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Wessel Stols, 35 Jahre alt, verkauft seine Werbefirma, um sich seinen Jugendtraum zu erfüllen: ein berühmter Schriftsteller zu werden. Seine Frau Friedl wünscht sich derweil nur eines: ein Kind. Sie reisen nach Frankreich, wo Wessel über Monsieur Poubelle, den Erfinder der Mülltonne, schreiben will. Doch der Roman misslingt. Als er mit dem Platzen der Dotcom-Blase auch noch sein Vermögen verliert, widmet er sich dem zwielichtigen Handel mit sowjetischer Kunst. Nach einigen Skandalen wechselt er die Fronten und besorgt sich mit Hilfe alter Freunde einen Sitz im Europaparlament. Es dauert nicht lange, bis Spesenritter, Spendenaffären und ein Netz aus Machenschaften ihn korrumpieren. Als seine große Liebe Friedl ihn verlässt, verliert er jede noch verbliebene Moral ... Auf dem Höhepunkt des Maidan-Aufstands teilt eine ehemalige Liebschaft ihm mit, dass er Vater eines Sohns ist. Hals über Kopf bricht Wessel in die Ukraine auf, wo er in eine dekadente Gesellschaft eintaucht und schließlich in die Wirren des Krieges hineingezogen wird.
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Seitenzahl: 898
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Pieter Waterdrinker
Roman
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure
MÄRZ
Der Mensch an sich ist einsam
Hildegard Knef
You know I’m no good
Amy Winehouse
Für Julia
Prolog
Erstes Buch 2001/2002
Teil eins
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Teil zwei
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Teil drei
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Teil vier
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Zweites Buch 2013/2014
Teil eins
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Teil zwei
1
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8
Teil drei
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Teil vier
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Teil fünf
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Drittes Buch 2014
Teil eins
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Teil zwei
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To the gate
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2
3
4
Quellen
Der Skandal um Wessel Stols ist seinerzeit bis in die letzten Winkel des digitalen Universums gespült worden. Boulevardsites, Qualitätsportale, aber auch die noch übrig gebliebenen Printmedien haben die Nachricht groß aufgemacht. Und das Fernsehen, das Fernsehen hat natürlich alles überflügelt – obwohl keiner der beiden Protagonisten zu greifen war: Der eine war schnell in die Anonymität abgetaucht und dämmerte da seinem politischen Tod entgegen, während unsere Hauptperson nur wenig später tatsächlich im Grab lag.
Auf dem Amsterdamer Friedhof.
Tot.
Genau wie die 298 armen Seelen, die auf dem Weg von Schiphol nach Kuala Lumpur anderthalb Wochen zuvor mit ihrer Maschine wie ein Rebhuhn vom Himmel geschossen worden waren. Während einige von ihnen die Stewardess vielleicht gerade um ein weiteres Glas Wasser baten, in der Warteschlange vor dem WC standen oder ein Buch von einem unserer nationalen Bestsellerautoren zu lesen begonnen hatten. Um in ukrainischen Sonnenblumenfeldern zu enden, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem sich Wessel Stols im Frühjahr aufgehalten hatte und da fast buchstäblich in der Scheiße erstickt wäre, aber jetzt eile ich den Dingen schon zu weit voraus.
Wenn die Nutte, mit der Staatssekretär van Dongen seine Frau betrog, wie ein ertapptes Flittchen in einem Stummfilm so etwas Altmodisches wie Scham gekannt hätte, wäre die ganze Affäre nie ans Licht gekommen. Aber das Mädchen war fast ein Jahrhundert nach der Erfindung des Stummfilms geboren, es hatte seine Jungfräulichkeit mit elf an einen schwarzen Kubaner, einen Geliebten seiner geschiedenen Mutter, verloren, wie ich später den spärlichen Unterlagen entnehmen konnte, die sich wie ein Schundroman lasen: Mit neunzehn hatte sie eine Nebenrolle in einem der wenigen Sexskandale gespielt, die sich je in den Niederlanden ereignet haben. Da war sie aber schon durch und durch verdorben. Doch eben diese Verdorbenheit hatte den Herrn Staatssekretär angezogen: Der Flirt mit dem feuchten und tiefen Abgrund, mit Krankheit, mit den ausgefransten Rändern des Todes, mit dem er es dann tatsächlich zu tun bekam, wenn auch nur auf gesellschaftlicher Ebene.
Plötzlich stand da ein Typ mit kurzen, schwarzen Locken im Zimmer. Der Vorhang vor dem Fenster, durch den er sich eingeschlichen hatte, wölbte sich filmreif im sachten Wind.
Der Lockenkopf gehörte Wessel Stols.
Nach dieser dramatischen Wendung von etwas, was für sie bis zu diesem Punkt eine routinierte, bezahlte Rumfickerei gewesen war, schnappte das Mädchen schnell ihr Smartphone vom Nachttischchen, auf dem allerlei Sexspielzeug herumlag – benutzt und unbenutzt.
Die beiden Spätvierziger glotzten einander völlig verdattert an. Stols erstarrt zur Salzsäule, van Dongen seine absurde Nacktheit schnell mit einem Stück Betttuch bedeckend.
»Was willst du? Mich erpressen?«
Wessel Stols spürte in seiner linken Handfläche etwas brennen: einen Splitter von der Leiter, auf der er klopfenden Herzens zum schwarzen Quadrat des Schlafzimmerfensters hinaufgeklettert war. Die Leiter, die die Arbeiter an die mit Efeu bedeckte Wand gelehnt hatten, um das romantisch gewölbte Reetdach der Villa zu erneuern, deren Bewohner im Urlaub in Chamonix weilten.
Zweimal zuvor war er hier gewesen, um sich zu vergewissern, ob alles sicher war. Und jetzt das, dieser totale Fehlschlag, auf frischer Tat ertappt!
Van Dongen federte knurrend hoch. »Als ob ich nicht genug von dir wüsste! Aus deiner Zeit in Russland. Ich werde dich, verdammt noch mal …«
Die kleine Schlampe verschanzte sich katzenartig in den Kissen. Sie fing an, amüsiert mit ihrem Smartphone Fotos zu machen, und dabei gelang ihr ein glücklicher Schnappschuss. Das Foto, das damals jeder gesehen hat, mit der Illusion eines auf Schneckengröße eingeschrumpelten Geschlechts des berühmten Politikers, nicht mal das Ding selbst.
»Das Bild …«, sagte Wessel Stols rau. »Warum hast du meine E-Mails nicht beantwortet? Ich bitte dich! Gib mir das Porträt, sonst ist es aus mit mir …«
Van Dongen holte mächtig gegen den Eindringling aus. Er krempelte seine imaginären Ärmel hoch, bereit, noch weiter zu gehen.
Wessel Stols taumelte für einen Moment, als stünde er auf dem Vordeck eines schwankenden Schiffs. Er war völlig perplex. Ein scharfer Schmerz schoss vom Kiefer in den Kopf hinauf, in die Schultern, die Herzgegend – dann erst bemerkte er das Mädchen im Bett. Das Wesen, das sich da im schummrigen Licht abzeichnete, war nicht Frau van Dongen.
»Ich dachte, du wärst mit deiner Familie in Chamonix.«
Wessel Stols’ Blick blieb an dem Mädchen kleben. Ihre seidenglänzenden Beine lagen auf dem Laken dicht beieinander wie pudelnackte, perverse, verspielte Zwillinge. Dass er selbst sich jemals von solchen Weibern hatte reinlegen lassen … Dass er gedacht hatte, dass … Oh Friedl … Warum bin ich nur so dämlich gewesen?
»Ahh …« Er kassierte einen zweiten Schlag.
Wessel Stols ging zu Boden, der Politiker kam über ihn und begann, ihn mit seiner rechten Faust zu bearbeiten. Stols berappelte sich, warf ein Jugendstiltischchen um, bekam eins der Beine zu fassen und ließ das mit einer Perlmutteinlage versehene Ding auf van Dongens Rücken niederkrachen. Der keulte zurück, ächzend, wimmernd, fluchend. Es gelang ihm, sich seinerseits des Tischchens zu bemächtigen, und er drosch damit so hart wie möglich auf Stols’ linke Flanke ein.
»Mann, Scheiße, aufhören!« Das Mädchen war aus den Kissen hochgekommen. »Idioten! Ihr schlagt euch noch tot!«
Neben ihr auf dem Nachtschränkchen stand ein Aschenbecher aus Onyx. Eine Kippe lag darin, die hatte sie geraucht, nachdem van Dongen – prustend wie ein Schwimmer auf dem Trocken – endlich seinen Samen über ihre kleinen Brüste verspritzt hatte. Sie griff danach und schmiss das Ding aufs Geratewohl: Der Aschenbecher streifte Wessel Stols’ linke Schläfe. Wie in Slow Motion flog der Onyx weiter. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Im Bruchteil einer Sekunde zog alles an ihm vorüber, wie es begonnen hatte, dieses ganze beschissene Elend mit dem Bild … Mit einem Aschenbecher, mit dem berühmten Aschenbecher von …
»Arschloch …« Van Dongen hielt Wessel Stols fest im Schwitzkasten. »Das vergesse ich dir nie …«
Im selben Moment ging die Alarmanlage los. Das Schlafzimmerdunkel wurde plötzlich von einem uringelben Blinklicht zerrissen. Die Villa war eine Feuerwache geworden. Ein Geheul brandete auf, ein jaulendes Brüllen wie früher (jeden ersten Montag im Monat) die Sirene des Rathauses in dem Dorf, in dem Wessel Stols aufgewachsen war. Um sowohl die Wachsamkeit der Bürger als auch die Einsatzbereitschaft der Technik für den Fall eines Angriffs der Russen zu testen, die jeden Moment das ganze Universum mit einer Atombombe ausradieren konnten.
Die Männer ließen sofort voneinander ab.
»Verdammt, wie lange bist du denn schon hier?« Die Arme des Staatssekretärs, der jetzt wieder auf die Füße gekommen war, hingen stocksteif an seinem Körper herab. »Für die Installation habe ich mal ein Vermögen bezahlt … Der Scheiß ist mit der Polizeiwache verbunden … Die sind gleich hier … Um alles zu kontrollieren … Sag, dass du mein Gast bist … Du bist mein Gast! Hast du verstanden, Wessel? Du bist mein Gast …«
Das Mädchen hatte sich inzwischen aus dem Staub gemacht. Sie war die Treppe hinab durch den schwarz-weißen Marmorflur zur Haustür gerannt. Ihr Spielzeug hatte sie oben auf dem Nachtkästchen vergessen. Der Kunde hatte sie extra um so was gebeten. Das Dreckschwein. Sie ließ sich immer im Voraus bezahlen. Aber allein die Silikonkugeln kosteten schon dreißig Euro. Im Vorbeigehen schnappte sie ein teuer aussehendes Irgendwas von einem Schränkchen, sie wusste nicht, was es war, stopfte es in ihre Tasche und flitzte nach draußen.
Sie hatte Glück, dass gerade in diesem Moment ein Taxi in der sonst leeren Straße mit den Schatten der Kastanienbäume angefahren kam – wie im Märchenbuch.
»Wo soll’s denn hingehen?« Der Kerl am Steuer erkannte auf den ersten Blick, aus welchem Holz sie geschnitzt war.
Sie nannte eine Straße in Den Haag.
»In Ordnung, Schätzchen …«
Sobald sie saß, zündete sie sich eine Zigarette an. Nach ein paar Zügen holte sie ihre Trophäe aus der falschen Prada-Tasche, die sie vor einem Monat einem Afrikaner in weißem Sackkleid auf den Ramblas von Barcelona abgekauft hatte. Es war ein silberner Trinkbecher. In Schnörkelbuchstaben war eingraviert: Eduard Willem van Dongen, 13. Oktober 1966. In Gottes Liebe.
Sie kurbelte das Fenster auf, schmiss das Ding nach draußen und kurbelte das Fenster wieder hoch.
Dreizehn Jahre zuvor, im Spätsommer 2001, einen Monat vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, genoss Wessel Stols den seinem Alter angemessenen stillen Triumph, den ein Mann verspürt, wenn er die Dinge des Lebens richtig angepackt hat.
»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Friedl entzückt, als sie beim Verlassen von Paris an einer alten Wassermühle vorbeikamen.
Bordeaux, Lyon, Nizza – sie konnten überall hin.
»Wir fahren dorthin, wohin unsere Blicke uns leiten.«
Der Sancerre vom Vorabend rötete ihren Wangen. Friedl hatte ihren Job in der Kinderkrippe aufgegeben, ab jetzt war sie so frei wie ihr Mann. Aus unbewusstem Protest gegen den fast perversen Luxus, in dem sie sich die letzten fünf Tage in einem Fünf-Sterne-Hotel gegenüber dem Jardin du Luxembourg gesuhlt hatten, trug sie Jeans, Turnschuhe und einen alten Pullover. Sie bewegte sich und atmete wie ein Schulmädchen.
»So, diesen Pariser Kitsch hätten wir mal wieder hinter uns«, merkte Wessel Stols an, als sie durch die Rapsfelder fuhren.
»Hat’s dir nicht gefallen?«
Breitbeinig wie auf einem Terrassenstuhl saß ihr Mann am Steuer.
»Gefallen, gefallen … Das ist nicht die Frage …«
Städte hätten Perioden von Blüte und Verfall, dozierte Wessel Stols, während er mit dem Tempomat herumspielte. Dresden war bis zur Kanalisation hinunter plattgebombt worden, weitgehend weggefegt, schien aber inzwischen wieder prachtvoll auszusehen. Und das nur zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer! Das war der Unterschied zwischen toter und lebender Materie: Als Mensch kriegt man so eine Chance nie. Oxford und Cambridge erlebten ihren Höhepunkt in den Roaring Twenties, in Berlin hätte man natürlich in den Dreißigerjahren sein müssen, in New York wahrscheinlich ein Vierteljahrhundert später. Und wann hatte Paris seinen größten Zauber entfaltet? Irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts. Maupassant, Flaubert, die Brüder Goncourt. Tja, damals hätte er eigentlich leben müssen! Inspiration auf Schritt und Tritt. Nicht nur bei den berühmten Schauspielerinnen und Konkubinen mit ihren Augen wie glühende Kohlen und einem verdorbenen, käseweißen Teint, über den die Herren ihre unsterblichen Meisterwerke schrieben. Nein, auch aus dunklen Kneipen, Kaffeehäusern, Omnibussen, Klamotten, Zylinderhüten, Schuhen, Überschuhen – überall atmete, dampfte und sprudelte einem die Inspiration einfach so entgegen. Noch in den Fünfzigerjahren hätte er zur Not da leben können, fügte Wessel Stols hinzu, obwohl er Sartre und seine Scharen an Bewunderern immer für einen Haufen Scharlatane gehalten hätte. Aber jetzt? Paris war keine Stadt der Schriftsteller und Künstler mehr, sondern eine Stadt der Emporkömmlinge, der Medienmillionäre, Spießbürger und Kabarettisten!
Friedl saugte seine Worte wie Musik auf. Die Liebe, die sich ihrer in den letzten Tagen stets aufs Neue bemächtigt hatte, wogte in immer neuen, warmen Strömen heran. Die kunstsinnigen Anwandlungen, die ihren Mann seit mehreren Monaten fest im Griff hatten, waren ihr vollkommen fremd. Früher hatte er sie unterdrückt, um Geld zu verdienen, um sich das Gespenst der Armut, in der er geboren worden war, vom Leibe zu halten. Aber sie verstand ihn, wenigstens versuchte sie es.
»Und jetzt?«
Der Asphalt verschluckte die letzten Gedanken an Holland, das ewige Gejammer, die Staus und den Regen.
»Das habe ich doch gerade gesagt …«, antwortete Wessel Stols ruhig. »Wir fahren dorthin, wohin unsere Blicke uns leiten …«
Der Ausdruck stammte von einem Schriftsteller, einem Letten, der sein Leben unter Stalin und Hitler mit dem Untergang büßen musste. Er hatte ein prophetisches Meisterwerk darüber geschrieben. Dieses Meisterwerk lag hinten im Auto, zwischen den drei Koffern und über hundert anderen Büchern. Zuerst würde er lesen. Um reinzukommen. Hatte Nabokov nicht irgendwo von Honig und Birnensaft geschrieben? Nun, er würde Honig und Birnensaft seiner Farbe beimengen, zur Not auch die Tränen eines jungen Mädchens. War das Mischen, das Anlegen diverser Pigmente mit Kleister und Bindemittel erst einmal erledigt, alles natürlich in übertragenem Sinne, dann konnte er an die Palette denken.
Der Stift würde sein Pinsel sein.
Eines Tages hatte Wessel Stols mit grünem Filzstift drei Worte auf eine weiße Fliese geschrieben. Jahrelang hatte sie als Ansporn und Versprechen an die Zukunft in seinem Arbeitszimmer gehangen.
Darauf stand:
Gesundheit
Freiheit
Kreditkarte
Es war die einzige Heilige Dreieinigkeit, an die er jemals geglaubt hatte, und es überraschte ihn kaum, als sich das religiöse Versprechen erfüllte.
Seit Kurzem war er finanziell unabhängig. Ohne mit der Wimper zu zucken oder rot zu werden, hatte er von seinem Partner anderthalb Millionen Gulden gefordert. Max bot eine Million. Sie einigten sich bei eins Komma zwei.
Max Kisch war schon immer die treibende kaufmännische Kraft am Schreibtisch gewesen, jemand, dem zwar keine Kampagnen und Texte einfielen, der aber wusste, wie man sie verkaufte. Über den bevorstehenden Ausstieg Wessel Stols’ schien er dennoch erleichtert.
Als Zeichen ihrer Freundschaft und vielleicht auch als Bonus für ihre in völliger Harmonie endende Geschäftsverbindung schenkte er ihm ein Auto. Einen fast neuen Jaguar. Seit sich der Erfolg eingestellt hatte – das Büro war in rasantem Tempo auf die heutige neunzehnköpfige Mannschaft angewachsen – war Kisch zum Jaguar-Liebhaber geworden.
»Wie komme ich denn dazu?«
»Ja, das ist ein bisschen kompliziert.« Der Blick von Max Kisch, intelligent und klar, bekam etwas Melancholisch-Samtiges.
Draußen auf der Straße ertönte ein Knall.
Wessel Stols sah sich um. Es war bestimmt eine Fehlzündung von einem Kurier-Moped. Er ließ seinen Blick über das schleimig-grüne Wasser der Gracht wandern und wunderte sich auf einmal darüber, dass er es hier insgesamt zwölf Jahre ausgehalten hatte.
»Sonja«, sagte Max Kisch dann.
Wessel Stols drehte sich wieder um. Er runzelte die Stirn, weil er nicht verstand, wandte sich seinem Kompagnon zu und fragte sich, ob er nicht doch noch hunderttausend extra hätte herausschlagen können. Ja, Sonja, was sei denn mit der?
Max Kisch war ein Nachkomme von Juden aus Riga. Alles an ihm war schwarz. Sogar die Züge in seinem Gesicht wirkten, als hätte die Natur sie in Holzkohle gefasst. Mit diesem äußerst dunklen Gesicht sah er seinen einstigen Studienfreund Wessel Stols schuldbewusst an.
Dann folgte das triumphierende Lächeln des Ehebrechers.
»Idiot«, sagte Wessel Stols. »Du kannst die Alte doch einfach nebenher ficken. Das ganze Büro weiß Bescheid. Aber du wirst doch nicht …«
Max Kisch hatte jedoch seine Entscheidung gefällt: Er würde in Kürze seine beiden Kinder, Mädchen von drei und sieben, und seine sehr hübsche und ebenfalls sehr dunkle Frau für diese blonde Polin Sonja verlassen.
»Sie mag keine Jaguars«, sagte Max Kisch dann. »Das sind für sie nur ordinäre Karren. Sie will, dass ich BMW fahre …«
Indem er das Auto akzeptierte, hatte Wessel Stols seine hunderttausend extra schließlich eingestrichen. Er wollte den Wagen sofort verkaufen. Aber als der Jaguar einmal umgeschrieben war und er ein paar Spritztouren damit unternommen hatte, nach Friesland, bis in die letzte Ecke von Ost-Groningen, teils, um sich selbst zu quälen, teils, um sich Mut zu machen, dieses potthässliche Delta wirklich endgültig hinter sich zu lassen, war er süchtig geworden nach dem weichen Leder der Sitze, der geschmeidigen Kupplung, dem Surren der Klimaanlage und dem Armaturenbrett aus poliertem Kirschholz.
Als sie schließlich so weit waren, nach Frankreich aufzubrechen, hatte er seine Frau zur Sicherheit noch gefragt.
»Den Jaguar oder den Volvo?«
»Den Jaguar natürlich …«
Auch Friedl war nicht unempfänglich für Komfort.
Sonja Ossietzky war als Jugendliche mit ihren Eltern in die Niederlande gekommen und saß nun in der Buchhaltungsabteilung von Stols & Kisch Mediapartners. Zuerst hatte sie im Telefondienst säumige Zahler mit ihrem scharfen slawischen Akzent bearbeitet. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriffen hatte, dass eine Werbeagentur kein Inkassobüro ist, dass Schuldner oft Kunden sind oder wieder Kunden werden können, und dass man mit Höflichkeit weiter kommt als mit Einschüchterung. Sie war ein bisschen mollig und sechsundzwanzig.
An einem Freitagnachmittag war sie länger im Laden geblieben. Sie hatte Wessel Stols, der über einer supereiligen Präsentation für einen Bierbrauer schwitzte, in seinem Zimmer aufgesucht. Es ging schon auf sieben zu. Schweigend war sie unter seinen Schreibtisch gekrochen. Die Pfennigabsätze kratzten über das Parkett, ihr schwarzer Rock spannte sich stramm über den Arsch. Aus einer nahegelegenen Kneipe an der Gracht wehten die Stimmen der Kollegen herüber. Sie hatte seinen Reißverschluss geöffnet und ihm befohlen, einfach weiterzuarbeiten. Als er sich endlich losgerissen hatte und sie sich wenige Augenblicke später außerhalb des Blickfeldes der Gracht an der Zentralheizung auf dem Boden wälzten, hatte sie ihn gebissen. Sie war bissig, ein Biest.
Und für so eine Schlampe wollte Max Kisch sein Leben wegschmeißen.
Seine Stimmung im Allgemeinen war ausgeglichen: Er aß und trank vielleicht ein wenig zu viel, etwas zu gierig, er hatte eine Verdauung wie ein Schweizer Uhrwerk.
Endlich würde er das tun, was ihm immer schon vorgeschwebt hatte.
Trotzdem nagte etwas an ihm. Manchmal suchte ihn ganz erkenntlich Trübsinn heim. Unter seinen dunklen Cupido-Locken, noch immer ohne jeden Anflug von Grau, waren dann plötzlich die müden Augen eines alten Mannes, eines vom Leben desillusionierten Mannes. Friedl stellte natürlich so ihre Vermutungen an. Sie hoffte, dass sie recht behielt. Sie hoffte es inbrünstig. Mochte ihr Mann auch bald fünfunddreißig Jahre alt sein, sie jedenfalls war mehr als anderthalb Jahre jünger. Bis jetzt war es ihr nicht gelungen, ein Kind mit ihm zu bekommen, aber sie war eine gesunde Frau von dreiunddreißig! Nichts war unmöglich, und es würde auch überall gehen.
Notfalls am Südpol.
»Bordeaux, wir fahren zuerst nach Bordeaux …«
Wessel Stols spähte durch die Windschutzscheibe. Die Insekten, die dagegen geprallt waren, hatten schmutzige Spritzflecken hinterlassen.
Im letzten Moment hatte er sich nicht für Lyon, sondern für Bordeaux entschieden. Rein intuitiv. Entschlossen drehte er das Lenkrad nach rechts. Ein Künstler musste seinem Gefühl vertrauen können.
Erneut zeichnete sich vor seinem geistigen Auge der rubinrote Samt ihres Hotels in Paris ab: Überall hatte es da gefunkelt wie Rotwein im Glas. Auch in ihrer Suite mit Balkon, wo im Bad an einem Messinghaken zwei Bademäntel hingen, die – schneeweiß und von dekadenter Weichheit – Friedl sofort in Entzücken versetzt hatten. Sie war die ganze Zeit darin herumgelaufen, wenn sie nicht gerade Expeditionen in die Stadt unternommen hatten. Aber ihr Mann war auf keine ihrer Anspielungen angesprungen, war vielmehr vollkommen in sich selbst versunken, als hätte er nicht kürzlich seinen Anteil am Geschäft verkauft, als stünde er nicht auf der Schwelle zum künstlerischen Leben eines freien Mannes, sondern auf der zu einem wichtigen geschäftlichen Angebot.
Am vorletzten Tag war es Wessel Stols wie Schuppen von den Augen gefallen, dass er in dieser Stadt nie würde arbeiten können. Diese Einsicht traf ihn wie ein Schlag.
»Wenn unser großer Willem Frederik Hermans es konnte, kann ich es, verdammt noch mal, auch«, hatte Wessel Stols noch am Morgen gesagt. Sie hatten in der Rue de Lille vor einer Vitrine mit Fotos von teuren Inneneinrichtungen, Häusern und Landhäusern gestanden. Der immobilier saß in einem Hof mit Orangenbäumchen in Terrakotta-Töpfen.
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich auf Knopfdruck.
Entlang der Orangen schritten sie über einen königsblauen Teppich, der sich über den Naturstein breitete.
Das Büro hatte Stil: ein Schmuckkästchen aus weißem und karamellbraunem Marmor. Eine arabisch wirkende Frau, ein Mädchen eher noch, in einem beigefarbenen Kleid, das bis zu den Fersen reichte, und mit einem eng um ihre Wangen gezogenen hellrosa Kopftuch, beendete gerade das Gespräch.
»Also bleiben wir bei dem ursprünglichen Betrag von vierzehntausend Francs?« Die Araberin wandte sich an die Französin hinter einem Tisch aus Plexiglas, unter dem Bleistiftrock, Netzstrümpfe und Pumps in allerlei Schattierungen von Schwarz und Rot zu erkennen waren. Der hauchdünne Laptop vor ihr stand in schrillstem Gegensatz zu dem altmodischen Telefon direkt daneben.
»Sicher, vierzehntausend im Monat.«
»Inklusive Gas und Licht?«
»Mademoiselle Tirsi …« Obwohl an die Sechzig, besaß die Maklerin die hellblonde Allüre und das Charisma der jungen Catherine Deneuve. »Ich habe es hier Schwarz auf Weiß stehen. Nochmals, es war ein Missverständnis. Madame Dumoulin besitzt mehrere Appartements. Dieser Cousin mischt sich immer wieder ein. Sie sind nicht die Einzige. Zerreißen Sie seine Briefe einfach! Es bleibt bei vierzehntausend Francs. Und Sie wissen, dass das für ein Zimmer direkt hinter der Place des Vosges ein Schnäppchen ist … Messieursdames, ich bin sofort bei Ihnen …«, unterbrach die Französin das Gespräch und wandte sich lächelnd den neuen Besuchern zu.
Die Araberin verschwand. Ein Kätzchen streckte seinen Kopf aus ihrer Handtasche, es sah sich neugierig und ängstlich zugleich um. Friedl hatte einen Schrei der Entzückung ausgestoßen, war aber zu schüchtern, um das Mädchen aufzuhalten und das Kätzchen zu streicheln.
»Wir suchen ein Appartement«, hatte Wessel Stols dann gesagt. »Meine Frau und ich wollen hier …«
»Mieten oder kaufen?«
»Erstmal mieten …«
Die Pariserin war aufgestanden und zu einem Glasschrank gegangen, sie kam mit drei Ordnern zurück und rasselte in ihrem schnellen Französisch herunter, dass ihre Angebote sich im sogenannten höheren Segment bewegten. Wie viele Zimmer sie denn wollten? Und sollte es modern oder eher klassisch sein? Und an welche Gegend hätten Madame und Monsieur gedacht?
Ihnen wurde Kaffee offeriert. Sie wagten beide nicht abzulehnen, obwohl sie gerade eben Espresso im Café Les Deux Magots getrunken hatten, wo Wessel Stols trotz seines Sartre-Hasses versucht hatte, in Stimmung zu kommen.
Aber er war nicht in Stimmung gekommen.
Er war zu den Toiletten gegangen, und während er sein Geschlecht über das Pissoir hängte, ein antik wirkendes Pissoir, vielleicht das gleichen rostige Pissbecken, in dem der berühmte Existenzialist sein Wasser abgeschlagen hatte, schrie er innerlich auf. Der Schrei bestand aus rauen Abschabungen der Seele, ein verzweifeltes Aufbäumen von allem, was ihn ausmachte.
Eine vorübergehende Schwäche, dachte Wessel Stols, er wusch sich ausgiebig die Hände und betrachtete sein verschwitztes Gesicht in dem ovalen Spiegel. Stendhal war immerhin auch erst richtig in Fahrt gekommen, als er über vierzig war.
»Ja, einfach ein Blackout …«, versicherte er sich und knurrte sein Spiegelbild laut an, während er seine Stirn mit einem Papiertuch abtupfte und noch einen Moment stehen blieb.
Er wollte sich vor seiner Frau nichts anmerken lassen.
Das dritte Appartement, das sie besichtigt hatten, hätte es, wenn es nach Friedl gegangen wäre, werden können. Es lag neben dem Parc Monceau, in dessen Nähe sie das Auto geparkt hatten. Vögel zwitscherten im gelben Blattwerk, der Gesang eines Kanarienvogels im Käfig auf einem Balkon schallte weithin.
Die ersten beiden Etagen, zu denen sie geführt worden waren, erwiesen sich als ebenso geschmacklos wie teuer. Für sechzigtausend Francs im Monat gab es da goldene Wasserhähne, Elefantenledersofas, Badewannen und Whirlpools, Zimmer und Schlafzimmer mit verchromten Designermöbeln sowie Beleuchtungsfunktionen wie in einer Disco. Höflich hatten sie sich durch die Wohnungen führen lassen.
»Das Beste hebe ich immer für den Schluss auf.« Die Dame aus dem Maklerbüro war ihnen vorausgegangen, sie ließen den Schatten eines Concierge in einer Glaskabine hinter sich und betraten eine Eingangshalle mit einem Gitterfahrstuhl am Ende. Auf ihrer Visitenkarte stand der Name in Goldbuchstaben, Charlotte de Versailles, was nur eine adlige Herkunft bedeuten konnte. »Es ist eng, aber wenn wir ein wenig zusammenrücken, passen wir drei bequem hinein.« Die reichlich blonde Französin drückte einen Elfenbeinknopf auf der Messingplatte. Mit Lärm wie in einer Fabrikhalle, einem Rasseln von Ketten gegen Ketten und hohl klingendem metallischen Scheuern kam der Aufzug holpernd und polternd herab. Die hölzernen Innentüren schossen nach beiden Seiten auseinander, die vergitterte Außentür musste von Hand bedient werden. »Entrez!«, sagte die Französin, die Wessel Stols dabei einen Augenblick zuvorkam.
Mit dem gleichen Gepolter, mit dem der Aufzug nach unten gekommen war, wurden sie jetzt nach oben gefahren, in den fünften Stock. Der Gedanke an Willem Frederik Hermans ließ ihn die ganze Zeit nicht los. Er hätte es verdammt nochmal vorher nachschlagen sollen, aber hatte Hermans in seinen Pariser Jahren nicht ausgerechnet sogar hier im Viertel gelebt? Der Treppenabsatz war wie ein Wohnzimmer ausgeschmückt, ein gelbes Leuchten sorgte sofort für eine beruhigende Intimität. »Das Appartement habe ich gerade erst ins Portfolio bekommen.« Charlotte de Versailles steckte einen Schlüssel in die lederverkleidete Eingangstür. »Die Eigentümer sind für drei Jahre nach Singapur gezogen. Sie wollen daher auch einen Vertrag für mindestens drei Jahre …«
Die Miete war horrend, umgerechnet zehntausend niederländische Gulden. Aber es war jeden Franc wert. Sie hatten das Geld, die Einkünfte aus seinem literarischen Werk würden bald hinzukommen, und: Es war es wirklich wert.
Sie betraten eine Halle mit ionischen Säulen, man hatte den Eindruck, als betrete man einen Tempel. Das Tageslicht fiel gleich rechts von ihnen mit mittelalterlichem Glanz durch ein rundes Buntglasfenster. Da der Mietpreis fix war – die Maklerin hatte gleich gesagt, dass der Betrag nicht verhandelbar sei –, musste Friedl ihre Begeisterung nicht unterdrücken, wie sie es sieben Jahre zuvor beim Kauf ihrer Wohnung an der Amsterdamer Leidsegracht getan hatte. Wessel Stols hatte seine Frau seinerzeit aufs Genaueste instruiert, dass sie sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen dürfe, und wenn das Haus ihr noch so sehr gefiele. Indem sie Skepsis heuchelten, hatten sie sicher dreißigtausend Gulden gespart.
Der zwölf Meter lange Flur, ausgelegt mit zum Lotusmotiv angeordneten Parkett aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, führte an beiden Seiten in die Räumlichkeiten. Das ballsaalähnliche Wohnzimmer strebte auf einen Erker zu. Unten lief der Verkehr wie ein breiter Strom vorbei, aber es drang nicht das mindeste Geräusch herauf. Die Französin versicherte, dass alle originalen Details im Haus erhalten geblieben seien, die Eigentümer lange in den Vereinigten Staaten gewohnt hätten und die Fenster eine spezielle Entwicklung der Nasa seien.
»Mein Mann ist Schriftsteller«, ließ sich Friedl mit warmem Stolz in der Stimme vernehmen. »Stille ist die Wiege der Inspiration …«
Für einen Schriftsteller sei dieses Haus ideal, wiederholte die Maklerin, der Kundschaft jetzt deutlich nach dem Munde redend. Dort auf der gegenüberliegenden Seite gebe es übrigens ein fabelhaftes Restaurant. Da kämen viele Künstler und Intellektuelle aus der Gegend hin. Es würde Monsieur bestimmt gefallen.
Wessel Stols hatte Friedls Beherrschung des Französischen immer gerühmt. Aber als sie mit seiner Schriftstellerei anfing, ließ er sofort ein missbilligendes Brummen hören. Als ob er sie zur Ordnung rufen wolle. Sie sah ihren Mann wieder mit liebevollem Blick an, an ihrem ganzen Wesen ließ sie merken, dass dieses das Haus war, das sie glücklich machen würde, wo sie leben und arbeiten konnten.
Wessel Stols trat so nahe an ein Gemälde heran, dass er es fast mit der Nase berührte. Eine Jagdszene irgendwo in den Alpen. Er fragte die Französin, ob der Hausrat hier stehen- und hängenbleiben würde.
»Sie müssen nur für die Versicherung eine Inventarliste unterschreiben. Ansonsten ist es den Eigentümern ein Vergnügen, dass die zeitweiligen Bewohner hier alles benutzen können.«
Wessel Stols ließ seinen Blick noch einmal umherschweifen. Direkt neben dem Salontisch aus Mahagoni mit einer silbernen jüdischen Menora in der Mitte stand ein Globus. Er ging auf ihn zu und öffnete den dekorativen Erdball an einer Bügelhalterung in der Nähe des Nordpols. Likör und andere Schnapsflaschen strahlten ihn grün und bräunlich an.
»Wie ich Ihnen gesagt habe …«, merkte Charlotte de Versailles lächelnd an. »Wenn Sie den Vertrag unterzeichnen, können Sie noch heute Nachmittag einziehen …«
Nachdem sie das Appartement durchquert hatten und auch die Küche mit der geräumigen Vorratskammer – es gab da eine Tür zum Treppenhaus fürs Personal –, die Schlafzimmer und die Bibliothek besichtigt hatten, ließ die Französin sie beide für einen Moment allein.
Friedl eilte mit kindlicher Begeisterung sofort zurück ins größte der drei Schlafzimmer, als ob sie da tatsächlich heute noch einziehen würden, und murmelte, dass zuerst die Vorhänge und die Gardinen ausgetauscht werden müssten.
Wessel Stols war in der Bibliothek geblieben. Er hatte schon immer von einem Raum wie diesem geträumt. Als die Tür mit einem kräftigen Klick ins Schloss gefallen war, hatte er den Eindruck, dass Paris nicht mehr existierte. Eine Seifenblase war. Die Bibliothek – getäfelt –, die wie eine Schneise aus Bücherschränken in ein Kabinett führte, war mit einem offenen Marmorkamin versehen. Das einzige Fenster eröffnete den Ausblick auf einen Innenhof mit einer alten Platane. Davor stand ein antiker Schreibtisch. Der blaue Filz auf der Arbeitsplatte, einem Billardtisch ähnlich, war stellenweise völlig verschlissen. Als er sich in den Bürostuhl setzte – zur Kontrolle schaltete er kurz die Lampe mit dem grünen Glasschirm an und aus –, fragte er sich, wer hier vor ihm gesessen haben mochte. Und was alles an diesem Möbelstück geschrieben, notiert und aufgezeichnet worden war, dass es den Filz so mitgenommen hatte.
Aus dem Wohnzimmer erklang plötzlich Klaviermusik. Ein Walzer von Chopin. Friedl und er waren an dem schwarz glänzenden Flügel im Erker eher gleichgültig vorbeigegangen, denn keiner von ihnen konnte Klavier spielen. Die Maklerin spielte mit der Kraft und Virtuosität einer Konzertpianistin. Ein Sonnenstrahl, der von einem Fenster auf der anderen Seite des Innenhofes reflektiert wurde, zauberte ein feines Goldflimmern über den Schreibtisch. Wessel Stols stellte sich vor, dass er hier schon wohnte und wie seine Frau in der Küche stünde und Teig für einen Apfelkuchen zubereitete. Ein süßer Zimtduft würde bald durch den Korridor zu ihm dringen, während er dasaß und schrieb und schrieb … Auf der anderen Seite des Boulevards gab es also ein Restaurant. Für die hiesigen Bohemiens. Er würde dort Wein trinken, ja, nach dem Ende seines Arbeitstages würde er sich dort mit anderen Romanciers und jungen Dichterinnen betrinken. Friedl hatte angedeutet, dass sie ab und zu in die Niederlande zurückkehren wollte. Aber natürlich, Liebling! Der arme Max mit seiner polnischen Hure! Das hier war doch etwas ganz anderes.
Mit seiner rechten Handfläche rieb er langsam über den Filz, dann vollführte er mit Daumen und Zeigefinger im Rhythmus der hellen Pianotöne, die zu ihm drangen, ein paar lockere Schreibbewegungen in der Luft. Das ist es, dachte er, eine Wohnung wie ein Palast, mitten in Paris.
In diesem Augenblick wurde er zum zweiten Mal an diesem Tag von kalter Panik übermannt. Eine unermessliche Verzweiflung packte ihn, wieder brach ihm der Schweiß aus. Denn worüber schreiben? Er ließ seine Fingernägel über den blauen Filz gleiten, was lange weiße Streifen hinterließ wie auf der Haut eines Menschen. In Gottes Namen, worüber? Wie von einer Wespe gestochen war er aufgestanden, durch den Korridor gerannt und hatte gerufen, wo Friedl denn bleibe.
»Ich habe mir alle drei Schlafzimmer noch einmal angeschaut, sie sind herrlich sonnig und still. Was ist mit dir los, Schatz?«
Charlotte de Versailles hatte inzwischen aufgehört zu spielen. Sie stand mit den Schlüsseln in der Hand im Vestibül bei den ionischen Säulen. Sie wusste schon, dass all ihre Bemühungen um diese Nordlichter mit ihrer seltsam gurgelnden Sprache völlig vergeblich gewesen waren.
Unter den frisch gepflanzten Linden auf dem Bürgersteig vor dem Haus hatten sie sich von der Maklerin verabschiedet.
Wessel Stols war kaum noch in der Lage gewesen, sich auf den Beinen zu halten, er torkelte wie nach einem schweren Besäufnis. Der Französin beschied er, dass sie über das Appartement nachdenken würden.
»Natürlich«, sagte Charlotte de Versailles.
Wessel wollte sie mit dem Jaguar zurück ins Büro bringen, aber die Maklerin wies das Angebot kopfschüttelnd zurück. Auf hohen Absätzen und mit ihrem adligen Arsch wackelnd lief sie Richtung Fahrbahn, wo sie ein vorbeifahrendes Taxi anhielt und verschwand.
Sie waren gleich ins Hotel zurückgegangen. Der Portier mit seinem Theaterschnurrbart in dem blutroten langen Mantel und den goldenen Epauletten begrüßte sie auf Englisch. Was Wessel zuvor noch genossen hatte, hielt er jetzt plötzlich für eine völlig lächerliche und heuchlerische Show.
»Du immer mit deinen blöden Bemerkungen«, hatte er wütend zu Friedl gesagt, als sie wieder im Auto saßen.
»Was meinst du?«
»Das ›Mein Mann ist Schriftsteller‹ …«
»Aber es stimmt doch? Ich bin stolz darauf. Ich bin stolz auf dich, Wes, das können doch auch andere merken, oder?«
Danach hatten sie die ganze Zeit geschwiegen.
Das Zimmer war bereits hergerichtet, die weißen Bademäntel waren erneuert.
Wessel Stols lief wütend zum Balkon, um die Türen zu öffnen, und sagte seiner Frau, dass sie Paris sofort verlassen würden. Jetzt gleich. Er wollte keine Minute länger in diesem Hexenkessel voller Touristen und verarmter Immigranten bleiben, die einen an jeder Straßenecke lauernd ansahen, bereit, einem ein Messer zwischen die Rippen zu rammen und auszurauben.
»Wessel, Wessel!«
Friedl hatte sich kopfüber aufs Bett fallen lassen. Anscheinend hatte sein Bewusstsein ein paar Bilder übersprungen. War seine Krankheit wieder zurück? Oder laborierte er an einem in ihm schlummernden, noch unbekannten neurologischen Leiden? Oh, vielleicht wuchs in ihm bereits ein Hirntumor, er würde sterben, ohne je ein Buch geschrieben zu haben, ganz zu schweigen von dem Œuvre, das ihm vor Augen stand. Aber das ging nicht, das durfte nicht sein!
Friedls Rücken bewegte sich in Stößen auf und ab.
»Tut mir leid, Liebling«, sagte Wessel Stols bedröppelt. »Ich bin zu weit gegangen … Hast du mich gehört? Ich möchte mich entschuldigen!«
Seine Frau reagierte nicht.
»Friedl …« Er kam einen Schritt näher. »Ich habe mich geirrt. Paris war eine Fehleinschätzung. Die Stadt inspiriert mich nicht. Ein Schriftsteller darf nicht nach einem Thema suchen, denn das Thema muss ihn gleichsam überfallen … Und das passiert hier nicht, niemals! Wir gehen in den Süden! Hast du gehört? Wir fahren weiter nach Süden …«
Langsam wandte sich seine Frau ihm zu, ihre Augen waren feucht und funkelnd. Warum hüllte er sich immer in Rätsel? Warum teilte er seine Gedanken so selten mit ihr? In dieser Wohnung habe sie doch nur so getan als ob. Ihr Enthusiasmus sei nichts weiter als gespielt gewesen. Sie habe all diesen Antikkram und den Schnapsglobus so deprimierend gefunden. Er wisse doch, dass sie schon immer von einem Haus mit Garten geträumt hatte? Sie wolle, dass er glücklich würde … Sie wolle, dass sie beide glücklich würden … Dort, wo er schreiben konnte, dorthin würden sie gehen … Für ihrer beider Glück …
Wessel Stols schwieg. Mit einem affenartigen Grinsen entblößte er seine Zähne, es war seine Art zu betteln, dass alles wieder gut würde.
Dann sagte Friedl, dass sie schrecklichen Appetit auf etwas Süßes habe.
»Crêpes …«, versuchte Wessel Stols sein Glück.
»Mit Nutella drauf!«
Friedl verschwand im Bad.
Wessel Stols lief zuerst ein wenig verloren durchs Zimmer. In einem goldgerahmten Spiegel betrachtete er sein hübsches Gesicht, das Gesicht, mit dem er fast jede Frau ins Bett kriegen konnte. Schon im Gymnasium war er sich seiner Macht über Mädchen und Frauen bewusst geworden. Friedl und er bildeten ein Traumpaar.
Neben dem Bett lag ein Exemplar von Morgenröte und Demokratie mit einem Essay von ihm über die soziale Verantwortung des Werbetreibenden. Solche Artikel hatte er als Auftakt zu seinem neuen Leben vor anderthalb Jahren zu schreiben begonnen. Zuvor hatte er seine Seele an den Teufel verkauft, sich fürs Geld entschieden und seine Herkunft und sein Mitgefühl für Underdogs verraten. Er setzte sich ans offene Fenster, und während der Pariser Verkehr plötzlich wie angenehme Musik an seine Ohren drang, begann er zum hundertsten Mal, den Text zu lesen. Die Formulierungen, die Einsichten, die originelle Wortwahl, der Rhythmus der Sätze, all das gefiel ihm und gab ihm plötzlich wieder Hoffnung.
Er würde nicht nur Schriftsteller, Produzent von Romanen und Geschichten werden, sondern ein altmodischer Homme de lettres. Oh, er konnte es kaum erwarten weiterzureisen. Nach Süden. Zuerst würde er etwa zehn Tage lang nur lesen. Um reinzukommen. Um zusätzliche Farben zu sammeln. Neue Pigmente. Die richtige Patina. Um dann so schnell wie möglich zu beginnen.
Die Inspiration kitzelte ihn plötzlich bis hinunter in seine Zehen.
An einem Crêpe-Stand bei ihrem Hotel bestellten sie vier Pfannkuchen, aßen aber nur die Hälfte von dem ungenießbaren Zeug. Sie leckten sich die Schokolade von den Lippen und kamen überein, Paris nicht heute, sondern erst morgen in aller Ruhe den Rücken zu kehren. Hand in Hand überquerten sie die Straße zum Eingang des berühmten Parks. Zwischen den Bäumen kreiste der bläuliche Rauch eines Feuers von weiter oben. Zwei Eichhörnchen trippelten in aller Gemütsruhe vor ihren Füßen davon.
Friedl kam mit ihrer Kamera einen Moment zu spät.
»Poubelle …« Wessel Stols nickte vielsagend zu einer Mülltonne, hinter der die Tiere verschwunden waren.
Friedl sah fragend zur Seite.
»Poubelle«, sagte ihr Mann noch einmal, »für die Franzosen ist das nur ein anderes Wort für ›Mülleimer‹. Aber weißt du, dass es eine Person mit diesem Namen wirklich gegeben hat? Eugène René Poubelle. Er war Ende des 19. Jahrhunderts Präfekt von Paris und ist der Begründer der obligatorischen Abholung von Haushaltsabfällen. International gilt er als der Nestor der Müllabfuhr. Schon damals wurde der Abfall übrigens getrennt. Essensreste und andere verderbliche Waren mussten in den einen Behälter, Papier und Lumpen in einen anderen. Und dann war jeder Hausbesitzer hier in der Stadt auch noch zu einem Eimer mit Deckel für Glasabfälle, Keramikreste, Muschel- und Austernschalen verpflichtet …«
»Interessant, aber wie kommst du da jetzt auf einmal drauf?«
Vor Jahren, erzählte Wessel Stols weiter, sei ihm der Name Poubelle durch Zufall in einem Geschichtsbuch aufgefallen. Und er hatte ihn sich gemerkt. Lesen ist eine Sache, etwas im Gedächtnis behalten eine andere. Jetzt war die ganze Welt auf einmal völlig in dieses Internet vernarrt. Aber wie sah es in der Zukunft mit dem verfügbaren Wissen aus, mit der umfassenden Bildung des Menschen? Wenn die Technik plötzlich ausfiele – und das kann passieren, auch wenn wir es nicht für möglich halten, aber es kann jederzeit geschehen –, was bliebe dann überhaupt noch in den Gehirnen der Leute? Nichts!
Er plante, in der nächsten Ausgabe von Morgenröte und Demokratie einen Essay darüber zu schreiben. Ein Plädoyer für Gelehrsamkeit. Für das althergebrachte jüdische Lernen. Während des Krieges, als der Schriftsteller Simon Vestdijk von den Deutschen in ein Lager gesperrt worden war, hatte er seinen Mitgefangenen acht Vorträge über die Natur und Technik der Poesie gehalten. Später fasste er sie in einem Buch zusammen. All diese Gedichte und ihre Interpretation hatte er einfach so aus dem blanken Kopf hervorgezaubert. In letzter Zeit hatte Wessel wieder viele Russen gelesen. In den sibirischen Lagern hatten Millionen Menschen, sowohl unter den Zaren als auch unter den Sowjets, den Kopf nur oben behalten können, weil sie Gedichte in aller Stille oder laut rezitierten, oft ganze Texte oder Prosastücke vor sich hin sprachen. Aber wie wäre das jetzt, wenn die Barbarei die Welt eroberte? Wenn man ohne Internet in einer Zelle saß? Wie sollte die Menschheit da überleben?
»Du bist immer so pessimistisch«, sagte seine Frau.
»Überhaupt nicht. Ich bin Realist. Oder besser gesagt: ein Optimist, der gezwungen ist, sich oft pessimistisch zu äußern.«
Sie standen an einem Teich, um den herum auf grellblau gestrichenen Eisenbänken Studenten in der späten Augustsonne lasen oder lernten. Väter und Mütter hatten sich hier am Wasser versammelt, auf dem große Spielzeugsegelboote aus Holz fuhren.
»Guck mal, was die Kinder da für einen Spaß haben«, sagte Friedl, etwas Bezauberndes umspielte ihre Lippen. Sie nahm die Hand ihres Mannes und drückte sie, um zu signalisieren, dass sie froh sei, dass der Streit beigelegt war, dass sie einander hatten. Dass sie außerdem gesund waren und obendrein frei, mit plötzlich all diesem Geld auf der Bank.
Eines der Schiffchen war mitten auf dem Teich gekentert. Ein kleiner Junge stand am Ufer und weinte herzzerreißend. Der Vater, ein nicht mehr ganz junger Pariser mit grauen Locken, zog seine Schuhe und Socken aus. Er rollte seine Hose bis zu den Knien hoch und watete ruhig durchs Wasser auf die Unglücksstelle zu.
»Weißt du, dass ich als Kind verrückt war nach Schiffen?«, sagte Friedl. »Mich hat sowieso immer nur Jungsspielzeug interessiert …«
Es gab Applaus, als der Vater das Schiffchen an Land brachte. Die Studenten blickten amüsiert von ihren Büchern auf.
»Ich denke, du solltest van Dongen schreiben«, fuhr Friedl fort. »Er weiß nicht einmal, dass wir für immer weg sind.«
Clemens van Dongen, sein bester Freund aus Studientagen, hatte vor einem Monat bei ihm vorgefühlt, ob er sich als Kandidat für den Gemeinderat aufstellen lassen wolle. Er selbst hatte da bereits einen Sitz; später könnten sie vielleicht gemeinsam als Mitglieder in die Zweite Kammer wechseln.
Natürlich hatte er Nein gesagt.
Wessel Stols konzentrierte seinen Blick schweigend auf das Senatsgebäude, als sähe er den sandfarbenen Palast zum ersten Mal. Ob sich Friedl diese Architektur jemals richtig angeschaut habe? Ein französisches Echo aus dem 17. Jahrhundert auf die toskanische Baukunst. Was für ein Stil, was für ein Format! Wäre er Franzose, hätte er nicht eine Minute gezögert, sondern wäre auf jedes politische Angebot sofort eingegangen. In Frankreich konnte man Parlamentsmitglied oder Senator sein und gleichzeitig ein der Literatur geweihtes Leben führen. So etwas wurde hier sogar gewürdigt. Und man hatte auch noch Einfluss. Hinter den Kulissen vielleicht, auf eine listige und möglicherweise nicht ganz demokratische Art, aber wenigstens hatte man Einfluss. Und in Holland? Da rannten sie alle wie läufige Hunde dem erstbesten Idioten hinterher, dem zufälligen Alpharüden vom Dienst. Und natürlich mit dem Kopf im Arsch der Amerikaner … Ab jetzt würde er den Laden im Auge behalten und nicht aus dem Blick verlieren. Von hier aus, im Ausland. Mit seinem Stift. Wer hatte doch gleich wieder gesagt, dass man Politik und Literatur nicht miteinander vermengen dürfe? Wegen der Gefahr von ideologischem Kuddelmuddel. Das würde er bei Gelegenheit mal aufzeigen.
Sein ganzes Leben schon hatte Wessel Stols in einem sonnigen Land am Meer leben wollen. Nach einer Übernachtung in Bordeaux (einer Stadt mit den völlig falschen Schwingungen) fuhren sie weiter nach Biarritz.
Die Wildheit und Energie des Golfs von Biskaya packte ihn sofort. Sonnenlicht tanzte über den Häusern. Wessel Stols sah darin Buchstaben, Sätze, Kaskaden von Absätzen, Kapiteln, ganzen Büchern. Wenn man den Arm ein Stück ausstreckte, war man schon in Spanien mit seinen mittelalterlichen Kathedralen, Bergpfaden voller Pilger, Geschäften mit Decken, die nur aus geräucherten Schinken zu bestehen schienen. Wandte man sich in die andere Richtung, führten malerische Wege mit Aussichtspunkten auf die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen zur Côte d’Azur.
Wegen der anderen Luftdruckverhältnisse hatte Friedl seit ihrer Jugend am Meer oft unter Kopfschmerzen gelitten, auch in Holland war es immer eine einzige Quälerei gewesen. Aber die Atmosphäre dieses schicken Badeorts, die Fontänen aus Tropfen und Schaum, mit denen die Wellen – wie ein eiskaltes Feuerwerk – an den Felsblöcken und am Strand nach allen Seiten auseinanderspritzen, versetzten sie in Begeisterung.
Sie bezogen eine einfache Pension, die sich in einer der wenigen übrig gebliebenen Belle-Époque-Villen direkt hinter dem Boulevard befand. Am ersten Abend nahmen sie ein Taxi nach La Négresse, um den Bahnhof zu besichtigen. Es war ein kleines Gebäude vom Anfang des letzten Jahrhunderts mit einem grauen Dach, gelben Wänden und einer Flut an hupendem Verkehr davor. Ein Zug war gerade eingefahren. Massen strömten aus dem Bahnhofsgebäude. Menschen mit Taschen und Koffern, einer auf einem Fahrrad, ebenfalls mit Gepäck beladen, brachten sich wie aufgescheuchte Termiten nach allen Richtungen in Sicherheit. Die meisten von ihnen wurden von Autos abgeholt. Ein klappriger Bus, der mit seinem Dieselmotor im Leerlauf die üppigen Magnoliensträucher voll Gas blies, wurde von einer Schulklasse gestürmt. Die Kinder steckten in blauen Uniformen und trugen alle einen Lederrucksack. Ihr Gepäck wurde ihnen von zwei Trägern, zahnlosen Basken in Overalls, hinterher gebracht, die ihre Arbeit mit einem wundersamen Fanatismus verrichteten.
Wessel Stols ließ das Taxi warten, er betrachtete den Bahnhof, als wäre er ein Heiligenschrein. Friedl hatte keine Ahnung, was sie eigentlich hier sollten. Sie war vor den Dieseldämpfen davongelaufen, steckte sich ein Pfefferminz in den Mund, wartete geduldig auf ihren Mann und beobachtete die Kinderschar.
Wessel Stols zwängte sich durch die Menge, für einen Moment berührte er den Türpfosten des Haupteingangs, es war fast ein Streicheln. Dann machte er rechtsum kehrt.
Sie kuschelten sich wieder auf den Rücksitz des Taxis. Während Friedl den Chauffeur bat, sie in das marokkanische Restaurant zu bringen, das sie irgendwo am Wegesrand bemerkt hatte, hörte sie, wie ihr Mann schniefte. Sie blickte einen Moment zur Seite. Über seine Augen hatte sich eine Membran aus Feuchtigkeit gezogen. Sie solle es ihm nicht übel nehmen, sagte Wessel Stols etwas beschämt in heiserem Ton, aber sie könne ihn unmöglich verstehen. Er hatte ihr doch von Nabokov erzählt? Die ganze Welt las ihn plötzlich, das heißt: ganz Amsterdam. Selbst den Kulturbanausen Max Kisch hatte er im Büro einmal mit einem Buch von ihm erwischt, nachdem ihm die Qualitätspresse anlässlich einer Reihe neuer Übersetzungen einen großen Artikel gewidmet hatte.
Sie mochten ihn alle auf einmal noch so sehr bewundern, es gab niemanden in den Niederlanden, der ihn so gut verstehen konnte wie er. Wenn er die brillanten Sätze des berühmten Russen las, waren es im inneren Wesen seine eigenen. Ja, über die Schwingungen der Zeit hinaus waren sie verwandte Geister! Und obwohl er selbst Sozialdemokrat war, sprach ihm der Konservatismus des russischamerikanischen Literaturgenius aus dem Herzen, der als einer der reichsten Erben unter dem Zar alles an die Bolschewiken verloren hatte. Wessel Stols schnappte auf einmal nach frischer Luft. Er kurbelte das Fenster herunter, schloss es aber auf Wunsch seiner Frau sofort wieder: Der Wind wehte zu stark. Er erzählte mehr über den Autor. Von seiner Jugend, die er in Stadtpalästen und auf baumreichen Anwesen verbracht hatte. Als Kind war Nabokov mehrmals mit dem Zug von Sankt Petersburg nach Biarritz gereist, im Kreise seiner Familie und der Diener, wie es sich gehörte.
»Und jetzt habe ich endlich etwas angefasst, das er wahrscheinlich auch berührt hat. Verstehst du? Es ist alles eine Frage der Schwingungen.«
Nabokovs Erinnerungen an seine Kinderzeit in Biarritz zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen an Wessel Stols’ innerem Auge vorüber, als wären es seine eigenen.
Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er sagte zu seiner Frau: »Sag mal, du wirst doch wohl nicht wieder versuchen wollen, mich bei diesem Marokkaner zu Lammfleisch zu überreden? Den Geschmack von Schwein mag ich ja, Rind auch, aber Schaf …«
Das Restaurant, vor dem sie hielten, hieß Leila.
Nach dem Besuch des Bahnhofs La Négresse fühlte sich Wessel Stols voller Energie: Die Entscheidung, Paris zu verlassen, war richtig gewesen. Nur noch ein kleines Weilchen, und er würde in einer wahren Inspirationsflut seinen ersten Roman innerhalb weniger Monate zu Papier bringen.
Die Tische im Restaurant waren durch riesige pistaziengrüne Voiles voneinander getrennt, man aß hier sozusagen verschleiert. Auf Friedls Drängen hatte er schließlich doch Lamm bestellt. Einen Eintopf mit Rosinen, Mandeln, Birnen, Aprikosen, Koriander und luftig zubereitetem Couscous. Der Geschmack des Schaffleisches, das ihn immer angewidert hatte, war in den süßen und scharfen Explosionen, die sich in seinem Mund vollzogen, schwer auszumachen. Das ganze Gericht war außerdem köstlich mit Honig durchtränkt. Sie tranken dazu marokkanischen Rotwein mit der gleichen vollen Tanninstärke wie ein gereifter Bordeaux.
Um zehn Uhr waren sie zu Hause. Friedl war gleich unter der Dusche verschwunden. Mit einem Handtuch um die Taille, ihre kleinen Brüste unverhüllt, kehrte sie schnell ins Schlafzimmer zurück. Wessel Stols versuchte, einen alten Fernseher mit der Fernbedienung zum Laufen zu bringen, doch es funktionierte nicht. Friedl nahm ihm das Ding schweigend aus den Händen, zog die Vorhänge zu und bedeutete ihm, dass sie es auf dem Sofa vor dem Fenster machen wollte. Das antike Möbel, tintenblau mit schwarzen Zebrastreifen, hatte wahrscheinlich vor einem Jahrhundert den einstigen Bewohnern zu ungezählten Mittagsschläfchen gedient.
Friedl kleidete ihren Mann langsam aus.
Wessel Stols nahm seine Frau wie an ihrem Hochzeitstag in die Arme. Auf dem Diwan zwang er sie mit sanftem Druck in die Kissen und knurrte wie ein Höhlenmensch, der ihr gleich etwas ganz Schreckliches antun würde.
Friedl musste laut lachen. Wessel Stols grinste ebenfalls, aber auf eine Weise, die Irritation verriet. Humor, murmelte er, sei der Tod für den Sex.
»Gerade eben nicht …« Friedl versetzte dem Schwanz ihres Mannes, der sich mit zielgerichteter Trägheit halb aufgerichtet hatte, einen Klaps. »Wir müssen mehr lachen. Hörst du, Wes? Wir müssen noch viel mehr lachen!«
Als sie fertig waren, nahm sie wieder eine Dusche.
Wessel Stols putzte sich schnell die Zähne, durch den schweren Rotwein und die Befriedigung beim Sex duselte er gleich weg. Gegen halb fünf am Morgen wurde er durch das rhythmische Klappern eines Fensters irgendwo in dem großen Haus geweckt. In seinem Darm baute sich Druck auf, mit dem sauren Aufstoßen kamen die ersten marokkanischen Aromen wieder nach oben. Wessel Stols drehte sich auf den Bauch; er versuchte, wieder einzuschlafen, doch das brennende Gefühl in seinem Magen ließ nicht nach. Die Säure kroch weiter hinauf. Stols schmeckte das Lamm plötzlich wieder, aber es war nicht mehr der köstliche süße Geschmack von Honig, Rosinen und Birnen wie am Abend, sondern der Geschmack von Scheiße, an den ihn Schaffleisch von ferne immer erinnert hatte. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es ins Badezimmer. Neben dem Bidet fiel er vor der weiß glasierten, altmodischen Toilettenschüssel nieder, klappte den gelben Holzdeckel hoch und kotzte alles aus.
Wenige Augenblicke später stand Friedl auf der Schwelle. Sie knipste das Licht im Bad an und fragte besorgt, wie sich ihr Mann fühle.
»Hau ab, weg!« Eine neue Welle aus gelbem Brei, die Rosinen darin noch völlig unversehrt, kam in einem Schwall nach draußen. »Und mach das Licht aus! Es war das Schaf … Dieses verdammte Scheiß-Schaf …«
Sie selbst habe doch auch Lamm gegessen, murmelte seine Frau. Das könne es also nicht gewesen sein.
»Halt den Mund … Und Licht aus, verdammt!« Wessel Stols wurde von stechendem Kopfschmerz überfallen, ein mittelalterliches Folterinstrument mit Nieten rammte sich in seinen Hinterkopf.
Das anhaltende Gerumpel in seinen Eingeweiden suchte nun auch anderswo einen Ausgang. Mit einem Zug an der Schnur betätigte er den Spülkasten über seinem Kopf, er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich mit einer akrobatischen Wendung auf die Brille zu setzen und seinen Darm zu entleeren, während das Wasser knapp an seinen Arschbacken vorbei sprudelnd weggurgelte.
Seine Frau war inzwischen verschwunden.
Erst am Abend kam er wieder zu sich. Den ganzen Tag hatte er dünnen Tee getrunken, gegen Mittag hatte Friedl ihm ein paar Kekse gebracht. Zum Eintunken. Sie war extra dafür ins Einkaufscenter gegangen. Als ob ihn nichts anderes auf dieser Welt noch beschäftigen würde, hatte er stundenlang über dieses vermaledeite Lamm hergezogen. Zweifellos war es falsch zubereitet oder einfach nur verdorben gewesen. Er gab seiner Frau die Schuld, die ihn überredet habe, diesen Dreck zu essen.
Durch eine Schiebetür ging Friedl hin und wieder in den Garten, es roch da schon ein bisschen nach dem nahenden Herbst. Obwohl ihr Mann sie überreden wollte, einen Spaziergang zu machen, ließ sie ihn nicht allein. Sie packte sich aufs Sofa und schlug ihr Buch auf. Der Roman eines jungen niederländischen Schriftstellers, der nicht zum Kanon ihres Mannes gehörte, sondern aus dem Köfferchen an Büchern stammte, die sie selbst mitgenommen hatte.
Der Roman brachte sie ständig zum Lachen.
»Was gibt es da andauernd zu lachen?«, beschwerte sich Wessel Stols mit matter Stimme, in der tiefes Misstrauen mitschwang, von seinem Bett aus.
Es sei so lustig, sagte Friedl. Der Autor war noch keine dreißig, aber was er schrieb, war rundum meisterhaft.
»Wie heißt er?«
Friedl nannte den Namen.
»Dieses Schaffleisch …«, stöhnte Wessel Stols wieder, »dieses elende Lamm. Und wenn man mir zehn Millionen Gulden dafür zahlen würde, das esse ich nie wieder. Und seit wann ist Literatur nur was zum Lachen?« Er richtete sich mühsam ein bisschen auf; die Augen seiner Frau schossen wie leuchtende Fischchen über die Seiten des Buches, das auf ihrem Schoß lag. »Nun, seit wann?«
»Das weiß ich nicht …«, sagte Friedl entschuldigend.
Der Name des Autors echote in seinem kranken, noch immer etwas fiebrigen Kopf. Noch keine dreißig! Er kannte ihn gut. Natürlich. Er hatte die niederländische Literatur schließlich scharf im Blick. Dieser Rotzlöffel hatte schon vier Bücher herausgebracht. Dicke auch noch. Einer, der auf dem ganz hohen Ross saß! Dieser Typ, der es wagte, sich Romancier zu nennen, war in einem Grachtenhaus geboren worden. Er entstammte einer jahrhundertealten Patrizierfamilie. Als er neun war, das wusste Wessel aus einem Interview mit ihm, hatte ihm sein Vater (Biologieprofessor, einer der Promis der Umweltpartei) als Erstes Griechisch und Latein eingebimst. Nie im Leben hatte er einen Rückschlag erlitten. In bohrender Verwirrung sah Wessel Stols da plötzlich eine gewisse Verwandtschaft mit Nabokov: aus einem mehr als privilegierten, wohlhabenden, soliden intellektuellen Milieu stammend. Aber Nabokov war ein Genie, und dieser Grachtengürtelprinz war ein jedes Gefühls barer literarischer Polderstümper!
Die Wut, die ihn überkam, hatte eine unerwartet heilsame Wirkung. Wessel Stols erhob sich aus dem Bett, er sagte seiner Frau, dass er erst ein heißes Bad nehmen wolle, und dann würden sie auf dem Boulevard Fisch essen gehen. Fisch, frischen Fisch! Plötzlich schmachtete er nach frischem Fisch. Aber sein Magen sei doch immer noch völlig durcheinander, protestierte Friedl.
»Meinem Magen geht’s prima«, sagte Wessel Stols, der spürte, dass die Dreiviertelrolle Kekse, die er inzwischen heruntergewürgt hatte, seinen Eingeweiden wieder die vertraute Standhaftigkeit verliehen hatte.
Seine Pläne hatten sich geändert. Ab morgen, teilte er seiner Frau mit, werde er in der Pension ein zusätzliches Zimmer mieten. Mit Meerblick. Den Rest der Woche wolle er schreiben. Vorläufig solle das Wetter schön bleiben. Friedl könne endlich das tun, was er zutiefst verabscheute: eingecremt auf einem Badelaken in der Sonne liegen, schwitzend und müßig, der luxuriöse Tod, für den der Wohlfahrtsmensch oft das ganze Jahr über schuften musste.
»Herrlich, das ist doch herrlich …«, sagte Friedl, die noch gar nicht zum Sonnenbaden gekommen war. Endlich war es so weit:
Ihr Mann würde anfangen zu schreiben.
Wessel Stols bekam das Turmzimmer, das einzige Turmzimmer der Pension. Es bot tatsächlich einen überwältigenden Blick über das weiß-graue Flammenmeer der Bucht, mit dem Leuchtturm in der Ferne.
»Meine Urgroßeltern haben hier im Juli 1914 ihre Hochzeitsnacht verbracht«, erzählte die Besitzerin. »Aber schon drei Wochen später musste mein Urgroßvater an die Front. Er ist in der Nähe von Reims gefallen. Mein Bruder hat ein Buch darüber veröffentlicht. Er hat es hier geschrieben, in diesem Turmzimmer. Es war innerhalb eines Monats fertig. Und es war ein enormer Erfolg. Wir dachten, da würde noch mehr kommen. Aber der Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen. Er ließ sich von seiner Frau scheiden, nahm sich eine junge Schlampe und ist nach Australien abgehauen. Jetzt scheint er irgendwo in Thailand rumzuhängen. Man munkelt, dass er nur noch auf Drogen ist. Und so ein Talent!«
Die Pensionsmadame, die doch aus gutem Hause war, stank in ihrer gelben Nylonschürze nach altem Schweiß. Sie gab ihm den Schlüssel und ließ ihn im Zimmer allein. Wessel Stols setzte sich an den Massivholz-Tisch am Fenster. Ob dieser Bruder sein Buch hier an diesem Platz geschrieben hatte? Auf jeden Fall war es ein gutes Zeichen.
Er fuhr seinen Laptop hoch. Eine Woche lang hatte er seine E-Mails nicht gecheckt. In Paris hatte er nur die Servicetaste am Telefon neben seinem Bett drücken müssen, und eine Minute später stand jemand von der Rezeption in Livree vor der Tür. Aber auch diesem jungen Mann, einem Rumänen mit leichtem Akzent und tiefsitzenden Augen, war es nicht gelungen, das Modem zum Laufen zu bringen.
Er hatte sich mit Entschuldigungen förmlich überschlagen.
In der Nähe seiner Füße befand sich in der Wand eine Telefondose. Wessel Stols kroch unter den Schreibtisch und steckte das Kabel ein. Wieder auf dem Stuhl klickte er auf »Verbindung mit dem Internet herstellen«. Mit altmodischen Telefonwählgeräuschen wurde jede Nummer einzeln angesteuert. Zu seiner Überraschung ging das kreischende analoge Geräusch dann in ein reines Signal über. Unlesbar schnell schossen allerlei Zeichen in der linken Ecke seines Bildschirms vorbei. Dann stand da: Sie sind verbunden.
Zuerst checkte er den Posteingang: Es gab nur eine einzige Nachricht. Zu seiner Beruhigung, aber gleichzeitig erfasste ihn auch leichte Panik, denn er war es gewohnt, täglich Dutzende von E-Mails zu empfangen. Es war eine Mitteilung seiner Bank in Amsterdam, baldmöglichst – per Telefon oder E-Mail – einen Herrn M. H. Olmenburg, Abteilung Personal Banking, zu kontaktieren. Er klickte sich zu älteren E-Mails durch, las mit einigem Vergnügen den Entwurf des Verkaufsvertrags seiner Anteile von Stols & Kisch Mediapartners an seinen alten Kameraden Max, den ihm damals der Notar geschickt hatte. Schon vor mehr als drei Monaten inzwischen. Eine Woche später hatte die Übergabe mit einem anschließenden Abendessen im Okura Hotel stattgefunden, zu dem Max Kisch seine Frau Lydia mitgenommen hatte, die entweder eine brillante Komödie spielte oder von ihrem Mann noch nicht darüber informiert worden war, dass sie alsbald wegen der Polin abserviert werden würde.
»So, Schatz, schön bei der Arbeit? Wow, was für eine Aussicht hier!«
In einem Kleid aus weißer Gaze, durch das das Orange ihres Bikinis schimmerte, stand seine Frau plötzlich vor ihm. Sie trug Schuhe mit goldenen Absätzen. Mit einem Blick, als sei sie im Museum. Und gehe es denn mit dem Schreiben voran? Wessel Stols fragte seine Frau, wie sie hier hereingekommen sei.
»Einfach durch die Tür«, sagte Friedl.
»Einfach durch die Tür …«
»Ja, die stand zufällig offen.«
Das sei nicht im Sinne des Erfinders, gab ihr Wessel Stols darauf mit erhobener Stimme zu verstehen, während er mit seiner Maus schnell die E-Mails wegklickte, dass sie hier einfach so, wie es ihr gerade in den Sinn kam, herein- und herausspazieren könnte. Das sei ein Arbeitszimmer, sein Kabinett!
»Weiß ich doch, Schatz, ich werde es nicht mehr tun …« Friedl beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss. Sie hatte sich die Achseln rasiert und roch herrlich. »Gegen sechs bin ich vom Strand zurück. Wollen wir heute Abend wieder in diesem Fischrestaurant essen?« Wessel stimmte zu.
Einen Moment später war er wieder allein.
Der Cursor blinzelte ihn vom Bildschirm aus an.
Wessel Stols schaute einen Moment durchs Fenster. Allein das Schauspiel, bei dem das flüssige Sonnenlicht über die vom Atlantikwind aufgepeitschten Wellen spielte, konnte ihn stundenlang fesseln. Aber er musste arbeiten. Ja, endlich ans Werk!
Aux armes!
Am Abend hatte er dann die Idee für seinen Roman gehabt. Eine brillante Idee. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Dass es so kommen würde, daran hatte er nie gezweifelt. Sie waren in einem der besten Fischrestaurants in Biarritz gewesen, in der Nähe des Casinos. Scholle, Tintenfisch, Kabeljau, Krabben, Austern und Seezungen groß wie Babyrochen lagen am Eingang in einer Vitrine auf zerstoßenem Eis. So frisch, dass man nur das Meer roch, nicht etwa den Fisch.
»Wie schön und gemütlich«, sagte Friedl, als sie Platz genommen hatten.
Seine Frau, die kulinarische Experimente liebte, bestellte eine Schale mit zwölf Austern. Allein der Anblick jagte Wessel Stols Schauder über den Rücken. Er hatte sich für eine Seezunge à la meunière, in Butter gebraten, entschieden. Mit Salat und Pommes frites. Nach den Austern wollte Friedl noch frittierte Tintenfischringe, auch ein Gericht, das ihn allein wegen der Assoziationen (Tinte war schwarz und schmutzig) nicht in Versuchung führen konnte.
Bereits bei seinem ersten Glas Weißwein hatte er begonnen, die Gesellschaft am Nebentisch zu studieren. Sie bestand aus zwei Männern Mitte fünfzig, der eine aufgedunsen, der andere mit einem dünnen Schweinekopf, die sich mit drei Mädchen Anfang zwanzig auf eine ebenso laute wie ungehobelte Weise amüsierten. Sie sprachen eine slawische Sprache, Friedl meinte, es sei Serbisch. Wahrscheinlich Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien.
Wessel Stols hatte sie gleich für Russen gehalten.
Der Geschäftsführer war sichtlich ratlos, die anderen Gäste im Restaurant warfen ihm gelegentlich skeptische Blicke zu. Die Mädchen machten einen recht verkommenen Eindruck: In ihren geschmacklosen, teuren Kleidern sahen sie aus, als wären sie gerade aus dem Waisenhaus getürmt und gemeinsam auf Raubzug gegangen. Sie kreischten wie eine ganze Schulklasse. Die Schampusflasche mitten auf dem Tisch war leer. Aber es war schon wieder eine neue abgeflachte Riesenpulle mit einem festen Glasstopfen hingestellt worden. Eine strahlend warm-braune Sonne aus Alkohol.
Rémy Martin Louis XIII.
Wessel Stols schnappte sich die Weinkarte und öffnete sie: Der Grand Champagne Cognac stand da für 3100 Francs pro Flasche in der Karte. Dieses Grüppchen soff allein für etwas mehr als zweitausend Gulden!
Sie aßen so schnell wie sie tranken. Sobald die silbernen Platten mit fruits de mer, die das Hochprozentige flankiert hatten, abgeräumt waren, befahl der Fettsack dem Kellner: »Wajn! Now we need ze red wajn!«
»Comment?« Der Geschäftsführer war verwirrt.
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