Tschaikowskistraße 40 - Pieter Waterdrinker - E-Book

Tschaikowskistraße 40 E-Book

Pieter Waterdrinker

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Beschreibung

"Gott unser Vater, der Schöpfer, der seinen einzigen Sohn auf die Erde entsandt hat, um uns zu erretten, ist in großer Not." So spricht ein Mann, der im Oktober 1988 plötzlich auf der Türschwelle des jungen Juristen Pieter Waterdrinker auftaucht und diesem sogleich ein höchst fragwürdiges Jobangebot unterbreitet: 7 000 Bibeln sollen ins sowjetische Leningrad geschmuggelt werden. Was sich anhört wie der Beginn eines absurden Spionageromans, ist in Wirklichkeit Auftakt zu einem abenteuerlichen Leben zwischen Ost und West. Waterdrinker nimmt den Auftrag an – und ist plötzlich mittendrin in der dubiosen Geschäftswelt der späten Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch und seiner persönlichen Pleite wird er in der Russischen Föderation Korrespondent der größten niederländischen Tageszeitung. Wie passend, ist doch die Tschaikowskistraße, wo Waterdrinker noch immer mit seiner Frau Julia und seinen Katzen wohnt, ein Epizentrum der russischen Geschichte. Dort lebten nicht nur der Wunderheiler Rasputin und die Geliebte des Zaren Nikolaus II., die Straße war auch einer der bedeutendsten Schauplätze der Oktoberrevolution. Mühelos verwebt Waterdrinker die Geschichte Russlands mit seiner eigenen, lässt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinanderfließen, denn er weiß: Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Quellen

Erstes Kapitel

An einem späten Oktobermorgen des Jahres 1988 fragte mich ein Typ aus Leiden, ob ich mich in der Lage sähe, knapp siebentausend Bibeln in die Sowjetunion zu liefern. Ich weiß bis heute nicht, wie er auf mich gekommen ist. Damals sprach in den Niederlanden kaum jemand Russisch, außer den wenigen, die die UdSSR tatsächlich besucht hatten. Ich war zum damaligen Zeitpunkt einmal dort gewesen, und das war jetzt mehr als sieben Jahre her. Vielleicht war es auch nur alles reiner Zufall, denn das ist es, was mich das Leben gelehrt hat: Diese Welt wird von Willkür regiert.

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und vor Kurzem, nachdem ich mehr als anderthalb Jahre auf den Kanarischen Inseln und in einem Bergdorf auf dem spanischen Festland gelebt hatte, wieder bei meinen Eltern eingezogen. Ich war wieder in meinem grässlichen Jungszimmer gelandet, zweimal dreieinhalb Meter groß.

»Darf ich auf einen Sprung hereinkommen?«

Der Mann hatte nasse, schwarze Haare, die sorgfältig in eine Richtung gekämmt waren. Der Scheitel wirkte wie mit einer Brennschere gezogen. Er trug einen braunen Regenmantel mit braunen Knöpfen.

»Meine Eltern sind nicht zu Hause«, antwortete ich. »Sie sind nach Haarlem ins Krankenhaus.«

Er sei nicht ihretwegen gekommen, sondern wegen mir.

»Siderius«, sagte diese Vorkriegsgestalt dann.

Ein paar Sekunden später saß er auf der Couch, machte sich in seinem Regenmantel breit wie ein Raubvogel im Horst; er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch durch seine Adlernase.

»Meine Zeit ist begrenzt«, begann Siderius. »Und die Frage, weshalb ich gekommen bin, ist eigentlich ganz einfach zu beantworten. Können Sie sich in – sagen wir – ungefähr drei Wochen um die Lieferung einer Ladung russischer Bibeln in den Hafen von Leningrad kümmern?«

Die Frage war absurd, totaler Blödsinn.

Ich nickte einigermaßen entgeistert; der Zigarettenrauch hing wie eine blaue Gardine zwischen mir und dem Mann.

»Gott unser Vater, der Schöpfer, der seinen einzigen Sohn auf die Erde entsandt hat, um uns zu erretten, ist in großer Not. Der Osten ist in Bewegung gekommen. Ich nehme an, dass Sie das alles verfolgen. Doch es ist wie im Krieg: Der Sieg ist erst dann perfekt, wenn man triumphieren kann. Alles, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist geheim, oder um es in der Terminologie unserer Feinde von KGB und Stasi auszudrücken: qualifizierte Information! Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser? Ich muss meine Tabletten einnehmen … Gicht, höllische Gelenkschmerzen, bei so einem Anfall würde ich manchmal am liebsten sterben …«

Als ich aus der Küche zurück war, leerte der Mann das Glas mit schmerzverzerrtem Gesicht und sprach dann über ein Phänomen, von dem ich noch nie etwas gehört hatte: den groß angelegten illegalen Transport hauptsächlich russischer Bibeln in den Ostblock. An der Grenze von Finnland zur Sowjetunion ließ man manchmal Ballons mit Bibeln aufsteigen in der Hoffnung, dass sie irgendwo im Imperium des Antichristen, im von Lenin begründeten Roten Reich, niedergehen würden. Doch der eigentliche religiöse Schmuggel war zentral auf der Straße organisiert, in speziell umgebauten Limousinen, Kleinbussen, einem Motorrad mit Beiwagen, in dem Gläubige überwiegend protestantischer Richtung mit Feuereifer Länder wie die DDR, Ungarn und Rumänien aufsuchten.

Es war ziemlich riskant – Verhaftung und Gefängnisstrafe drohten. Am gefürchtetsten waren die DDR-Grenzsoldaten mit ihren Schäferhunden. Sie standen bereit, um mit Spiegeln unter die Autos zu spähen, mit Hämmerchen die Karosserie und den Rest der Fahrzeuge abzuklopfen, um doppelte Böden aufzuspüren, in denen aufrührerische antisozialistische Lektüre, Pornografie und Bibeln versteckt sein könnten. Die perfekte Tarnung bildete die Familie; die glückliche, kinderreiche Familie, die während des Urlaubs im gelobten Land unterwegs zu Feldern, Wäldern und Stränden war. Auch Siderius war häufig in den Osten gereist, hatte aber aufgrund der Erkrankung seiner Frau die Missionsarbeit aufgegeben. Der Annäherung an die Grenze sei immer ein Gebet in Gottes freier Natur vorausgegangen. Nie sei auch nur eine einzige der versteckten Bibeln hinter der Küchenwand und unter den Klappbetten seines VW-Busses entdeckt worden.

»Sie machen es also?« Siderius, dessen rechte Hand mit pfingstrosenfarbenen Knötchen übersät war, drehte jetzt so kräftig an seinem Ehering, als wollte er ihn abziehen.

»Was genau?«

»Sich um die Lieferung von siebentausend Bibeln nach Leningrad kümmern. Sie sprechen doch Russisch? Sie sind doch schon in der Sowjetunion gewesen?« Mit einem himmlischen Leuchten in seinen hellblauen Augen sah Siderius mich beinahe flehentlich an.

Am nächsten Tag wartete Siderius vor dem Rotterdamer Hauptbahnhof auf mich. Mit einem kleinen Auto waren wir durch den Sturzregen nach Pernis gefahren, damit ich die Organisation kennenlernte. Er dozierte: »Die Politik im Osten ist ins Rutschen gekommen wie Getreide an Bord eines Schiffs. Aber wissen Sie, in welcher Gefahr sich ein Schiff auf hoher See befindet, wenn sich die Ladung im Frachtraum verschiebt? Dann kann es nur noch abwärts gehen!«

Laut Siderius hatte sich beim Bibelschmuggel im Laufe der Jahre eine Art Konkurrenz zwischen den Kirchen entwickelt. Er selbst war niederländisch-reformiert, doch auch andere Strömungen der Reformierten und sogar die Mormonen und Mennoniten hatten sich inzwischen auf den Schmuggel verlegt.

Es war fast ein Wettbewerb daraus entstanden.

»Der Kirchenrat sieht die aktuelle Situation als Krieg: jetzt oder nie. Der Kampf, die Bewaffnung an der Front, muss verstärkt werden. Die Zahl der Bibeln in Kleinbussen wächst nicht schnell genug. Wir müssen unsere von Marx geknechteten Brüder und Schwestern großzügig mit geistiger Nahrung, Hoffnung und Licht versorgen. Was Sie gleich sehen werden, ist eine Probesendung: siebentausend russische Bibeln, hübsch versteckt zwischen ein paar Tonnen zeeländischer Kartoffeln. Wenn diese Mission gelingt, liegen weitere achtzigtausend für uns in einem Lagerhaus in Gouda bereit. Um über Leningrad ihren Weg nach Moskau, in den Ural und bis in die Dörfer im tiefsten Sibirien zu finden. Die Reformierten planen auch etwas mit einem Schiff, doch sie schweigen sich darüber aus, diese ewigen Geheimniskrämer!«

In einem Schuppen, in dem Kartoffeln wie Berge von Steinkohle aufgeschüttet lagen, wurde ich drei Männern mittleren Alters in langen Herrenmänteln vorgestellt. Schweigend und mit misstrauisch-scheuen Blicken drückten sie mir die Hand und begannen dann in einer Ecke miteinander wie die Tauben zu gurren, bis der Mittlere der drei schließlich sagte: »Gut, Siderius, wenn du sagst, dass dieser Bruder in Ordnung ist, dann vertrauen wir darauf.«

Danach versank er ins Gebet. Für den Erfolg meiner Mission.

Ich hatte seit meiner Kindheit nicht mehr gebetet; ich hielt die Augen für ein paar Sekunden geschlossen. Mit gefalteten Händen musterte ich die Gläubigen: gute, kräftige, gediegene holländische Köpfe, wie in Stein gemeißelt.

Flugreise, Aufenthaltsvisum sowie Hotelkosten sollten erstattet werden. Ich machte es des Abenteuers wegen; was den Rest anging, musste ich auf Gottes Lohn vertrauen.

Anderthalb Wochen später schnüffelte ich in den Gängen eines Altersheims in einem Außenbezirk von Leningrad menschlichen Dunst, den Geruch von Krankheit, Not, Verwesung. Ich hatte sechs Pakete mit kyrillischen Bibeln zu zwölf Stück, die mit Angelsehne in tabakbraunes Papier verschnürt waren, an einem Pförtner vorbei in den Flur des zweiten Stocks geschleppt, in dieses Universum von Zimmeraralien und unerträglichem Gestank.

Die Direktorin, eine Russin mittleren Alters mit violetter, glockenförmiger Frisur, stand neben einem Servierwagen mit Gummirädern.

»Lina, mach das Ding hier mal sauber! Überall noch Brei- und Suppenflecke! Was sind denn das für Zustände? Schnell, ein feuchtes Tuch! Was soll unser Gast von uns denken?« Mit einem Holzlineal schlug die Direktorin auf den Schiebegriff des Servierwagens. »Ich zähle jetzt langsam bis drei! Lass mich nicht wütend werden … Eins! Zwei! Und das ist …«

Ein schmächtiges Mädchen um die fünfundzwanzig, das den letzten Knopf ihrer seegrünen Schürze zumachte, kam zappelig wie ein Wiesel durch eine Tür geflitzt. Es sagte: »Ich habe Sie schon gehört! Aber ich habe eine saubere Windel in der Waschküche gesucht. Wir haben überhaupt keine Windeln mehr … In Zimmer 7 liegen drei Frauen …«

»Was plapperst du da? Komm, dawai, einen feuchten Lappen!«, befahl die Direktorin, die Frau Lentowa hieß. »Dieser ausländische Herr hier hat uns Bibeln gebracht.«

»Bibeln?«

»Ja, sitzt du auf den Ohren?« Zärtlich ließ die Direktorin das Lineal auf ihren Brüsten ruhen. »Bibeln, Spitzenbücher …«

Die Krankenschwester murmelte, dass ich lieber Windeln hätte mitbringen sollen; und auch Spritzen, Mull, Verband, Pflaster. Heute Morgen hätte sie wieder einmal Laken in Streifen schneiden müssen, um die Beine der alten Leute zu bandagieren, als wären es verwundete Soldaten an der Front.

Die schmächtige Russin verschwand und kam mit einem Lappen zurück, den sie eine Weile unter den brühheißen Strahl aus dem Wasserhahn gehalten hatte. Während sie den Servierwagen putzte, qualmte der Lappen.

»So, das wäre fertig!«

Und sie verschwand wieder.

Frau Lentowa in ihrem schwarzen Bleistiftrock kratzte sich mit dem Lineal an den nackten Waden. Sie nickte mir aufmunternd zu. Ich stapelte die Bibeln wie Handelsware auf den Servierwagen. Bereit, mich damit auf den Weg zu machen.

Wegen der Zimmeraralien, die dschungelartig bis an die Decke wucherten, erschien alles wie in grünes Licht getaucht. An den Scheuerleisten eilten Kakerlaken entlang, nicht ängstlich, dafür geordnet, wie in einer militärischen Schlachtreihe, als wären sie die wahren Herrscher über das Gebäude, die den Rest der Anwesenden allenfalls tolerierten. Alte Leute liefen in wattierten Bademänteln an mir vorüber. Mit toten Fischaugen, zitternd, wie betäubt. Sie gingen an mir vorbei, als existierte ich nicht, als würde ihnen ein animalischer Instinkt sagen, dass ich nicht gekommen war, um etwas Wichtiges zu bringen.

Gerade mal einen einzigen Abnehmer fand ich. Die meisten reagierten abweisend, wollten nichts von mir wissen. Eine alte Russin mit äffischem Kahlkopf kam vom Klo her zu meinem Servierwagen. Sie beschnüffelte den Stapel, fragte, was so ein Buch kosten solle.

»Gratis«, sagte ich. »Diese Bibeln sind ein Geschenk der niederländischen Gläubigen an das russische Volk.«

Personal war fast nirgends zu erblicken; hin und wieder eilte eine Frau vorbei, alle trugen die gleichen seegrünen Schürzen und Papiermützen wie das Mädchen, das den Wagen für mich abgewischt hatte. Eins schleppte Bettwäsche, das nächste eine Bettpfanne, wieder ein anderes einen Plastikbehälter, in dem allerhand dunkelrote Fläschchen klimperten, sicherlich Medikamente. Die Blicke dieser Frauen verhießen nichts Gutes. Sie glichen eher Gefängniswärterinnen als Krankenschwestern.

»Wer sind Sie?«, blaffte mich eine von ihnen an, die mit einer Zinkschüssel um die Ecke kam und die ich fast gestreift hätte.

Ich gab Auskunft.

»Weiß die Lentowa davon?«

Ich nickte.

»Warum stellen Sie sich nicht vor eine Kirche? Was sollen die Leute hier noch mit einer Bibel? Die sind doch eh schon alle so gut wie tot.« Schwer durch ihre Nase atmend nahm die Schwester eine Bibel vom Stapel. »Aber es sind schon ordentliche Bücher. Was werden die im Herd brennen! Prächtige Briketts! Gratis, haben Sie gesagt?« Sie griff sich noch sechs, legte sie in die Zinkschüssel, die zwischen ihren Füßen stand, hob sie an und ging davon, auf Slippern mit Holzsohlen, die wie Kastagnetten klapperten.

Sie hatte einen Arsch wie eine böhmische Kredenz.

Seit meiner Abreise vor drei Tagen war nichts so gelaufen, wie Siderius es mir in Pernis vorhergesagt hatte. Der Flug nach Leningrad wurde in letzter Sekunde umgebucht; kein Direktflug mehr, sondern mit Übernachtung in einem Hotelkasten am Ost-Berliner Flughafen. Das einzige Handtuch im Bad war stocksteif vom angetrockneten Samen eines früheren Gastes.

Die Kontaktperson, die mich in Leningrad abholen sollte, ließ sich nirgendwo blicken. Am Flughafen nahm ich ein Taxi. Die Stadt, durch die ich in einer düsteren Novembernacht zu meinem Hotel fuhr, sah aus wie zu Kriegszeiten. Der Kasten, vor dem man mich absetzte, war fast identisch mit dem in Ost-Berlin. Es hing ein Geruch in der Luft, als hätten sich gerade hundert schwitzende Bergbauarbeiter abgeduscht. Handtücher gab es gar nicht erst.

Auch am nächsten Morgen keine Spur von der Kontaktperson namens Posorski. Von meinem Hotelzimmer aus hatte ich die Nummer des Mannes, die mir Siderius gegeben hatte, etwa siebenmal angerufen. Die Leitung auf der anderen Seite war mausetot. Schließlich entschied ich mich, auf gut Glück alleine zum Hafen zu fahren, in einem der Wolgas, die vor dem Hotel mit laufendem Motor wie geduldige Pferde warteten.

Die bis auf die Grundfesten zerfallene Stadtlandschaft von Leningrad, das einst Sankt Petersburg hieß, hatte ich vor sieben Jahren wie in einem Rausch an mir vorbeiziehen sehen. Ich hatte alles so abschreckend gefunden, dass ich gleich nach meiner Rückkehr von meinem Russisch-Studium auf Jura umsattelte. Ich hatte mir nicht vorstellen können, die Sowjetunion noch einmal zu besuchen. Die Verbindungsnaht der Zeiten funktionierte jedoch einwandfrei: Jetzt war es, als wäre ich nie weg gewesen.

Der Chauffeur fuhr mich seelenruhig die Straße entlang. Es war zehn Uhr morgens, doch es schien fast schon wieder Abend zu sein. Wir wichen den Schlaglöchern aus und kamen am Zaun eines kleinen Parks mit lauter Tannen vorbei, über dessen gesamte Länge in kupfernen Druckbuchstaben stand:

WISSENSCHAFT, SPORT UND ARMEE –

LANG LEBE DIE BASIS DER SOWJETMACHT!

An einer Straßenecke hatten sich wie Schreckgespenster wirkende Arbeiter versammelt. Sie tranken Bier aus Marmeladengläsern, das von einer Frau, die im weißen Kittel wie eine Melkerin auf einem Hocker saß, aus einem gelben Tankwagen gezapft wurde.

»Wo genau müssen Sie im Hafen hin?«

Ich hatte keine Ahnung; das Schiff mit den zwischen den Kartoffeln versteckten Bibeln war vor drei Tagen eingelaufen. Kurz vor meiner Abreise hatte mir Siderius vermeldet, dass soweit alles wie geschmiert laufe. Vielleicht war etwas schiefgegangen, Posorski wartete jetzt möglicherweise irgendwo an den Gestaden auf mich, den niederländischen Glaubensbruder.

Wir fuhren an Stalinbauten, zaristischen Stadtpalästen und sowjetischen Mietskasernen vorbei; in den Fensterrahmen brannten die gleichen Einheitslampen wie in meinem Hotel. Fußgänger flitzten wie gehetzt dicht an den Fassaden entlang, die durch ihre dunkelbraunen und grauen Tarnfarben chamäleonartig mit dem Hintergrund der Stadtlandschaft verschmolzen.

»Wissen Sie, dass Casanova mal hier war?«, fing der Taxifahrer ein Gespräch an.

»Wirklich?«

»Ja, Casanova, der Frauenheld! Aber damals war hier noch alles im Bau. Diese Stadt war einst das Neubaugebiet von ganz Europa. Können Sie sich das vorstellen? Und jetzt leben wir hier in einem Sarg. Gestern hat meine Frau drei Stunden für sechs Eier in der Schlange gestanden. Das sind zwei Eier pro Stunde! Casanova fand es grauenhaft hier …«

Über der ganzen Stadt hing ein Schleier aus Staub und Verfall. Die Wege und Straßen waren fast menschenleer. Eine einzige rappelvolle Straßenbahn glitt mit einem schleifenden Gequietsche langsam vorbei. Pkws sah man kaum. Monströse Lastwagen mit scheppernden leeren Pritschen waren die Herrscher der Fahrbahn. Ihre Fahrer verdienten sich schwarz als Chauffeure etwas dazu, da die Fabriken rund um die Stadt auf dem letzten Loch pfiffen und es deshalb so gut wie nichts mehr zu transportieren gab.

»In Geschäften hier?« Der Fahrer hatte seinen Wolga am von Betonplatten ummauerten Hafentor auf einer unbefestigten Straße aus regennassem Sand und Split angehalten.

»Nein, wegen Bibeln …«

Ich tat so, als hätte ich einen Termin beim Direktor, wedelte mit meinem ausländischen Pass und teilte links und rechts Marlboros an die Wachhabenden aus. So arbeitete ich mich auf dem Hafengelände voran.

Statt in einem Hafen schien ich eher auf einem Sammelplatz für Altmetall gelandet zu sein. Die nach Heizöl stinkenden Kais waren mit rostigen Eisenspulen, Kisten mit Aluminiumabfall, Bergen von zerkleinertem Kupfer, Schrauben, Nägeln und Rohren übersät. Ein silbrigweißer Lichtschein waberte von den Betonlampenmasten herab. Er verwandelte die Umgebung in etwas, das einem Straflager glich. Hin und wieder bewegte sich irgendwo träge ein Hebekran; aus einem der Trockendocks ertönte das dumpfe Schlagen von Hämmern. Hafenarbeiter saßen auf Mauern oder auf hölzernen Kabeltrommeln beieinander und spielten Karten; in den Geruch von Heizöl und Eisenschrott mischte sich der von Alkohol.

Plötzlich ging irgendwo eine Sirene los. Anscheinend passierte das öfter, niemand schaute auch nur hoch oder drehte den Kopf.

»Sie wollen also den Direktor sprechen?«

Ein Mann in einem braunen Wollanzug stand vor mir. Er hatte einen weißen Bürstenschnurrbart. Sein kahler Mäuseschädel war mit einer hauchdünnen, gelblichen Haut wie der eines Toten überspannt. Neben ihm stand ein Klon von ihm, dreißig Jahre jünger.

Beide hatten den gleichen stechenden Blick.

»Da ist er, Ihr Direktor«, sagte der Ältere. »Zumindest von diesem Bereich. Wir haben hier vor Kurzem den ganzen Laden in Abschnitte unterteilt. Das Vaterland ist in Bewegung, alles fließt. Wir erleben prächtige Zeiten! Nikolai Borodin, angenehm. Und das ist mein Sohn Andrej … Was machen Sie hier?«

Ich gab ihm Auskunft; und der Hafendirektor sah mich mit einem das Zahnfleisch freigebenden Grinsen fast leidenschaftlich an. Gleich ins Schwarze getroffen. Mit ihm hatte ich den Richtigen gefunden! Er liebte Ausländer. Dieser Hafen war das Tor zum Westen. Mit dieser Bestimmung war er seinerzeit auch gebaut worden.

»Woher kennen Sie Posorski?«, fragte er dann.

Ich wollte es erklären, doch der Sohn, der mich bislang still belauert hatte, erwachte plötzlich zum Leben und fragte mit einer unangenehmen Falsettstimme: »Haben Sie die Frachtbriefe?«

Ich tippe an die Innentasche meiner Jacke.

»Lassen Sie sehen …«

Der Direktor grapschte mir den Eigentumsbeweis an den siebentausend Bibeln flugs aus den Händen. »Prima. Wir rufen Posorski mal an, die Schlafmütze! Er ist ein alter Kamerad von mir … Ein Prachtkerl … Als Unteroffiziere waren wir beide in Leipzig stationiert …

Eines Tages … Also, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …«

Unter dem Geschrei verdreckter Möwen liefen wir an Bergen von Kupfergrus entlang zu einem Backsteingebäude, wo ein gebrauchter Mercedes zwischen Lada-Wracks parkte.

Der Direktor beschimpfte die Arbeiter, an denen er vorüberging, in einer Tour. Sie seien Trunkenbolde, Mauerasseln, Schnorrer; und wenn er hier bald überall das Sagen habe, würden sie alle rausfliegen.

Im Hafengebäude war es glutheiß. Ein Faxgerät prunkte auf einem Mitteltisch des ansonsten kahlen Büroraums; gerade kam etwas herein.

»Hier geht alles per Fax!« Mit Gewalt zerrte der Direktor das glänzende Papier aus dem Apparat. »Was für eine Erfindung! Ich kann nicht mehr ohne!« Ein paar Augenblicke lang studierte er den Text, starrte mit kurzsichtigen Augen auf die Buchstaben. »Nikolai, das kommt aus Hamburg … Die Fritzen sind mit dem Preis für das Aluminium einverstanden … Lass Nadja sofort einen Vertrag aufsetzen …«

Eine halbe Stunde später kam mein Kontaktmann am Steuer eines klapprigen Mercedes auf dem Gelände an. Neben ihm saß ein russisch-orthodoxer Geistlicher von etwa fünfzig Jahren mit einem Bart wie ein alter Ziegenbock, der strähnig über seiner schwarzen Kutte hing.

»Posorski«, stellte sich Posorski mir vor.

Sein hübscher Kopf glich dem eines Schauspielers; er trug eine knallviolette Lederjacke mit einem entenkükengelben Fellkragen.

Das Schiff aus Rotterdam hatte die Ladung zeeländischer Kartoffeln in Dänemark gelöscht, dort tiefgefrorenen Fisch geladen und dann Kurs auf den Hafen von Leningrad genommen. Das Schiff fuhr unter polnischer Flagge, auch die Besatzungsmitglieder waren Polen. Ich folgte dem Hafendirektor und Posorski zum Pier, wo das Monstrum zwischen den Kränen festgemacht hatte. Der Laderaum war so groß wie eine Fabrikhalle, die sechshundert Kartons mit Schmuggelbibeln in einer Ecke fielen da nicht weiter ins Gewicht. Russen in Lumpen waren in den halbdunklen Katakomben des Schiffes als menschliche Lasttiere zugange und schleppten Metallrohre auf ihren Schultern herein.

»Und jetzt werden wir die Einfuhr regeln.« Borodin sah triumphierend in die Runde, nahm einen der Schauerleute in den Blick und rief: »Hey, du da! Ruf mal Smirnow her!«

Eine Minute später hatte sich ein Russe mit Eulengesicht, schwitzend in einer grauen Uniform, die wie ein Sack um seinen Körper schlotterte, zu uns gesellt. Borodin wies mit einem Nicken in Richtung der Kartonstapel voller Bibeln.

»Haben Sie die Frachtbriefe?«, fragte der Zöllner.

»Hier«, sagte Borodin und übergab dem Russen das Papier, das er mir vorhin abgenommen hatte.

»Und die Empfangsbestätigung?«

»Natürlich.«

Der Zöllner fischte einen kleinen, runden Stempel aus seiner Hosentasche, der an einer dünnen Kette hing, in die Metallkappe war ein Stempelkissen eingelassen. Wie im Fluge versah er die Frachtbriefe und die Empfangsbestätigung mit einem blassrosafarbenen Hammer und Sichel sowie den kyrillischen Lettern CCCP.

»So …« Der Hafendirektor stopfte die Papiere in die Tasche seiner tabakbraunen Jacke. »Sehen Sie, wie effizient es hier inzwischen zugeht? Und dann handelt es sich auch noch um offiziell von der Sowjetregierung verbotene Ware!«

Der Zöllner trollte sich unmittelbar wieder.

Posorski sagte: »Heute Abend gehen wir einen trinken. Auf den ersten guten Fang. Kennen Sie das Restaurant Nord?«

Noch ehe ich den Hafen verlassen hatte, ließen Posorski und der Pope, der Vater Alexej hieß, hundertfünfzig Kartons mit Bibeln per Bahn nach Moskau transportieren, wo die Bücher auf dem gerade entstandenen freien Markt verkauft werden sollten.

»Verkauft?«, fragte ich.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte Posorski mit salbungsvoller Stimme. »Natürlich teilen wir den Gewinn mit Ihnen. Eine neue Zeit ist angebrochen. Wir sind gut zu den Menschen. Gütigkeit ist unser Prinzip! Diese siebentausend Bücher sind natürlich ein Kinderspiel. Aber ich habe gehört, dass noch achtzigtausend Bibeln aus Rotterdam unterwegs sind. Schau, damit lässt sich ein schöner, fetter Reibach machen. Umgerechnet ist trotz des Rubelkurses und des ganzen Elends hierzulande sicher ein Dollar Gewinn pro Buch drin. Nicht wahr, Vater Alexej?«

Der Geistliche nickte. Auf seiner linken Wange prangte ein Kranz aus braunen Pickeln und wildem Fleisch. Ich dachte an mein Versprechen, das ich Siderius gegeben hatte, und an die betenden Kirchenvorstandsmitglieder im Schuppen in Pernis.

»Aber das Maul halten …« Posorski sah mich prüfend und mit einem Stirnrunzeln an. »Du bist doch in dieses verdammte Land gekommen, um deinen Schnitt zu machen, oder?«

Am Nachmittag spazierte ich stundenlang durch das Zentrum von Leningrad. Die Fassade des weithin bekannten Hotels Astoria war eingerüstet. Ein neuer Geist wehte durch das Land, die Hotels wurden im Eiltempo hergerichtet. Doch die Straßen drum herum kamen mir tatsächlich vor wie ein Sarg, wie der Taxifahrer gesagt hatte. Ein Steinsarg. Eisregen fiel; auf dem Newski-Prospekt flüchtete ich ins Warenhaus Gostiny Dwor. Auch hier, im größten Einkaufstempel der Stadt, war kaum noch etwas zu bekommen. Die Besucher huschten wie hungrige Tiere über die Parkettböden an mir vorbei.

Frauen mittleren Alters schlichen um ein Gestell mit auberginefarbenen Regenmänteln herum, die offenbar gerade erst eingetroffen waren, und stießen hinterrücks gegenseitige Verwünschungen aus, um näher heranzukommen.

»Wir sind ein Volk von Zauberern!«, hatte mich Posorski an diesem Abend mit einem Grinsen wissen lassen. »Im Laden gibt es keine einzige Tomate zu kaufen, aber die Kühltruhen sind noch immer rappelvoll. Der größte Trick kommt allerdings erst noch!« Wir saßen auf dem Balkon des Restaurants Nord, eines Etablissements mit erotischem Kabarett, Live-Musik und einer zeitungsgroßen Menükarte.

»Und Schuhe?«, fragte ich.

»Die sind tatsächlich nirgendwo zu kriegen.«

»Und Regenschirme?«

»Auch nicht! Es gibt überhaupt nichts mehr. Nitschewo, nix! Doch da werden wir mit deiner Hilfe ganz schnell was dran tun. Mit Importen aus dem Westen! Ich spüre sie schon, die Schwingungen der neuen Zeit! Nur ein bisschen Geduld, wir sind noch zu früh …«

Während die Schüsseln mit Salat, Räucherlachs, Stör von der Wolga und flaschenweise Sowjetchampagner herangetragen wurden, erzählte Posorski, womit er und seine Partner sich seit einem Jahr beschäftigten: dem Export von Altmetall, Schrott also, den es in diesem Land quasi gratis gab und mit dem man im Westen ein Vermögen machen konnte.

Noch mehr jedoch erhofften sie sich vom Import.

Betrunkene Männer erhoben sich von den Tischen, die Hände voller Dollarscheine, um klapperdürre Schönheiten, die an der Bar herumsaßen, für die Nacht abzuschleppen. Das Restaurant war zugleich ein verkapptes Bordell.

Am nächsten Morgen rief ich Siderius an, um ihn auf Stand zu bringen; auf die Verbindung nach Leiden musste ich auf meinem Hotelbett über eine Stunde warten. Ich verschwieg, dass die sechshundert Kartons mit Bibeln aus dem Bauch des Schiffes verschwunden waren, um über das religiöse Netzwerk Eingang in die dunklen Geldkanäle von Vater Alexej zu finden.

»Also läuft alles prima?«

»Prima«, hatte ich dem Leiter der protestantischen Gemeinschaft in Leiden vorgelogen.

Daraufhin fasste ich den Plan, die fünfzig Kartons mit Bibeln, die ich im Hafen für mich selbst zurückbehalten hatte, in Altenheime zu schaffen – um wenigstens etwas vom ursprünglichen Zweck der Mission zu retten: die Bücher unters einfache Volk zu bringen. Der Verwalter meines Hotels erwies sich als hilfreich, er hatte ein paar Adressen aufgeschrieben; auf gut Glück war ich mit sechs Kartons Bibeln in ein Taxi gesprungen und im Heim von Frau Lentowa gelandet. Am nächsten Tag kam ich zurück, um mein Werk zu vollenden. Ich landete auf der Station mit den ausgewiesenen Irren. Sie wurde von einem Leuchtschild aus rotem Glas gekennzeichnet. Gestank von zerkochtem Kohl, Urin, Fäkalien und der metallische Geruch von Blut. Ich atmete die ganze Zeit durch den Mund. Manchmal war es nicht länger auszuhalten, und ich sog wieder die Ausdünstungen von Menschen ein, denen es aus allen Körperöffnungen troff, deren Münder nur noch faulige Gase ausstießen, bevor sie schließlich im Sarg oder im Feuer landen würden.

Die Dunkelheit war offenbar heilsam für diese von der mentalen Hölle heimgesuchten alten Menschen; auf Betten und auf Stühlen mit hoher Rückenlehne lagen und saßen sie in türkisfarbener Finsternis beieinander und scharrten mit den Füßen.

Ich schob meinen Wagen in den dritten Saal; mechanisch drückte ich Bibeln in die Hände von Menschen, deren Gesichter ich kaum ausmachen konnte. Aus einem Bett am Fenster drang gottserbärmliches Stöhnen. Ich trat näher. Dort lag ein alter Mann, abgemagert, fast nackt, mit einem schneeweißen Neptunbart. Seine Augen rollten wie Murmeln in einem leeren Schnapsglas durch die Augenhöhlen, aber er schien mich nicht zu sehen. Seine Arme und Beine waren mit Gummiriemen am Gitterbett festgeschnürt.

Ich drehte meinen Servierwagen um, entschlossen, die Fahrt fortzusetzen, um so schnell wie möglich aus dieser schaurigen Menschenaufbewahrungsanstalt herauszukommen, als im Abglanz einer Nachttischlampe der Schemen einer Frau auftauchte. Sie war uralt, hatte ein schmales Gesicht und langes Mädchenhaar, so zutiefst weiß, dass es fast blond wirkte. Sie richtete ihre Mandelaugen, die wie Edelsteine leuchteten, im Halbdunkel auf mich.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie ruhig.

Ich nannte meinen Namen.

»Poschaluista, bitte, nimm mich mit …«, bat sie dann.

»Wohin?«

»Raus.«

Flehend fixierte mich diese sibyllinische Erscheinung mit ihren Iriden. Meine Ohren glühten, Unwohlsein stieg in mir hoch, wie damals, als ich mich zum ersten Mal verliebt hatte.

»Was sehen Sie mich so komisch an?« Ihr Russisch klang auf eine altmodische Weise ganz klar.

Ich nickte wie ein verlegener Schuljunge.

»Pokrowskaja …« Die alte Frau streckte mir langsam eine knochige Hand entgegen. »Nadjeschda Petrowna, aber sag einfach Nadja …«

Es kostete mich ungefähr eine halbe Stunde, die Direktorin zu überreden. Sie fragte mich, warum meine Wahl gerade auf diese halbverwirrte alte Frau gefallen sei. Doch das wusste ich selbst nicht so genau. Ich hatte nur das Gefühl, eine Untat zu begehen, wenn ich ihr diesen bescheidenen Wunsch abschlüge. Frau Lentowa musterte mich voller Argwohn, als wäre meine Bitte ein abgekartetes Spiel, als hätte ich meine gesamte Bibeloperation nur deshalb in Szene gesetzt: um die Erlaubnis zu bekommen, diese hochbetagte Dame mit nach draußen zu nehmen, auf einen Spaziergang durch die Stadt. Ob mir klar sei, was ich ihr versprochen habe? Sie war 81 Jahre alt und hatte keine Familie mehr. Das Einzige, worauf sie bauen konnte, war die sowjetische Regierung – realiter also auf sie, die Direktorin dieses Hauses.

Neun Jahre zuvor war Frau Pokrowskaja hier aufgenommen worden, nachdem sie Monate auf einer Parkbank zugebracht hatte, trotz der Sommerhitze eine Persianermütze auf dem Kopf; sie soff inmitten anderer hauptsächlich männlicher Schnorrer, Streuner und Berufsalkoholiker wie eine Schlunze aus der Pulle. Eines Tages wurde sie von der Ambulanz aufgelesen, in eine Zelle gesperrt, um auszunüchtern, desinfiziert und danach hierher gebracht, wogegen sie kreischend protestierte, bis sie ruhiggestellt wurde.

»Sie ist völlig verrückt«, setzte Frau Lentowa warnend ihre Geschichte fort. »Sie lebt nur noch in der Vergangenheit. Manchmal glaubt sie, dass der letzte Zar noch am Leben ist! Diese alte Mamsell kann keine drei Schritte mehr gehen. Wie soll ich so schnell an einen Rollstuhl für draußen kommen? Das geht nicht gratis, das kostet alles Geld …«

Sie forderte hundertfünfzig Dollar; ich nahm mein Portemonnaie und legte die Zehnerscheine auf ihren Schreibtisch.

»Gut, in Ordnung …« Die Geldscheine verschwanden wieselflink in ihrem Dekolleté. »Kommen Sie morgen gegen zwölf wieder her.«

Am nächsten Morgen schob ich die mysteriöse alte Frau im Rollstuhl nach draußen. Die Räder knirschten auf dem überfrorenen Trottoir. Frau Lentowa hatte mir ein Etui mit einer Spritze mitgegeben; sollte ihre Patientin einen Aggressionsschub erleiden, müsste ich ihr eine Injektion geben.

Die ganze Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan wegen der Hotelhuren, die mich andauernd mit ihren honigsüßen Stimmen wachgeklingelt hatten. Inzwischen plagten mich Gewissensbisse. Ich wusste fast nichts von Siderius, aber er hatte mir vertraut. Vertrauen, das ich missbraucht hatte, indem ich am Nachmittag Posorski angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass er auch meine restlichen Bibeln haben könne, um sie zu verscheuern.

Ich wollte so schnell wie möglich raus aus dem Land.

»Oooh!« Frau Pokrowskaja richtete ihre Perlmuttaugenhöhlen verzückt zum grauen Himmel. »Was für eine herrlich frische Luft! Meine liebe Stadt … Wo gehen wir hin?«

Die Räder des Rollstuhls drehten sich in alle Richtungen; um geradeaus zu fahren, musste ich dauernd gegen Widerstände ankämpfen.

»Na, wo gehen wir hin, mein Schwälbchen?«

Wir waren umstellt von einer Wüstenei an Mietskasernen, Rauchfahnen in der Ferne. Das Zentrum lag fünfzehn Kilometer entfernt.

»Sagen Sie es mir«, antwortete ich dann.

»Ecke Rubinsteinstraße/Newski-Prospekt …«, sagte Frau Pokrowskaja dann, sie freute sich diebisch an ihrem Mantel aus verschlissenem Marderpelz mit der dazugehörigen Mütze; die Sachen hatte sie vom Heim ausgeliehen bekommen. »Wie alt bist du eigentlich, mein lieber Junge?«

Ich sagte es ihr.

»Mein erster Liebhaber war vierzig, ich selbst war da ein Mädchen von siebzehn. Er war Amerikaner … Ja, plötzlich tauchten unter all den Revolutionären in ihren schwarzen Lederjacken mir nichts, dir nichts ein paar hübsche Amerikaner auf. Um uns zu essen zu geben! Meine Familie war plötzlich bourgeois … Papa, Mama, Natascha … Wir haben in der Rubinsteinstraße gewohnt … Und dann wurden sie eines Abends alle abgeholt … Mich haben sie einfach vergessen! Ich war ja auch keine echte Bourgeois, sondern ein adoptiertes Waisenkind … Sie haben geglaubt, dass ich das Kind eines Dienstmädchens wäre! Alle Jungs haben mich damals ›mein Honigtöpfchen‹ genannt … Hey, was machst du da?«

Ich hatte den erstbesten Lkw angehalten. Für dreißig Rubel wollte uns der Fahrer ins Zentrum bringen. Der Rollstuhl verschwand zwischen den Hacken, Schaufeln und Schubkarren auf der Ladefläche. Frau Pokrowskaja musste in die Kabine gehievt werden, was mühsam vonstatten ging, doch sie amüsierte sich königlich. Der Chauffeur, ein gedrungener Tatar mit einem Pfannkuchengesicht, hatte einen Heidenspaß daran.

Als sich der Laster wieder in Bewegung setzte, rieb sich Frau Pokrowskaja vergnügt ihre fast durchsichtigen Hände. »Zu meinem Siebzehnten war ich auch zum ersten Mal in Moskau, mit dem Zug, auf einer Feier mit Sowjetkommissaren und Amerikanern … Was da gesoffen wurde! Die Sektkorken flogen wie Kugeln umher! Eine schreckliche Stadt, Moskau … Schau, wir fahren wie die Fürsten!«

Der Tatar schaltete mit viel Bravour. Immer wenn er eine Kurve nahm, packte ich die hochbetagte Russin fest an ihrem Marderpelzärmel und fragte mich, warum ich mich zu dieser absurden Tat hatte hinreißen lassen. Der Zauber des Vortags in seinem türkisfarbenen Dunkel, der mich auf die Idee gebracht hatte, mit der alten Frau bekannt und auf rätselhafte Weise durch die Abfolge der Zeiten miteinander verbunden zu sein, hatte sich längst verflüchtigt. Ich schrieb meine Nachgiebigkeit dem Alkohol und meinem von dieser biblischen Mission überreizten Gemüt zu.

Frau Pokrowskaja haute den Tataren um eine Kippe an; übermütig blies sie den Rauch an die Windschutzscheibe, die wie verrückt vibrierte. Sie fing an, dem Chauffeur Anweisungen zu geben und tat dann kund, dass sie Sahneeis essen wollte. Und wo in Petersburg wurde heutzutage ein guter Likör ausgeschenkt?

»Zum Astoria!«, befahl sie dem Tataren, während sie auf der Papirossa herumkaute, die zwischen ihren Lippen baumelte.

Ich sagte ihr, dass das Hotel wegen Renovierung geschlossen sei.

Wir kamen an einem klassizistischen Regierungsgebäude mit abgeblättertem gelbem Putz und weißen Kolonnaden vorbei. Von den Dachsparren aus Zink flatterte ein blutrotes Transparent mit der Losung: EHRE DER ARBEIT! Als wir die Brücke über die Newa zum Englischen Ufer passierten, setzte Frau Pokrowskaja ihre Pelzmütze ab. Ihr Haarknoten öffnete sich. Durch das Engelshaar bekam ihr Gesicht etwas geradezu Mädchenhaftes.

Laut begann Frau Pokrowskaja vor sich hin zu brabbeln. Ihr Russisch war noch immer ungewöhnlich klar, aber ich wurde aus ihren Worten nicht klug. Sie erzählte von den Eishackern auf der Newa, von ihrem Vater … Wo war ihr lieber Papa? Im Winter wurde Eis aus dem Fluss gehackt; ganze Brocken von einem Meter mal einen Meter, die mit einem Pferdeschlitten in die Keller abtransportiert wurden … Um im heißen Sommer kalte Getränke und Eis daraus zu machen, Sahneeis! Die Petersburger waren versessen auf Eis! Eines Tages war ihr Papa ertrunken, entnahm ich ihren Worten, war in das Loch in der Newa gestürzt, das er selbst gehackt hatte … Mit seinem blöden Suffkopf! Ihre Mutter kam in die Wohnung gestürmt und hatte gesagt: »Papa ist nicht mehr, er ist tot!« Und nicht lange danach war auch ihre Mutter gestorben, an der Cholera; da wurde an den Straßenecken kostenlos heißes Wasser gegen die Verunreinigung ausgeteilt, doch es hatte nichts genützt. Und wieder ein Jahr später lebte sie bei den Pokrowskis in der Rubinsteinstraße, wahren Christen. Sie war aus Liebe adoptiert worden, aber einige Jahre später waren auch sie alle tot, nur sie war am Leben geblieben.

»Hey Kutscher! Du fährst falsch, hier links«, fuhr sie den Chauffeur in feudalem Ton an.

»Was? Schto?!« Der Tatar sah mich stumpfsinnig an. »Fahren wir jetzt ins Astoria oder zur Rubinsteinstraße?«

»Zur Karawannaja!«, kommandierte Frau Pokrowskaja wieder. »Ich will zu Mascha! Wir wollen Klavier spielen und tanzen … Und dann kommen Mama und Papa mich abholen. Hü, Kutscher, mach schon! Zur Karawannajastraße!

»Was? Oh, Sie meinen sicher die Tolmatschowastraße? Das weiß ich zufällig. Die hieß früher Karawannaja.«

Etwas später, als der Tatar ein Loch in der Fahrbahn nicht rechtzeitig bemerkt hatte und wir wie in einem Wäschetrockner durchgeschüttelt wurden, tat ihm die alte Russin kund, er sei ein Rindvieh. Der Fahrer trat mitten auf dem Newski-Prospekt auf die Bremse und ersuchte uns in ganz ruhigem Ton, auszusteigen. Nein, er wolle kein Geld mehr von uns haben. Er sei ein ehrenwerter sowjetischer Arbeiter! Er lasse sich nicht einfach so beleidigen!

Ich musste jetzt selbst zusehen, wie ich sowohl den Rollstuhl als auch die steinalte Passagierin aus seinem Lkw kriegte.

Frau Pokrowskaja setzte sich dann ohne Murren wieder in den Rollstuhl. Sie zog ihre Fellmütze bis zu den pergamentenen Wangen herunter, murmelte, dass Schnee fallen würde, und teilte mit, dass wir unbedingt zu Friedländer in die Passage, Newski-Prospekt 48, müssten. Sie brauche dringend einen neuen warmen Schal und Unterwäsche. Dass die Manufaktur Friedländer, von der ich einst sepiafarbene Fotografien gesehen hatte, bereits vor siebzig Jahren auf Veranlassung der Bolschewiken geschlossen worden war, schien ihr völlig entgangen zu sein.

Alles, was sie sagte, vergaß sie sofort wieder. Ihre kleinen grünen Augen schossen immer noch wie Leuchtfischchen gehetzt hin und her. Als ich sie an den Häusern vorbeischob, wo pastellfarbene italienische Patina durch den Sowjetstaub blinzelte, erblickte sie offensichtlich Dinge, die nicht da waren. Wir müssten uns vor der Straßenbahn hüten, meinte sie: Die Mistdinger kämen immer in vollem Karacho um die Ecke! Mit einem verblüfften, fast herausfordernd-frechen Blick musterte sie die Passanten, die fröstelnd vorbeieilten, Desillusion und Mangel spiegelte sich in ihren Blicken.

Ich schob die alte Russin im Rollstuhl weiter in Richtung Moskauer Bahnhof; ständig wurde ich von dem blockierenden rechten Rad Richtung Fahrbahn gezogen. Vor den staatlichen Läden hatten sich die üblichen Schlangen gebildet. Jemand verscherbelte auf der Straße Kugelschreiber und Zwiebeln aus einer Kartoffelkiste. Beim primitiven Straßenhandel drückte man ein Auge zu. Nirgends gab es einen Platz, um sich mal eben hinzusetzen.

In diesem Moment fiel mein Blick auf die andere Seite des Newski-Prospekts, wo die Fassade des Hotels Europa zwar ebenfalls eingerüstet war, sich aber hinter den dunkelgelben Fenstern des Restaurantbereiches zur Straßenseite Menschensilhouetten tummelten.

»Wo gehen wir hin?«

»Ins Europa …« Ich schob den Rollstuhl vom Trottoir auf den Fahrweg.

»Ob sie da Sahneeis haben?«

»Natürlich!« Mit voller Kraft, damit der Rollstuhl wegen des einen sich querstellenden Rads nicht umkippte, eilte ich mit der Hochbetagten über den spiegelglatten Asphalt.

»Oh, herrlich!« Frau Pokrowskaja johlte. »Aber ruf dann bitte Mama und Papa eben an … Ich habe genug Zweikopekenstücke fürs Telefon! Dass sie wissen, wo ich bin … Dass ich nicht in der Karawannaja bei Mascha bin, sondern dass wir Eis essen gehen … Luder!« Kurz bevor wir die andere Straßenseite erreicht hatten, hätte uns fast ein scheißefarbener Lada erwischt. »Luder! Otterngezücht! Dreckiger Kommunist!«

Als er uns ankommen sah, knallte der Portier vom Hotel Europa die Tür zu. Ich klopfte gegen die Glasscheibe, auf der der Name des Hotels in goldenen Lettern geschrieben stand.

»Wir haben geschlossen!«, tönte es durch die Tür.

»Ich glaube, Sie haben auf.«

»Nein, zu!«

»Aber wer sitzt dann da drinnen?«

»Ausländer … Wir nehmen hier nur Valuta …«

Ich zog einen Packen D-Mark-Scheine aus der Hosentasche, winkte damit und hielt ihn gegen das Glas.

Wie von selbst tat sich die Tür auf.

»Bibeln, harte Valuta …« Frau Pokrowskaja war hin und weg vor Bewunderung. »Junge, du bist mir ja ein Künstler!«

Der Portier in seiner flaschengrünen Dienstjacke half mir, den Rollstuhl über die Granitschwelle zu hieven. Im Speisesaal mit seinen Säulen war es rauchig und eng. Viele Gäste saßen zwischen den mit hellrotem Samt verkleideten Wänden; tatsächlich überwiegend Ausländer.

Sobald wir uns an einem Tisch in einer Ecke niedergelassen hatten, war Frau Pokrowskajas Begehr nach Sahneeis verflogen. Rieche sie da nicht Huhn? Sie wolle ein Brathühnchen mit Bratkartoffeln haben. Und welchen Wein gebe es hier?

»Welchen Wein möchten Sie?« Eine Kellnerin war zu uns getreten. Sie rümpfte ihre Ferkelnase, als hätte eine uralte Frau im Rollstuhl hier grundsätzlich nichts zu suchen.

»Roten«, sagte Frau Pokrowskaja energisch.

»Sauren oder süßen?«

»Sauren? Kind, du hast wohl überhaupt keine Ausbildung? Du meinst doch sicher ›trocken‹? Natürlich trockenen …«

Ich bestellte ein Bier; wenig später saß mir eine schwelgende Frau Pokrowskaja gegenüber und genoss ihren Wein. Mit beiden Händen, wie eine Mundharmonika, hielt sie sich ein Hühnerbein vor den Mund.

»Woher kennst du meinen Mann?«

Ich sah sie fragend an.

»Wie steht’s eigentlich um diesen verfluchten Krieg? Ist immer noch Krieg? Gott sei Dank habe ich aus Leningrad fliehen können … Ja, zusammen mit meinem Mann Dima konnte ich da rechtzeitig weg … In den Ural, dann nach Sibirien … Die Stadt Tomsk … Glutheiße Sommer gibt’s da! Doch wir hatten immer ordentlich zu essen … Mein Dima ist ein Prachtkerl … Auf seinem Rücken hat er ein Tattoo von Stalin … Ein Taugenichts, ein Schwindler, immer hinter fremden Röcken her … Glaubst du, ich weiß das nicht? Aber er ist kein Mörder! Und mich hat er immer für die Schönste gehalten! Sag mal, woher kennt ihr euch eigentlich? Aus Berlin? Sie kommen doch aus Berlin? Ich wusste es sofort, als ich Sie sah: ein hübscher junger Deutscher! Dima hat mir Koffer voller Sachen aus Berlin mitgebracht. Schöne Handtücher, glänzenden Stoff für Kleider, Schuhe, genau die richtige Größe! Und deutsches Porzellan … Ich glaube, die Lentowa hat das alles eingesackt. Meinen Sie nicht auch? Dieses Luder! Ich habe mit Natascha gespielt … Und dann kamen Sie mit einem Karren voller Bibeln in mein Zimmer. Aber ich brauche keine Bibel … Gott hatte ich immer schon gefressen. Und Gott mich! Ganz sicher, als ich in diesem Haus anschaffen ging, in Tomsk … Mein Mann hat mir geschworen, dass es nötig wäre, wegen des Geldes … Außerdem habe ich den Männern damit geholfen … Eine Kleinigkeit; ein Pläsierchen, bevor die armen Schlucker wieder an die Front mussten! Aber was für ein Dreck! Hitler kaputt! Wissen Sie, ob dieser Schuft jetzt tatsächlich geschlagen ist? Jedes Frühjahr sah ich die Kutschen bei uns in der Straße vorbeifahren. Ein ganzer Zug! Dann wurden die Möbel des Zaren vom Winterpalast nach Zarskoje Selo transportiert … Die Pferde hinterließen harte gelbe Äpfel … Die Jungs haben sich damit beworfen … Das war immer im April … Mit Papa, Mama und Natascha sind wir dann auch zum ersten Mal zur Datscha gefahren. Wir hatten ein Auto, ein französisches! Zwei Jahre habe ich in einer Zelle gesessen, dann vier Jahre in einer Strafkolonie, unschuldig … Und ich habe nur gebetet, dass dieser Drecksack meiner kleinen Tochter nichts antut … Ich weiß, wie die Kerle sind! Doch was willst du mit all diesen Bibeln? Nimm dir lieber ein nettes Mädchen, hier laufen genug davon rum. Aber mit den Krankheiten aufpassen! Oh, oh … Dima hatte mir Mila genommen, ich glaube, das war, als Breschnew schon da war … Hey, gnädige Frau, haben Sie hier eigentlich auch einen guten Likör?«

Frau Lentowa hatte recht gehabt. Die Zeiten gingen bei der armen alten Frau völlig durcheinander; außerdem drehten ihre eigenen Worte sie immer weiter auf. Trotz ihrer zarten Erscheinung hatte sie eine laute Altstimme. Die Gäste drehten sich ständig missbilligend nach uns um. Nach einer halben Stunde verkündete ich, dass es höchste Zeit sei, dass ich sie in ihr Pflegeheim zurückbrächte, blickte ostentativ auf meine Uhr, winkte der Kellnerin wegen der Rechnung.

»Der Schuft!« Frau Pokrowskaja schien meine Worte völlig zu ignorieren. »Hat er dich mir vielleicht auf den Hals gehetzt, um mich auszuspionieren? Du bist durchschaut! Mit deinen Bibeln! Ja, mein Mann hat dich zu mir geschickt. Um mich auszuhorchen. Aber warum hat er mir Mila weggenommen? Meine Tochter, mein liebes Kind, mein Sönnchen …«

Ich wollte den Restaurantleiter gerade bitten, ein Taxi zu organisieren, als ein Russe mit einem dunklen Schauspielerkopf in einer violetten Lederjacke samt entenkükengelbem Fellkragen den Speisesaal betrat. Posorski wurde von einem klapperdürren Mädchen begleitet, das geradewegs von der Schulbank zu kommen schien.

Ich machte mich so klein wie möglich. Am nächsten Morgen würde mein Flug zurück nach Amsterdam gehen. Von meinem Bibelkontaktmann mit seiner korrupten Vorgehensweise und seinen Importplänen wollte ich unter keinen Umständen mehr etwas wissen.

»Ja, ja … Du hast Geschmack, Mann. Das ist derzeit die mit Abstand beste Wirtschaft der Stadt!« Mit einem Nicken dirigierte Posorski den Backfisch an einen Tisch, an dem sich das Kind sittsam niederließ. »Und wen haben wir denn da?« Charmant, mit geheucheltem Interesse, sah er Frau Pokrowskaja aus seinen braunen Hundeaugen an.

Die vor der Revolution geborene Russin strahlte wie Bernstein. Sie reichte ihm dünkelhaft die Hand, nannte ihren Namen und fragte, ob er vielleicht auf Befehl des Generals hierher gekommen sei, um sie zu retten.

»Natürlich, gnädige Frau …« Posorski hatte mit seiner intuitiven Gerissenheit den Zustand der Alten sofort kapiert; er spielte die Komödie trefflich mit. »Der General bat mich, Sie zu grüßen.«

Ich sagte ihr, dass es mir Leid tue, aber es sei leider höchste Zeit, dass ich sie jetzt in ihr Pflegeheim zurückbrächte.

Der Schrei, der sich der Kehle von Frau Pokrowskaja entrang, grenzte ans Surreale; eine menschliche Sirene. Während sich nun alle Augen im Speisesaal auf uns richteten, schien sich die Alte aus ihrem Rollstuhl herauswinden zu wollen. Sie flehte Posorski an, sie mitzunehmen, während sie mich wieder als Betrüger beschimpfte, ein Freund ihres Mannes … Der Schuft, der ihr Mila genommen hatte! Er sei doch im Auftrag des Generals gekommen?

»Nimm mich mit!« Frau Pokrowskaja zerrte an Posorskis Arm. »Der General ist der Einzige, der mir Mila zurückbringen kann!«

In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Ihre Augen verschwanden hinter dem gleichmäßigen Weiß in ihren Höhlen; Schaum trat auf ihre Lippen. Die arme Frau bekam den Anfall, vor dem mich Frau Lentowa gewarnt hatte.

»Was für ein verrücktes Weib!« Mit einer Gebärde des Ekels hatte sich Posorski von seiner hysterisch gewordenen Landsmännin losgemacht. »Sag mal, sehen wir uns heute Abend noch im Nord? Wir müssen unbedingt reden!«

Den Lippen der Alten entrang sich eine Art Todesröcheln. Panisch zeigte ich Posorski das Lederetui in der Seitentasche des Rollstuhls. Er setzte die aufgezogene Injektionsspritze wie einen Dolch auf ihren Oberschenkel, stach einfach durch den Stoff ihres Kleides hindurch, und rief, dass dieses Wesen in den nächsten hundert Jahren nicht mehr aufwachen würde.

Zwanzig Minuten später kam die alte Frau im Taxi wieder zu sich. Ein Schneesturm war aufgekommen; der Fahrer kämpfte sich durch die weißen Wirbel über die Straßen. Sie lag mit ihrem Kopf auf meinem Schoß auf der schaukelnden Rückbank. Sie öffnete erst das eine, dann das andere Auge. Ich wollte mich zurechtsetzen, da erschien ein Lächeln auf ihren Lippen, wie bei einem gerade erwachten Kind.

»Fahren wir zu Papa?«, fragte sie.

Ich nickte.

In meinem Hotel fand ich zwei Nachrichten vor: ein Telegramm von Siderius, in dem stand, dass Holland inzwischen grünes Licht für die Sendung von weiteren achtzigtausend Bibeln gegeben hatte. Und eine Nachricht, die Posorski bei der Empfangsdame telefonisch hinterlassen hatte, die besagte, dass er mich an diesem Abend definitiv im Nord erwartete.

Ich zerriss die Zettel. Mein Entschluss stand fest. Ich würde am nächsten Tag zurückfliegen, um nie wieder in die UdSSR zurückzukehren.

Dass meine russischen Jahre gerade erst begonnen hatten, ahnte ich nicht.

Zweites Kapitel

Meine Frau und ich ließen uns im Strom hinaustreiben auf die vor Menschen wimmelnde Straße unter dem Nachthimmel, olivgrünschwarz, wie immer zu dieser Jahreszeit. Herbst in Sankt Petersburg – die Theatersaison hatte gerade begonnen.

Das Theaterpublikum wurde auf dem Weg zu einem Souper irgendwo in der Stadt in Rekordtempo von Taxis und Limousinen mit abgeblendeten Scheinwerfern abgeräumt, junge Frauen, dünner als Papier, falteten sich zügig auf der Rückbank zusammen, Männerbäuche schoben sich hinterher.

Wir waren in Giselle gewesen. Als wir vom Mariinski-Theater nach Hause gingen, umarmt von Stadtpalästen und den immer leerer werdenden Straßenschluchten, bekam ich es mit der Angst zu tun.

Ich musste an Flaubert denken, der seinerzeit eng mit Théophile Gautier befreundet war, einem der Autoren des Librettos für Giselle, das im Juni 1841 an der Pariser Oper Premiere gefeiert hatte und jetzt, 175 Jahre später, an diesem dunklen, bewölkten Septemberabend wieder aufgeführt wurde. Die Primaballerina war unter Blumen begraben worden. Standing Ovations von mindestens einer Viertelstunde. Wir hatten zusammen gute hundert Euro bezahlt. Für die Galerie.

Aber der Blick war wirklich phänomenal; wir saßen fast in der himmelblauen Deckenkuppel mit den freskenartigen, schwebenden Cherubinen; links unten war die Zarenloge mit ihrem Flittergold und dem blauen Samt. Der Kronleuchter, das absolute Prunkstück, hatte so ziemlich alle Häupter beschienen, die eine Rolle in der russischen Geschichte spielten, und auch all die der Namenlosen, die unzählbar vielen Millionen.

Wir schlenderten die Dekabristenstraße entlang. Julia wollte wissen, warum ich immer noch so still und schwermütig war. Sie sprach über den Star des Abends, eine Ballerina Petersburger Herkunft, die aber fast nur noch im Ausland auftrat. Meine Frau verspürte ihr gegenüber einen schwärmerischen Stolz, als wäre es ihre eigene Tochter.

Mit meinen Gedanken war ich inzwischen bei Gautier und Flaubert. Was hatte der Schöpfer von Madame Bovary für eine Wahl gehabt! Als er zwanzig war, wurde er plötzlich von der Epilepsie heimgesucht. Kurz nachdem sein Vater in der Blüte seines Daseins als Arzt gestorben war, erlag Flauberts Schwester Caroline, die gerade eine Tochter zur Welt gebracht hatte, dem Kindbettfieber. Der spätere Schriftsteller, sein Bruder, seine Mutter und der schreiende Säugling blieben zurück. Die Schwester wurde in ihrem Brautkleid in den Sarg gelegt und begraben. »Meine Mutter ist ein weinendes Denkmal«, hatte Flaubert einem Freund geschrieben. »Was für ein Haushalt, was für eine Hölle! Und ich? Ich habe trockene Augen wie eine Marmorstatue …«

So also sollte man leben, nicht jammern. Sondern mutig sein. Weitermachen.

Über den Platz nahe der Isaakskathedrale hallte ein lauter Donnerschlag. Für meinen Lebensunterhalt war ich einige Male im Krieg gewesen; ich hatte gelernt, den Ursprung solcher Schläge fehlerlos zu lokalisieren.

Doch dieses Mal irrte ich mich.

Es begann zu prasseln, wie aus Eimern zu schütten. Wie flüssiger kalter Stahl fiel das Regenwasser senkrecht vom Himmel. Wir rannten zur Drehtür des Astoria; aus der Glasspiegelung trat gerade ein Mann nach draußen. Er spurtete mit schmatzenden Sohlen los zu einem weißen Taxi, das mitten auf der Straße mit blinkendem Warnlicht stand.

»Wo müssen Sie hin?«, keuchte er.

»Tschaikowskistraße 40«, sagte ich.

»Okay, steigen Sie ein.«

Wir fuhren am Moskauer Bahnhof vorbei, nur wenig später standen wir still vor unserer Wohnkaserne. In der Straße hing der süße Duft der Brotfabrik auf der anderen Seite, die bereits auf Hochtouren lief. Hinter uns lagen Stadtkasernen. Soldaten und Brot – alles war in Reichweite.

Der Aufzug in unserem Treppenhaus funktionierte wieder einmal nicht, also stiegen wir die glatt gewetzten Granitstufen unserer Paradetreppe hinauf.

Drinnen hüllte sich meine Frau sofort in ihren Morgenrock und sprach beruhigend auf unsere drei Katzen ein, die ihre Beine umstrichen; die Schwänze senkrecht aufgestellt, sechs Saphiraugen waren voller Anbetung auf sie gerichtet. Sie ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen, und rubbelte in der Zwischenzeit ihre langen dunklen Haare mit einem flauschigen, weißen Handtuch trocken. Sie fragte, ob ich Tee wolle, als wüsste sie nicht, dass ich nie welchen trank, außer wenn ich krank war.

»Willst du wirklich keinen Tee?«

»Wirklich nicht …«

Die Weißweingläser im Theater waren wie üblich eher bescheidenen Ausmaßes gewesen, mein Alkoholpegel war niedrig. Ich ging schnell zum Kühlschrank, schenkte mir ein Glas ein und begab mich zum Kamin. Wenig später sprühten in seinem Marmorgehäuse die Funken, flammte das Eschenholz auf, das ich früher am Tag eingekauft hatte; es duftete, und die heiße Glut schlug mir ins Gesicht.

Meine Frau hatte sich in ihrem Schalensessel niedergelassen, links und rechts von ihr und auch auf der Rückenlehne als lebende Wärmflaschen die Katzen.

Ich kroch hinter meinen Schreibtisch, der mit Blick auf den dunklen Innenhof am Fenster stand. Durch die Orgel der Fallrohre in Abmessungen, dass ein Zwerg locker darin verschwinden könnte, stürzte das Wasser gurgelnd und an den Mauern widerhallend in die Tiefe. Es setzte wieder ein paar Donnerschläge von der Newa her. Ich knipste meine Leselampe mit dem grünen Schirm an. Mein Schreibtisch, ein antikes Schlachtschiff mit ornamentierten Füßen, lag voll mit teils aufgeschlagenen Büchern, Papieren, alten Theaterkarten, Zugtickets, Fotos, Bernsteinstücken, an glücklichen Tagen an der Ostseeküste gefunden. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, aber ich hatte ein paar Bücher daran geschrieben.

Julia ließ inzwischen die Giselle-Ouvertüre, die wir kurz zuvor im Mariinski gehört hatten, durch unser Wohnzimmer mit den hohen Wänden schallen.

Heimlich musterte ich meine Frau in ihrer kätzischen Umrahmung: dunkel, schön, klassisch, bestrahlt vom warmen, gelben Licht einer Messinglampe. Meine Eltern lagen mehr als zweitausend Kilometer entfernt in den holländischen Dünen begraben. Auch Julias Vater und Mutter waren tot; Kinder hatten wir nicht. Alles in allem eine überschaubare Existenz. Dennoch wurde ich wieder einmal übermannt von meiner Angst, einer Düsterkeit, die lebenslang mein Bundesgenosse gewesen ist, und obwohl ich immer wieder gegen sie angekämpft habe, ist sie wie eine hartnäckige Hautkrankheit immer wieder zum Vorschein gekommen.

»Genial, diese Aufführung, oder?« Julia sah von ihrer französischen Kochzeitschrift, die sie langsam durchblätterte, hoch zu mir.

Ich stand auf, holte die Weinflasche aus dem Kühlschrank, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch, schenkte ein, öffnete meinen Laptop und checkte zum ersten Mal an diesem Tag meine E-Mails.

Ich las:

Hallo Pjotr,

letzte Woche hatten wir hier im Verlag eine tolle Idee. In einem Jahr ist die Russische Revolution hundert Jahre her. Wir waren so ein bisschen am Überlegen, und da haben wir uns gedacht: Wäre es nicht schön, wenn du darüber ein Buch machen würdest? Aber nicht zu dick. Und halte es vor allem persönlich. Um diese Zeit herum wird man natürlich von Gedenkbüchern erschlagen. Wenn wir aus diesem Berg an Publikationen hervorstechen wollen – durch Medienaufmerksamkeit – dann klappt das nur, wenn du es persönlich hältst. Persönlich, persönlich, persönlich. Wir müssen allerdings schnell Bescheid wissen, denn obwohl das Frühjahrsprogramm noch nicht ganz steht, arbeiten wir schon am Herbstprogramm.

Ich habe schon ewig nichts mehr von dir gehört, aber ich hoffe, dass es dir gut geht.

Xe

Ein halb verbranntes Scheit vom Vortag war wie die Hülse einer frisch abgefeuerten Granate rotglühend auf die Schutzplatte gefallen. Ich stand auf, um die Sache mit dem Feuerhaken zu richten. Unser Marmorkamin ist ein wahres Meisterwerk; auf seinem Mantel ist ein Schwalbenpärchen zu sehen, das seine drei Jungen im Nest füttert. Wir waren uns fast sicher, dass er das Werk eines unbekannten italienischen Künstlers sein musste. Hin und wieder strich ich mit der Hand darüber, um die Handwerkskunst und Glätte des Marmors zu fühlen.

Ich warf die Holzgranate in die Glut, wich vor den mandarinenfarbenen Funken zurück, legte ein frisches Stück Eschenholz nach und rüttelte alles mit dem schmiedeeisernen Schürhaken durch, der vor langer Zeit das Feuer in einem Haus in Enkhuizen anzufachen geholfen hatte. Es war ein Erbstück einer Großtante. Fast jeder Mensch wird an einem bestimmten Punkt seines Lebens zum Sammler von kostbaren Brosamen aus den Leben anderer. Einige Teller in unserer Küche stammten noch von meinen Eltern, die Messer und Gabeln auch. Unser deutsches Büffet war aus Kaliningrad, wo Julias Großeltern den Großteil ihres Lebens verbracht hatten. Und so stand unser Zweizimmerappartement rappelvoll: mit Büchern, Büchern, Büchern, vielen Gemälden, einem Jugendstilspiegel, liebgewonnenen Fotos, Julias Teekannensammlung, dem dunkelblauen Aschenbecher aus Glas von ihrer Großmutter, einer antiken französischen Messinguhr auf dem Kaminsims, Gips-Skulpturen von Komponisten (zwei von Wagner) und anderem Zeug, bei dem man sich fragte, wo das alles eines Tages landen würde. Manchmal, in meinen allerschwärzesten Momenten, sah ich schon die Lumpensammler in ihren Kitteln und schmutzigen Schuhen hereinkommen. Das kinderlose Ehepaar war gestorben. Mit ihren Füßen würden die Trödler das Parkett, das wir immer liebevoll gepflegt hatten, dreckig machen; Dollarzeichen in den Augen. Was würde mit unserem zusammengesammelten Leben passieren? Mit dem Zeug hier auf meinem Schreibtisch?

Das Blut pulste in meinen Schläfen. Ich klickte die Mail meiner Verlegerin weg, würgte einen trockenen Kloß in meiner Kehle herunter und starrte einen Moment auf einen kleinen Schrank mit den Büchern, die ich in den letzten zwanzig Jahren selbst geschrieben hatte: zehn. Doch es war alles umsonst gewesen; ich hatte mich jahrelang einer Illusion hingegeben.

»Wie ist der Wein?«, fragte Julia.

»Hervorragend …« Ich blickte wieder auf den Bildschirm und beschloss, die Mail nicht erst kurz vor dem Zubettgehen, sondern sofort zu beantworten.

Liebe E*,

Es fällt mir schwer, dir zu antworten, aber ich hatte dir doch schon früher mitgeteilt, dass ich nicht mehr schreibe? Nach fast einem Vierteljahrhundert gebe ich es auf. Und das hat nichts mit der zutiefst korrupten niederländischen Literaturwelt zu tun, in der noch immer eine Handvoll von todängstlichen, einander in den Arsch fickenden Torwächtern Bücher und damit Schicksale machen und zerstören können. Es ist vielmehr so, dass …

In diesem Moment setzte es wieder ein paar Donnerschläge; diesmal kamen sie aber nicht von draußen, von der Newa her, sondern von irgendwo unten im Haus. Es klang so bedrohlich, dass die Katzen im Nu jede in eine andere Ecke des Zimmers wegspritzten, meine Frau in ihrem Morgenrock fassungslos zurücklassend. Schnell bedeutete ich ihr, sie möge sitzen bleiben; zuerst wollte ich selbst nachsehen, was da los war. Ich schlüpfte in meine Schuhe, stieg die Paradetreppe hinab und blieb auf halbem Wege stehen. Auf dem Treppenabsatz war einer unserer Nachbarn aus der kommunalen Wohnung unter uns in einem blauweiß gestreiften Matrosenhemd dabei, mit einem Beil ein antikes Schränkchen kurz und klein zu hacken.

»Nein, nicht Mamas Kommode!«, kreischte die Stimme seiner Frau durch den Türspalt hinter ihm.

»Du dreckige Straßennutte, dir werd ich …!« Das Beil schwang hinauf über sein feuerrotes, schnurrbärtiges Haupt, wütend grinste er das Möbelstück aus poliertem Kirschholz an. »Nein, nicht Mamas Kommode …«, imitierte der Mann mit falschem Ton die Stimme seiner Frau. »Aber warum denn nicht? Hure!« Er ließ das Beil wieder niedersausen, Splitter und Kupferbeschläge flogen durch die Gegend. »Das war es, das Schränkchen von Mama!«

Das versoffene Clownsgesicht seiner Frau erschien nun komplett im offenen Spalt der beiden abgeblätterten Salontüren. Schweigend sah sie zu, wie ihr Mann sein Zerstörungswerk fortsetzte; die Oberseite des rubinrot geflammten Möbelstücks war bereits völlig zertrümmert.

»Also, du Hure! Merk dir das! Und wenn du von jetzt an nicht machst, was ich dir sage, kommt alles dran, kapiert? Alles! Wir werden den ganzen Rotz hier verkaufen … Ich werde verrückt in diesem verschimmelten Stall … Lieber einen Schuppen im Wald, als noch länger hier … Verkaufen … Alles wird anders, alles!«

Ich hatte den Aufzug, der anscheinend wieder ging; oben anschlagen hören, die Metalltüren öffneten sich. Mit einem Fuchspelz um den Hals, eine schwere Parfümwolke verbreitend, trat Sinaida Petrowna, die Mutter der berühmten Opernsängerin, in den Hausflur.

»Gennadi Nikolajewitsch!« Die kecke Russin rief meinen Nachbarn strafend an, woraufhin er sein sinnloses Vernichtungswerk sofort stoppte. »Was machen Sie da?«

Ihre kaukasischen Augen mit den getuschten Wimpern sprühten Feuer.

»Feuerholz für den Herd.«

»Feuerholz?«

»Ja, Feuerholz! Dieses Schränkchen war noch von meiner Schwiegermutter, der Hexe! Sie war eine Hexe, und meine Frau ist auch eine Hexe. Oh, hätte ich das mal früher gewusst … Töchter kommen nach ihren Müttern … Jetzt hat sie denselben dicken Arsch und Schweinekopp wie sie. Aber bestes Feuerholz!«

»Warum hier?«

»Wo sonst?« Schwer keuchend, wobei es schien, als täte er jeden Moment seinen letzten Schnaufer, ließ Gennadi Nikolajewitsch das Beil wie der Neandertaler seine Keule lasch an seinem Hosenbein herabbaumeln.

»Das hier ist ein Gemeinschaftsraum … Soll ich vielleicht den Hausmeister rufen? Oder die Polizei? Warum …«, wandte sich Sinaida Petrowna sich plötzlich an mich. »Warum haben Sie das nicht verhindert?«

Ich sagte, dass ich gerade erst herbeigeeilt sei, dass ich …

»Er will hier alles plattmachen …«, erwachte der Clownskopf im Türspalt mit einem Gähnen wieder zum Leben. »Endlich ist jemand gekommen, um unsere vierundzwanzig Quadratmeter zu kaufen … Aber was kriegen wir dafür? Nicht mal eine Hundehütte im letzten Außenbezirk …«

Mein Nachbar ließ seinen Säuferblick für einen Moment über die Verwüstung schweifen, die er angerichtet hatte; als ob er sich ihres Ausmaßes erst jetzt bewusst würde. Es sagte, als er seiner Frau im Türspalt seinen Robbenkopf halb zuwandte: »Lieber eine Hütte mit eigenem WC als ewig im Scheißemief von zwölf anderen … Ich will hier weg!«

»Oh, unser schönes Schränkchen!« Mit ihrem dicken Kinn auf der Türkette schaukelnd, sah die Nachbarin ihren Mann entgeistert an. »Warum denn das Schränkchen meines verstorbenen lieben Mütterchens … Brennholz? Wir haben doch gar keinen Herd, lieber Gennadi. Junge, was hast du da bloß angerichtet? Jetzt ist alles kaputt! Diese Herrschaften da!« Mit erhobener Stimme richtete sie sich plötzlich an Sinaida Petrowna und mich. »Ja, ihr da, in euren schönen Appartements, ihr habt schicke Kamine! Bei uns wurde alles vor einem Jahrhundert kaputtgemacht … Wir können hier, mit uns Zwölfen hinter einer Tür, am Ofen krepieren …«

»Deshalb ja, Mascha …« Mein Nachbar richtete seine feuchten Augen reumütig auf seine Frau. »Deshalb wollte ich den Krempel auch verkaufen … Lieber eine Hütte in einem Außenbezirk als …«

»Gut, Gennadi, gut! Ich werde noch einmal darüber nachdenken«, sagte Mascha der Clown dann. »Aber leg zuerst das Beil weg … Und hol mir am Kiosk was zu trinken. Ich komme um vor Durst! Schau, ob sie noch diesen Pflaumenlikör haben … Und was zum Teufel steht ihr da noch rum und glotzt?« Wieder wandte sie sich zornig an mich und die Mutter der Opernsängerin, die nervös am Fuchs um ihren Hals zupfte: »Verzieht euch! Das Treppenhaus ist ein Gemeinschaftsraum. Kapiert? Ge-mein-schaft-lich! Wenn mein Mann hier mit einem Beil einen Schrank kleinmachen will, dann ist das sein gutes Recht!«

Sinaida Petrowna verschwand im Aufzug, nachdem sie mir hilflos einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte. Langsam stieg ich die Treppe hinauf, vorbei an einem zerbrochenen Fenster, hinter dem das Regenwasser noch immer in die Dachrinnen prasselte und gurgelnd durch die Zinkrohre rauschte.

Julia stand unter der Dusche. Als sie in einem Lichtkegel aus Dampfschwaden in ihrem Bademantel und Frotteelatschen herauskam, erzählte ich ihr, was passiert war. »Arme Schlucker«, murmelte sie, verschwand im Schlafzimmer und fragte, ob ich auch gleich kommen würde.

Zuerst schrieb ich die E-Mail an meine Verlegerin fertig, wobei ich noch schnell zwei Gläser von dem Roten trank. Der Mensch schläft am besten nach Rotwein.