dessen Großmutter. Monique war sich völlig sicher, noch nie ein so verrunzeltes Gesicht gesehen zu haben wie das ihre. Aber sie bewegte sich mit der Gewandtheit eines jungen Mädchens, und ihre Augen – das sollte Monique aber erst später feststellen – funkelten vor Lebendigkeit.

„Sie kommen jedenfalls wie gerufen, James“, sagte die alte Dame.

„Da freut mich ungemein, Ma’am.“

„Dieser junge Mann ist etwas … indisponiert, und ich fürchte, ich bin an diesem Zustand nicht ganz schuldlos.“

Der ehemals Radfahrende hatte das Gespräch wie der Zuschauer einer Tennispartie mit offenem Mund verfolgt.

„Indisponiert?“, appellierte er jetzt an James. „Entschuldigen Sie, über den Haufen gefahren hat diese Dame mich. Sehen Sie nur, was sie aus meinem Rad gemacht hat.“

James betrachtete das Häuflein Schrott höflich und schüttelte dann bekümmert den Kopf.

„In der Tat kein schöner Anblick. Ich hoffe, Sie haben keinen allzu weiten Weg mehr vor sich.“

Der nicht mehr Radfahrende sah James irritiert an.

„Vielleicht“, sagte Aunt Lulu, „sollten wir Sie zum Tee einladen, Mister … Mister …“

„Findlater. George Findlater.“

„Meine Großmutter sagte immer, eine Tasse Tee kann über viele Unglücksfälle hinweghelfen oder ihnen doch wenigstens ihren Schrecken nehmen.“ Sie fixierte James. „Mrs Gorges wird sicher gerne bereit sein, Mr Findlater mit der Wohltat einer Tasse Tee über den Verlust seines Velos hinwegzuhelfen. Denken Sie nicht auch, James?“

„Ganz ohne Zweifel, Ma’am.“

„Also Mr Findlater, kommen Sie. Ich nehme Sie mit.“

„Und mein Fahrrad?“

„Darum kümmert sich Mr Finsburg-Stallard. Nicht wahr, das tun Sie doch, James?“

„Selbstverständlich, Ma’am.“

Monique hatte den Eindruck, dass Findlater sich nur sehr ungerne von seinem Rad trennen wollte, und sei es auch nur, um nicht zu Aunt Lulu ins Auto steigen zu müssen. Aber schließlich fügte er sich in sein Schicksal. Es waren ja auch kaum mehr als 100 Meter bis zum Ziel.

2

Als James und Monique schließlich ankamen, waren die anderen bereits im Haus verschwunden. James hatte ja noch die demolierte Rennmaschine im Kofferraum des Jaguars verstauen müssen.

„Wir lassen Ihr Gepäck lieber im Wagen, Miss Meurisse, und nehmen erst einmal im großen Salon den Tee ein.“

Dieser große Salon war eines der Prunkstücke des Landhauses, wenn auch nicht von der erhabenen Größe des mittelalterlichen Saals. Aber was ihm der Saal an Größe und sublimer Gediegenheit voraushatte, machte er wett mit seiner erlesenen Raffinesse. Da war vor allem der große Kamin, der im Verein mit seinem Sims wohl drei Meter oder mehr hoch und breit sein mochte und dessen Schmuck aus Halbsäulen, Figuren und anderen Ornamenten sofort die Blicke eines jeden, der den Raum zum ersten Mal betrat, auf sich zog. Dieses Menschen Blick würde sich dann bewundernd zur hohen, tonnenförmigen und mit Stuckaturen verzierten Decke erheben, um schließlich die mit dunklem Holz getäfelten Wände mit ihrem Schmuck aus Ölgemälden und großen Gobelins zu registrieren. Hier und da wurde die Täfelung durch helle, halbrunde Nischen aufgelockert, wo unter muschelförmigen Kuppeln Vasen mit herbstlichen Blumenarrangements aufgestellt waren.

Die wuchtigen Sitzmöbel hatten in ihrem langen Dasein sicher schon viel erlebt, selten aber wohl einen so ordinären Gast wie Mr Findlater. Als geradezu abstoßend mochten sie ihn empfinden, wenn auch nicht als Person an sich, sondern vielmehr aufgrund seiner sportiven Bekleidung, seiner obendrein und zu allem Überfluss zerrissenen sportiven Bekleidung, um den ihm anhaftenden Makel ganz offen und ohne falsche Scham beim Namen zu nennen.

Monique war sicher, dass Octavia Gorges nichtsdestotrotz in ihrer stoischen Selbstbeherrschung bei der Begrüßung über dieses Manko hinweggesehen hatte. Vielleicht hatte sie in einem kurzen Moment des Entsetzens die Augenbrauen wenige Millimeter in die Höhe gehen lassen, aber mehr hatte sie von ihrer tief im Innern empfundenen Qual auf keinen Fall preisgegeben. Während sie Mr Findlater lächelnd gebeten hatte, Platz zu nehmen, dachte sie wahrscheinlich an all das Getier, das die beiden Kinder früher aus Wald, Feld und Wiesen ins Haus angeschleppt hatten. Und jetzt, da sie glücklicherweise schon lange aus diesem Alter raus waren, kam Aunt Lulu mit diesem absonderlichen Vogel an.

Selbige Aunt Lulu, die von allen aus der Familie Gorges so genannt wurde, obwohl sie gar keine Tante war, sondern nur eine sehr entfernte Verwandte, hatte es sich bereits in dem Sessel, der den lodernden Flammen des Kaminfeuers am nächsten war, bequem gemacht. Als Monique hereinkam, war sie gerade mittendrin, einen überaus interessanten Bericht von dem unglücklichen Zusammentreffen mit Mr Findlater zum Besten zu geben, den sie nun leider unterbrechen musste.

„Wie schön, dass Sie gekommen sind“, wurde Monique von Octavia begrüßt. „So lange haben wir Sie nicht gesehen. Wir haben Sie wirklich sehr vermisst. Linos wird sicher auch gleich kommen. Er führt gerade unsere Besucherin durchs Haus. Sind Sie mit den anderen … Gästen schon bekannt gemacht worden?“

Just in diesem Augenblick erschien Linos Gorges mit einer jungen Dame im Schlepptau, und das vergrößerte die Zahl der notwendigen Vorstellungen erheblich. Als den gesellschaftlichen Usancen schließlich Genüge getan war, suchten sie sich alle einen Sitzplatz – alle, außer Aunt Lulu, denn die hatte von dem ihr altersbedingt zustehenden Vorrecht Gebrauch gemacht, die Prozedur sitzend über sich ergehen zu lassen. Tee wurde ausgeschenkt, und alle bedienten sich je nach Geschmack von den Sandwiches, den Scones oder den verschiedenen Kuchen. Monique nahm ein Gurkensandwich. Sie erinnerte sich, dass Octavia nie müde wurde zu erwähnen, dass Matsutani die Zubereitung dieser Spezialität perfekt beherrsche und seine Gurkensandwiches denen, die am britischen Königshof serviert wurden, in nichts nachstünden.

Linos Gorges, der gekleidet war wie ein Ausstellungsstück, das die Aufschrift trägt: Typisches Beispiel für englischen Landhausstil (Harris-Tweed-Sakko in dezentem olivgraugrün, meliert, mit roten und blauen Überkaros, eine dazu passende Weste und eine Wollkrawatte mit Tartanmuster) verschmolz gleich einem Chamäleon mit dem Interieur, was ihn nahezu unsichtbar machte – ein perfekter Gegenentwurf zu Mr Findlater – und führte sich gerade eine Schnitte vom Battenbergkuchen zum Munde, als er plötzlich innehielt.

„Wo ist eigentlich Alathea?“

„Möglicherweise hat sich unsere Tochter mal wieder in den unendlichen Weiten des Internets verlaufen“, erwiderte Octavia.

James war trotz seiner erheblichen Leibesfülle im Nu auf den Beinen, um sie zu holen, aber mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung gebot Octavia ihm Einhalt, und gehorsam setzte James sich wieder.

„Sie wird nicht verhungern. Außerdem stehen so die Chancen besser, dass sie sich später dazu aufrafft, zum Abendessen zu erscheinen. Wenn nämlich so ein komisches Geräusch in der Magengegend sie an die mit der Nahrungsaufnahme verbundenen fast vergessenen Bräuche der im Untergehen begriffenen Zivilisation erinnert, findet sie möglicherweise den Weg ins Esszimmer.“ Octavia wandte sich an die Dame, die mit Linos zusammen zum Tee gekommen war. „Und wo wir gerade von der untergehenden Zivilisation sprechen, wie gefällt Ihnen unser Haus, Miss Girdlestone?“

„Oh, wunderbar, ganz wunderbar“, erklärte die junge Frau. „Ich bin Ihnen ja so dankbar, Ihnen und Mr Gorges, dass Sie so entgegenkommend waren, mich in Ihr Heim einzulassen. Meine Leser werden begeistert sein.“

„Miss Girdlestone ist von der Presse“, wandte sich Octavia an Aunt Lulu. „Sie schreibt für Das Fröhliche Landei.“

„Oh, die Zeitschrift habe ich früher auch gelesen“, erklärte die alte Dame begeistert.

„Früher?“

Miss Girdlestone machte ein etwas enttäuschtes Gesicht.

„Neuerdings lebe ich wieder in der Stadt. Nicht gerne, aber es hat seine Gründe. Wahrscheinlich würde ich Depressionen bekommen, wenn ich Ihre Zeitschrift immer noch lesen würde.“

Monique musterte die Reporterin genauer. Ein Allerweltsgesicht, dem das kurz geschnittene und himmelblau gefärbte Haar ein wenig auf die Sprünge half, jung, ziemlich klein, aber sportlich und wohlproportioniert, was sie durch ihre Garderobe geschickt zu betonen wusste.

„Ach, wie traurig“, brachte Miss Girdlestone ihr Bedauern über eine verlorene Leserin zum Ausdruck. Dann lächelte sie etwas geziert und griff mit spitzen Fingern nach einem Sandwich.

„Ich habe ja nur einen sehr flüchtigen Eindruck vom Haus“, meldete sich Findlater zu Wort, „aber es scheint ein weitläufiges Gebäude zu sein.“

„Ja, es sind, glaube ich, so etwa 25 Zimmer, das sogenannte Butler’s House nicht mitgerechnet. „Aber gezählt habe ich sie noch nie“, erklärte Linos und fügte dann wie entschuldigend hinzu: „Ziemlich groß, nicht wahr? Aber es erlaubt uns, Gäste zu beherbergen.“

„Wie schön, wenn man nicht so beengt wohnt. Sie ahnen vielleicht gar nicht, wie gut Sie es haben“, sagte Miss Girdlestone. „Ich muss in London jeden Monat ein Vermögen für die Miete hergeben und teile mir die armselige Bleibe auch noch mit jemandem.“

„Wohnen Sie eigentlich schon lange hier?“, fragte Mr Findlater, und sein Blick wanderte zwischen Octavia und Linus hin und her. „Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Neugierde nicht übel.“

„Keineswegs, Mr Findlater“, erwiderte Linos lächelnd. „Warten Sie … 2005. Ja, seit 2005 leben wir jetzt hier. Aber das ist bei einem 600 Jahre alten Gebäude natürlich keine lange Zeit.“

„Frühere Bewohner haben sicher ihre Spuren hinterlassen, nicht wahr?“

„Auf jeden Fall.“

„Ich meine, vielleicht haben sie auch Dinge hier zurückgelassen.“

„Schon möglich. Auf unserem Dachboden, da mag manches Schätzchen unbemerkt von uns schlummern.“

„Wie interessant“, ergriff Miss Girdlestone wieder das Wort. „Den Dachboden haben Sie mir gar nicht gezeigt, Mr Gorges.“

„Oh, er befindet sich quasi schräg über uns. Nicht über dem Salon hier, sondern über dem Esszimmer, wo wir nachher das Abendessen einnehmen werden. Oder korrekt gesagt: über dem kleinen Salon, der sich seinerseits über dem Esszimmer befindet.“

„Aha.“

„Aber warum fragen Sie nach den Hinterlassenschaften früherer Mieter, Mr Findlater?“

„Vielleicht denkt er an Lord Rothermere“, kam Miss Girdlestone Findlater zuvor. „Es stimmt doch, dass der berühmte Pressetycoon hier auch einmal gewohnt hat, oder?“

„Ich vermute, Sie meinen den Lord Rothermere. Nein, der nicht, sondern sein Sohn, der zweite Viscount of Rothermere, hat hier gewohnt. Natürlich hat er das Presseimperium seines Vaters geerbt, aber eine so schillernde Persönlichkeit wie der war er nicht. Nach Kriegsende lebte dieser jüngere Lord Rothermere mit seiner Frau Anne einige Jahre lang hier. Anne war eine Enkelin des 11. Earl of Wemyss, und sie war damals eine der glamourösesten Erscheinungen in der besseren Gesellschaft. In jener Zeit war hier im Haus viel los, aber diese Zeit ging zu Ende, als die beiden sich scheiden ließen. Anne erwartete nämlich ein Kind und zwar von Ian Fleming.“

„Von dem Ian Fleming?“, fragte Miss Girdlestone.

„Ja, von dem James-Bond-Autor, das heißt dem späteren James-Bond-Autor. Die beiden haben nämlich geheiratet, und böse Zungen behaupteten, Fleming habe überhaupt nur angefangen, Romane zu schreiben, um das kostspielige Leben mit seiner Angetrauten finanzieren zu können.“

„Hatte der junge Lord Rothermere auch die politische Einstellung seines Vaters geerbt?“, fragte Findlater. „Der war doch ein glühender Anhänger der Faschisten, nicht wahr?“

„Eine Zeit lang hat er den Einfluss auf die Öffentlichkeit, den seine Zeitungen ihm ermöglichten, genutzt, um Oswald Mosley und die britischen Faschisten zu unterstützen, das ist wohl wahr, aber das muss man im Kontext seiner Zeit sehen. Die Machtergreifung der Kommunisten in Russland lag ja erst 15 Jahre zurück, und hier in England wusste niemand so recht, was dort wirklich vorging. Viele, gerade Intellektuelle, waren überzeugt, der Kommunismus würde den Menschen den Himmel auf Erden bescheren. Und die, die wie Lord Rothermere diese Meinung nicht teilten, versuchten alles, um zu verhindern, dass die kommunistische Revolution wie eine ansteckende Krankheit auch England befällt. Von den Italienern und von den Deutschen lernte man, dass der Faschismus ein probates Mittel dagegen sein konnte. Also setzen viele große Hoffnungen auf diese Ideologie. Bei Lord Rothermere kam noch ein persönliches Motiv hinzu. Er hatte zwei seiner drei Söhne im Ersten Weltkrieg verloren und wollte seinen ganzen Einfluss geltend machen, um einen erneuten Krieg zwischen England und Deutschland zu verhindern. Die Zahl derer, die noch an die Kraft der guten alten Demokratie glaubten, wurde folglich immer kleiner und kleiner. Man war entweder links oder rechts. Punktum. Ein Dazwischen gab es eigentlich kaum noch. Man könnte sagen, es war fast so wie heute, obwohl ich selbst eigentlich nicht daran glaube, dass Geschichte sich eins zu eins wiederholt.“

„Nicht so wie in den Filmen von Polanski?“, fragte Aunt Lulu und kicherte. „Ich sehe immer noch das arme Mädchen vor mir, ganz nackt unter lauter Schweinen, nur damit der Film zu Ende gehen kann.“

„Ja, ich erinnere mich an diese Szene, aber ich teile Polanskis Auffassung überhaupt nicht.“ Linos ließ sich so leicht weder durch nackte Frauen noch durch Schweine vom Thema ablenken und kehrte zu den britischen Faschisten zurück. „Es war jedenfalls so … damals ließ die Unterstützung für Oswald Mosley schnell nach, als den Menschen dämmerte, dass sich ein Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland wohl doch nicht vermeiden lassen würde. Auch Lord Rothermere wandte sich von Mosley ab. Er soll sogar, so heißt es, bei den Deutschen später auf der Liste derer gestanden haben, die nach einer Eroberung Englands sofort zu verhaften seien. Nun, diese Eroberung hat Gott sei Dank nie stattgefunden, und im Übrigen ist Lord Rothermere bereits 1940 gestorben.“

Als Linos seine Ausführungen für einen Moment unterbrach, nahm Findlater noch schnell einen letzten Schluck Tee, dankte für die freundliche Aufnahme und erklärte, sie nun verlassen zu wollen. Ob man ihm ein Taxi rufen könne? Aber davon wollte Linos nichts wissen.

„Natürlich könnte James Sie und Ihr defektes Fahrrad nach Bradford fahren. Dort gibt es eine sehr gute Werkstatt, die Ihr Gefährt möglicherweise wieder in Schuss bringen kann. Aber heute ist Sonntag, da werden Sie dort nichts erreichen. Warum bleiben Sie nicht über Nacht hier und reisen morgen weiter? Sie sind herzlich willkommen, zumal …“ Linus’ Stimme erstarb in einem Murmeln, während er einen bezeichnenden Blick in Aunt Lulus Richtung warf.

Findlater zierte sich ein wenig, so wie es sich gehörte, dann nahm er die Einladung an. James wurde gebeten, Mr Findlater und auch Miss Girdlestone ihre Zimmer zu zeigen. Sicher würden sie sich vor dem Abendessen noch ein wenig erholen wollen. Auch Aunt Lulu zog sich zurück.

Monique blieb. Sie fühlte sich sauwohl in ihrem Sessel nahe am Kamin, denn der strahlte eine Hitze aus wie die Sonne im Hochsommer. Kaum waren die anderen zur Tür hinaus, entledigte sie sich ihrer Schuhe und zog die Beine zu sich hoch.