Mord am Lord - B.a. Robin - E-Book

Mord am Lord E-Book

B.a. Robin

4,5

  • Herausgeber: Dryas Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Eindeutig Pech - wegen einer verlorenen Wette muss der erklärte Urlaubshasser Theo seine beste Freundin Josie nach England begleiten. Ziel ist das Museum von Josies Lieblings-Krimiautorin: Agatha-Christina Sotheby. Doch eine falsche Abzweigung im labyrinthischen Gebäude führt die beiden mitten in den einzigen unvollendeten Roman Sothebys: "Der Tote in der Bibliothek". Als die berühmten Detektive Miss Rutherford und Mr. Stringer sollen sie den Mord an Lord Westholm aufklären. Übrigens ist das auch die einzige Möglichkeit für die beiden, die Geschichte wieder zu verlassen. Doch der Fall ist verzwickt und schnell kommen weitere Leichen hinzu …

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Seitenzahl: 293

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Ähnliche


Mord am Lord - Ein Krimi der feinen englischen Art

von B. a. Robin

Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

Impressum

Leseprobe

Personenverzeichnis

Josie, Design-Journalistin, Liebhaberin des englischen Land­hausstils und glühender Fan der großen Krimiautorin Agatha-Christina Sotheby

Theo, Maschinenbauingenieur, Urlaubshasser und gegen seinen Instinkt seit ihrem ersten gemeinsamen Schultag mit Josie befreundet

Styles, englisches Landhaus und Mordschauplatz

Bewohner von Styles:

Lord Westholm, reicher, exzentrischer Lord und Mord­opfer in spe

Celia Westholm, seine lebenslustige und atemberaubend schöne Tochter

Magda Buckley, seine etwas weniger schöne Nichte

Angestellte auf Styles:

Charles Cartwright, Butler

Ethel Rogers, Köchin

Anne Meredith, Dienstmädchen

Mary Debenham, Lord Westholms Privatsekretärin

Weitere Verdächtige:

Simon Doyle, junger Nachbar, wuchs gemeinsam mit Celia und Magda auf

Major Charles Burnaby, langjähriger Freund von Lord Westholm

Charlotte Blacklock, verwitwete Schwester von Charles Burnaby

Richard Symmington, Rechtsanwalt von Lord Westholm

Inspektor Sugden, erfahrener Polizist bei Scotland Yard, leidet unter der Begriffsstutzigkeit seines Untergebenen

Sergeant Trotter, schneidiger, junger Polizist, leidet unter der Inkompetenz seines Vorgesetzten

1. Kapitel

„Der Tote in der Bibliothek“. Theo starrte auf den Schriftzug, der in großen Buchstaben über dem Eingang stand.

Dann endlich öffneten sich die Flügeltüren. Drei Dutzend Journalisten drängten hindurch, so weit nach vorn, wie es das Absperrseil erlaubte. Josefine hüpfte hoch, um einen Blick zu erhaschen, doch ein Kameramann der BBC versperrte ihr die Sicht.

„Josie, das Podium ist leer“, flüsterte Theo ihr auf Deutsch ins Ohr. Mit seinen fast zwei Metern Größe ­verfügte er über einen guten Überblick. „Wenn was ­passiert, sag ich Bescheid.“

Die Reporter reckten die Hälse, traten sich auf die Füße, entschuldigten sich halbherzig und tauschten dürftige Informationen aus.

Ein nachtblaues Tuch fiel und enthüllte ein weiteres ­Banner. „Agatha-Christina Sotheby – Queen of Crime“. Wieder sprang Josie hoch, um über die Schulter des ­Vordermannes zu blicken, aber vergeblich.

Theo seufzte. Josie würde nicht auf ihn hören. Das hatte sie noch nie getan. Nicht an ihrem allerersten gemein­samen Schultag, als er ihr versichert hatte, die farbige Kreide gehöre der Lehrerin und sei nicht zum Bemalen der Josies Meinung nach langweiligen weißen Wände gedacht. Und auch nicht heute, fünfundzwanzig Jahre später. Wie hatte er sie angefleht, sie möge ihm ihre Absicht ­hinter ­dieser Englandreise verraten. Aber sie war stur und stumm geblieben!

Regen prasselte laut gegen die Fenster. Eine Frau Mitte vierzig in Pumps und Tweedkostüm betrat den Raum durch eine Seitentür. Sie ignorierte die Blitzlichter und Zurufe der Reporter und stieg auf das Podium.

„Jetzt geht’s los.“ Josie zwirbelte eine Strähne ihrer ­braunen Locken zwischen ihren Fingern. „Ich kann einfach nicht glauben, dass wir wirklich hier sind. Unfassbar!“

„Ich fass es auch nicht.“ Theo hasste Urlaube. Dazu noch der Regen. Seit ihrer Landung nicht eine trockene Minute. Und dann noch der englische Kaffee!

Die Frau auf dem Podium räusperte sich. Dann bat sie in nasalem Englisch die Anwesenden Platz zu nehmen. ­Später bestehe noch ausreichend Zeit für Fotos.

Beeindruckt beobachtete Theo, wie die kleine, ­zierliche Josie sich durch den Einsatz ihrer Ellenbogen vor­drängelte und für sie zwei Klappstühle in der ersten Reihe ­ergatterte. Sie rückte ihr Namensschild zurecht, das sie als ­Journalistin von Wohn & Stil auswies, und schlug ihr knallbuntes Notizbuch von Pip Studio auf. In der Hand hielt sie einen Kuli, der wie eine Margerite geformt und lackiert war.

Bei diesem Anblick ballte Theo die Faust in der Einschubtasche seines Armee-Parkas. Wie hatte er gestern auf sie eingeredet, ihr Geld nicht für einen derart ­miserabel entwickelten Unsinn auszugeben. Selbst ein blinder Nicht-Fachmann musste doch die Fehlkonstruktion erkennen.

Der BBC-Kameramann postierte sich links vom Podium, während sein Kollege von ITV-News zur rechten Seite ging. Die Vertreter der Printmedien besetzten die Stuhl­reihen in der Mitte.

Die Frau begrüßte die Anwesenden herzlich zur Eröffnung des Sotheby-Museums. Josie setzte sich so gerade auf, als sei sie ganz persönlich angesprochen worden. Sie wollte den Namen der Kuratorin notieren, doch ihr Kuli streikte. Süffisant zog Theo eine Braue hoch. „Was kann man auch erwarten von einer Firma, die sich ‚Desaster Design‘ nennt“, flüsterte er ihr zu.

„Das waren die anderen. Die mit den Lederwaren“, sagte Josie.

Seufzend kramte er in der linken unteren Innentasche seines Parkas und fischte ein Schraubenzieher-Set, eine Rolle Kupferdraht, eine Minitube Silikon, ein Päckchen Kabelbinder und schließlich auch einen Bleistift hervor.

Die Kuratorin dankte all den Unterstützern und Sponsoren, die geholfen hatten, das Museum ins Leben zu rufen. Besonders glücklich sei man, dass Sothebys letzte Wohn- und Arbeitsstätte als Heimat für das Museum gestiftet worden sei. Das Projekt habe begonnen, als in Sothebys Nachlass fast zweihundert Notizbücher gefunden worden seien, in denen sie die Ideen für ihre ausgefeilten Krimi­plots entwickelt habe.

Einer der Journalisten hob die Hand, doch die Frau ignorierte ihn.

Die Auswertung und Katalogisierung der Notizbücher habe mehrere Jahre in Anspruch genommen und man sei stolz, ihnen zwei Exponate hier direkt vorstellen zu können. Die Kuratorin wies auf die Schaukästen mit den Unterlagen zu „Tod auf dem Amazonas“ und „Zehn kleine Eingeborene“.

„Der letztgenannte Roman ist aus Rücksichtnahme auf moderne politische Sensibilitäten unter diesem Titel natürlich nicht mehr im Buchhandel erhältlich.“ Sie lächelte dünnlippig.

Richtig. Theo hatte fast vergessen, was für eine reaktionäre Kuh Josies Krimiidol gewesen war. Und dafür schleifte sie ihn nach England. Wieso hatte sie nicht ihren Freund mitgenommen? Sollte der sich doch hier ein­regnen lassen! Josie führte definitiv etwas im Schilde. Warum hatte er auch nur mit ihr gewettet?

Eine zweite Hand in der Zuhörermenge hob sich, doch die Kuratorin sprach unbeirrt weiter. Sie erzählte von den Millionen Fans, die „unsere Agatha-Christina“ auf der ganzen Welt habe und die sehnsüchtig auf den heutigen Tag gewartet hätten.

Josies schokoladenbraune Augen leuchteten. Sie hing an den Lippen der Sprecherin und Theos Stift war ihr ­entglitten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er fragte sich, wie sie ohne Notizen den Artikel für Wohn & Stil ­schreiben wollte. Und das nach all der Mühe, mit der sie ihre ­Chefin bearbeitet hatte, um eine Akkreditierung für diese ­Veranstaltung zu bekommen. Irgendetwas war hier faul.

Wie immer, wenn er nervös war, rezitierte Theo Quadratzahlen still vor sich hin. 1, 4, 9, 16, 25, 36 ... Wenigstens ein paar Dinge blieben beständig und zuverlässig im Chaos des menschlichen Daseins.

Inzwischen hob sich bereits eine dritte Hand, doch die Kuratorin sprach unbeeindruckt weiter. Sie berichtete von einem schweren Autounfall, den Sotheby 1926 erlitten habe. Dadurch sei eine Amnesie ausgelöst worden und die Autorin, die sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnert habe, sei für elf lange Tage verschwunden geblieben.

„Böse Zungen behaupteten damals, sie hätte das alles nur fingiert, um ihren untreuen Ehemann zu bestrafen, der tatsächlich für eine Weile unter Mordverdacht geriet. Manche Zeitungen unterstellten ihr sogar, sie habe mit dieser Aktion nur Publicity gesucht.“

Die Kuratorin blickte die Journalisten an, als mache sie sie persönlich verantwortlich für das Verhalten ihrer ­Kollegen vor über achtzig Jahren.

„Sagen Sie uns doch, ob die Gerüchte stimmen“, verlangte eine ungeduldige Männerstimme.

Theo runzelte die Stirn. Welche Gerüchte? Er stieß Josie an, aber sie wich seinem Blick aus.

Unbeirrt von der Unterbrechung sprach die Frau davon, wie „unsere Agatha-Christina“ ihr restliches Leben unter diesen ungerechtfertigten Anschuldigungen gelitten habe. Darum freue man sich im Museum besonders, dass es nun gelungen sei, den eindeutigen Beweis für ihre Unschuld zu erbringen.

Theo grübelte. Josie hatte ihn reingelegt. Wie hatte er nur so dumm sein und wetten können, dass er ihr Türschloss in weniger als fünf Minuten knacken würde? Er baute ­Tresore, sammelte alte Schlösser, aber er war schließlich kein Einbrecher. Zumal sechs Minuten, dreißig ­Sekunden auch keine schlechte Zeit war. Aber statt dass sie sich nun von ihm ein Sicherheitsschloss einbauen ließ, hatte er ­seinen Wetteinsatz einlösen und mit ihr ins Geburtsland des Regenschirms fahren müssen.

Dabei wusste Josie, wie er es verabscheute, nicht in ­seinem eigenen Bett zu schlafen. Er brauchte kein Ausland, ein Sonntagsausflug in den Bayerischen Wald war ihm Exotik genug.

„Theo, wir fahren nach London!“, hatte sie grinsend gejohlt. Und seit ihrer Ankunft wartete er nun sorgenvoll, dass sie ihm den Rest ihres Planes enthüllte. 49, 64, 81, 100, 121 ...

„Sind die Gerüchte, die man sich über den Fund des Manuskripts erzählt, wahr?“, rief ein Mann mit schottischem Akzent.

Diesmal errötete die Kuratorin, fing sich aber gleich wieder. „Der Tote in der Bibliothek“ sei der Forschung nur von einigen vagen Hinweisen aus den Notizbüchern der frühen zwanziger Jahre bekannt. „Wir wissen, dass ­Agatha-Christina in den Wochen vor ihrem Unfall an ­diesem Projekt arbeitete. Das Manuskript selbst galt bisher als verschollen.“

Fünf Hände schossen gleichzeitig in die Luft. Besorgt beobachte Theo die Reporter. Offenbar ahnten die etwas, das ihm bisher entgangen war.

Die Frau trat einen Schritt vom Pult zurück. Besänftigend hob sie die Hand.

„Bitte. Gleich ist noch ausreichend Zeit für Ihre Fragen.“

Sie räusperte sich. Die Forschung habe zwei ­Theorien entwickelt. Entweder sei Sotheby durch die ganze ­Publi­city, die ihr Unfall nach sich gezogen hatte, so ­traumatisiert gewesen, dass sie das Projekt fallen ließ, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft waren. Die ­Kuratorin warf den Journalisten als Stellvertreter ihrer Zunft einen vorwurfsvollen Blick zu. Oder die zeitweise Amnesie habe dazu geführt, dass Sotheby die Lösung ihres eigenen Romans vergaß.

Josie krallte ihre Finger in Theos Oberarm. „Ein Rätsel, so kompliziert, dass sie selbst es nicht mehr lösen konnte.“

„Was für die Forschung ein großes Problem darstellt, ist zugleich für uns eine große Freude ...“ Auch ohne ­Mikrofon hätte man die Stimme der Frau bis in die ­hinterste Ecke des Raumes gehört. „Wir haben tatsächlich das letzte ­bisher unbekannte Werk von Agatha-Christina Sotheby entdeckt.“

Ein Dutzend Hände wurden in die in die Luft gerissen.

„Was ist mit Miss Rutherford? Ist sie Teil der Handlung?“, rief jemand aus der zweiten Reihe.

Die Kuratorin lächelte. „Ja, es ist in der Tat ein Miss-Rutherford-Krimi.“ Stolz strich sie über ihre Tweedjacke. „Und um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Auch Mr Stringer steht ihr bei dem Fall zur Seite.“

Josie war aufgesprungen und presste vor Aufregung ihre Hände gegen die Brust. Peinlich berührt zog Theo sie zurück auf ihren Sitz.

Die Kuratorin wartete, bis der Lärm abebbte.

„Der Krimi ist vollständig erhalten – jedoch das Ende fehlt.“

„Oh, nein!“ Josie sprang wieder auf und warf dabei ihren Stuhl um.

So viel Begeisterung war sogar der Dame in Tweed zu viel und sie runzelte die Stirn. Einige der Anwesenden lachten amüsiert.

Ohne das wahrzunehmen, stellte Josie ihren Stuhl ­wieder auf und setzte sich. Theo schloss die Augen. 144, 169, 196, 225 ...

Die Kuratorin fuhr mit ihrem Vortrag fort. Man wolle eine Expertenkommission gründen, die das fehlende Ende rekonstruiere. „Für dieses Projekt suchen wir nun ­Sponsoren.“ Damit eröffnete sie die Fragerunde.

Wer für diese Kommission im Gespräch sei, wollten die Journalisten wissen. Wie reagierte die Familie Sothebys auf diesen Fund? Stimmte es, dass das Manuskript erst in der allerletzten Kiste des Nachlasses gefunden worden war? Hatte Hollywood wirklich schon nach den Filmrechten gefragt?

Schließlich war Josie an der Reihe. „Und wann dürfen wir es endlich lesen?“

Die Kuratorin zog die Augenbrauen hoch. „Warum ­wollen Sie einen Krimi lesen, bei dem der Täter unbekannt bleibt?“

„Um das Rätsel zu lösen. Davon träumt doch jeder.“

Die Kuratorin strich sich über ihr Jäckchen. „Träumen kann gewiss jeder. Aber die konkrete Arbeit überlassen Sie doch besser den Experten.“

Die Reporter grinsten sich an und ein paar lachten laut.

Theo ballte die Hand in seiner Tasche. Er hatte gelernt, keine Witze über Josies Begeisterungsfähigkeit zu machen, seit sie ihm die Originalkostüme für ihre Regency-Tanzgruppe, die Munich-Jane-Austen-Dancers, gezeigt hatte. Was wussten diese englischen Insel-Affen, wozu Josie fähig war, wenn sie es drauf anlegte!

„Befindet sich das Manuskript hier im Museum?“ Josie schien die Erheiterung ihrer Umgebung gar nicht wahrzunehmen.

Bis die Expertenkommission mit ihrer Arbeit beginne, werde das Manuskript in der Tat hier im Hause verwahrt. Die Kuratorin drehte ihren Kopf zur Seite, sodass sie jede weitere potenzielle Handhebung von Josie übersehen musste.

Zum Abschluss wurde ein Plan des Museums verteilt und eine Führung angeboten. Die beiden Kameramänner schulterten ihre Geräte, doch die Mehrheit der ­Journalisten eilte zurück zu ihren Redaktionsräumen.

Josie studierte den Gebäudeplan so eifrig, dass Theo sie anstupste, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. „Komm, sonst verlieren wir den Anschluss an die Gruppe.“

„Ja, gleich.“

Der Letzte verließ den Raum. Einzig der Regen war noch zu hören.

„Wir müssen jetzt wirklich.“

Josie antwortete nicht.

„Dafür sind wir ja extra hergekommen. Sothebys Museum.“

Sie drehte den Plan auf den Kopf.

„Die Infos brauchst du doch auch für den Artikel.“

Mit je zwei Semestern Anglistik, Theaterwissenschaften, Architektur und Kunstgeschichte musste sie doch dankbar sein, dass sie als Quereinsteigerin überhaupt einen Job in der Redaktion von Wohn & Stil bekommen hatte. Den sollte sie nicht so leicht riskieren. Warum nur machte sie sich – und ihm – das Leben immer so schwer? Er hatte schließlich auch schon mit sieben Jahren gewusst, dass er mal ­Ingenieur werden wollte.

Mit einem Satz sprang Josie auf.

„Wo willst du denn jetzt hin?“ Er hechtete hinter ihr her.

„Zur Kuratorin.“ Sie trat auf den Gang, sah in beide Richtungen und entschied sich für links.

„Dann rennst du aber in die verkehrte Richtung.“

Wie üblich beachtete sie ihn nicht. „Und dann mache ich einen Sitzstreik, bis sie das Manuskript rausrückt.“

Hinter der nächsten Biegung holte er sie endlich ein. „Du läufst absolut falsch.“

„Ich habe den Grundriss studiert. Das ist ’ne Abkürzung. Sagt mir mein Instinkt.“

Theos Instinkt sagte ihm, dass es vernünftig sei, wenn er Josie noch eine Weile durch das Haus irren ließ. ­Hoffentlich flaute ihr Begeisterungssturm in der Zeit etwas ab und sie überlegte sich die Sache mit dem Sitzstreik noch einmal. Zudem goss es draußen weiterhin in Strömen.

Sie rannten eine Hintertreppe hinauf und die Haupttreppe hinunter und passierten den Raum mit den ausgestellten Notizbüchern zwei Mal aus verschiedenen ­Richtungen. Noch immer bestand Josie darauf, dass sie ihrem Ziel ganz nahe seien. Sie könne das geradezu ­fühlen.

„Hier, hier muss es sein.“ Sie deutete auf einen schmalen Seitengang, den sie bisher übersehen hatten, weil weder Lampe noch Tageslicht ihn beleuchteten. Am Ende des Ganges befand sich eine ungewöhnlich kleine Stahltür.

Enthusiastisch stieß Josie die Tür auf. Die gab ein Geräusch von sich wie eine gefolterte Katze.

„Oooh.“ Erst konnte Theo wenig erkennen, denn Josies Gestalt füllte den winzigen Türrahmen aus. Dann gab sie den Blick frei, er hielt die Tür fest und traute seinen Augen nicht. Er blickte nicht auf eine Kellertreppe, wie er ver­mutet hatte, sondern auf einen Garten. Wobei das eine Untertreibung war. Die Bezeichnung „Parkanlage“ traf es wohl eher.

Erstaunt schüttelte er den Kopf. Bei ihrer Ankunft war ihm der Garten nicht halb so imposant erschienen wie in diesem Augenblick. Dazu noch all das Licht. Die Sonne schien. Wirklich und wahrhaftig die Sonne. Das Wetter war so herrlich, wie er es nur von den Bildern in Josies ­Reiseführer kannte, aber in den drei Tagen im ­realen England nicht erlebt hatte. Dabei hatte er noch vor fünf Minuten den Regen gegen die Fensterscheiben trommeln hören. Welch plötzlicher Wetterumschwung. Seeklima nannte man das wohl. Und selbst der Rasen schien nicht mehr nass zu sein. Er ließ die Tür los, die quietschend ins Schloss fiel und bückte sich.

Das Gras war tatsächlich trocken. Regelmäßig gewässert, gedüngt, gemäht und ausreichend gepflegt für ein Wimbledon-Match, aber definitiv trocken.

„Seltsam.“

„Ja“, stimmte Josie zu. „Dabei hätte ich schwören ­können, dass es hier sein muss ...“ Sie drehte sich auf dem Absatz um. „Dann müssen wir es eben weiter versuchen.“

Mit Schwung riss sie am Türknauf – doch ohne Effekt.

„Verdammt, die ist zu.“

„Das ist ein Schnappschloss. Das kann man nur von einer Seite öffnen.“

„Warum hast du die Tür dann zufallen lassen? Dank dir sind wir jetzt ausgesperrt.“

Theo holte Luft, um zu einer empörten Erwiderung anzusetzen, aber Josie unterbrach ihn: „Worauf wartest du? Hol dein Werkzeug raus und mach das Ding auf.“

„Das geht nicht. Auf dieser Seite gibt es kein Schlüsselloch, also kann ich mein Werkzeug nirgends ansetzen. Und eine Bohrmaschine habe ich nicht dabei.“ Er sagte das mit gewissem Schuldbewusstsein, denn er hasste es, schlecht ausgestattet zu sein. „Aber der Eingang ist bestimmt direkt um die Ecke.“

„Meinetwegen.“ Sie rannte davon.

„Wo bleibst du?“ Sie folgte der Hausmauer. „Wir müssen wieder rein.“

Während Theo ihr hinterhereilte, wunderte er sich mehr und mehr. War das Haus nicht zuvor aus Backstein statt aus Granit gewesen? Und auch die Größenverhältnisse stimmten nicht. Hinter jeder Ecke vermutete er den Einlass, doch es folgte nur ein Erker nach dem anderen ...

Da kam eine elegante Frau Anfang dreißig auf sie zu. Ihr braunes Haar war mit mehreren Kämmen und Nadeln hochgesteckt und sie trug ein marineblaues Kostüm im Stil der 1920er Jahre. Atemlos streckte sie ihnen die Hand entgegen. „Miss Rutherford und Mr Stringer, wie ich annehme?“

Ohne ihr Zögern zu beachten, ergriff sie erst Josies und dann Theos Hand und schüttelte sie kräftig. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich bin Mary Debenham, Lord Westholms Sekretärin. Ich möchte Sie ganz herzlich auf Schloss Styles begrüßen.“

2. Kapitel

Theo rührte sich nicht. Er starrte auf seine Hand, die Miss Debenham soeben los­gelassen hatte. Irgendetwas lief hier sehr, sehr ver­kehrt.

Schließlich folgte er Josie und der ­Sekretärin über den Rasen zu einem Kiesweg. Er hörte Miss ­Debenham sagen, dass Lady Celia, die Tochter Lord ­Westholms, ­leider mit dem Zug nach London gefahren sei und erst zum ­Dinner zurückerwartet werde. Josie nickte eifrig, als fände sie das alles absolut plausibel.

Auf der Suche nach einer Erklärung warf Theo verstohlene Blicke in alle Richtungen. Auf einem sandgestreuten Spazierweg umrundeten sie das Gebäude. Links zog sich ein Stück Wald entlang und vor ihnen lag ein imposanter Garten mit einer breitgeschwungenen Kiesauffahrt und einem Teich, gesäumt von sehr alten Trauerweiden. Auf der anderen Seite der Auffahrt schlängelte sich ein Weg zu einem mit Buchsbäumen eingefassten Rosengarten. Theo konnte nicht glauben, dass er das alles bei ihrer Ankunft im Sotheby-Museum übersehen hatte. Das Haus, nein eher Schloss, besaß Dutzende Erker, mehrere Türmchen und einen riesigen Wintergarten. Die Fenster setzten sich aus sechs Flügeln zusammen und jedes davon bestand aus vielen, von Sprossen unterteilten kleineren Scheiben. Theo schüttelte den Kopf. Er war kein Fachmann für Baukunde, doch diese Verglasungsart musste weit mehr als hundert Jahre alt sein. Aber das Gebäude des Sotheby-Museums war erst nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden, das hatte man ihnen eben im Vortrag mitgeteilt, oder etwa nicht? Es ergab einfach keinen Sinn.

„Oh, ich bitte Sie, machen Sie sich unseretwegen keine Umstände“, hörte er Josie vor sich flöten. So absurd die Situation war, sie war offenbar ganz in ihrem Element.

Mit schnellen Schritten holte er die beiden Frauen ein und begab sich wieder an Josies Seite. Miss Debenham sagte gerade: „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Sie lächelte dankbar. „Sehen Sie, Miss Rutherford, wir haben Sie eigentlich erst für morgen nach dem Frühstück erwartet.“

„Wen wundert’s?“ Theo fixierte Josie. „Wir selbst haben uns hier gar nicht erwartet.“

Miss Debenham blinzelte irritiert.

„Oh, denken Sie sich nichts“, rief Josie lachend. „Mr Stringer hat seine ganz eigene Art von Humor. Beachten Sie ihn einfach gar nicht.“ Mit einem Blick auf Theo fügte sie hinzu: „Ich tu’s ja auch nicht.“

„Nun, egal ob heute oder morgen. Wir freuen uns jedenfalls sehr, Sie bei uns auf Styles willkommen zu heißen.“ Die Sekretärin lächelte angestrengt.

Sie hatten die Vorderseite des Schlosses erreicht. Es bestand aus zwei Flügeln. Der rechte, den sie gerade umrundet hatten, schien der ältere von beiden zu sein und der linke wurde dominiert von einem gewaltigen Wintergarten. Theo überlegte, dass es noch einen dritten Flügel geben musste. Einen neuen, in dem das Sotheby-Museum untergebracht war und in dem sie sich verlaufen hatten.

„Ich werde der Köchin Bescheid geben, das Dinner wird um halb sieben serviert. Ihre Zimmer wird das Mädchen gleich herrichten.“

Sie standen vor der Treppe des Schlossportals.

„Vielleicht aber mögen Sie so lange noch hier im Park spazieren gehen?“, schlug die Sekretärin vor. „Das ­Wetter ist herrlich. Ich sag ja immer, es geht nichts über einen ­englischen Sommer.“

„Stimmt, höchstens in Asien zur Monsunzeit könnte es trockener sein“, kommentierte Theo. Josie versuchte ihm gegen das Schienbein zu treten, doch er sprang rechtzeitig zur Seite.

Miss Debenham lachte. „Diesmal legen Sie mich nicht herein, Mr Stringer. Sie sind wirklich das beste Beispiel für unseren englischen Humor.“

Weiterhin lachend verabschiedete sie sich und eilte die Treppe hinauf zum Herrenhaus, während Theo und Josie einem der Spazierwege folgten, die zum Rosengarten führten.

„Was sollte das denn?“ Theo runzelte die Stirn. Gewiss hatten ihn die Sketche von Monty Python motiviert, richtig Englisch zu lernen, aber akzentfrei war er noch lange nicht. Ein Tauber konnte hören, dass er Ausländer war.

„Sei froh, dass sie dich mit Humor erträgt“, sagte Josie. Vorwurfsvoll fügte sie hinzu: „Das schafft nicht jeder.“

„Entschuldige, dass ich es wage, übers Wetter zu reden.“

„Jetzt scheint die Sonne und du motzt immer noch.“

„Eben, eben.“ Er fuhr sich durch die blonden Haare. „Kommt dir das nicht komisch vor? Dieser plötzliche ­Wetterumschwung. Das ist doch nicht normal.“

„Hör auf!“ Sie stellte sich breitbeinig vor ihn. „Das hier ist genial. Davon habe ich geträumt, seit ich den ­ersten Krimi von Agatha-Christina in den Händen hielt. ­Einmal selbst Detektiv sein.“ Verklärt wanderte ihr Blick in die Ferne. „Einmal alle Hinweise richtig deuten, all die ­verwickelten Fäden bis ins Letzte aufdröseln. Die großen Bedeutungen der kleinsten Nebensächlichkeiten erkennen. Weil in Wahrheit allein diese Person nur mit ­dieser einen Methode und lediglich unter diesen speziellen Umständen den Mord begangen haben kann. Es gibt nur eine einzige Lösung. Wie ein tausendteiliges Puzzle, das nur auf die eine Weise zusammengesetzt werden kann.“

Fasziniert beobachte Theo ihr Gesicht. Genau das ­empfand er für Schloss und Schlüssel. Es gab nur immer eine passende Lösung. Nie hätte er erwartet, gerade mit Josie eine Leidenschaft zu teilen. Er schluckte. Wie oft hatte er sich über ihre übergroße Begeisterungsfähigkeit beklagt. Offenbar zu Unrecht.

Er wollte ihr sagen, dass sie sich nicht schämen müsse und wie gut er sie verstehe, da kam sie ihm zuvor und meinte: „Aber du mit deiner ewigen Nörgelei willst wieder alles kaputt machen.“

Ihm klappte die Kinnlade runter, während Josie weitersprach: „Die Museumskuratoren haben uns offensichtlich ausgewählt, um an diesem einmaligen Experiment teilzunehmen. Wir schreiben hier Literaturgeschichte und du quengelst über das Wetter. Im Grunde bist du nur ­neidisch, weil ich die Tür hierher gefunden habe und nicht du. Und weil du nur Mr Stringer bist, nur der Anhang des Hauptcharakters. Nur ein Dr Watson eben.“

„Glaub mir, Miss Rutherford, damit kann ich leben. Nur fürchte ich, dass ein Dr Watson als Allgemeinmediziner nicht die Art Doktor ist, die dir noch helfen kann.“

„Und wir wohnen umsonst im Schloss, hat die Sekretärin gesagt.“

„Das ist ein echter Trost. Wo ja sonst in England alles so kostengünstig ist.“

Aber Josie hörte ihm schon nicht mehr zu. „Schau, da kommt jemand.“ Sie zog ihn am Arm. „Schnell, da hinter die Sträucher.“

Überrumpelt ließ sich Theo hinter eine Rabattenreihe zerren, die sich neben der Kiesauffahrt entlangzog. Vorsichtig lugte er durch das Gebüsch. „Ich sehe gar nichts. Und überhaupt ...“

„Schscht“ Sie wisperte: „Da! Nicht vorm Schloss, ­sondern vor der Einfahrt.“

„Und warum müssen wir uns verstecken?“ Widerwillig flüsterte auch er. „Wir tun doch nichts Illegales.“

„Verdammt, Theo! Stell dich nicht dümmer an, als du bist. Wie soll man denn einen Mord klären, wenn man nicht die Chance nutzt, die Verdächtigen zu belauschen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen?“

Kies knirschte unter Schritten, zwei Stimmen näherten sich.

Theo schob ein paar Buschzweige auseinander. Josie wollte ihn zurückhalten, doch er ließ sich nicht ­beirren. „Lass mich. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich will ­wenigstens ­wissen, wie deine potenziellen Schwerver­brecher aus­sehen.“

Ein Paar kam näher. Beide beleibt und in den ­Sechzigern. Der Mann schwitzte und keuchte bei jedem Schritt, während der mächtige Busen der Frau beim Gehen im Takt wippte. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammengebunden und sie trug einen Kneifer an einer Kette um den Hals.

„Ich hoffe, er ist nicht verärgert, wenn wir ihm unangemeldet einem Besuch abstatten“, sagte der Mann mit dem buschigen Vollbart.

„Oh, ich bin überzeugt davon, dass er mehr als nur ­verärgert ist“, erwiderte die Frau grimmig. „Warum hätte er sonst all deine Briefe ignoriert? Er will dir aus dem Weg gehen. Das ist typisch für ihn. Immer wenn er Pro­bleme wittert, sucht er das Weite. Er ist nichts als ein Feigling.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen!“, rief er. „Es muss einen Grund geben, weshalb er nicht geantwortet hat. Vielleicht ist er zu krank zum Schreiben oder er hat ­Sorgen. Wirklich, Charlotte.“ Er blieb stehen. „Ich will ihn nicht bedrängen und in Verlegenheit bringen. Die Angelegenheit hat Zeit. Lass uns besser umkehren.“

„Der und Sorgen haben!“ Charlotte schnaubte. „Seine einzige Besorgnis war stets, wie er sich am besten unterhält. Meist auf Kosten anderer. Der hat dich oft genug ausgenutzt. Aber diesmal wird ihm das nicht gelingen. Dafür kann ich garantieren.“

„Du tust ihm unrecht, Charlotte. Damals in ­Südamerika rettete er mir das Leben. Sein Schwager war vorausge­gangen; hätte Westholm nicht diese Eingebung gehabt und wäre umgekehrt, ich wäre womöglich nie gefunden worden.“

Josie krallte vor Aufregung ihre Finger in Theos Arm. „Das ist wichtig“, flüsterte sie. „Da kann ein Mordmotiv versteckt liegen.“

Theo lockerte den schmerzhaften Griff ihrer Hand, ohne dass sie es merkte.

„Eingebung!“, rief Charlotte. „Vermutlich glaubte er, er könne doch noch etwas in der Mine finden. Er wollte nicht wahrhaben, dass er Pech hatte. Seinen Schwager ruinierte er damit. Den Schwager und seine eigene Schwester! Erst die Probleme ignorieren und sich dann aus dem Staub machen, wenn sie ihn einholen. Sei froh, dass du keine Anteile gekauft hast.“ Entschlossen fügte sie hinzu: „Diesmal wird er dich nicht prellen.“

Der Mann richtete sich würdevoll auf. „Lord Westholm ist einer der reichsten Männer des Königreiches. Er hat es nicht nötig, jemanden zu prellen.“

Betreten schwieg Charlotte eine Weile. Schließlich sagte sie: „Ich habe unserer Mutter noch auf ihrem Sterbebett versprochen, dass ich mich um dich kümmern werde. Und ich halte meine Versprechen. Westholm kann so reich oder so exzentrisch sein, wie es ihm gefällt, doch du sollst deshalb nicht zu Schaden kommen. Vielleicht“, setzte sie nach einer Pause hinzu, „macht es ihm einfach Spaß, Leute durch sein schlechtes Vorbild zu Dummheiten anzustiften. Er selbst kann sie sich ja leisten.“

Der Mann seufzte leise. Es schien, als hätten sie diese Unterhaltung schon öfter geführt. Schweigend ging er neben seiner Schwester her, bis sie außer Hörweite waren.

„Verdammt“, sagte Josie. „Ab hier gibt’s keinen Sichtschutz mehr. Man kann sich nicht ans Haus ranschleichen, ohne gesehen zu werden.“

„Tut mir echt leid für dich“, sagte Theo, „dass die Eigentümer den Garten so einbrecherunfreundlich gestaltet haben.“

„Los, Mr Stringer.“ Sie zerrte wieder an Theos Arm. „Wir müssen sie überholen. Ich will dabei sein, wenn sie den Lord treffen.“

„Hör auf, mich ständig in den Arm zu kneifen. Ich krieg deinetwegen noch lauter blaue Flecken.“ Doch er folgte ihr gehorsam.

Sie liefen unter Lauben aus Glyzinien und Efeu in ­weitem Bogen auf das Haus zu, um den Anschein zu ­erwecken, sie kämen aus dem hinteren Bereich des Parks. Völlig außer Atem, dafür aber lange vor dem Geschwister­paar, hechteten sie die Granittreppe des Aufgangs ­hinauf. Zwei ­steinerne Basset-Hunde säumten die wuchtige ­Kassettentür.

Noch bevor Josie den Messingklopfer greifen konnte, wurde die Tür geöffnet.

„Miss Rutherford und Mr Stringer, wie ich vermute?“ Ein Mann von etwas sechzig Jahren, in Livree und strahlend weißen Handschuhen, ließ sie eintreten. Er hielt sich sehr aufrecht und sah sie wartend an.

„Ehm, ja“, Josie suchte nach einer Ausrede. „Wir, wir wollten ...“

„Wir wollten fragen, ob wir Ihr Telefon benutzen ­dürfen“, sprang Theo ein. „Es gab wohl ein Missverständnis wegen unseres Ankunftstermins und deshalb müssen wir noch etwas klären.“

„Selbstverständlich.“ Der Butler deutete eine Verbeugung an. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Durch die Fenster des Wintergartens wurde die achteckige Eingangshalle mit ihren weinroten Perserteppichen beleuchtet. Drei unterschiedliche Bereiche des Schlosses trafen hier aufeinander. Ein schmaler, schlichter Gang ging nach hinten in den Gesindetrakt und links führte eine breite Holztreppe zum offensichtlich jüngeren Flügel. Rechts bildete eine gewundene Steintreppe eine Nische, in der auf einem chinesischen Lacktischchen der Telefon­apparat stand, flankiert von zwei Cocker Spaniels aus ­Porzellan.

Mit einem Nicken zog der Butler sich zurück.

„Klasse Idee“, wisperte Josie Theo zu. „Hier sieht uns niemand, aber wir können hören, was in der Halle vor sich geht.“

Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Bei der Gelegen­heit könnte ich eigentlich wirklich ... oh!“

„Was?“

„Tot.“ Sie drückte mit dem Daumen mehrmals dieselbe Taste. „Dabei habe ich den Akku erst heute Morgen auf­geladen.“

„Einfach nicht ausgereift, diese Dinger.“ Theo als passio­nierter Handy-Verweigerer fühlte sich bestätigt. „Weder Google noch die CIA noch meine Mutter müssen wissen, wo ich mich gerade aufhalte“, war sein Standardkommentar zu diesem Thema.

Die Eingangstür wurde geöffnet und der Butler begrüßte eine Mrs Blacklock und einen Major Burnaby. Theo er­kannte die Stimmen des Geschwisterpaares von vorhin.

Mit leisen Schritten entfernte sich der Butler zur anderen Seite, um die Besucher anzumelden.

„Wir sollten nicht so fordernd auftreten, Charlotte“, erklang die Stimme des Bruders. „Zu drohen, dass wir warten würden, bis er Zeit hat, das war nicht richtig von dir. Westholm wird uns in jedem Fall empfangen.“

„So gehört sich das schließlich“, antwortete Mrs ­Blacklock.

Eine Tür direkt neben dem Eingang sprang auf und ein großer, stattlicher Mann mit vollem weißem Haar eilte mit ausgestreckten Armen dem Major entgegen. „Welch eine Überraschung! Wie schön, dich alten Schwerenöter zu sehen. Es muss ja eine Ewigkeit her sein.“ Lord ­Westholm umfasste Burnabys Hand und Unterarm mit beiden ­Händen und schüttelte sie kräftig.

Mittels ihres neuen Taschenspiegels von Cath Kidston beobachte Josie die Szene, ohne selbst gesehen zu werden. Triumphierend blickte sie dabei Theo an, der genervt die Augen rollte. Das Ding hatte sie vor zwei Tagen gegen seinen Rat im Londoner Notting Hill in einem dieser sündteuren Krimskramsläden erstanden. Er hatte sich so bemüht, ihr etwas Vernunft nahezubringen: „Jeder ­Spiegel ist nur quecksilberbeschichtetes Glas. Die Blümchen auf dem Rahmen sind überflüssig und daher für Funktion und Preisgestaltung irrelevant.“ Aber natürlich hatte sie nicht auf ihn gehört.

„Auch deine reizende Schwester hast du mitgebracht.“ Der Lord streckte seine imposante Figur und lächelte Mrs Blacklock an, deren Gesicht sich noch missmutiger verzog. „Gar nicht verändert, ganz so charmant, wie sie schon als Backfisch war.“

Westholm wandte sich wieder seinem Freund zu. „Und das Gestrüpp in deinem Gesicht wuchert wie eh und je. Ha-ha.“

Geschmeichelt strich sich Major Burnaby von seinen Koteletten bis hinab zur Spitze seines Vollbarts.

„Aber warum hast du dich so lange nicht gemeldet?“, verlangte der Lord zu wissen.

Burnaby verteidigte sich, er habe geschrieben, mehrmals sogar.

„Die Post wird immer unzuverlässiger“, polterte der Lord. „Wo soll das noch hinführen? Das Land verkommt mehr und mehr.“

Burnaby warf seiner Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu, doch die schüttelte den Kopf.

„Es ist wirklich ein Jammer, dass ihr gerade den ­heutigen Tag für euer Kommen ausgewählt habt.“ Der Lord sprach besonders laut, als gewännen seine Worte so an Über­zeugungskraft. „Ich würde so gern in Ruhe mit dir und deiner liebenswürdigen Schwester über alte ­Zeiten ­plaudern. Ihr Bruder und ich, liebe Charlotte, haben schon so manches erlebt.“ Westholm und der Major ­lachten ­dröhnend. Mrs Blacklock verzog keine Miene.

„Da gäbe es einiges zu erzählen, nicht wahr, Burnaby? Und noch mehr zu verschweigen.“ Er zwinkerte ihm zu und das ganze Gesicht des Majors wurde so rot wie seine Nase voller geplatzter Äderchen.

„Doch gerade heute“, Westholms Stimme klang bedauernd, „erwarte ich wichtigen Besuch.“

„Besuch“, flüsterte Josie Theo zu. „das Wort ist neutral. Das kann ein Mann oder eine Frau sein.“

„Es ist unglücklich, dass ihr gerade heute kommt, wo ich unaufschiebbaren Besuch erwarte“, wiederholte Lord Westholm. „Ihr bleibt doch zum Dinner, nicht wahr? Dann können wir in Ruhe plaudern, wenn meine Angelegenheit erledigt ist.“

„Keine Sorge, wir gehen nicht, bevor wir nicht Zeit ­hatten, uns ausgiebig zu unterhalten.“ Die Drohung in Mrs Blacklocks Stimme war unüberhörbar.

„Sehr gut, sehr gut.“ Westholm lachte übertrieben laut.

Er betätigte eine Klingel und der Butler erschien.

„Cartwright, der Major und seine Schwester bleiben zum Dinner. Und servieren Sie den beiden bitte Tee im Salon.“ Zu Burnaby gewandt fügte er hinzu: „Celia ist ­leider in der City, sonst würde sie euch gern Gesellschaft leisten. Aber ihr nehmt doch sicher Tee, nicht wahr?“

„Wir nehmen nur, was uns zusteht.“ Mrs Blacklock fixierte den Lord.

Ihr Bruder errötete und sagte hastig: „Wunderbar, Tee ist ganz wunderbar, gewiss doch, im Salon, wir folgen dann einfach Cartwright.“ Er dirigierte seine Schwester hinter dem Butler her.

Der Lord wartete, bis ihre Schritte verklungen waren. Dann ging er mit resigniertem Gesichtsausdruck zurück in das Zimmer, aus dem er gekommen war.

Josie steckte den Spiegel in ihre Handtasche. „Das gibt einem doch ganz schön zu denken.“

„Stimmt. Es ist nicht zu fassen, dass ein Mann in dem Alter noch immer alles Unangenehme mit dummen Lügen vor sich herschieben will.“

„Das war keine Ausrede. Glaub mir.“ Josie nickte. „Ich bin mir sicher, dass der Besuch was mit dem Fall zu tun hat.“

„Es gibt keinen Fall. Nur ein paar gelangweilte Aristo­kraten, die auf Teppichen rumlaufen, die sie in ihren ­Kolonien ohne Kaufvertrag eingesackt haben.“ Theo verstand sich selbst nicht. Was tat er hier? Wie hatte er sich von Josie nur wieder so überrumpeln lassen? Vermutlich steckte der ganze Kasten voller versteckter Kameras und sie machten sich gerade zum Affen in irgendeiner ­englischen Reality-TV-Sendung.

„Mir langt’s“, sagte er. „Ich gehe.“

„Wo willst du denn hin?“ Sie rannte hinter ihm her. Da ihre Schrittlänge nur ein Drittel der seinen ausmachte, holte sie ihn erst am Ende der Eingangshalle ein. Er öffnete die Tür und sprang die Stufen hinunter.

„So warte doch.“ Er eilte den Kiesweg entlang und sie hetzte hinterher.

„Warum? Als es darum ging, sich wie ein Dieb hinter Stauden zu verstecken, konntest du mich locker über­holen.“

„Mein Gott, sei doch nicht so.“ Sie rannte, bis sie ihn eingeholt hatte, dann ging sie ein paar Schritte neben ihm her und musste schließlich wieder laufen, um nicht zurückzufallen. „Es tut mir leid, dass ich dich genötigt habe, dein vertrautes Sofa zu verlassen, und dass es nun die ganze Zeit regnet. Aber schau, jetzt scheint doch die Sonne und ...“

„Genau!“ Er hielt so abrupt inne, sodass sie fast mit ihm zusammenstieß. „Warum scheint auf einmal die Sonne, wenn es noch drei Minuten vorher aus Eimern geschüttet hat? Warum?“

„Glück?“

Das sollte wohl unschuldig klingen, aber Theo ließ sich nicht mehr veralbern. Er schnaubte verächtlich und rannte weiter.

Sie passierten die Rabatten, hinter denen sie sich zuvor versteckt hatten. Rechts lag der Rosengarten mit einer „bezaubernden“ Holzbank, auf die Josie ihn lenken wollte, um „den Fall“ zu besprechen, und links breitete sich der Seerosenteich mit den Trauerweiden aus – „Ob da wohl Goldfische drin sind?“ Er ließ sich nicht mehr ablenken.