Mord am Bellevue - Duri Rugger - E-Book

Mord am Bellevue E-Book

Duri Rugger

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  • Herausgeber: Orte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Wer macht hier wem etwas vor? Der eigenbrötlerische Kommissar Paul Kuhn sucht in einem Striplokal in Zürich Zerstreuung. Als dort am Neujahrsabend eine Tänzerin von Gästen belästigt wird, eilt ihr Kuhn zu Hilfe. Als er sich später nach ihrem Wohlergehen erkundigen will, ist sie spurlos verschwunden und die Ereignisse überstürzen sich: Am Römerhof wird ein Polizist erschossen, ein zweiter verwundet, in einem Luxushotel wird eine Leiche gefunden und in einem zweiten ein Gast brutal ermordet. Die Fälle werden Kuhn und seiner Assistentin Laura Crameri übergeben. Da einige der Verdächtigen mit mehrfachen Identitäten unterwegs sind, sind die Ermittlungen komplex. Als langsam klar wird, wer in welchem Verhältnis zu wem steht, zeichnet sich die Lösung der Fälle ab, wobei eines der Opfer nicht ganz so harmlos ist, wie es scheint.

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Seitenzahl: 261

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Die Ereignisse und Personen dieses Romans sind fiktiv. Die genannten Hotels und ihr gepflegtes Ambiente, welches den Hintergrund zu einigen Szenen der Geschichte liefert, existieren wirklich, waren meines Wissens aber nie Schauplatz von Zwischenfällen der Art, wie sie hier beschrieben werden. Die Yacht «SeaDream» war zur angegebenen Zeit nicht von Athen nach Venedig unterwegs, sondern auf Kreuzfahrt in der Ägäis.

Herzlichen Dank an Lisi für ihre kritischen Kommentare und dem ungenannt sein wollenden Beamten der Kantonspolizei Zürich für seine hilfreichen Hinweise.

Der Autor

1. Auflage: 2018

© by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

E-Book-Herstellung und Auslieferung:HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de

ISBN: 978-3-85830-244-1

ISBN e-Book: 978-3-85830-245-8

www.orteverlag.ch

1

Kriminalkommissar Paul Kuhn – in der offiziellen Zürcher Amtssprache Adjutant mit besonderen Aufgaben der Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität, Dienst Leib/Leben – stand wie ein Fels in der Brandung im Gewimmel der Leute, die durch die Bahnhofhalle hetzten. Silvester 2016 fiel auf einen Samstag, und der Betrieb war entsprechend hektisch. Verkäuferinnen, Arbeiter und andere Unglücksraben, die an diesem Tag arbeiten mussten, kämpften sich durch das Gewühl, um ihren Zug nach Hause zu erreichen. In umgekehrter Richtung strömten festfreudige Gruppen und Einzelgänger in die grosse Stadt, wo sie den Jahresausklang gebührend feiern wollten. Dazwischen versuchten mit Koffern, Taschen und Skis beladene Touristen den Anschluss zu erreichen, der sie in ihre Ferienorte in den Bergen bringen sollte, wo sie mit der vorausgereisten Familie auf das neue Jahr anstossen wollten.

Der fahrbare Grillstand «Federal», vor dem Kuhn stand, befand sich mitten in der Bahnhofshalle, wo das Gedränge am dichtesten war. Manchmal bereitete es dem Kommissar Vergnügen, inmitten vieler Menschen zu sein, vor allem wenn diese weder Anlass noch Zeit hatten, mit ihm zu plaudern. Er kam auf dem Heimweg von der Arbeit oft hier vorbei, um zu Hause nicht für sich allein kochen zu müssen. Der Mann am Grill wusste inzwischen, dass er seine Wurst bedeutend dunkler gebraten wünschte, als die neuesten Richtlinien für gesundes Essen dies empfahlen. Kuhn beobachtete kauend das bunte Treiben um ihn herum. Plötzlich fühlte er, wie eine Hundeschnauze sanft sein Knie anstiess. Es war ein junger, schwarzer Setter, der sehnsüchtige Blicke auf die Wurst warf und derart wedelte, dass das ganze Hinterteil hin- und herwackelte. Anscheinend war das Tier allein unterwegs. Kuhn beugte sich zu ihm hinunter und hielt ihm den verbliebenen Wurstzipfel unter die Nase. Als dieser verschlungen war, kraulte er das Tier am Kopf, bis die Idylle von einem schrillen «Blacky, was tust du hier?» unterbrochen wurde. Eine feine Hand mit roten Krallen fasste den Hund am Halsband und riss ihn weg. Kuhn wusste nicht, ob der strafende Blick der Besitzerin dem ausgerissenen Liebling oder ihm galt, der es gewagt hatte, das Tier anzufassen – was hätte er wohl zu hören bekommen, wenn sie gesehen hätte, dass er es sogar gefüttert hatte? Doch die Frau war ihm gleichgültig. Ihn freute, dass Blacky so zutraulich zu ihm gekommen war. Mit Hunden kam er gut zurecht – wenn er sich nur mit Menschen auch so leicht austauschen könnte.

Früher war er fröhlich und umgänglich gewesen, doch nach dem tragischen Verschwinden seiner Frau hatte er sich zurückgezogen und allmählich den Kontakt mit Freunden und Kollegen verloren. Jetzt konnte er kaum noch ungezwungen mit jemandem reden. Er bedauerte dies, wusste aber nicht, wie er die Sache wieder zurechtbiegen könnte. Doch heute wollte er auf keinen Fall allein bleiben und Trübsal blasen. Er überlegte, ob er eine Bar oder ein Striplokal an der Langstrasse besuchen sollte, wie er dies manchmal tat, wenn er sich einsam fühlte. In der lockeren Atmosphäre solcher Nachtlokale brachte selbst er es zustande, mit jemandem zu plaudern. Das Problem war, dass am heutigen Abend im «Chreis Chaib», wie die Zürcher das Quartier abschätzig nannten, die Atmosphäre wohl ziemlich angeheizt sein würde. Als Polizeibeamter in Zivil konnte er es sich nicht leisten, in eine Schlägerei verwickelt zu werden. Es gehörte ja nicht zu seinen offiziellen Aufgaben, für Recht und Ordnung im Milieu zu sorgen. Vielleicht war es besser, den Abend anderswo zu verbringen. Da fiel ihm ein, dass er letzthin bei einem Abendspaziergang im Niederdorf einen neueröffneten Nachtklub mit dem kecken Namen «Hot Chicks» entdeckt hatte. Zur Abwechslung könnte er ja dort hineinschauen. Das Lokal bot zudem den Vorteil, dass der Heimweg vom Niederdorf zu seiner Wohnung an der Trittligasse kurz war.

Der Türsteher des «Hot Chicks» war einen Kopf kürzer als der Kommissar, aber seine Schultern und Nacken waren wie die eines Stiers. Der Kerl hätte bestimmt keine Mühe gehabt, einem trotz seines Alters noch beweglichen und gut trainierten Mann wie Kuhn den Eintritt zu verwehren, doch er musterte den neuen Gast nur flüchtig und forderte ihn mit einer einladenden Handbewegung auf einzutreten.

Unter der Tür blieb der Kommissar stehen und sah sich um. Er hatte keine Lust, in einer schäbigen Bruchbude Neujahr zu feiern, doch der erste Eindruck war einladend. Das Lokal war modern und geschmackvoll eingerichtet – keiner dieser altmodischen Plüschsalons. Projizierte, bunte Farbtupfer, Linien und Spiralen glitten langsam über die grauen Wände, ohne zu nerven. Der Laden war gut besucht, was am Altjahrabend auch nicht weiter erstaunlich war. Nur an der Bar waren noch zwei Plätze frei. Kuhn beeilte sich, einen davon in Beschlag zu nehmen. Er sass am liebsten an der Bar. Wenn man an einem kleinen Tisch in unangenehmer Gesellschaft landete, war es schwierig, diese wieder los zu werden. Einen Barhocker konnte man leicht in eine angenehmere Nachbarschaft verschieben, ohne aufzufallen. Zudem kamen auch die Tänzerinnen an die Bar und, in seltenen Fällen, unternehmungslustige Besucherinnen, mit denen man ins Gespräch kommen konnte.

Kaum hatte Kuhn seinen Drink bestellt, als die erste Darbietung angesagt wurde. Aisha war Senegalesin und sah Grace Jones zum Verwechseln ähnlich, zumindest wie die sehnige Gegenspielerin von James Bond damals im Film ausgesehen hatte, dessen Titel ihm inzwischen entfallen war. Aisha tanzte zu einem afrikanischen Lied, dessen Geschichte von sprechenden Trommeln und einem Balafon erzählt wurde. Das hätte die Hausband niemals hingekriegt und deshalb lief die Musik ab Band. Kuhn verstand die Sprache der Trommeln leider nicht und konzentrierte sich auf den Tanz. Die Frau hatte den Rhythmus im Blut! Eine derart temperamentvolle Tänzerin hatte er noch nie gesehen.

Aishas Auftritt wurde durch die Ankunft einer Gruppe bereits leicht angetrunkener junger Männer gestört, die reichlich Zeit brauchten, um an den für sie reservierten Clubtischen Platz zu nehmen. Sie unterhielten sich lautstark und schenkten der Darbietung wenig Beachtung. Erst als die Tänzerin, begleitet von einem Trommelwirbel, begann mit dem ganzen Körper zu vibrieren, verstummten sie, und als Aisha danach erstarrte und wie eine schwarze Skulptur regungslos stehen bleib, schenkten sie ihr frenetischen Applaus.

Kuhn sah sich die jungen Leute genauer an. Es waren anscheinend Yuppies, die versuchten, den Stress des vergangenen Jahres loszuwerden. Die übrigen Gäste im Club waren zumeist noch älter als er – und Ende des kommenden Jahres wurde er pensioniert! Doch daran wollte er im Moment nicht denken, sonst würde er zu viel trinken. Er nippte vorsichtig an seinem Caipirinha. Das war ein weiterer Vorteil, wenn man an der Bar sass. Man konnte den Barmann direkt bitten, eine doppelte Menge Cachaça in den Drink zu mixen, und musste nicht erst der Serviererin erklären, dass dies der Rohrzuckerschnaps sei, den der Barkeeper bitte reichlich hineingeben solle.

Nach einigen im Lärm untergegangenen Hits legte der Schlagzeuger ein ohrenbetäubendes Solo hin, schloss mit einem mächtigen Paukenschlag und brachte damit das Geschwätz und Gegröle zum Verstummen. So konnte der Bandleader die nächste Tänzerin ankündigen: «Die süsse Lulu! Geniessen Sie ihre reizende Darbietung doch bitte in Ruhe!» Die Aufforderung wäre nicht nötig gewesen. Sobald die Tänzerin die Bühne betrat, wurde es mäuschenstill. Das Mädchen war zierlich und fein, und das schüchterne Lächeln in seinem Kindergesicht liess es noch jünger erscheinen. Kuhn nahm sich vor, einen Kollegen von der Sitte zu bitten, das Alter der jungen Frau zu überprüfen – obwohl die Papiere minderjähriger Tänzerinnen oft gefälscht waren, zumindest das darin angegebene Geburtsdatum.

Lulu mimte ein Mädchen, das sich im Wasser spiegelt und zum Bade entblättert. Die friedliche Szene wurde jäh von einem der angetrunkenen Yuppies unterbrochen, der auf die Bühne stürzte, die halbnackte Tänzerin an sich riss und versuchte, sie zu küssen. Eine schallende Ohrfeige hielt ihn von seinem Vorhaben ab. Die erlittene Abfuhr und das höhnische Gelächter seiner Kollegen brachten ihn in Rage. Er hielt Lulu im Nacken fest und drückte ihr sein halbvolles Sektglas an die Wange: «Soll ich deine Karriere sofort beenden?»

Kuhn sah sich nach dem Rausschmeisser um, doch dieser zog es anscheinend vor, den Abend draussen an der frischen Luft zu verbringen. So blieb dem Kommissar nichts anderes übrig, als vom Hocker zu gleiten, sich der Wand entlang zur Bühne zu schleichen und unbemerkt aufs Podest zu steigen. Er näherte sich dem triumphierend ins Publikum starrenden Mann von hinten und schlug ihm die Faust auf den Unterarm. Das Sektglas zersplitterte am Boden, und der Griff im Nacken der Tänzerin lockerte sich. Sie riss sich los und rettete sich hinter die Kulissen.

Kuhn fragte sich noch, ob es nötig sei, den Kerl festzunehmen, der reglos dastand und ihn verdutzt anstarrte, als der Rausschmeisser auf die Bühne stürzte, den Burschen zu Boden schmetterte und mit beiden Knien auf seinen Rücken sprang. Kuhn musste einschreiten: «Das reicht! Lassen Sie den Mann in Ruhe, bevor Sie ihm alle Rippen brechen!»

«Ich würde ihm gern noch ganz was anderes brechen … », murrte der aufgebrachte Kraftprotz, stand aber auf und liess den Burschen unbehelligt.

«Nun, es ist Silvester, die Herren haben etwas zu früh mit Feiern angefangen, und die reizende Lulu hat den jungen Mann wohl aus der Fassung gebracht», versuchte Kuhn die Situation zu beruhigen. Er streckte dem kleinlaut gewordenen Burschen die Hand hin und half ihm auf die Füsse. «Ich schlage vor, Sie und Ihre Kollegen legen ein nettes Schmerzensgeld zusammen, und ich werde der Tänzerin raten, auf eine Klage zu verzichten. Wenn nicht, haben Sie schlechte Karten, denn ein waschechter Kriminalbeamter wird als Zeuge gegen Sie aussagen.» Kuhn fischte seinen Ausweis aus der Tasche und hielt sie dem verdatterten jungen Mann unter die Nase. «Das ist keine Erpressung, sondern ein gutgemeinter Ratschlag.»

Der junge Mann nickte stumm, schlich von der Bühne und machte sich zwischen seinen Freunden unsichtbar. Die Musik benutzte die eingetretene Stille, um einen gemütvollen, beruhigenden Slow zu spielen.

Kuhn beobachtete von der Bar aus, wie sich die jungen Männer verhielten. Es war immerhin möglich, dass sie versuchen würden, die erlittene Schmach zu tilgen. Doch sie blieben ruhig, zückten ihre Brieftaschen und Geldbeutel und legten einige Noten in eine Glasschale, die vorher gesalzene Mandeln enthalten hatte. Als das Gefäss ansehnlich gefüllt war, stand einer von ihnen auf und kam zu Kuhn an die Bar. «Das ist alles, was wir zusammenkratzen konnten. Wir hoffen, Sie können das Mädchen überzeugen, von einer Klage abzusehen. Ralf ist sonst ein lieber Kerl. Er weiss selbst nicht, weshalb er vorhin derart ausgerastet ist, und lässt sich bei der jungen Frau entschuldigen. Er will in den nächsten Tagen wieder vorbeikommen, um zu sehen, ob er seinen Ausrutscher noch anderweitig gutmachen kann.»

Kuhn warf einen Blick auf die Opferschale, in der sich etliche Hunderternoten befanden, und nickte: «Ich glaube, das reicht. Es geht ja vor allem um die Geste, und die Entschuldigung ist mindestens ebenso viel wert!» Während er dies sagte, fragte er sich, wie er es sich herausnehmen konnte, im Namen der abwesenden Tänzerin eine derartige Aussage zu machen, hoffte aber, er könne sie davon überzeugen, dass es auch für sie besser war, wenn dieses glimpflich abgelaufene Intermezzo gütlich beigelegt würde.

Der Friedensbote kehrte an den Tisch zurück und übermittelte den Kollegen die Antwort des Kommissars. Dann nahm er seinen Freund beim Arm und verliess mit ihm das Lokal. Unter der Tür drehte er sich um und rief: «Allen ein gutes neues Jahr, trotzdem.»

Die Stimmung blieb eine Weile gedämpft. Auch die verbliebenen Yuppies waren still geworden. Kuhn hoffte, dass sie zum Jahresabschluss passende nachdenkliche Überlegungen anstellten. Er wollte sich eben einen zweiten Drink bestellen, als er zart am Oberarm angefasst wurde. Es war Lulu, die noch immer halbnackt war, sich aber wenigstens einen leichten Schal über die Schulter geworfen hatte.

«Danke für deine Hilfe!» Sie strahlte ihn an, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss mitten auf den Mund.

Es war nicht nur die herzliche Bedankung der Tänzerin, die Kuhn aus der Fassung brachte, sondern vor allem ihre ungewöhnlich hellgrauen Augen. Kuhn glaubte, in die Augen seiner verschollenen Frau Irene zu schauen. Auch ihre Iris war hellgrau und von einem dichten Netz weisser Fasern überzogen, und ihr Blick war ebenso vage und mysteriös gewesen wie der dieses bezaubernden Mädchens. Er brauchte einige Zeit, bis er sich fassen konnte. «Entschuldige, dein Kuss hat mir den Atem geraubt. Setz dich doch zu mir – oder willst du dir nicht vielleicht etwas Wärmeres anziehen?» Kuhn duzte das Mädchen, wie es in solchen Lokalen üblich war.

Lulu nickte, verschwand und kehrte kurz darauf in einem luftigen Kleidchen zurück, das sie noch jünger erscheinen liess. «Ist das besser?» Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte sie auf den freien Barhocker neben Kuhn. «Der Chef hat gesagt, er komme noch vorbei, um sich zu bedanken, aber ich könne bereits eine Flasche Champagner aufs Haus bestellen. Er ist entsetzt über das Benehmen dieses Lümmels und erleichtert, dass du die Sache gütlich geregelt hast. Auch ein übler Gast sei ein Gast … Was heisst übrigens gütlich geregelt?»

Kuhn erklärte ihr den Vorschlag, den er dem Burschen gemacht und den dieser angenommen hatte. Dann schob er die Schale mit den Banknoten Lulu zu. «Das soll dich für den erlittenen Schreck entschädigen. Der junge Mann lässt sich entschuldigen und bietet dir an, weitere Genugtuung zu leisten. Ich habe nicht nachgezählt, doch es scheint, die jungen Leute haben sich nicht lumpen lassen. Willst du seine Entschuldigung annehmen, oder ihn anzeigen? Sexuelle Belästigung, Bedrohung, da kommt einiges zusammen.»

Lulu kullerten Tränen über das Gesicht. «Wenn sich ein Kunde bei einer Stripperin entschuldigt, ist das schon mehr, als sie erwarten darf. Da habe ich ganz anderes erlebt.» Sie warf einen Blick ins Lokal. «Ist er gegangen?»

«Ja, er hat sich wohl geschämt. Ich glaube, er wird sich nicht so bald wieder derart blöd benehmen.»

«Ich hoffe es.» Sie hob ihr Glas. «Auf dich! Du hast mich gerettet. Ich hatte furchtbare Angst.» Sie blieb bei Kuhn sitzen. Offensichtlich hatte sie ihn ins Herz geschlossen und lächelte ihn dankbar an, und doch hatte er den Eindruck, sie sei unglücklich. Er hätte gern mit ihr geredet, um herauszufinden, was sie quälte, doch jedes Mal, wenn er versuchte, sie darauf anzusprechen, zog sie den Kopf zwischen die Schultern und wich aus. Vielleicht hätte sie geredet, wenn der Rausschmeisser, der Karl hiess, nicht dauernd neben ihr kleben geblieben wäre, doch der hatte des freien Champagners willen keine Lust mehr, die frische Luft zu geniessen – oder er wollte verhindern, dass Lulu unbeaufsichtigt mit einem Kriminalbeamten plauderte.

Während der Tanznummern oder wenn das Gespräch sonst verstummte, musterte Kuhn nachdenklich die kleine Lulu. Ihr Haar war kurz geschnitten, schwarz mit feinen, hellblauen Strähnen, das Gesicht oval mit gerader Nase und leicht gewölbter Stirn. Sie war wohl kaum zwanzig Jahre alt und schien zerbrechlich. Neben ihr stand der massige Bickel, einen Kopf kürzer als Lulu auf ihrem hohen Barhocker, aber dafür doppelt so breit – und wohl auch doppelt so alt. Sein eleganter Anzug musste massgeschneidert sein und passte doch nicht zu diesem Klotz von einem Mann. Sein Gesicht war nicht übel, kantig, mit vorstehenden Backenknochen und dunklen Brauen, doch die sorgfältig getrimmte Fliege auf seiner Oberlippe war einfach lächerlich. Kuhn gegenüber war Bickel korrekt, aber zurückhaltend. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, warf er dem Kommissar prüfende Blicke zu, als ob er sich überlegte, wie er den unerwünschten Gast möglichst rasch loswerden könne. Wenn er Lulu ansah, wurde sein Blick sanft. Kuhn zweifelte, dass zwei so unterschiedliche Personen ein Paar sein könnten, aber es schien, dass Bickel in Lulu verliebt war oder zumindest eifersüchtig über sie wachte.

Auch ohne diesen unangenehmen Zuhörer, wäre ein vertrauliches Gespräch kaum möglich gewesen. Giacomelli, der Besitzer des Lokals, gesellte sich manchmal zu ihnen und reichte Champagner nach, und die anderen Tänzerinnen waren froh, den teuren Tropfen geniessen zu können, ohne einen Gast dazu überreden zu müssen, ein Glas zu spendieren. Alle lobten Kuhn für sein beherztes Eingreifen, und besonders Aisha konnte Kuhn nicht genug dafür danken, dass er sich für eine Stripperin eingesetzt habe, was leider alles andere als selbstverständlich sei.

Die Runde wurde immer fröhlicher, und Kuhn fühlte sich wohl in dieser Atmosphäre, bekam aber vom Gespräch nicht viel mit. Die Augen Lulus nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er beobachtete besorgt, wie ihr liebes Lächeln schnell wieder erstarb und ein tieftrauriger Zug sich um ihren Mund legte. Die hektische Art, wie sie mit ihren zarten Fingern durch ihr Haar fuhr, verriet ihre Anspannung. Er machte sich Sorgen um sie. Sie war zu jung für ihren Beruf. Er nahm sich vor, bald wieder vorbeizukommen und mit ihr zu reden.

Es war kurz nach drei, als Kuhn etwas benommen die Bar verliess. Er sah immer noch Lulus Augen vor sich, die glückliche und traurige Erinnerungen in ihm geweckt hatten. Das Niederdorf war noch belebt, und es ging laut zu und her. Vor dem «Hirschen» schien sich eine Keilerei anzubahnen. Er ging daran vorüber. Das war eine Sache für die Kollegen von der Stadtpolizei. Vor einigen Bars standen die Leute so dicht beieinander in der engen Gasse, dass er den einen oder anderen vorsichtig zur Seite schieben musste, um sich einen Weg zu bahnen. Dabei erntete er einige böse Blicke, doch keiner wagte, ihn anzurempeln. So kam er unbehelligt in der Trittligasse an und stieg mit vorsichtigen Schritten die Stufen zur «Schwarzen Linde» hoch.

Nach dem reichlichen Champagner konnte Kuhn eine Ewigkeit nicht einschlafen, und auch während des kurzen Rests der Nacht fuhr er immer wieder hoch und blieb danach lange wach. Endlich fiel er in tiefen Schlaf und wachte erst spät auf. Sein Kopf brummte, doch das würde sich nach dem ersten Kaffee legen. In der Küche musste er feststellen, dass nicht einmal ein hartes Stück Brot vorhanden war. Er hatte schon wieder vergessen einzukaufen, weil er bis in den Abend hinein gearbeitet hatte und danach vom Büro direkt zum Grill am Bahnhof und danach ins «Hot Chicks» gegangen war. Wenigstens war noch genügend Kaffee da. Er braute sich einen doppelten Espresso und nahm ihn mit an seinen Schreibtisch. Bevor er aus dem Haus ging, wollte er die Post der vergangenen Tage durchsehen, die er ungelesen weggelegt hatte. Post war zwar übertrieben. Ausser einer Unmenge von Bettelbriefen war nur ein persönliches Schreiben eingetroffen. Ein Kollege, der nach seiner Pensionierung vor ein paar Jahren an die Costa Brava gezogen war, hatte ihm wirklich und wahrhaftig einen handgeschriebenen Brief auf Papier geschickt! Der Inhalt war weniger erfreulich: Nach den besten Wünschen zum Neuen Jahr folgte ein Lamento über die angeschlagene Gesundheit, die steigenden Preise für spanische Weine, den undankbaren Bauern, der seinen Olivenhain nicht mehr besorgen wolle, und die unverschämte Putzfrau, die nach drei Jahren bereits eine Lohnerhöhung fordere. Die E-Mails konnte er sich später ansehen, in den meisten stand sowieso bloss ein knapper Gruss, im schlimmsten Fall verziert mit einem Smiley.

Er machte sich zum Ausgehen bereit und holte in der Küche die drei gelben Rosen, die er am Freitag gekauft hatte. Als er aus dem Haus trat, nickten ihm zwei Nachbarn übertrieben freundlich zu. Er antwortete mit einem kurzen Neujahrswunsch und ging weiter. Er fragte sich, weshalb die beiden plötzlich so umgänglich waren. Sonst hatten sie ihn kaum gegrüsst. An diesem Tag ging er nicht wie gewöhnlich zu Fuss quer durch die Innenstadt und über den Paradeplatz zur Arbeit. Wie an jedem Neujahrstag seit Irenes Verschwinden nahm er den Weg zum Bellevue. In der Mitte der Quaibrücke stützte er sich auf das metallene Geländer und starrte in die Limmat. Dann warf er die Rosen ins Wasser und sah den gelben Punkten nach, wie sie von der sanften Strömung abgetrieben wurden und schliesslich erloschen. Dabei liess er sich zum tausendsten Mal durch den Kopf gehen, was vor dreissig Jahren passiert sein mochte. An jenem Neujahrstag wollte er mit seiner depressiven Frau einen Ausflug nach Arosa unternehmen, um sie ein wenig aufzuheitern. Irene schien sich auf den gemeinsamen Tag zu freuen. Doch als sie beim Frühstück sassen, wurde er eines dringenden Falls wegen zur Arbeit gerufen. Als Praktikant konnte er sich nicht leisten, Nein zu sagen. Als er abends spät nach Hause kam, war Irene verschwunden – für immer.

Sein damaliger Ausbildner hatte offenbar ein schlechtes Gewissen, ihn zum Dienst beordert zu haben, obwohl er wusste, dass seine Frau sich in einer depressiven Phase befand. Jedenfalls setzte er sofort den ganzen Polizeiapparat in Bewegung, um Irene zu suchen, und die Nachforschungen wurden über längere Zeit durchgeführt als gewöhnlich, erbrachten aber nicht den geringsten Hinweis auf ihr Verbleiben. Schliesslich musste Kuhn annehmen, sie sei verunfallt oder habe sich umgebracht. Er wusste zwar nicht, ob sie ins Wasser gegangen oder sich auf andere Weise ums Leben gebracht hatte. Es war sogar möglich, dass sie noch am Leben war und sich bloss abgesetzt hatte. Aber in ihren depressiven Phasen hatte sie oft gesagt, sie wolle ins Wasser gehen. In der Limmat hätte ihre Leiche früher oder später gefunden werden müssen, doch dies war nicht der Fall. Trotzdem nahm Kuhn an, Irene sei in den Fluss gesprungen. Er brauchte einen Ort, an dem er um sie trauern konnte. Er kam oft auf die Brücke, um an die Verschollene zu denken, und am Neujahrstag brachte er ihr jeweils Blumen mit.

Mit einem Seufzer raffte er sich auf und ging zum Ende der Brücke. Während er am Bürkliplatz auf das Tram wartete, schaute er über den See in die verschneiten Berge. Die höchsten Gipfel im Glarnerland strahlten weiss in der Morgensonne, während die Voralpen und die niedrigen Hügelzüge am Seeufer noch schneefrei waren. Der Winter liess auf sich warten, und es war zu warm für die Jahreszeit. Plötzlich verspürte Kuhn Lust, einen Ausflug zu unternehmen, allein schon um sich zu beweisen, dass er nach so langer Zeit den Verlust verarbeitet hatte. Seitdem er allein war, unternahm er in seiner Freizeit oft Wanderungen am See, der Limmat entlang oder in den Wäldern in Stadtnähe. Doch an diesem Tag fürchtete er sich davor, müssig zu gehen und düsteren Gedanken nachzuhängen. Das ankommende Neuner-Tram nahm ihm die Entscheidung ab. Er stieg erleichtert ein.

Im Wagen lächelte ihn eine ihm unbekannte junge Zeitungsleserin freundlich an, und der junge Mann neben ihr, der seine Nase in das Blatt seiner Nachbarin gesteckt hatte, nickte ihm zu und hob anerkennend den Daumen. Kuhn fragte sich, ob die freundliche Atmosphäre am ungewöhnlich milden Wetter lag, oder ob die Zürcher ein ausnehmend gutes neues Jahr erwarteten, was bei der aktuellen Weltlage doch eher überraschend gewesen wäre. Wahrscheinlich war er in der falschen Stadt aufgewacht.

Als er in das Gebäude der Kantonspolizei an der Zeughausstrasse eintrat, fand er die Erklärung für seinen Publikumserfolg. An der inneren, gläsernen Tür des Hauseingangs waren Ausschnitte aus zwei Zeitungen aufgeklebt. Das war zwar nicht der übliche Ort, um Informationen anzuschlagen, doch Kuhn nahm an, dass es Berichte über ein Gewaltverbrechen waren, mit dem ihre Truppe sich in den nächsten Tagen herumzuschlagen hätte. Er zog die Brille aus der Brusttasche, trat näher und las mit Erstaunen die Schlagzeile auf der Titelseite von «20 Minuten»: Zürcher Kriminalkommissar rettet Stripperin vor Randalierer. Darunter zeigte ein Foto, wie er seine Faust auf den Arm des Mannes schlug, der die Tänzerin festhielt. Auf den Text konnte er verzichten. Das Bild im «Sonntagsblick» war peinlicher. Es zeigte, wie die halbnackte Lulu an seinem Hals hing und ihn auf den Mund küsste. Den Kommentar zu dieser Szene wollte er erst recht nicht lesen. Nach kurzem Zögern verzichtete er darauf, den Anschlag wegzureissen. Diese Genugtuung durfte er seinen Kollegen nicht bieten. Hingegen überlegte er, wo er sich Belegexemplare der Artikel besorgen könnte. Da er frei hatte, konnte er in aller Ruhe die zwei Zeitungen am Bahnhof holen. Doch diesen Gang konnte er sich sparen. Als er seine Mappe im Büro ablegen wollte, fand er die Blätter auf seinem Schreibtisch mit einer kurzen Notiz der Sekretärin seiner Abteilung: Bravo, Paul! Alles Gute zum neuen Jahr, Helen.

Kuhn sah sich die Bilder in Ruhe an. Die zwei Aufnahmen waren von verschiedenen Standorten im Lokal aufgenommen. Entweder hatte ein Paparazzo sich jeweils den besten Blickwinkel für seine Aufnahme ausgesucht, oder gleich mehrere Handyfreaks hatten zugeschlagen. Kuhn störte, dass auf dem Foto mit Lulus Kuss sein Körper neben dem feingliedrigen Mädchen massiger aussah, als er es war, und andererseits sein respektabler Körperbau neben den beeindruckenden Muskeln des Rausschmeissers, der im Hintergrund ins Bild geraten war, nicht zur Geltung kam. Er schüttelte missbilligend den Kopf. «Kaum steht mein Bild in der Zeitung, werde ich eitel – doch das passiert auch vielen anderen.» Er legte die Blätter in die unterste Schublade seines Schreibtischs.

Während er mit einem Kaffee und einem Brötchen sein verpasstes Frühstück nachholte, wurde er von zwei Kollegen auf den Zwischenfall der vergangenen Nacht angesprochen. Zu seinem Erstaunen brachte er es zustande, auch etwas zum längeren Gespräch beizutragen, das sich daraus entwickelte. Das war ihm schon lang nicht mehr passiert. Er genoss es, in seiner täglichen Umgebung einmal die Fühler aus seiner Schneckenschale hinauszustrecken.

Auch in den folgenden Tagen erntete Kuhn mehr Beachtung als üblich. Viele Kollegen musterten ihn freundlich, andere mit einem hämischen Grinsen. Einige wagten es sogar, ihn auf das Intermezzo im Striplokal anzusprechen, und wieder gelang es ihm, ein wenig zu plaudern.

Am Dienstag zitierte ihn die Chefin in ihr Büro und hielt ihm schweigend das Bild mit Lulus Kuss unter die Nase. Frau Hofmann hatte die Zeitungsseiten konfisziert, die am Eingang hingen, wie Kuhn aus den Klebstreifenresten in den Blattecken schliessen konnte. Er machte sich darauf gefasst, einen Rüffel einzufangen, verzichtete aber auf eine vorschnelle Verteidigung und schwieg.

Endlich brach seine Vorgesetzte das Schweigen: «Das haben Sie sehr gut gemacht!» Sie nickte ihm anerkennend zu, fügte dann aber einschränkend bei: «Ich meine Ihr Eingreifen, nicht die Schmuserei! Zugegeben, Sie haben die Fotografen wohl nicht hinbestellt und können somit nichts für die Publizität, doch ich muss Sie bitten, sich bei ihrem nächsten privaten Ausgang ins Milieu etwas diskreter zu verhalten. Die Stadtpolizei wurde hinreichend mit Zeitungsartikeln eingedeckt über Polizisten, die in solchen Lokalen mehr als nur Kontrollen durchgeführt haben sollen. Für unser Korps verzichte ich gern darauf.»

Kuhn war versucht, Frau Hofmann zu versprechen, dass er nie mehr Frauen zweifelhaften Rufes zu Hilfe eilen werde, egal in welcher Notlage sie sich befinden mochten, doch wahrscheinlich hatte die Chefin es nicht so gemeint.

Da Kuhn keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fragte Frau Hofmann endlich: «Will die Tänzerin Anzeige erstatten, und haben Sie die Personalien des Mannes aufgenommen?»

«Die Personalien habe ich, aber Lulu – äh, die Tänzerin – verzichtet auf eine Anzeige. Der Testosteronhammel hat sich entschuldigt und zusammen mit seinen Freunden eine beachtliche Genugtuung geleistet.»

«Umso besser! Dann betrachte ich diese Angelegenheit als erledigt.» Als Kuhn aufstand, um zu gehen, hielt sie ihn mit einer Handbewegung zurück. «Ich habe noch etwas mit Ihnen zu besprechen. Morgen kommt eine neue Praktikantin zu uns, Laura Crameri, Bürgerin von Poschiavo, aufgewachsen in Chur, Studium der Kriminalistik in Lausanne – aber das können Sie alles im Lebenslauf nachlesen.» Frau Hofmann drückte ihm das Dossier in die Hand. «Frau Crameri will den direkten Einstieg bei uns versuchen. Ich weiss, dass Sie lieber allein arbeiten, aber das Praktikum dauert ja nur sechs Monate, und das werden Sie wohl durchstehen. Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie diese vielversprechende junge Frau unter ihre Fittiche nehmen. Sie gehen ja leider bald in Pension und es wäre schade, wenn Sie Ihre reiche Erfahrung nicht weitergeben würden.»

Kuhn schluckte leer. Die Chefin hatte den Auftrag zwar in ein hübsches Kompliment eingewickelt, aber er hatte dennoch das Gefühl, er sei eine Strafe für seine nächtliche Eskapade. «Ich kann wohl nicht ablehnen. Ich hoffe nur, die junge Mitarbeiterin kommt mit mir zurecht. Ich will mir Mühe geben. Wann fängt Frau … Crameri an?»

«Morgen früh. Tut mir leid, dass ich Sie so spät informiere. Ich war über die Feiertage auswärts und habe die Mitteilung erst heute bei meiner Rückkehr vorgefunden. Frau Crameri wird sich bei Ihnen melden. Vielen Dank für Ihre Zusage.»

2

Pünktlich um acht Uhr klopfte Laura Crameri an die Tür und stellte sich als die Neue vor. Kuhn sah sich seine zukünftige Assistentin genau an. Sie war gross, schlank und sehnig – fast wie Aisha, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie sogar eine passable Nahkämpferin, nur ihre elegante Ausstattung, bestehend aus einer weissen Seidenbluse, grauen, engen Jeans und schwarzen Stiefelchen mit hohen, breiten Absätzen war nicht für einen handfesten Einsatz geeignet. Aber heute ging es ja nicht um eine Auseinandersetzung, sondern um ein Vorstellungsgespräch. Ihr langes, schwarzes Haar, das längliche Gesicht und die dunklen Augen mit schweren Lidern erweckten den Eindruck, sie sei melancholisch und etwas reserviert, doch während Kuhn sie so unverblümt musterte, verzog sich ihr grosser Mund zu einem breiten, fröhlichen Lachen. Sie drehte sich um, hob eine Hüfte, stützte die Hand mit gespreizten Fingern darauf ab und fragte neckisch: «Muss ich mich ausziehen?»

Kuhn nahm an, dass sie auf seine Einlage im Striplokal anspielte, über welche seine lieben Kollegen sie bestimmt schon informiert hatten, und reagierte entsprechend: «Lieber erst nach der Arbeit.» Er reichte ihr die Hand: «Paul Kuhn. Freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau Crameri. Ich hoffe, wir kommen miteinander aus. Ich gelte als mürrisch und verschlossen – Sie sind bestimmt schon vorgewarnt worden.»

«Ich habe nur mit Frau Hofmann gesprochen, und sie hat gesagt, Sie seien der erfolgreichste Kommissar im Haus, nicht immer einfach, aber sehr korrekt. Zudem bin hier, um zu arbeiten und nicht um mich streicheln zu lassen. Wenn wir schon dabei sind, ich muss Sie auch warnen: ich bin keine Plaudertasche, aber wenn ich etwas sagen will, so sage ich es klar und deutlich – manchmal zu deutlich.»

«Das passt mir ausgezeichnet.» Kuhn zögerte. Er hatte sich nie Kaffee ins Büro bringen lassen und auch noch nie für jemanden welchen geholt. Für diese, ihm auf Anhieb sympathische junge Frau wollte er eine Ausnahme machen. «Zuerst möchte ich Ihnen erklären, welche Fälle ich im Moment bearbeite. Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, und wir könnten dabei Kaffee trinken. Wie nehmen Sie ihn?»

«Wenn möglich einen Espresso mit viel Zucker, aber ich möchte nicht, dass Sie ihn mir servieren. Gehen wir ihn zusammen holen – gibt es hier eine Cafeteria oder einen Automaten?»

Während sie den Kaffee tranken, versuchte Kuhn, etwas mehr über seine neue Mitarbeiterin zu erfahren. Ausser bei Verhören hatte er nicht oft mit Leuten über ihre persönliche Situation gesprochen und hatte Mühe, einen unverfänglichen Einstieg zu finden. «Sie haben einige Jahre in Lausanne studiert, Ihren Churer Dialekt aber beibehalten. Fahren Sie regelmässig nach Hause?»