Monstermagie - Lisa Rosenbecker - E-Book

Monstermagie E-Book

Lisa Rosenbecker

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Beschreibung

Weil in wunderlich auch Wunder steckt. Ein Heim für magische Monster mit kleinen Macken – so würde Leah ihr "Monsters & Glue" bezeichnen. Ihre ganze Welt dreht sich um die kleinen Wesen, die von einem neuen Zuhause träumen. Doch diese Welt gerät gefährlich ins Wanken, als es einen Einbruch gibt und ihr klar wird, dass es jemand auf sie abgesehen hat. Leah weiß nicht mehr, wem oder was sie glauben soll. Und ausgerechnet der geheimnisvolle Blake, der selbst in die Sache verwickelt ist, bietet seine Hilfe an. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen und das Leben ihrer Monster in seine Hände legen? Oder braucht es ein Wunder, um ihr Heim zu retten?

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Seitenzahl: 410

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Monstermagie

LISA ROSENBECKER

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Natalie Röllig – Lektorat Bücherseele

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Charakterillustration:@kalisdice

Monsterillustrationen: Melis Art

Illustration Pebbles: Lin Rina

Umschlag- & Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-957-9

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

Welches Monster passt zu dir?

Drachenpost

Für alle kleinen und großen Wunder

Und für meine Oma Uda

Im Jahr 2018 hast du mit mir zum Erscheinen von Monstermagie über 300 Lesezeichen gebastelt und in Briefe gepackt.

»Wir machen Handarbeit«, hast du dazu gesagt und gelächelt. Dein Esstisch war voll mit meinem Kram, einer Kanne Tee und zwei Tassen. Es waren schöne gemeinsame Stunden,

immer mit Mama im Herzen.

Dass du jetzt das Taschenbuch von Monstermagie

nicht mehr erleben kannst, bricht mir das Herz.

Aber manchmal bleiben Wunder leider aus.

Vorwort

LIEBE LESER*INNEN,

bei dieser Ausgabe von Monstermagie handelt es sich um eine überarbeitete Neuauflage des gleichnamigen Titels, der 2018 erschienen ist.

Jetzt stellt sich jetzt die Frage: Hat sich im Vergleich zu der alten Ausgabe viel verändert? Die Antwort lautet: Nein.

Natürlich bietet jede Neuauflage die Option, ein Buch von vorn bis hinten noch mal umzukrempeln und bspw. an den neuen Schreibstil anzupassen. In den vergangenen fünf Jahren hat sich der auch bei mir verändert, und würde ich Monstermagie heute noch mal schreiben, würde ich es stellenweise anders machen. Aber ich habe mich bewusst dazu entschieden, so wenig wie möglich in den alten Text einzugreifen. Denn er ist meiner Meinung nach auch heute noch so, wie er sein sollte – mit all seinen wunderbaren Macken (die vielleicht auch gar keine sind …) :D Natürlich haben wir (das Verlagsteam und ich) noch mal nach Rechtschreibfehlern Ausschau gehalten, den einen oder anderen Satz etwas umgestellt, gestrichen oder umgeschrieben, aber vom Inhalt her hat sich nichts verändert. Auch das Ende nicht. Auch wenn ich selbst nach fünf Jahren noch immer … Nein, das verrate ich nicht. Spoileralarm. ;)

Am Ende des Buches findet ihr den Test »Welches Monster passt zu mir?«. Er enthält keine Spoiler, man kann ihn also entweder vor oder nach dem Lesen des Buches machen und auswerten.

Ich wünsche euch ganz viel Spaß mit Monstermagie!

Alles Liebe

Lisa

Im Dezember 2022

Kapitel1

LEAH

Glue war kurz davor, ihr Urteil zu fällen. Ich erkannte es an ihren zusammengekniffenen smaragdfarbenen Eulenaugen und den leicht aufgeplusterten Federn. Für die Familie Cooper hieß es jetzt Daumen drücken. Denn wenn Glue sich entschieden hatte, gab es kein Zurück mehr. Ich war etwas nervös, aber auch voller Vorfreude, denn dies würde meine erste selbstständig abgewickelte Adoption sein, sollte die Familie sich dazu entschließen, das Monster aufzunehmen.

Unruhig rutschte ich auf dem Schreibtischstuhl hin und her. Es kostete mich all meine Willenskraft, um nicht ungeduldig mit den Fingern auf die Arbeitsfläche meines Schreibtisches zu tippen.

Die Eltern standen mit ihrer sechsjährigen Tochter schon eine Weile vor Leos Holzstall. Sonnenstrahlen tauchten den Platz im Erkerfenster mitsamt dem Stall in warme Farben und untermalten die fröhliche Atmosphäre, die sich auf den Gesichtern der Anwesenden widerspiegelte. Die anderen fünf im Heim lebenden Monster hatten sich von der guten Laune der Coopers anstecken lassen und wuselten vergnügt durch ihre Behausungen, während zwischen Leo und der kleinen Familie die ersten zarten Bande geknüpft wurden.

Leo, ein Hasenwolf mit gefiederten Vogelflügelohren, schnupperte interessiert an den Händen, die die Coopers ihm vorsichtig vor die Nase hielten. Seine Ohren flatterten aufgeregt. Ihn schien die Familie schon überzeugt zu haben. Vor allem das Mädchen, das Leo den Kopf kraulte, was er sonst so gut wie nie zuließ.

Glue, die auf ihrem Beobachtungsposten – einem eingetopften kleinen Baum – saß, beobachtete das Geschehen aufmerksam. Ihre Meinung war das Zünglein an der Waage, wenn es um eine Adoption ging.

Sie drehte ihren braun gefiederten Eulenkopf zu mir und blinzelte einmal wie in Zeitlupe. Das war unser Zeichen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den Schreibtisch. Genauer gesagt, auf den blauen Stiftebecher in der rechten Ecke. Mit einem kaum hörbaren Plopp verwandelte sich ein funktionstüchtiger Bleistift darin in eine unbrauchbare, aber leckere Stange Schokolade. Ich grinste zufrieden. Glues Entscheidung war gefallen. Sie stimmte der Adoption zu.

Wäre der Kugelschreiber Glues Schokoladenmagie zum Opfer gefallen, hätten die Coopers allein nach Hause gehen müssen. Nun mussten wir nur noch die Wahl der Familie abwarten. Diese – da war ich mir sicher – würde keine Überraschung sein.

Es dauerte gar nicht lange, bis die Coopers an meinen Schreibtisch traten. Die Eltern sahen sich verlegen an und einigten sich wortlos, wer mit mir sprechen sollte. Es war die Mutter, die letztendlich das Wort ergriff.

»Wir möchten gern Leo adoptieren – wenn wir dürfen«, sagte sie und warf einen freundlichen Seitenblick auf Glue. Die meisten Leute, die sich an Monsters & Glue wandten, hatten schon von ihr und unserem Entscheidungssystem gehört.

Unsere Klienten kamen fast ausschließlich auf Empfehlung in das Heim für Monster, das ich seit Kurzem allein führte. Hier lebten die Kleinen so lange, bis sie ein neues Zuhause fanden. Es gab keine Website, und aus Werbung hatte sich Mr. Lambers – der ehemalige Besitzer – nie etwas gemacht. Aber es funktionierte auch so, und zusammen mit den Leuten, die zufällig auf uns stießen, konnten wir regelmäßig Monster an neue Familien vermitteln. Selten verlief ein Besuch bei uns jedoch so erfolgreich wie heute.

Das Mädchen sah erwartungsvoll zu seiner Mutter auf. Der Vater tippte der Kleinen auf die Schulter und erklärte ihr in Gebärdensprache, was seine Frau gesagt hatte. Das Mädchen nickte nachdrücklich und richtete ihre grünen Kulleraugen auf mich.

»Wie Sie wissen«, setzte ich an, »haben alle Monster bei Monsters & Glue eine kleine Besonderheit. Auch Leo, das habe ich Ihnen ja vorhin schon erzählt. Trotzdem muss ich Sie das jetzt fragen: Macht Ihnen das wirklich nichts aus?«

Die Mutter nickte und lächelte mich an. »Genau aus diesem Grund sind wir zu Ihnen gekommen. Wissen Sie, unsere Hanna hat zwar wie jeder Mensch zwei Ohren, kann aber weder hören noch sprechen. Sie hat sich einen Freund gewünscht, der ihr ähnelt. Und Leo«, sagte sie mit einem verräterischen Glitzern in den Augen, »hat zwei geflügelte Ohren, kann aber trotzdem nicht wie seine Artgenossen fliegen. Die beiden könnten sich also gegenseitig unterstützen.«

Der Vater übersetzte fleißig für seine Tochter, die erneut nickte und vor Aufregung ganz unruhig am Arm ihrer Mutter zappelte. Ich schmunzelte. Es gab keinen Grund, sie weiter auf die Folter zu spannen.

»Das sehen wir auch so. Es würde uns freuen, wenn Sie Leo ein neues Zuhause schenken«, verkündete ich.

Hanna hüpfte vor Freude auf und ab, als sie die frohe Kunde durch die Hände ihres Vaters vernahm. Sie rannte zu Leos Stall zurück und streichelte das Monster. Leo wackelte mit den riesigen Ohren und schien genau zu wissen, was wir besprochen hatten.

Die Eltern seufzten erleichtert und sahen sich glücklich an. Zufrieden legte ich den Coopers die Adoptionspapiere vor, und während diese die Unterlagen durchgingen, holte ich aus dem Hinterzimmer eine Transportbox für Leo. Als ich damit zurück in das Heim kam, unterschrieben die Eltern den Vertrag in zweifacher Ausfertigung. Ich platzierte die Box auf meinem Stuhl und unterzeichnete die Dokumente ebenfalls, bevor ich dem Paar eins davon überreichte. Im Gegenzug stellte es mir noch einen Scheck über eine Spende aus, die in meinen Augen allerdings viel zu hoch war. Doch Widerrede half nichts, die Coopers wollten Monsters & Glue gern unterstützen. Also nahm ich den Scheck dankend an und legte ihn zu dem Vertrag, bevor ich erneut nach der Transportbox griff.

Zusammen mit den Eltern ging ich zu dem kleinen Mädchen hinüber und stellte die Box neben das niedrige Podest im Erkerfenster, auf dem Leos Stall stand. »Mach’s gut, Leo«, flüsterte ich meinem Freund zu. Er hopste aus seinem alten Zuhause in die Box. Hanna nahm die rote Decke, auf der Leo am liebsten schlief, aus dem Stall und legte sie neben das Monster. Die beiden passten wirklich gut zusammen.

Dann überreichte ich dem Vater die Transportbox.

»Vielen Dank«, sagte er freudestrahlend.

Plötzlich wurde es still im Raum. Keines der Monster regte sich mehr. Die Eltern sahen sich unsicher um, wussten nicht, was los war. Hanna bemerkte ihre veränderte Haltung und deutete etwas mit den Händen. Das folgende Ritual hatte sich noch nicht herumgesprochen, worüber ich sehr froh war. Man musste es einfach selbst erleben.

»Halten Sie sich die Ohren zu, denn jetzt kommt die Verabschiedung«, riet ich den Eltern und presste die Hände auf meine Ohren. Den beiden blieb nur noch Zeit für einen verwirrten Blick, dann legten die Monster los und stimmten ein Lied an.

Ihre unterschiedlichen Stimmen mischten sich zu einem sirenenartigen Gesang, der an manchen Stellen gut, an manchen gar nicht zusammenpasste. Es war eine fröhliche, Trommelfell zerlegende Melodie, in der wohl viele gute Wünsche eingewebt waren.

Die Eltern zuckten zusammen, und auch Hanna schien zumindest die Vibrationen der Luft wahrzunehmen. Schließlich lächelten alle drei, weil man einfach nicht anders konnte, und verließen mit einem letzten Winken und einem glücklichen kleinen Wesen das Heim.

Nach einem kurzen ruhigen Moment setzte das allgemeine und angenehme Gebrabbel der Monster wieder ein. Mit einem fröhlichen Seufzen und einem leisen Fiepen in den Ohren setzte ich mich an den Schreibtisch und heftete die Kopie des Adoptionsvertrages ab. Glue flatterte auf die Tischplatte und sah so zufrieden aus, wie eine Eule es nur sein konnte.

»Das war eine sehr gute Entscheidung, meine Liebe.« Ich kraulte sie am Kopf und Glue schloss verzückt die Augen. Die Eule wusste genau, wie jedes einzelne Monster hier drauf war und was es für ein erfülltes Leben brauchte. Es waren vor allem die richtigen Menschen. Schade nur, dass es Tage wie heute viel zu selten gab.

Beschwingt und auch ein bisschen stolz auf meine erste abgeschlossene Adoption ohne Mr. Lambers, säuberte ich Leos Stall und räumte ihn in das Hinterzimmer. Dann wischte ich das Podest im Erkerfenster. Ich sah hinaus auf die Straße und die Leute, die von Geschäft zu Geschäft gingen und flüchtige Blicke in unser Heim warfen. Die Cartref Road lag im Stadtzentrum und war immer gut besucht. Neben Monsters & Glue gab es hier viele Geschäfte und kleine Läden, die unterschiedliche Waren und Dienstleistungen anboten. Im Gegensatz zu den anderen war bei uns allerdings wenig los.

Ob wir heute noch einmal so ein Glück haben würden wie mit Leo? Unwahrscheinlich. Ich drehte mich zu meinen zurückgebliebenen Monstern um. Sie freuten sich ehrlich füreinander, wenn eines von ihnen vermittelt wurde, aber natürlich blieb auch ein bisschen Wehmut zurück. Darüber, nicht selbst ausgewählt worden zu sein.

Es schmerzte mich, dass bisher nicht alle von ihnen ein neues Zuhause gefunden hatten, denn ich wusste genau, was es hieß, nicht ausgesucht zu werden. Was es bedeutete, wenn ein Heim das einzige Zuhause war, das man hatte.

Meine Gedanken wanderten zu Mr. Lambers und seinem Vermächtnis: das kleine Heim, das nun mir gehörte und das mir am Herzen lag wie sonst nichts auf dieser Welt. Den einzigen Platz in Bwystfilwood für Monster mit vermeintlichen Makeln.

Es war traurig, wie sie teilweise behandelt wurden. Die meisten Menschen wollten nützliche Monster wie feuerspuckende Wachhunde, prestigeträchtige wie Drachen oder solche, die einfach schön aussahen und am besten auch funkelnde Magie wirken konnten. Sobald eines nicht perfekt war, wurde es uninteressant für Leute mit weniger Herz als die Coopers. Deswegen saßen sie hier, meine Monster. Sie waren ausgesetzte, im Heim abgegebene oder zwangsbeschlagnahmte Wesen, die in die Hände der falschen Besitzer geraten waren. Entsprechend hatte jedes der noch verbliebenen Monster eine unschöne Vorgeschichte.

Ich schüttelte den Kopf über die Intoleranz und Herzlosigkeit, die mir durch sie viel zu oft vor Augen geführt wurde. Ich konnte nicht mehr tun, als ihnen ihr Übergangszuhause so schön wie möglich zu gestalten. Das war auch Mr. Lambers’ Philosophie gewesen. Er hatte Monsters & Glue vor knapp zwei Jahren nach der freiwilligen Kündigung seiner Lehrerstelle gegründet, diesen ehemaligen Laden gemietet und verschiedene Behausungen gebaut, die in großen Regalfächern an der Wand standen. Je nach Bedarf konnte man sie an die Bewohner im Heim anpassen oder austauschen. Verbunden waren sie – soweit möglich – durch Leitern und Rutschen und gewährten den Monstern damit möglichst großen Spielraum. Nur Monty war etwas eingeschränkt, da er als Krake an ein Aquarium gebunden war. Was ihn aber nicht davon abhielt, sich in das Geschehen einzumischen.

Dieser Gedanke brachte mich auf eine Idee. Was wir nun alle gut gebrauchen konnten, war eine gemeinsame Aktivität. Etwas, das uns auf andere Gedanken brachte.

»Ich schlage vor, dass wir zur Feier des Tages heute Abend eine lange Filmnacht veranstalten. Was meint ihr? Das Popcorn geht selbstverständlich auf mich.«

Die Rückmeldung verursachte mir erneut ein Fiepen in den Ohren und brachte mich zum Lachen. Ich kannte meine kleinen Allesfresser eben, und mit einem schönen alten Krimiklassiker konnte ich sie immer aufmuntern.

* * *

Als sich kurz vor Feierabend die Eingangstür erneut öffnete, sah ich mit einem überraschten Lächeln auf. Ein Mann in einem feinen dunkelblauen Anzug trat über die Schwelle und ließ die Tür sanft ins Schloss fallen. Ich erhob mich und begrüßte den doch eher ungewöhnlichen Besuch. Menschen in Anzügen kamen nur äußerst selten hierher. Und in einem solch teuer aussehenden schon gar nicht. Dazu war unser Heim »nicht exklusiv« genug, wie Mr. Lambers mir mit einer Portion Ironie bereits zu Beginn meiner Arbeit bei ihm zu verstehen gegeben hatte. Und die Monster entsprachen mit ihren kleinen Makeln meist auch nicht den Vorstellungen dieser gut betuchten Kunden. Der Mann vor mir sah aber trotz seines Anzuges nicht so aus, als ob er sich bei uns unwohl fühlen würde. Als er näher kam, entdeckte ich an seinem Kragen eine kleine goldene Brosche, auf der ein Wappen abgebildet war, das ich allerdings nicht kannte. Ich lenkte meinen Blick wieder zum Gesicht des Mannes, der mit seinen warmen braunen Augen einen sympathischen und offenen Eindruck machte.

»Willkommen bei Monsters & Glue. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann erwiderte mein Lächeln.

»Sind Sie Miss Leah Mint, die Besitzerin dieses Heims?«, wollte er wissen.

»Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?«, antwortete ich nun doch etwas verunsichert. Was wollte der Mann von mir? Wegen der Monster war er augenscheinlich nicht hier, er hatte ihnen nicht mal einen flüchtigen Blick zugeworfen.

Der Mann schob eine Hand unter sein Jackett und zog schwungvoll einen Umschlag daraus hervor, den er mir reichte.

»Miss Mint, ich habe einen Brief von Mister Aelfric Waystone für Sie. Außerdem habe ich von ihm den Auftrag bekommen, Ihre Antwort direkt entgegenzunehmen.«

Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, nahm ich das Schreiben an mich. Wer verfasste denn heutzutage noch Briefe?

Als ich mich mit der Nachricht in der Hand nicht weiter rührte, nickte der Mann aufmunternd und faltete die Hände hinter dem Rücken. Er wartete.

»Okay«, erwiderte ich leicht verwirrt und öffnete den Umschlag. Ich zog eine Klappkarte heraus, unterschrieben von Mr. Aelfric Waystone, Leiter der Privatschule Bwystfilwood Hall. Ich stockte. Dort war Mr. Lambers als Lehrer tätig gewesen. Der Name des Schulleiters war bei den wenigen Erzählungen über seine Zeit an der Einrichtung ein paarmal gefallen. Ich erinnerte mich daran, weil – nun ja. So einen Namen vergaß man nicht so schnell.

Das Papier fühlte sich fest an und wirkte sehr edel. Am oberen Rand der Karte entdeckte ich ein Wappen. Es zeigte einen Löwen auf einem Schild, umrandet von Zweigen, einer Schärpe und einer Krone. Unter dem Bild, in fein geschwungenen Lettern, stand der Name der Schule.

Ich blickte zu dem Überbringer der Nachricht auf. Seine Brosche zierte dasselbe Wappen. Er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Die Monster beachteten ihn kaum, nur Glue beäugte den unerwarteten Gast aufmerksam. Ja, dieser Mann wirkte definitiv wie jemand, der im Auftrag der bekanntesten und zugleich geheimnisvollsten Privatschule von Bwystfilwood hergekommen war.

Neugierig las ich den Brief. Es war eine Einladung zu einem Treffen in Bwystfilwood Hall. Mr. Waystone bat mich, ihn am kommenden Tag um vier Uhr nachmittags auf einen Kaffee zu besuchen. Vermutlich wollte er mit mir über Mr. Lambers reden. Aber ich in den heiligen Hallen der sagenumwobenen Schule?

»Ich weiß nicht mal den Weg dorthin«, führte ich meine Gedanken laut fort und richtete sie an den namenlosen Mann. Sicherlich kannte er den Inhalt des Briefes, wenn er auf eine Antwort warten sollte.

»Ich werde Sie um halb vier abholen und im Anschluss an Ihr Treffen mit Mister Waystone wieder nach Hause bringen.«

»Das nenne ich Service«, antwortete ich amüsiert. Dieses Mal erwiderte der Mann das Lächeln nicht.

»Nehmen Sie die Einladung an?«

»Wäre ein ›Nein‹ denn eine Option?«

Der Mann richtete sich auf. »Natürlich. Niemand will Sie zu etwas zwingen.« Er klang empört.

»Es ist nur … Ich weiß nicht, worüber Ihr Arbeitgeber mit mir sprechen will. Ich kenne ihn nicht.«

»Soweit ich weiß, möchte er gern sein Beileid zum Tod von Mister Scott Lambers ausdrücken. Ich im Übrigen auch. Es tut mir sehr leid.«

»Danke. Kannten Sie ihn?«

Der Mann nickte. »Er war ein sehr geschätzter Kollege. Auch von Mister Waystone. Vermutlich wird er Ihnen genau das sagen wollen.«

Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken und betrachtete die Karte und das Wappen.

»Aber warum? Er kennt mich doch gar nicht. Wieso interessiert es ihn, was ich denke?«

»Trauer heilt man am besten gemeinsam. Ein Treffen zum Kaffee und geteilte Erinnerungen an eine verstorbene Person mögen sich oberflächlich anhören, aber sie helfen. Glauben Sie mir.«

»Soll es ihm helfen oder mir?«

»Vermutlich Ihnen beiden.«

Ich ließ meine Finger über das Papier gleiten. Seit dem Tod von Mr. Lambers vor zwei Wochen hatte ich bisher mit niemandem außer unserer Nachbarin Mrs. Rainwater darüber geredet. Die Monster und ich saßen ab und an zusammen, doch das zählte wohl kaum als Gespräch. Es würde keine Beerdigung geben, und auch keine Trauerfeier. Mr. Lambers, im Herzen für immer ein Naturwissenschaftler, hatte seinen Leichnam der Wissenschaft überlassen.

Da nach der Krebsdiagnose ziemlich schnell klar gewesen war, dass mein Chef sterben würde, hatte ich vorher Lebewohl sagen und mich mit der Situation abfinden können. Bisher hatte ich auch geglaubt, dass mir das einigermaßen gelungen war, auch wenn ich oft an Mr. Lambers dachte und mir dabei jedes Mal Tränen in die Augen traten. Es war einfach so scheißunfair. Nur danebenstehen und nichts tun zu können, war einfach mies. Jedes Mal, wenn sich sein Bild in meine Gedanken schlich, überkam mich eine Mischung aus Trauer und Wut. Ich wünschte mir, er wäre hier. Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter, als mich bei diesem Gedanken die Gefühle überfielen. So viel dazu, dass ich damit umgehen konnte. Vielleicht würde es mir tatsächlich helfen, darüber zu reden. Und wenn ich damit jemandem etwas Gutes tun konnte, warum nicht?

»Ich nehme die Einladung an.«

»In diesem Fall sehen wir uns morgen, Miss Mint. Auf Wiedersehen.«

Ich winkte ihm zum Abschied. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging. Zu spät fiel mir auf, dass ich vergessen hatte, ihn nach seinem Namen zu fragen. Der Brief hatte mich wohl mehr aus der Bahn geworfen, als ich zugeben wollte.

»Ihr habt es gehört, ich werde morgen kurz verschwinden. Ich rufe Misses Rainwater an, damit sie solange auf euch aufpasst.«

Als der Name der älteren Dame fiel, horchten die Monster auf. Mrs. Rainwater hatte eine Schwäche für Monster und – das machte sie bei ihnen besonders beliebt – Kekse. Wenn die ehemalige Besitzerin des kleinen Cafés gegenüber uns besuchte, versorgte sie uns immer mit einem vollen Glas, damit auch niemand zu kurz kam. Ein paarmal war sie auch schon als Monstersitterin eingesprungen. Vor allem im letzten halben Jahr, als Mr. Lambers und ich unterwegs gewesen waren, um seinen Nachlass zu regeln. Ich konnte ihr das Heim guten Gewissens anvertrauen, vorausgesetzt, ich hing nicht an meinem Keksanteil.

»Ich sehe schon«, sagte ich, als ich in die strahlenden Gesichter meiner Monster blickte, »ich tue euch einen Gefallen, wenn ich euch mit ihr allein lasse.«

Ihr unschuldiges Glucksen brachte mich zum Lachen, als ich nach dem Festnetztelefon griff, um Mrs. Rainwater anzurufen.

* * *

Als ich die Heimtür am Abend zuschloss und die Rollläden herunterließ, tat ich dies mit einem Kopfschütteln. Der Tag heute war ungewöhnlich betriebsam gewesen. Ein ruhiger Abend mit einem guten Film war nun genau das Richtige.

Ich holte eine leere Kiste aus dem Hinterzimmer und platzierte sie in der Mitte des Raumes. Ich stellte meinen Laptop darauf und richtete ihn zu den Regalen hin aus. Während die Monster es sich in ihren Behausungen gemütlich machten, flitzte ich in meine Wohnung über dem Heim und schob eine Packung Popcorn in die Mikrowelle. Mit einer vollen Schüssel eilte ich zurück und rückte meinen Schreibtischstuhl in Position. Ich verteilte die Knabberei und behielt auch etwas für mich. Nachdem ich auf Play gedrückt hatte, setzte ich mich und machte es mir bequem. Glue ließ sich auf der Stuhllehne nieder, und ich reichte ihr das Popcorn an. Die Titelmelodie ging unter dem Geräusch des Geknabbers fast unter, aber mit dem ersten Wort im Film verstummten wir. Nun musste ein Mörder entlarvt werden. Fast zwei Stunden später war es so weit, und ich blickte in die müden, aber zufriedenen Gesichter von fünf kleinen Detektiven.

Es war Zeit, das Heim sowie seine Bewohner für die Nacht fertig zu machen. Dabei nahm ich mir immer Mr. Lambers und seine Freude am Arbeiten zum Vorbild. Für die Monster war mein Gutenachtkuss immer das Beste an der ganzen Sache. Nur bei Robbie war das mit dem Kuss zuweilen etwas schwierig. Er war ein zur Hälfte unsichtbares Chamäleon, wobei die sichtbare Körperhälfte ständig wechselte oder sogar auch mal ganz verschwand. Er liebte es, mich damit aufzuziehen. Den Kuss bekam er am Ende trotzdem.

Nuvo machte keine solcher Späße und schwebte mir sogar entgegen. Bei ihm handelte es sich um ein Wolkenwesen, das leider ab und an etwas reines Wasser verlor. Mit seiner Magie konnte das an Zuckerwatte erinnernde Monster Erinnerungsmurmeln erschaffen. Eine lange und anstrengende Prozedur.

Die beiden waren die Ersten, denen ich gute Nacht sagte, nachdem ich alles an seinen Platz zurückgeräumt und den Boden gekehrt hatte.

Danach war Pebbles an der Reihe – ein pinkes, etwa handballgroßes fluffiges Wesen mit lila Augen. Aufgeregt hüpfte sie auf ihren zwei dünnen Beinen in ihrem Puppenhaus herum. Pebbles litt unter unkontrollierbaren Krampfanfällen, die sie die Beherrschung über ihre Bewegung verlieren ließen und ihr weiches Fell in eines aus Stacheln verwandelten. Ihre Behausung war aus diesem Grund mit Schaumstoff ausgekleidet, in dem sie stecken blieb, wenn sie im Schlaf einen Anfall bekam. Auf diese Weise konnte sie keines der anderen Monster ungewollt verletzen, was ihre größte Sorge war. Ich musste mich jeden Abend versichern, dass die Polsterung auch an ihrem Platz war, ehe sie sich endgültig schlafen legte. »Alles in bester Ordnung«, flüsterte ich, nachdem ich mich prüfend umgesehen hatte. Ich strich ihr über das Fell.

»Schlaf gut.«

Glue hatte sich auf ihren Baum zurückgezogen und die Augen schon halb geschlossen. Monty war der Letzte, dem ich eine Gute Nacht wünschte. Er erhob sich aus dem Wasser, damit auch er einen Kuss auf den Kopf bekam.

»Träum was Schönes.«

Mit seinen Tentakeln zupfte er sein rosa Tutu zurecht und legte sich schlafen. Oder schwamm sich schlafen? Ich musste das endlich recherchieren.

Ich löschte das Licht und öffnete die Tür zum Treppenhaus, das in meine neue Behausung führte. Die kleine Wohnung direkt über dem Heim hatte mir Mr. Lambers zusammen mit Monsters & Glue überschrieben. Nach neunzehn Jahren war mir mein erstes eigenes Zuhause geschenkt worden, was ich immer noch nicht glauben konnte. Auch wenn der Preis dafür ein sehr trauriger war. Gerade mal ein Jahr lang war ich bei ihm angestellt gewesen, als er vor zwei Wochen starb.

Nach der Diagnose war ihm noch ein halbes Jahr geblieben, in dem wir uns um alles gekümmert hatten. Bis zu seiner letzten Woche war er noch recht fit gewesen und hatte gemeinsam mit mir im Heim gearbeitet, wobei ich die meiste körperliche Arbeit übernommen hatte. Als er mich kurz nach seiner Diagnose gefragt hatte, ob ich das Heim übernehmen möchte, war ich zwar überrascht und ein wenig überwältigt gewesen, hatte aber keine Sekunde gezögert. Mr. Lambers und ich hatten uns nicht lange gekannt, und doch waren wir und die Monster zu einer ganz besonderen und vielleicht auch eigenwilligen Familie geworden. Vom ersten Tag an war er wie ein Onkel für mich gewesen, der mir beigebracht hatte, wie man ein Geschäft führte, und immer für mich da gewesen war, wenn ich ihn brauchte. So eine Beziehung war Neuland für mich gewesen, doch ich glaubte, dass wir beide daran gewachsen waren. Wir hatten uns gut ergänzt, viel zusammen gelacht.

Das wahnsinnig große Vertrauen, das er mir mit der Erbschaftsfrage entgegengebracht hatte, erfüllte mich auch heute noch mit Stolz. Es hatte mir das Selbstbewusstsein geschenkt, das ich lange nicht hatte aufbringen können. Ich kämpfte zwar auch heute noch mit der Angst vor der Verantwortung, doch ich hatte mir geschworen, die Monster nie im Stich zu lassen. Und daran würde ich mich halten. Immer.

Woher ich diese Überzeugung nahm, war mir selbst manchmal schleierhaft, aber es beruhigte mich zu wissen, dass ein Teil von mir anscheinend genug Kampfgeist besaß, um aufkommende Zweifel immer wieder auszuräumen. Die Leah, die vor ihrem Job bei Monsters & Glue existiert hatte, wäre bei der Aussicht auf so viel Verantwortung vermutlich weinend zusammengebrochen. Aber diese Person war ich nicht mehr. Ich hatte sie mit all den schlechten Erinnerungen zurückgelassen. Für sie war in meinem jetzigen Leben kein Platz.

Auch in meiner neuen Wohnung hielt ich mich an diesen Grundsatz und hatte alle alten Erinnerungsstücke gar nicht erst ausgepackt. Die neue Unterkunft war weder besonders groß noch chic eingerichtet, aber sie war ganz und gar mein. Hier konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Keine aufgezwungenen Mitbewohner, die mich nervten, oder Leute vom Jugendamt, die mir auf die Finger schauten. Niemand redete mir rein oder versuchte mich zu ändern. Ich hatte, genau wie die kleinen Monster, meine Macken und Mängel, aber hier interessierte das keine Menschen- und keine Monsterseele. Ich konnte einfach ich sein. Hier war ich zu Hause.

Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf, als ich an das kommende Gespräch mit Mr. Waystone dachte. Auch wenn der namenlose Mann nichts gesagt hatte, bestand die Möglichkeit, dass der Schulleiter über Monsters & Glue reden wollte. Er würde doch sicherlich nicht seine wertvolle Zeit opfern, nur um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.

Warum sollte er auch? So selbstlos, wie sich das bei dem Mann angehört hatte, war er sicherlich nicht. Um das zu glauben, hatte ich leider schon zu oft herbe Enttäuschungen erlebt, vor allem im Heim und in der Schule. Einladungen zum Spielen hatten sich als Fallen entpuppt und damit geendet, dass man mich beschimpft oder auch gern irgendwo eingesperrt hatte. Freundschaften waren nur mit der Absicht angeboten worden, mich dazu zu bringen, die Hausaufgaben für andere zu erledigen, anschließend hatte man mich nicht mehr beachtet. Seither war ich äußerst misstrauisch gegenüber scheinbar gut gemeinten Angeboten. Auch wenn ich jedes Mal mit neuem Mut an solche Dinge herangehen wollte, war da doch dieses Bauchgrummeln, das mich warnte.

Vielleicht erhob Mr. Waystone irgendwelche Ansprüche, die Mr. Lambers mir verschwiegen hatte. War das von ihm angelegte Geld, dessen Zinsen allein ausreichten, um das Heim noch jahrelang zu finanzieren, vielleicht nur geliehen? Ich war einfach davon ausgegangen, dass es Mr. Lambers gehörte. Aber was, wenn dem nicht so war?

Ich würde es früher oder später erfahren.

Solange konnte ich nur hoffen, dass Mr. Waystone mich nicht zu sich eingeladen hatte, um den Monstern und mir das einzige Zuhause zu nehmen, das wir kannten.

Kapitel2

LEAH

Monster waren Langschläfer.

Wie jeden Morgen war es mucksmäuschenstill, als ich das Heim betrat und die Rollläden hochzog. Und wie jeden Morgen wurde mein Hereinplatzen mit unzufriedenem Gegrummel, Seufzern und Blubbern bestraft.

»Aufstehen! Ein neuer Tag wartet auf uns!«, rief ich, was mir jede Menge böse Blicke einbrachte. Doch es dauerte gar nicht lange, da hatten sie sich alle den Schlaf aus den Augen geblinzelt und saßen erwartungsvoll in ihren Behausungen. Es war Zeit für das Frühstück. Jeder von ihnen bekam das für sich und seine Magie passende Futter, wobei die Monster generell alles aßen. Aber wie wir Menschen brauchten sie ab und an etwas Gesundes.

Nachdem das Frühstück erledigt und die Kleinen herausgeputzt waren – zumindest deren sichtbare Teile, bei Robbie konnte ich nur spekulieren –, war es an der Zeit, das nächste Erker-Monster auszuwählen. Neben den großen Regalen, in denen die Behausungen der Monster standen, existierte nur eine freie Stelle auf dem Podest im Erkerschaufenster. Mehr Platz stand uns leider nicht zur Verfügung, um die Monster für die Besucher besser präsentieren zu können. Alle bis auf eines mussten sich mit den Behausungen im Inneren des Heims zufriedengeben. Leo hatte die letzten drei Tage im Erker verbracht, und nun konnte ein neues Monster benannt werden, das diesen für die kommende Woche belegte. Ich stellte mich vor die Kleinen im Regal. Ehrfürchtige Stille breitete sich aus.

»Wie immer dürft ihr entscheiden, welches Monster als Nächstes im Erkerfenster wohnen soll.« Monty, Nuvo, Pebbles und Robbie fingen sofort mit dem Geplapper an. Es gab hier keine zwei Monster derselben Spezies, und doch verstanden sie sich und mich problemlos. Ich jedoch beherrschte ihre Sprache leider nicht, musste mich in dieser Hinsicht auf Bauchgefühl und Erfahrung verlassen.

Glue flatterte auf meine Schulter und wartete gemeinsam mit mir auf das Ergebnis der Diskussion. Sie beteiligte sich nicht an der Wahl, denn als Bewohnerin auf Lebenszeit bei Monsters & Glue hielt sie sich aus dieser Angelegenheit raus. Glue war Mr. Lambers’ erstes gerettetes Monster und ihm bis zu seinem Tod nicht mehr von der Seite gewichen. Daher kam auch der Name des Heims. Auch sie hatte mit seinem Verlust zu kämpfen. Sie war ruhiger geworden, aber sie kümmerte sich weiterhin rührend um ihre Schützlinge. Wir beide würden das Vermächtnis von Mr. Lambers fortführen, so lange wir konnten.

Nach zwei Minuten war die Entscheidung gefallen. Pebbles hüpfte aus ihrem Puppenhaus und Richtung Erkerfenster. Ein trauriges Lächeln huschte über meine Lippen. Pebbles war von den anderen Monstern schon oft auf das Podest geschickt worden, aber adoptiert hatte sie bisher noch niemand, obwohl sie so süß war und oft das Interesse von Leuten weckte. Ihre kleine Besonderheit machte ihr jedes Mal einen Strich durch die Rechnung.

Die anderen gaben das rosa Monster jedoch nicht auf und entschieden sich immer wieder für sie. Ächzend hob ich das riesige Puppenhaus aus dem Regal und hievte es in den Erker. Ich nahm Pebbles in beide Hände und setzte sie in die mit Schaumstoff verkleidete Puppenküche. Ein neuer Tag, ein neues Glück.

* * *

Um fünf Minuten vor halb vier klopfte Mrs. Rainwater an die Tür und ich ließ sie herein.

»Hallo, Kindchen«, begrüßte sie mich und kniff mir in die Wange. Ihre bunt bedruckte Bluse roch frisch gewaschen, das Haar war wie immer ordentlich frisiert. »Du wirst immer dünner. Hier, nimm einen Keks.« Sie hielt mir ein gefülltes Glas mit Schokoladenkeksen unter die Nase.

»Danke, Misses Rainwater, ich möchte nichts. Aber ich denke, die Monster werden Ihnen gern ein paar Kekse abnehmen. Schön, dass Sie spontan Zeit hatten und auf die kleinen Racker aufpassen.«

Meine Nachbarin marschierte schnurstracks zum Schreibtisch und stellte das Glas ab. Für ihr Alter war Mrs. Rainwater flink, vermutlich ein Überbleibsel aus ihrer Zeit als Cafébesitzerin.

Für diesen Job musste man auf Zack sein, erzählte sie immer. Fast hätte ich selbst einen Sommerjob in ihrem alten Café angenommen, da es damals ein großer Traum von mir gewesen war, ein solches zu besitzen.

Aber dann war Monsters & Glue dazwischengekommen. Doch Cafés interessierten mich noch immer, und es war schön, mit jemandem über dieses Thema reden zu können, der selbst eines betrieben hatte. Auch heute begegnete Mrs. Rainwater ihrer »Kundschaft«, wie sie die Monster nannte, mit viel Freundlichkeit und – wie schon erwähnt – einer Menge Keksen. Die ältere Dame öffnete den Deckel des Glases und der herrliche Duft von Schokolade zog durch den Raum.

Die Monster schauten auf, hielten sich aber respektvoll zurück.

Noch.

»Ich helfe gern, wenn ich kann. Nicht wahr, meine Schöne?« Sie war zu Glue hinübergeeilt und strich ihr zärtlich über den Kopf. Dann waren Nuvo, Monty, Pebbles und Robbie an der Reihe. Sie begrüßten die alte Dame freudig. Ich war offensichtlich schon abgemeldet.

Um Punkt halb vier parkte ein Auto vor dem Heim. Das war mein Abholservice.

»Sie wissen, wo der Ersatzschlüssel liegt?« Ich holte meine Tasche unter dem Schreibtisch hervor, und als ich aufsah, stand Mrs. Rainwater wieder vor mir und griff nach dem Glas mit den Keksen.

»Natürlich, Kindchen. Ich bin zwar alt, aber nicht vergesslich. Ich schließe das Heim ab, sobald du weg bist.« Sie schüttelte das Glas. »Vielleicht doch einen Keks für unterwegs?«

Seufzend nahm ich eines der kleinen Gebäckstücke.

»Bis später, ihr Krümelmonster.«

Bevor ich die Tür hinter mir zuzog, hörte ich noch ein mehrstimmiges Knuspern.

Als ich auf das Auto zuging, kam mir der Herr im Anzug und mit dem freundlichen Lächeln von gestern schon entgegen. Staunend betrachtete ich die schwarze Limousine mit getönten Scheiben. Ein echtes Luxusauto.

Der Mann, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, musterte kritisch den Keks in meiner Hand. Ich stopfte ihn mir in den Mund und hielt die leeren Hände hoch, was er mit einem zufriedenen Brummen kommentierte.

»Wenn Sie dann so weit sind, Miss Mint.« Er öffnete mir die Tür hinter dem Beifahrersitz und ich ließ mich in das edle Polster sinken.

Mein Chauffeur nahm auf dem Fahrersitz Platz und startete den Wagen. Nach ungefähr zehn Minuten hielt ich die Stille nicht mehr aus.

»Haben Sie auch einen Namen, Sir?«

»Sie können mich James nennen.«

Ich hob die Augenbrauen. »Wirklich? Na, wenn das mal nicht der originellste Name aller Zeiten ist«, witzelte ich. Es entlockte ihm zumindest ein Schmunzeln.

»Wo genau liegt Bwystfilwood Hall, James?«

»Mitten im Wald. Es ist ein Privatgrundstück, deswegen ist es nicht ausgeschildert.«

»Muss ich ein Schweigegelübde ablegen und hoch und heilig versprechen, den Weg niemals jemandem zu verraten?«

Dieses Mal lachte der Mann leise.

»Das wäre nun doch etwas zu dramatisch, finden Sie nicht? Sie werden außerdem bald sehen, wieso das nicht nötig ist.«

Dabei beließ er es und widmete seine Aufmerksamkeit der Straße. Ich sah aus dem Fenster und ließ Bwystfilwood mit seinen hübschen Häusern und eher klein gehaltenen Wolkenkratzern an mir vorüberziehen, bis sich die Landschaft langsam veränderte und die umliegenden Wälder in Sicht kamen.

Meine kleine Heimatstadt, deren europäischen Flair ich so liebte, lag mitten in einer der schönsten Gegenden im Westen Amerikas. Die Wälder drum herum waren dicht und manche Bäume so dick wie Häuser. Touristen verirrten sich nur sehr selten hierher, was mir nur recht war. Ich mochte Menschen, aber zu viel Gedränge und Chaos waren nicht meins. Ich liebte den stetigen, vertrauten Puls der Stadt und hatte bisher noch nie Fernweh verspürt. Aber nun, in der Stille des Autos, fragte ich mich plötzlich, was wohl noch alles hinter den Wäldern lag. Außer Bwystfilwood Hall, versteht sich.

Die Fahrt durch den Wald dauerte nur eine Viertelstunde. Als der Wagen langsamer wurde, hielt ich es für ein Versehen, weil ich weit und breit nichts außer Bäume sah. Ein genauerer Blick nach vorn belehrte mich aber eines Besseren. Ein schmiedeeisernes dunkelgraues Tor thronte zwischen den Bäumen vor uns. James hielt den Wagen neben einem ungefähr ein Meter hohen schwarzen Kasten an und ließ das Fenster herunter. Er holte eine Plastikkarte aus dem Handschuhfach und hielt sie vor eine LED-Anzeige, die man erst bei genauerem Hinsehen erkennen konnte. Das Gerät fing an zu piepsen.

Keine Sekunde später schwang das Tor nahezu lautlos auf. Als wir hindurch- und auf die andere Seite fuhren, entdeckte ich den Zaun, der sich links und rechts ins schier Unendliche erstreckte, sowie viele kleine Kameras, die in regelmäßigen Abständen daran befestigt waren. Vor uns tat sich ein gekiester Weg auf, dem James langsam folgte.

»Das ganze Gelände ist in einem recht großen Radius um die Schule herum eingezäunt. Niemand kommt ihr unerlaubterweise zu nah.«

»Das klingt eher nach Hochsicherheitsbereich und nicht nach einer Schule«, murmelte ich, als ich dem Weg mit den Augen folgte und versuchte, das Gebäude zu entdecken. Doch es dauerte noch fast fünf Minuten, ehe ich die Schule zu Gesicht bekam. Und dann fragte ich mich, wie ich sie nicht hatte sehen können. Sie war so prächtig wie das Anwesen von Downton Abbey. Ein verschachteltes altes Gemäuer aus dunklen Backsteinen, umgeben von einer gepflegten Auffahrt und akkurat angelegten Blumenbeeten. Es war überaus imposant, und ich wollte mir erst gar nicht vorstellen, wie viel Geld die Eltern der Schüler jedes Jahr hinblättern mussten, damit ihre Sprösslinge an diesem Ort unterrichtet wurden. Hier also hatte Mr. Lambers jahrelang gelebt und gearbeitet. Jetzt kam mir die Wohnung über dem Heim im Vergleich richtig schäbig vor.

Ich staunte noch immer ehrfürchtig, als James vor dem Haupteingang anhielt und mir die Tür öffnete. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Das ist es?«

»Das ist es. Folgen Sie mir bitte.«

Verunsichert stieg ich aus und ließ meinen Blick über die Fassade schweifen.

»Wow.«

»In der Tat. Kommen Sie?«

Ich folgte James die Treppe zu einem eindrucksvollen Torbogen hinauf und beobachtete gespannt, wie er seine Karte erneut vor einen kleinen schwarzen Kasten hielt. Dieser piepte kurz, dann entriegelte die Tür. Das Anwesen mochte alt wirken, aber anscheinend war es komplett mit moderner Technik ausgestattet.

»Bitte nach Ihnen.« Ich nahm all meinen Mut zusammen und schritt über die Schwelle in das Innere von Bwystfilwood Hall. Es war nahezu atemberaubend: hohe Steindecken, ein blank polierter Marmorboden und teilweise bunt verglaste Fenster. Die im Foyer verteilten Sitzmöbel waren überraschend modern. Auf den ersten Blick irritierte mich der Kontrast, aber es ergänzte sich gut.

»Ich sehe gar keine jungen Leute«, merkte ich an. Für eine Schule, wenn auch eine elitäre, schien es mir doch zu ruhig.

»Sie besuchen den Nachmittagsunterricht.«

Brr. Es schüttelte mich. Zum Glück hatte ich diesen Lebensabschnitt seit einem Jahr hinter mir.

Ich folgte dem schweigsamen James durch einen Gang im Erdgeschoss. An den Wänden hingen gerahmte Einzelporträts der Lehrer sowie Gruppenfotos von einzelnen Klassen. Mr. Lambers entdeckte ich nicht, doch so schnell, wie James lief, wäre das auch ein Wunder gewesen. Vielleicht hatte ich auf dem Rückweg etwas mehr Zeit, mich umzusehen.

Wir hielten vor einer mit geometrischen Schnitzereien verzierten, offen stehenden Tür und James bat mich mit einer Handbewegung, einzutreten.

»Mister Waystone, Miss Mint ist angekommen.« Der Mann, der an einem übergroßen polierten Ebenholzschreibtisch saß, sah auf. Er legte einen Kugelschreiber beiseite und erhob sich. Mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln auf den Lippen trat er um den Tisch herum.

»Miss Mint, wie schön, dass Sie gekommen sind. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Aelfric Waystone, der Leiter von Bwystfilwood Hall. Kommen Sie, setzen Sie sich.« Ich war von der Freundlichkeit und der Euphorie in seiner Stimme überrascht. Ich hatte ihn mir definitiv anders vorgestellt, auch wenn der Cordanzug, seine grauen Haare und die Nickelbrille die üblichen Klischees erfüllten. Das Arbeitszimmer wirkte ebenfalls wie aus einem Groschenroman, in dem alles wie aus einer anderen Zeit anmutete. Deckenhohe Bücherregale säumten die Wände, ein alter Globus stand auf einem Sideboard und es herrschte ein wenig Chaos.

»Danke für die Einladung, Mister Waystone.« Ich schüttelte die dargebotene Hand und ließ mich unsicher in einen Sessel gleiten. Während Mr. Waystone ein paar Worte mit James wechselte, sah ich mich weiter in dem Raum um. Auch hier mischten sich Alt und Modern, dicke Lederbücher lagen neben einem hochmodernen Computer, was dem gemütlichen Charme des Zimmers keinen Abbruch tat.

»Kaffee oder Tee, Miss Mint?«

»Kaffee mit Milch und Zucker bitte.«

James verschwand und Mr. Waystone setzte sich mir gegenüber auf ein Sofa.

»Sie haben ein wunderschönes Büro«, sagte ich.

Der Schulleiter lächelte. »Danke. Seit fast dreißig Jahren sitze ich nun schon hinter diesem Schreibtisch und werde es nie müde, mich an dem Anblick der Bücher zu erfreuen. Vieles hat sich mit der Zeit verändert, aber das nicht.«

»Es ist schön, wenn man sich an seinem Arbeitsplatz wohlfühlt. Mir geht es genauso.« Mr. Waystones Miene verdüsterte sich.

»Miss Mint, es tut mir schrecklich leid, dass Scott – ich meine Mister Lambers – gestorben ist. Wir haben hier lange Zeit gemeinsam gearbeitet. Wir waren keine guten Freunde, dennoch habe ich seine Kündigung bedauert. Ich bewundere, was er mit Monsters & Glue aufgebaut hat, und kann mir vorstellen, dass er ein hervorragender Vorgesetzter gewesen ist.«

»Für mich war er auch ein Freund«, erwiderte ich und musste die aufkommenden Tränen hinunterschlucken. »Wir kannten uns nicht lange, doch er war der herzlichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich habe viel von ihm gelernt und hoffe, das Heim mit derselben Hingabe weiterführen zu können.«

»Hat er es auf Sie überschreiben lassen?« Mein Herz raste. Nun würde sich zeigen, ob mein ungutes Gefühl recht behalten sollte. Ich nickte und atmete tief ein, bevor ich antwortete. »Das Heim sowie die Wohnung darüber. Beides hat er vor zwei Jahren gekauft, und als absehbar war, dass er … Es war seine Entscheidung.«

»Dann sollten Sie nicht daran zweifeln, seinem Vorbild gerecht zu werden, Miss Mint. Wenn er solch ein Vertrauen in Sie gesetzt hat, bedeutet das viel.«

»Ja? Ich war mir nie ganz sicher, weil es doch keine Alternative gab, verstehen Sie? Außer zu mir hatte er zu fast niemandem Kontakt.«

»Glauben Sie mir, hätte er auch nur die kleinsten Bedenken gehabt, hätte er Sie gar nicht erst angestellt. Allein das sagt schon alles. Lassen Sie sich das von jemandem sagen, der jahrelang versucht hat, eine engere Verbindung zu ihm aufzubauen. Er war da sehr eigen.«

Ich dachte daran, wie Mr. Lambers die Leute, die in das Heim kamen, genau unter die Lupe genommen und relativ schnell eine Entscheidung getroffen hatte. Manchmal konnte ich sie nicht nachvollziehen, dann sagte er nur, er habe auf sein Bauchgefühl gehört. Er musste wohl schon immer so gewesen sein.

Es klopfte an der Tür und James betrat den Raum, ein kleines Tablett in der Hand balancierend. Er stellte es zwischen uns auf dem Couchtisch ab.

»Danke, James«, sagte Mr. Waystone und schenkte mir einen Kaffee ein. Ich rührte Milch und Zucker hinzu.

»Sie heißen also wirklich so«, stellte ich fest und grinste. Komischerweise beruhigten mich seine Anwesenheit und die Barriere, die er zwischen Mr. Waystone und mir bildete.

»Selbstverständlich, Miss Mint.«

»Sie können gern Leah zu mir sagen.«

Mit einem Lächeln zog sich James zurück.

»Das gilt übrigens auch für Sie, Mister Waystone. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, so genannt zu werden.« Und ich wollte nicht unhöflich sein, aber das behielt ich für mich. Ich nahm die Tasse in die Hand.

»Einen Toast auf Mister Lambers«, sagte Mr. Waystone.

»Auf Mister Lambers«, antwortete ich. Eine Weile war es still, als wir am Kaffee nippten und jeder seinen Gedanken nachhing.

»Leah, so ungern ich es auch zugebe, doch ich habe Sie nicht nur hergebeten, um mit Ihnen einen Kaffee zu trinken und auf einen meiner ehemaligen Mitarbeiter anzustoßen. Ich würde Sie gern etwas fragen.« Er trommelte unruhig mit den Fingern auf der Sofalehne.

Ich setzte mich aufrecht hin und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Ich vertraute meinen zitternden Fingern nicht mehr.

»Ich werde gern versuchen, Ihre Fragen zu beantworten.«

»Danke.« Mr. Waystone warf einen Blick zu seinem Schreibtisch, öffnete den Mund, sagte aber nichts. Er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden und sich einem neuen widmen.

»Hat Mister Lambers Ihnen irgendetwas hinterlassen, was in Zusammenhang mit dieser Schule steht? Unterlagen, Bilder oder anderes?« Er beobachtete mich genau, als ich antwortete.

»Nicht dass ich wüsste. Wir sind alle geschäftlichen und persönlichen Sachen vor seinem Tod durchgegangen. Ich kann mich an nichts erinnern, was in Zusammenhang mit Bwystfilwood Hall stand. Hätte denn etwas dabei sein müssen?«

Mr. Waystone machte ein komisches Gesicht. Er presste die Lippen aufeinander und hob die Augenbrauen. Ich konnte nicht sagen, ob er verärgert oder erleichtert war.

»Bitte, Leah, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will ihm nichts unterstellen, aber ich möchte sichergehen, dass nichts nach außen dringt …«

»Und in falsche Hände gerät?«, ergänzte ich seinen Satz.

»Das klingt nicht sehr einfühlsam, nicht wahr? Es geht mir dabei nur um den Schutz meiner Schüler und Arbeitnehmer. Vorsicht ist hierbei immer besser als Nachsicht.« Er schluckte schwer, offensichtlich war ihm dieses Thema unangenehm.

»Ich verstehe das, Mister Waystone. So geht es mir mit dem Heim auch. Ich würde alles für meine Monster tun. Und deshalb verspreche ich Ihnen: Wenn ich etwas finden sollte, das Sie und Ihre Schule betrifft, werde ich Sie selbstverständlich informieren und es Ihnen aushändigen. Mich geht das nichts an, und ich nehme das auch nicht persönlich.«

Der Schulleiter legte den Kopf schief und musterte mich mit seinen dunklen Augen.

»Sie sind eine wirklich vernünftige junge Frau.«

»Ich trage eine Menge Verantwortung, es bleibt mir nichts anderes übrig.«

Er schmunzelte. »Einige meiner Schüler könnten sich eine Scheibe von Ihnen abschneiden. Sie denken nicht zufällig darüber nach, später einmal Lehrerin zu werden?«

»Nein. Ich habe mit meiner Bande im Heim schon genug um die Ohren. Wobei ich diesen Beruf durchaus spannend finde. Wie war Mister Lambers denn so als Lehrer?«

Mr. Waystone ließ den Kaffee in seiner Tasse kreisen.

»Mister Lambers war sehr beliebt. Er hatte sein Herz an die Naturwissenschaften und Medizin verloren und wusste, wie er diese Begeisterung an seine Schüler weitergeben konnte. Er hatte teilweise verrückte Ideen. Einmal hat er aus Versehen ein Stück aus der Steinwand des Chemiesaals gesprengt.«

»Wie das?«

Mr. Waystone erzählte mir diese und noch andere Anekdoten aus Mr. Lambers’ Zeit in Bwystfilwood Hall. So lernte ich ihn auf eine ganz neue Art kennen und entdeckte, dass er viele seiner alten Angewohnheiten auf die Monster übertragen hatte. Und auf mich. Ich hatte ihn nie mit seinem Vornamen angesprochen, da er sich mit Mr. Lambers, wie ihn seine Schüler genannt hatten, besser identifizieren konnte. Daher konnte ich Mr. Waystones Erzählungen auch mit dem einen oder anderen amüsanten Detail ergänzen, was ihn sichtlich freute. Und James behielt recht. Das Reden tat gut. Die Zeit verflog, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es schon fast sechs.

»Wie ich sehe, bekommen Sie langsam Heimweh.« Mr. Waystone deutete auf meine Armbanduhr, die mich einen Moment abgelenkt hatte.

»Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Keineswegs, Leah. Ich wollte Sie auch gar nicht so lange aufhalten. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sollten Sie einmal Hilfe oder nur ein offenes Ohr brauchen, können Sie sich jederzeit bei mir melden.«

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«

Seit mir klar war, dass Mr. Waystone keinerlei Interesse an dem Heim hatte und es mir auch nicht wegnehmen wollte, fühlte ich mich in seiner Gegenwart wohler. Er war einfach ein netter und besorgter Mensch.

Der Schuldirektor erhob sich, und ich tat es ihm nach. Er ging zum Schreibtisch hinüber und hob gerade den Telefonhörer ab, als es an der Tür klopfte. »Herein.«

Die Tür schwang auf, und ein junger Mann, der vielleicht ein oder zwei Jahre älter war als ich, trat in das Büro. Er trug einen dunkelroten Kapuzenpullover, auf dem das Logo der Schule prangte. Sein Blick fiel kurz auf mich und richtete sich dann auf Mr. Waystone.

»Sir, James schickt mich. Ich soll die ›junge Dame‹ zum Auto bringen.«

Der Schulleiter war überrascht und legte den Hörer abwesend zurück auf die Station. »Ich wusste ja, dass James ein Wundertalent ist, aber dass Gedankenlesen auch zu seinem Repertoire gehört, ist mir neu.«

»Diese Schule ist eben immer wieder für eine Überraschung gut«, murmelte der Junge. Mr. Waystone schüttele den Kopf, wobei sich ein leichtes Schmunzeln auf sein Gesicht schlich. Er reichte mir zum Abschied die Hand und ich ergriff sie.

»Nochmals vielen Dank für Ihr Kommen. Passen Sie auf sich auf, Leah. Und auf die Monster.« Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Blake wird Sie zum Auto begleiten. Auf Wiedersehen.«

»Sie sind jederzeit bei Monsters & Glue willkommen, Mister Waystone.«

»Danke.«

Ich winkte ihm kurz zum Abschied, dann ging ich an Blake vorbei zur Tür hinaus. Er folgte mir, und gemeinsam liefern wir den Gang entlang in Richtung Eingangshalle. Als wir dort ankamen, hielt Blake an.

»Leah … richtig?« Wie er meinen Namen aussprach … Vorsichtig, testend. Ich blieb neben ihm stehen und sah ihn zum ersten Mal richtig an. Seine Augen hatten die Farbe von Zimt. Ich nickte nur, weil ich befürchtete, sonst etwas furchtbar Peinliches zu sagen. Meine Erfahrungen im Umgang mit Jungs beliefen sich auf dieselbe Anzahl wie die Kekse, die am Ende des Tages in Mrs. Rainwaters Glas noch übrig sein würden. Null.

»Stimmt es?« Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Ist Mister Lambers wirklich vor zwei Wochen gestorben?«

»Leider ja. Tut mir leid. Hast du ihn gekannt?«

Blake biss sich auf die Unterlippe. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Enttäuschung, Trauer und … Wut?

»Er hat mich ein Jahr lang unterrichtet. Ich habe ihn sehr gemocht.«

»Ich auch.«

»Woran ist er gestorben?«

»Krebs.«

»Scheiße.« Damit traf er die Sache auf den Punkt.