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Manch (interessiert vornüber) geneigte Leser:innen mögen es mit Spannung erwartet haben: Sèrecule Acheseaus zweites Abenteuer, in das er natürlich wieder unvermutet hineingezogen wird. Gleichwohl… Im Western was Neues, denn das Sauerland ist definitiv einen Roadtrip der besonderen (natürlich wieder postfaktischen) Art wert, auch wenn Messer, Kugeln, Kriegsbeile… Und der Schatz? Findet Acheseau ihn vor dem Oberst und seinen Tramps? Von Meschede aus geht es über viele Stationen bis zum Sorpesee.
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Wolfgang J. Gerlach
Monsieur Acheseau
und der
Schatz im Sorpesee
eine postfaktische Krimi-Parodie(inspiriert von einem Klassiker)
Ruhrkrimi-Verlag
© Beate Gerlach
Wolfgang J. Gerlach, geboren 1955, studierte nach seinem Abitur in Witten Englisch und Kunst mit dem Schwerpunkt Fotografie in Essen.
Beeinflusst von den Bänkelbarden seiner Jugend (z. B. Ulrich Roski und Schobert & Black), textete er zwischen 1996 und 2008 über einhundert Songparodien u. a. für die Haarzopf Harmonists im Chorkarneval der katholischen Kirchengemeinde Christus König in Essen-Haarzopf.
Von 2005 bis zu seiner Pensionierung 2020 leitete er die Theater-AG am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen.
So entstanden Bühnenbearbeitungen von Autoren wie Curt Goetz, Gisa Pauly, Bernd Stelter, Stücke für junge Zuschauer und »Dinner – für wann?«, die Krimiversion des bekannten TV-Sketches um den 90. Geburtstag von Miss Toffee, die 2019 die erste Aufführung eines Stücks aus seiner Feder außerhalb Nordrhein-Westfalens präsentierte.
»Der letzte Martini« versteht den Text des Wise Guys-Songs als Ansatz und konstruiert eine Agentenparodie, in der Jamian Bunt, der allseits bekannte Geheimagent 997, seinen Job an den Nagel hängen muss und in ein Altersheim in Deutschland zieht.
Hinzu gesellten sich zahlreiche Satiren sowie eine Rock’n’Roll-Version der Shakespeare-Oper »Windsors lustige Weiber«.
Wolfgang J. Gerlach lebt und schreibt in Essen-Haarzopf und in Haselünne.
Diese und weitere Theaterstücke und Bühnenadaptionen des Autors finden Sie auf:
www.wolfgang-gerlach-theatertexte.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2024 Covergestaltung: Wolfgang Gerlach, Essen
© 2024 Wolfgang Gerlach, Essen
© 2024 Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim/Ruhr
Druck: BoD, Norderstedt
ISBN 978-3-947848-87-4
1. Auflage (Originalausgabe), auch als eBook erhältlich.
Disclaimer:
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Die »MS Hennesee«, »Xavers Ranch« in Meschede, das Vereinsheim des 1. FC 1920 Remblinghausen, dessen Einrichtung »Wildsauclub 100«, die Bezeichnung »Bakfietsen«, die Kapelle und Klause von Lengenbeck, das »DampfLandLeute-Museum« in Eslohe, die »Konditorei Kaptain«, die Knochenmühle in Isingheim, das »St. Franziskus Seniorenhaus« und die »Naturbühne« in Elspe, die »Attahöhle« in Attendorn, die »SG Lenhausen/Rönkhausen«, der Settmecke-Stollen und die »MS Sorpesee« sind real. Ihre namentliche Verwendung im vorliegenden Buch wurde von der jeweils zuständigen Stelle gestattet.
Dieser Roman möchte eine Hommage sein an Winnetou, Old Shatterhand, Old Surehand, Sam Hawkens, Tante Droll, Gunstick Uncle, Hobble-Frank, den Stamm der Utah, dessen Häuptling Großer Wolf sowie Lord Castlepool.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Ankunft9
(Un)gewöhnliches11
Plädoyer12
Tagesplanung14
Fliehkraft16
Hochzeit18
Spätsommersonntag20
Erster Todesfall22
Aussichten24
Zweiter Todesfall26
Schutzvorkehrungen28
Dritter Todesfall32
Der schwarze Spaniel33
Vierter Todesfall44
Weitere Fahrgäste45
Menschenhandel
und Kannibalismus 48
»Xavers Ranch«50
Mooskollekte58
Doublesse oblige60
Am Lagerfeuer64
»Western-Abend«66
Die Kapelle72
Tagesausklang an der Theke76
Blaues Blut81
Geheime Botschaften?88
Sternstunde der Kryptografie96
Aufbruch102
Auschecken104
Der orange Kadett108
Der Plan111
Tatort Remblinghausen113
Der Raub116
Tatort Heidberg118
Brunch125
Im »R68« nach El Spe134
Seniorenhausbesuch141
Das Duell155
Wetten?160
Gefangennahme170
Abbruch173
Oxytocin175
Die Grotte179
Kaffee und Kuchen184
Mit vereinten Kräften188
Das Anagramm190
Viererlei195
Cabrio204
Markante Erkennungszeichen207
Der Höhlenforscher210
Settmecke214
Das Schiffchen216
Leos Zukunft221
Auf zum See224
Wasser230
Fahrt in den Sonnenuntergang231
Die Vorschrift234
Der Schatz im Sorpesee236
Abend im Sauerland239
Auflösung der Logikalisierung240
Nachvertonungen241
Ankunft9
(Un)gewöhnliches11
Plädoyer12
Tagesplanung14
Fliehkraft16
Hochzeit18
Spätsommersonntag20
Erster Todesfall22
Aussichten24
Zweiter Todesfall26
Schutzvorkehrungen28
Dritter Todesfall32
Der schwarze Spaniel33
Vierter Todesfall44
Weitere Fahrgäste45
Menschenhandel
und Kannibalismus 48
»Xavers Ranch«50
Mooskollekte58
Doublesse oblige60
Am Lagerfeuer64
»Western-Abend«66
Die Kapelle72
Tagesausklang an der Theke76
Blaues Blut81
Geheime Botschaften?88
Sternstunde der Kryptografie96
Aufbruch102
Auschecken104
Der orange Kadett108
Der Plan111
Tatort Remblinghausen113
Der Raub116
Tatort Heidberg118
Brunch125
Im »R68« nach El Spe134
Seniorenhausbesuch141
Das Duell155
Wetten?160
Gefangennahme170
Abbruch173
Oxytocin175
Die Grotte179
Kaffee und Kuchen184
Mit vereinten Kräften188
Das Anagramm190
Viererlei195
Cabrio204
Markante Erkennungszeichen207
Der Höhlenforscher210
Settmecke214
Das Schiffchen216
Leos Zukunft221
Auf zum See224
Wasser230
Fahrt in den Sonnenuntergang231
Die Vorschrift234
Der Schatz im Sorpesee236
Abend im Sauerland239
Auflösung der Logikalisierung240
Nachvertonungen241
für Oma Bruchhausen,
die auch dieses Buch nach der Lektüre
mit einem sachten Schütteln
ihrer weißen Dauerwelle
und einem sanften
»Ochottochottochott«
aus der Hand gelegt hätte
Ankunft
»Nächster planmäßiger Halt des ›RE17‹: Meschede. Die Ankunft war 10 Uhr 41.«
»Ach so.«
»Wir verabschieden uns von allen Reisenden, die hier aus- oder umsteigen, und wünschen Ihnen einen angenehmen Tag.«
Er blinzelte... Gab es überhaupt außerplanmäßige Halte? Vielleicht in einem der vielen Sauerländer Tunnel... Obwohl... Warum sollte ein Zug in einem Tunnel halten? Er musste schmunzeln.
Die Leuchtdiodenanzeige eineinhalb Meter vor seiner Nase flackerte verschämt, beglaubigte allerdings das soeben Gehörte, zeigte sie doch bereits 10 Uhr 46. Das würde knapp werden; hoffentlich blieben ihm aber trotzdem noch zwei, drei Minuten bis zum Erreichen dieses seines Zielbahnhofs.
»Ach so.«
Wie zuvor hörte es sich sehr französisch an, doch weit und breit waren keine Reisenden, die das hätten mitbekommen können. Und was hieß überhaupt »Die Ankunft war...?« Wer dachte sich solch eine Formulierung aus? Hatte die Bahn einen Linguistik-Professor engagiert, das futurische Imperfekt zu erfinden? Oder claimheimlich eine Werbeagentur beauftragt, sich Ausreden auszudenken für alle passenden und unpassenden Gelegenheiten?
Monsieur Acheseau hob sein linkes Ohr von der Bordwand des Regional-Express-Abteils, die er mit seinem dunkelblauen Trenchcoat provisorisch gepolstert hatte, und schaute sich verschlafen blinzelnd um. Der Platz rechts von ihm war immer noch frei, ebenso der unter der Digitalanzeige. Der Sitz ihm direkt gegenüber war vom Designer des Abteils bei der Planung gegen eine weiße Resopalplatte getauscht worden, die wahrscheinlich schon bessere Zeiten gesehen haben mochte, wenn es nach der Zahl der Abschürfungen und Kantenabplatzer ging. Zurzeit beherbergte die Ablage bestimmungsgemäß den rot-grün-karierten Trolley des französischen Fahrgasts mit dem gelb-blonden Walross-Schnäuzer. Er musste sich wohl oder übel sputen.
(Un)gewöhnliches
»Wohl ist er das!«
»Nein!«
»Doch!«
»Das ist kein Name; kein Mensch heißt so...«
»Doch, ich!«
»Du lügst.«
»Würd ich nie tun...«
»Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin!«
Um sie herum drehte sich alles. Nein, das stimmte nicht. Sie war es, die gedreht wurde... von ihren vier Mitschülerinnen. Und jedes Gesicht, das in nur zehn, manchmal weniger Zentimetern Entfernung vor ihr einzurasten schien, spuckte ihr dieses Wort entgegen: »Lügnerin!«
»Lügnerin!«
»Lügnerin!«
»Lügnerin!«
Bis ihr schwindelig wurde, und ihre Mädchen-Knie, die schon so manche von Schmutzeinschlüssen gezeichnete Narbe zierte – verursacht durch traditionell betrachtet geschlechtsunspezifisches Betragen – einfach nachgaben.
Im Fallen schossen ihr die abstrusesten Gedanken durch den Lockenkopf... Die Zahl Vier würde sie nie wieder leiden mögen.
Plädoyer
Das Buch rutschte, erst langsam, dann verließ es ruckartig seinen rechten Oberschenkel und schlug hart auf dem ungeputzten Boden des türlosen Abteils auf. Er hatte es beim Aufstehen völlig übersehen, hatte freilich auch vorher nicht mehr an seine Existenz gedacht. Als er sich etwas umständlich bückte, um es aufzuheben, fiel sein Blick auf den Titel: »Mord im Orient-Express« stand dort in dramatisch verzerrten Lettern.
Eine Weile lang starrte er das Druckerzeugnis misstrauisch, ja ungläubig an. Hatte er darin gelesen? Das musste wohl so sein, denn wer legt einem schlafenden Fahrgast ein aufgeschlagenes Buch auf den Schoß?
Jetzt erinnerte er sich an den Traum, aus dem er durch die Durchsage des Zugführers unerwartet herausgerissen worden war: Kurz vor seinem Plädoyer hatten ihm dieser Richard Ruchard und so ein komischer Veterinär-Rentier den großen Auftritt vor der Vollversammlung aller Fahrgäste des Caféwagens gestohlen, dabei war er sich so sicher gewesen, den Fall ebenso souverän gelöst zu haben wie seinerzeit den Tod auf der Ruhr. Er hatte noch probiert, die Pendeltür des ZugCafés mit all den Verdächtigen voller Verachtung für diese Typen vehement zuzuschlagen, war alsdann freilich mit gesenktem Kopf vorbeigeschlichen an den leeren Sitzen dieser Menschen, die ihm allesamt irgendwie seltsam spöttisch hinterhergeschaut hatten. Er hatte die Blicke körperlich spüren können.
Sein Augenmerk passierte den türlosen Rahmen seiner unbequemen Schlafepisode und fiel auf ein Piktogramm auf der gegenüber liegenden Seite des Ganges. Ein WC? Unter Umständen sogar das, auf dem Richard Ruchard, mit vollem Namen Richard Roger Ruch...?
So ein Unsinn. Kein Mensch verschläft eine ganze Nacht auf einer Toilette, erst recht nicht auf einer öffentlichen und schon mal gar nicht in einem Regional-Express. Hercule Poirot hätte ihm mit Sicherheit recht gegeben!
Tagesplanung
Der Tag war wie mit einem Augenzwinkern erwacht, denn die einzige Wolke war zügig an der aufgehenden Sonne vorbeigehuscht. Es würde warm werden, sehr warm. So wie gestern, als die Sonne die Waldlichtung im Forst von Schmallenberg-Lengenbeck, auf der ihre für kleines Geld angemietete Klause stand, in gleißend helles Licht getaucht hatte.
Ein Gymnasiallehrer mit Namen Prof. Wilhelm Kemper, der für sich ein einsames und frommes Leben als Eremit wählte, so hatte man ihr erklärt, habe sie sich 1902 hier auf dem Heidberg aus behauenen Baumstämmen errichtet. Sie stellte an dieser Stelle des Waldes einen größeren Erweiterungsbau einer ein wenig abseits gelegenen, bescheideneren Einsiedelei dar. Die Zwischenräume waren mit Moos abgedichtet, ein überaus vielseitig verwendbares Material, speziell wenn man berücksichtigte, wie viele verschiedene Arten es gab.
Was der Lichtung ihren besonderen Reiz verlieh, war die – mittlerweile leider recht baufällige – Kapelle mit ihrer Inschrift über dem Eingang zum außergewöhnlich bescheidenen Altarraum. Auf dem gebogenen Balken konnte man den Wahlspruch der Benediktiner »Ora et labora« (»Bete und arbeite«) lesen.
Sie hatte sich viel vorgenommen und war auch deshalb früh aufgestanden, Letzteres tat sie indessen ja nahezu jeden Tag. Das heute war hingegen nichts Alltägliches, wenngleich etwas für den alltäglichen, nein, allnächtlichen Bedarf: Sie hatte vor, in den Wald zu gehen. Nein, nicht um Bucheckern zu suchen, wie sie es als kleines Mädchen geliebt hatte, mit ihrem Großvater im Arnsberger Wald zu tun. Heute ging es an das Sammeln von Zypressenschlafmoos. Währenddessen würde sie einmal mehr sehr viel Zeit haben, Ihren Gedanken nachzuhängen. Gedanken zum Beispiel über das, was sie hergebracht hatte.
»Hypnum cupressiforme«, hatte der Besserwisser von Bio-Kollege ihr mal gesteckt, heiße dieses Gewächs. Und der reaktivierte, pensionierte Aushilfskollege vom Gymnasium, eigentlich Altsprachler, hatte hinzugefügt, dass der Begriff »hypnum« ursprünglich aus dem Altgriechischen stamme und dass »hypnos« übersetzt soviel wie »Schlaf« bedeute.
Sie hätte die zwei auf der Stelle hypnotisieren mögen, und zwar für immer, nur... dazu bedurfte es ja leider der Einwilligung des jeweiligen Mediums.
Fliehkraft
Krampfhaft bemühte sich der Regional-Express mit lautem Quietschen der Bremsen, an der richtigen Stelle des Bahnsteigs zum Stehen kommen.
Den vierräderigen Trolley vor sich her schiebend, trippelte Acheseau die Schräge mit den aufgeschraubten schmalen Alu-Anti-Rutsch-Leisten herunter und wurde durch die Fliehkraft – da er die Haltestange verfehlte – unsanft an der Tür vorbeikatapultiert. Er entschied spontan, einfach das ZugCafé zu durchqueren und – nach Überwinden der drei Stufen an dessen anderem Ende – weiter vorne auszusteigen. So passierte er die verlassenen Sitzgruppen und Doppelsitze und erreichte die Zwischentür des ZugCafé-Wagens... Abgeschlossen!
Das konnte ja heiter werden, wenn er den Stopp am Meschede Central verpassen würde. Gehetzt spähte er umher. Also musste er zu der Tür zurück, an der er vorbeigeschossen war.
»Immer mit der Ruhe mit die alten Pferde.« Die Zugbegleiterin in der geöffneten roten Doppelschiebetür strahlte ihm gut gelaunt ins Gesicht.
Jetzt machte sich das zweite Paar Rollen des Trolleys bezahlt. Er wendete auf dem linken Absatz, kippte mit der rechten Hand das Gepäckstück in Richtung seines Hinterteils und machte sich auf zur rettenden Zugwandöffnung.
Die nette junge Brünette mit dem lustigen Halstuchknoten kontrollierte den Sitz des abgewetzten Trageriemens ihres Fahrkartenscanners, ehe sie auf den Bahnsteig hinunterstieg und sich suchend umblickte.
Dankend lehnte er ihr Angebot ab, ihm beim Ausstieg behilflich zu sein. Was ihn brennender interessierte war die Frage, warum das ZugCafé geschlossen war und – noch wesentlicher als das – ob das gegebenenfalls von Anbeginn der Fahrt an so gewesen war.
Ihre ausführliche Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: »Ja, das ZugCafé war die ganze Zeit über verschlossen und – nein – wird tatsächlich nie wieder öffnen.«
»Und wie erklärt sich nebenbei die Tatsache eines einzigen Doppelstockwagens im Zugverband?«
Kopfschüttelnd missbilligte er den unschönen Versatz in der Höhe der Wagenreihung.
»Der hat in Warburg auf die endgültige Entscheidung über seine weitere Verwendung gewartet und soll in der kommenden Woche von Hagen aus ins Eisenbahn-Museum nach Bochum-Dahlhausen gebracht werden. ZugCafé-Betrieb gibt es nämlich längst nicht mehr.«
»Aber ich war doch letzte Nacht noch...«
»Im ZugCafé hier im ›RE17‹...?« Die freundliche Mittvierzigerin schüttelte energisch ihre Kurzhaarfrisur. »Das ist unmöglich.«
Die verstand aber auch nur Bahnhof. Oder war da der Vater der Wunsch des Gedankens gewesen, wie er gerne und regelmäßig sagte. Na danke. Wie war das mit dem »travelling with Deutsche Bahn«? Danke...
Hochzeit
»Vier Hochzeiten und ein Todesfall« war ihr Lieblingsfilm gewesen, seit sie den Film kurz nach seinem Erscheinen in Deutschland im August 1994 im Kino gesehen hatte. Sie hatte die Liebeskomödie mit Hugh Grant um Charles und Carrie geliebt, nicht zuletzt weil in solchen Filmen prinzipiell alles zu einem guten Ende geriet.
Wenn sie jetzt auf ihr bisheriges Leben zurückblickte, und dazu hatte sie hier jedes Mal nicht nur beim Moossammeln in der Einsamkeit mehr als genug Zeit, so würde sie es für sich eher als »Eine Hochzeit und vier Todesfälle« charakterisieren.
Die Erinnerung an ihre Hochzeit selbst war eher rudimentär, sowohl hinsichtlich der Zeremonie, als auch bezüglich der anschließenden Feier. Was dagegen ihr im Gedächtnis, was ihr Lieblingswort für eine lange, lange Zeit geblieben war, ihr immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hatte, war die englische Vokabel »to disembark«. Sie wusste zwar, was der Boarding Officer auf der Hochzeitsreisen-Fährüberfahrt nach England ausdrücken wollte. Dennoch fühlte sie auf der Stelle den inneren Zwang, das Wort in die deutsche Sprache zu übersetzen. Wenn nun »to embark« soviel wie »sich einschiffen« hieß, demnach war »to disembark« ganz simpel so etwas wie »sich ent-einschiffen«, oder?
Sie war ursprünglich der Überzeugung, dass die Entscheidung, einen Doppelnamen zu wählen, ein Zeichen gleichberechtigter Verbundenheit zwischen Ehefrau und Ehemann darstellen würde. Sie: eine geborene Rüggen – er: einer aus der Familie Siepen. Rüggen-Siepen... Das hatte sich für sie einfach logisch angehört.
Im Laufe der Zeit stellte nun sich heraus, dass ihr Vater offenkundig doch recht behalten hatte. Anfänglich hatte sie seine These in Bezug auf ihren Ehegatten, dass – wenn der einen Charakter besäße – er einen fiesen hätte, emotional aufgebracht strikt zurückgewiesen. Als dieser sich jedoch ein neues Hobby auserkor, stellte sich ihr doch gewissermaßen zwangsweise die Frage, ob sie den Rest ihres Lebens mit einem Entomologen, ja gar einem Lepidopterologen zu verbringen gedachte. Objekte einer Sammelbegierde in Alben einzustecken, wie es Philatelisten oder Numismatiker taten, war eine Eigenheit, die sie vielleicht noch hätte akzeptieren können. Diese Kollektabilien aber mit Hilfe von Stecknadeln durchbohrt in transparenten Sammelboxen an sämtliche Wände der gemeinsamen Wohnung zu hängen, das ging ihr einfach zu weit, machte sie förmlich aggressiv. Und diese Aggression mochte sich unter Umständen ein violentes Ventil schaffen...
Auf einer Fahrt entlang der BAB 445 hatte sie wie zufällig einen Blick aus dem Fenster geworfen... Talbrücke Rüggensiepen... Und nicht einmal mit Bindestrich! Eingeengt hatte sie sich plötzlich gefühlt, ja, eingeengt wie der Bach, dem der Weg durch den Siepen, das Kerbtal, durch das er floss, vorgeschrieben war. Und bevor noch eine weitere Beschränkung ihres Lebens hinzukommen konnte, wie bei dem Bach, der kurz darauf verrohrt weiter fließen musste, dem man die Freiheit nahm zu fließen, wie er wollte...
So tauschte sie ihr bisheriges Lieblingswort gegen einen Nachfolger, einen Ausdruck, der nicht nur Tisch und Bett zwischen ihr und ihrem Gatten trennte, sondern ebenfalls ihren bei der Eheschließung angenommenen Doppelnamen. In »A Thief of Time« prägte der amerikanische Autor Tony Hillerman einen Ausdruck, der so einem Doppelnamen den Bindestrich nahm. Er bezeichnete den Vorgang der Scheidung als »de-hyphenating«, also »Entbindestrichung«... Genial!
Spätsommersonntag
Die frische Sauerländer Mittagsluft tat gut. Acheseau legte den Kopf in den Nacken und genoss auf seiner Bank auf der Staumauer des Hennesees die noch wärmenden Sonnenstrahlen dieses Spätsommertags, ein Tag des Herrn.
Was war das für ein Sauwetter gewesen am Abend zuvor auf dem Bahnsteig in Marsberg! Wieso überhaupt Marsberg? In diese Stadt hatte er doch sein Lebtag noch keinen Fuß gesetzt... Noch weniger wäre er damals zu den harten Coronazeiten – womöglich noch ohne Maske – mit dem »RE17« gefahren. Jetzt, wo die Pandemie von fast allen Virologen für beendet erklärt worden war (bis auf den einen, den Vorsichtigen, dem er eigentlich gewillt war, wirklich weiterhin sein vollstes Vertrauen zu schenken), da war das etwas anderes. Er hatte ja nicht im Sinn, vorschnell die Himmelstreppe zu erklimmen.
Wie kam er jetzt darauf? War seine eigene Assoziationskette wieder einmal zu schnell für ihn?
Er schmunzelte still in sich hinein und fing an zu summen. Es waren seine Erinnerungen an die Fingerpicking-Fertigkeiten eines Jimmy Page auf dessen Harmony-Akustikgitarre. Oder bei Live-Auftritten ebenso auf dem unteren, sechssaitigen Hals von dessen Gibson EDS-1275 »Doubleneck«. Seine Lippen öffneten sich leicht und formten unhörbar die ersten paar Worte seines Lieblingslieds: »Stairway to Heaven«.
Er hatte den Led Zeppelin-Song schon als Jugendlicher geliebt und ihn heute bereits einmal auf den Lippen gehabt, als er hergekommen war nämlich und statt eines abwechslungsreichen und erholsamen Spaziergangs entlang des Mescheder SinnePfads die 333 Edelrost-Stufen der riffelblechernen Himmelstreppe zur Staumauer des Hennesees erklommen hatte. Der Versuch indes, eine der beiden Blockflöten der Studioaufnahme mittels gespitzter Lippen zu imitieren, war spätestens nach einem knappen Drittel des Wegs wegen akuten Luftmangels gescheitert. Das Gewicht seines mitgeführten Trolleys hatte ein Übriges dazu beigetragen.
Die Erfrischung aus der Röhre des – wie man auf dem Edelstahlschild lesen konnte, wenn man den Kopf zum Trinken seitwärts drehte – »QUELLWASSER«-Brunnens am Fuß der Treppe war zwar der in Ludwig Bechsteins »Märchen vom Schlaraffenland« vergleichbar, selbst wenn kein Malvasier oder irgendein anderer süßer Wein dort herausfloss, sondern eben Quellwasser vom »Köpperkopf«, dem Berg zu seiner Linken, ihre Wirkungsdauer war indes absehbar begrenzt gewesen.
»Köpperkopf«? »Köpper«, so wusste Acheseau, war die plattdeutsche Bezeichnung für einen Kopfsprung, und »Kopf« hieß hier dasselbe wie Gipfel. In der Summe ergab das einen Kopfsprung vom Berg... Wohin denn? Bis in den Hennesee? Das war schon ein wundersames Völkchen, diese Mescaleros... Nannte man sie eigentlich so, die Einwohner von Meschede?
Seine Überlegungen kehrten zu Led Zeppelin zurück... Was faszinierte ihn nur an dieser Band aus den 1970ern? In seinem Traum hatte er einen Schrei gehört, der ihn fortgesetzt an den von Robert Plant in »Whole Lotta Love« hatte denken lassen. Und jetzt hatte Acheseau einen Ohrwurm, und was für einen!
Erster Todesfall
Nach dessen Unterquerung von Bruchhausen gab man dem Rüggen-Bach seine Freiheit zurück, baute einen Wasserspielplatz, gewissermaßen als Entschädigung für ihn und die Dorfkinder, ehe die Ruhr ihn mit auf die große Reise nahm. Irgendwie doch noch ein Happy End nach der erlittenen Einengung.
»Eine Hochzeit und vier Todesfälle«... Die Erinnerung an die von ihr durchlittenen Todesfälle war heftig emotional. Sie hatte nicht helfen können, und diese Ohnmacht hatte sie fertiggemacht. So sehr, dass sie beschloss, nicht nur Ehe, sondern auch Schule und Gesellschaft zu verlassen... Und zwar exakt in der Reihenfolge!
Was dem Unterricht oft genug die Luft zum Atmen nahm, war ja nicht die Schule selbst, nicht die Schülerinnen und Schüler, nicht einmal der stetig bürokratischer werdende Alltag, nicht einmal die immer fordernder auftretenden Eltern. Es waren die vier Todesfälle, die die Sprache, die sie so liebte zu unterrichten, im Begriff war zu erleiden, landstrichweise schon erlitten hatte:
Genitiv
Es war in einer zweiten kleinen Pause passiert. Völlig erschöpft von der fünften Stunde in der 7b, füllte sie sich gerade den durch viel Verdunstung dunkelbraun-konzen-triert geratenen Rest dessen (Genitiv!) aus der Kanne in ihren Becher, was ursprünglich von der (korrekter Dativ!) bzw. seitens der (Genitiv!) vielstrapazierten Maschine als Lehrer:innen-Nervenbelebung gedacht gewesen war, als sie die tränenschluchzende Stimme von einer (Genitiv!) Englischkollegin hinter sich vernahm: »Ich komme eben aus deiner 9a. Ich habe denen immer gesagt: ›Den of-Genitiv nur bei Sachen und bei Tieren, die keinen Namen haben!‹ Und was machen die...?«
Sie hatte daraufhin für einen winzigen Moment die Lider geschlossen.... Nicht weil sie über eine Erwiderung hätte nachdenken müssen, sondern da das, was sie gerade schlürfend in den Mund genommen hatte, brühend heiß ihre Kehle herunterrann. Dann war Platz für eine trockene Antwort: »Das ist nicht meine 9a; das ist die Klasse, in der ich Klassenlehrerin sein muss.«
Sie war sich der (Genitiv!) unterlassenen Hilfeleistung wohl bewusst, überlegte dennoch hinsichtlich ihres (Genitiv!) eigenen Deutschunterrichts, ob man den Duden eventuell wegen dessen (Genitiv!) Erlaubnis verklagen könne, dem Dativ soviel Macht zuzugestehen. Für die Umgangssprache im Sauerland war sie ja selbstverständlich bereit, Ausnahmen zuzulassen. Aber... auf wessen (Genitiv!) Mist mochte es gewachsen sein, den englischen Genitiv Singular als deutschen Plural zuzulassen: moderne T-Shirts?!
Aussichten
Ohrwürmer dauern im Schnitt um die 22 Minuten... Wenn man es sich verkneift, sich darauf zu konzentrieren, sonst können es flugs auch mal 40 Minuten werden. Das hatten Forscher – so hatte Monsieur Acheseau in der ARD-Mediathek gelernt – an der englischen Universität in Reading herausgefunden. Seine Patek Philippe-Sonderimitation hingegen behauptete, es seien bereits 48 Minuten.
Seine Augen wanderten rastlos, zunächst über ansatzweise buntlaubige Baumwipfel, anschließend über die sich sanft kräuselnden Wellen des Hennesees. Der Überblick wäre vom Aussichts-Schiffsbug oberhalb der SinnePfads noch grandioser gewesen, hätte man, ja hätte man das Konstrukt nicht 2019 wegen Baufälligkeit abgebaut, wie ihm die freundliche Mitarbeiterin der Tourismus-Information in Meschede vor Antritt der Reise dankenswerterweise offenbart hatte. Sonst hätte er sich womöglich noch beim Erreichen der Deichkrone nach links gewandt. Dabei waren ihm die Unterschiede zwischen den Fotos im Internetz schon aufgestoßen. Zeigten die einen die wohl unlängst fertig gestellte »Arche«-Aussichtplattform, wenn man dem frischen, unverkennbar rohen Holz Glauben schenken durfte, so offenbarten andere vergrautes, in die Jahre gekommenes Holz. Ein Martin oder Marvin – so ganz klar war das nicht ersichtlich bei der mittelmäßigen Auflösung der Abbildungen – hatte sich gemeinsam mit einer gewissen Sonya und einer Kathy auf der Innenseite des Relingbalkens oberhalb des gefakten Steuerrads, das eher dem Schwungrad einer alten Nähmaschine ähnelte, in schnitzender Weise verewigt. Waren es rattenscharfe Teenie-Wunschgebilde? Oder gar Treueschwüre? Ob sie ewig halten würden? Zumindest die in die Zellulose vertieften hatten es jedenfalls nicht geschafft.
In einem ersten Planungsansatz für seinen Sauerlandbesuch hatte Acheseau eine Besichtigung der ursprünglich als Jagdschloss erbauten Burg Eversberg oberhalb der Stadt in Erwägung gezogen. Gut informierten Kreisen zufolge, sollte hier im 11. / 12. Jahrhundert ein Graf Eberhard von Arnsberg resigniert haben. Gleichwohl zwölf Kilometer ohne motorisierten Untersatz waren einfach zu viel trotz der vom Reiseführer versprochenen genialen Aussicht auf das Ruhrtal.
Zweiter Todesfall
Binde- und Wortergänzungsstrich
Gab es ihn eigentlich? Den Todes Tag des (Genitiv!) Binde Strichs oder gar den des (Genitiv!) Wort Ergänzungs Strichs?
Tafel Lappen, Lehrer Konferenz, Eltern Sprechtag... allesamt Verstümmelungen, die auch Beihilfe Berechtigung und Kranken Kasse nicht hatten helfen können zu heilen. Und so waren sie denn verschieden... die Brüder im Geiste, die Verständnis und Unmissverständlichkeit vermittelnden Zeichen der Zusammengehörigkeit: Der eine war zuständig für das Verbinden von Wörtern, die irgendwie zusammengehörten, allerdings nicht so eng, als dass man sie hätte als ein Wort zusammenschreiben müssen. Der andere gab Wörtern die Möglichkeit, eine originäre Hälfte ihrer selbst abzugeben – aus stilistischen Erwägungen –, um sich auf diese Weise eng an ein zweites anzuschmiegen, verbunden durch eine wie immer lautende adversative, lieber sogar noch durch eine zuweilen sogar mehrteilige kopulative Konjunktion.
Ihr Geschichts-(!) und Sowi-(!)Kollege, mit dem sie so manche Zigarette auf dem Balkon über dem Portal der altehrwürdigen Bildungsstätte gepafft hatte, motzte ebenfalls oft genug über den Verlust sprachlicher Eindeutigkeit, wobei er mit schöner (na ja) Regelmäßigkeit zu erzählen wusste, er sei einmal an einem Geschäft vorbeigekommen und im Schaufenster habe er lesen müssen: »Gebrauchte Braut und Abendmoden«
Nun denn, ihr Kollege halt...
Unweigerlich nahm sie ihren ursprünglichen Gedanken noch einmal auf... »Entbindestrichung«... Hier war der Bindestrich, ihr persönliches Zeichen für Zwang und Einengung, willentlich gecancelt worden, nicht nur zur Getrenntveranlagung bei der Steuererklärung, sondern zugunsten eines Flugs in die Freiheit. Heutzutage waren Trennungen doch leichter zu bewerkstelligen als etwa zu Zeiten Heinrichs (Genitiv!) des (Genitiv!) Achten.
Da betrieb man Ehegattensplitting ja noch mit dem Schwert.
Schutzvorkehrungen
Der Kaffeedurst trieb ihn förmlich zur Anlegestelle der »MS Hennesee«. Das würde etwas anderes sein als die lauwarme Brühe im Zugcafé... Schon wieder nervte ihn die Erinnerung. Er musste dringend auf andere Gedanken kommen. Ein neuer Fall zum Beispiel würde seinem Hirn eine Abwechslung bescheren. Aber woher stehlen, wenn nicht nehmen? Eine Schifffahrt auf der Talsperre würde es übergangsweise auch tun. Und die Tatsache, dass der gebuchte Ferienhausaufenthalt in Vellinghausen unmittelbar bevorstand, euphorisierte ihn über Gebühr.
Monsieur Acheseau erhob sich, nicht ohne noch einmal tief durchzuatmen, schlenderte in aller Seelenruhe den Hennedamm entlang und bewunderte die weit über Lebensgröße auf der geteerten Strecke mit weißer Farbe stilisiert aufgemalten Fischarten, die offensichtlich in diesem Gewässer anzutreffen waren.
Der erste Wegweiser auf seinem Spaziergang wies ihn an, dem Weg um den See entgegen dem Uhrzeigersinn weiter zu folgen; kurze Zeit später tat es diesem ein zweiter nach. Nur dass es auf einmal zwei infrage kommende Wege gab. Wieder dachte er an seinen Lieblingssong. Auch der sprach von der Existenz zweier Pfade, die man gehen konnte. Hier führte einer von ihnen augenscheinlich in Ufernähe weiter, der andere führte bergan, vom Ufer weg und – was zunächst irgendwie irritierte – schräg in Gegenrichtung. Dafür sei er barrierefrei, behauptete das Schild. War das der Beginn eines neuen Falls, der Herausforderung, die er sich doch gewünscht hatte? Er beschloss, dem nachzugehen, folglich dem barrierefreien Weg, denn was konnte die Aussage anderes heißen, als dass der Weg entlang des Wassers Stufen sein eigen nannte. Und davon hatte Monsieur Acheseau auf der Himmelstreppe genügend absolviert.
Folglich bog er ab, begann den Anstieg. Barrierefreiheit war versprochen, Mühelosigkeit hingegen nicht. Nach einigen Schritten blieb er kurz stehen, um zu verschnaufen, und warf einen Blick zurück. Viel war wegen des Uferbewuchses von der Talsperre hier nicht länger zu erspähen. Es war ein Stück Wald ohne jegliche Besonderheiten. Eine Schwarzdrossel (mit lateinischem Namen: »Turdus merula«, wovon sie naturgemäß nichts wusste) flog ob dieser seiner Vermutung laut protestierend auf und machte sich kopfschüttelnd davon.
Eine Spitzkehre stellte die ursprüngliche Wanderrichtung wieder her. Wie viele Terpentinen würden sich ihm noch bieten? Wie hoch würde er den Hang hinaufzusteigen haben? Gerade erst war seine Überlegung zu Ende gedacht, offenbarte ihm das Gelände, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt und die Treppe vermieden hatte, die hier andockte. Eine zweite kam unerheblich später in Sichtweite und stellte ihn vor die Wahl, die Strecke abzukürzen oder doch der Spiegelung des Streckenverlaufs Vertrauen zu schenken. Ein knapper Blick auf seinen Trolley verkürzte den Entscheidungsprozess.
Acheseaus Schritte wurden schneller, behänder; von nun an ging’s bergab. Unten angekommen, wandte er sich wiederum zurück und bemühte sein kartografisch-ikonografisches Vorstellungsvermögen: Aus dem All besehen würde sich dem Betrachter eine Darstellung offenbaren, die der Querschnittszeichnung durch ein mit dem Handballen plattgedrücktes Rosinenbrötchen ähneln mochte. Er bekam Hunger.
Als er auf der aus angeschütteten Steinen errichteten Aussichtstelle mit der seeseitigen Begrenzung aus Corten-Stahl ankam, verspürte er Zeit und Muße, seine Aufmerksamkeit der malerischen Bucht vor ihm zu widmen. Zweifelsohne war er nach wie vor im Abbildungsmodus: Ein himmlischer Zirkel hatte dem Seeufer seine Kontur verliehen. Und dem Scheitelpunkt der göttlichen Kurve näherte sich bereits das Ausflugsschiff seines Urlaubsbegehrens.
Nachdem er sich eine Fahrkarte besorgt hatte, stellte Acheseau sich geduldig an das Ende der Reihe der Wartenden und stützte sich auf den Bügel seines Trolleys. Es blieb reichlich Zeit, sich seine potentiellen Mitreisenden näher anzusehen, musste das Dampfschiff doch erstens den Landungssteg ausfahren und zweitens auf das Ufer aufsetzen, um auf diese Art und Weise anzulanden.
»Papa, wie lange müssen wir denn noch hier rumstehen?«
»Nu hörma auf zu nölen!«
»Mama...«
»Du hast doch gehört, was der Papa...«
»Nu sach doch ma!«
»Malte-Kevin, du siehst doch, dass sie erst noch die Tische kontaminieren müssen, oder willse etwa Corona kriegen?«
Das zweiflügelige Tor, das den Steg absperrte, der auf das Schiff führte, schwang endlich auf. Die Abfertigung ging trotz des Gedränges zügig voran. Man hatte Routine.
»Herzlich willkommen an Bord! Sie haben die Wahl: Entweder Sie nehmen drinnen Platz – aber bitte mit Maske – oder oben auf dem Deck. Dort können Sie in Ruhe Kaffee und Kuchen oder ein Kaltgetränk zu sich nehmen.«
»Mama, krieg ich 'ne Cola?«
Damit war die Familie außer Hörweite. Und der Sonne, die für sich einen Moment genervt hinter einer Wolke versteckt hatte, gefiel es, wieder zum Gelingen der Dampferfahrt beizutragen.
Zwei Seeforellen (lat.: »Salmo trutta lacustris«, doch davon wussten sie naturgemäß nichts) blickten einander bedeutungsvoll an und schwammen weiter auf ihrer Patrouillerunde um den See.
Eine Gruppe von vier, fünf Mountainbikern schob ihre Gefährte gefechtsmäßig näher. Sie schienen auf einer längeren Tour unterwegs zu sein. Ihre Rucksäcke waren nämlich nicht gerade winzig, und wo immer es umsetzbar erschien, waren weitere Transportmöglichkeiten an den Rädern befestigt; von einer Sattelstange aus ragte sogar ein regulärer Gepäckträger ins Gelände.
Monsieur Acheseau überquerte den Steg, zeigte seine Fahrkarte vor und war aufrichtig froh, sich für die Fahrt zum jetzigen Zeitpunkt entschieden zu haben, denn die nette Dame von der Tourismuszentrale hatte ihm am Telefon ebenfalls gesteckt, dass man die letzte Fahrt der »MS Hennesee« für den 10. September 2022 von 13 bis 14 Uhr plane. Danach erfolge ihre Stilllegung und sie werde abtransportiert. Gab es für ausrangierte Schiffe auch einen Platz in einem Museum? 2023 endlich – aber wohl nicht vor August – solle die jetzige »MS Hennesee« von einem E-Schiff abgelöst werden.
Schick wäre es ja für die persönliche Erinnerung gewesen, sagen zu können, diese allerletzte Fahrt miterlebt haben zu dürfen. Doch wer konnte wissen, welches Wetter dieser Abschiedsfahrt beschieden sein würde. Wenn es währenddessen wie aus Eimern schütten würde...
Obschon... Eine nette Analogie zur Einweihungsfahrt des ZugCafés im »Sauerland-Express« wäre das auf jeden Fall gewesen.
Da war es wieder, dieses Gedankengespenst. Die Zugbegleiterin hatte es ihm doch eindeutig erklärt...
Dritter Todesfall
Akkusativ
»Wie gerne hätte ich jetzt ein Teller Suppe, zum Aufwärmen.« Das Pärchen, das sie im Februar in einem Gasthof nach der Besichtigung der Klause unbeabsichtigt belauscht hatte, schien sich dabei nichts weiter zu denken! Also: Entweder war das Wort »Teller« sächlich geworden, und zwar über Nacht, nicht etwa schleichend. Klar, ein Teller war ein Ding, eine Sache... Doch war das etwa ein Grund, ihm das Maskulinum abzusprechen?
In der Folgewoche war es dann dem Wort »Termin« an den Kragen gegangen: »Wir können Ihnen erst im Juni wieder ein Termin anbieten«, wusste die MTA ins Telefon zu säuseln.
Und sie fühlte, dass sie diesem Sterben genauso wenig entgegenzusetzen haben würde wie dem so mancher Spezies auf der roten Liste gefährdeter Tiere und Pflanzen.
Der schwarze Spaniel