Mord am Waterberg - Almut Hielscher - E-Book
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Mord am Waterberg E-Book

Almut Hielscher

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Beschreibung

Katrin Sattler kann es nicht fassen: Ihre kleine Schwester Anna, abenteuerlustig, herzlich und der unangefochtene Liebling ihrer Eltern, ist tot – kaltblütig erschlagen mit einem silbernen Kerzenleuchter. Schockiert reist die junge Stuttgarterin nach Namibia, wo Anna sich als Entwicklungshelferin unermüdlich für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den einheimischen Herero und den Deutschen eingesetzt hat. Voller Ungeduld will Katrin den Leichnam so schnell wie möglich nach Deutschland holen und aus diesem Land verschwinden, das ihr mit der sengenden Hitze, den unhygienischen Zuständen und den aufdringlich bettelnden Kindern mehr als suspekt ist. Doch dann erfährt Katrin, dass der vermeintliche Mörder ihrer Schwester ein 17-jähriger Jugendlicher ist, der vehement bestreitet, die grauenvolle Tat begangen zu haben. Kurzerhand beschließt sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Während Katrin dem Geheimnis um Annas Tod immer näher kommt, muss sie erkennen, dass ihre Schwester nicht die unbeschwerte junge Frau war, als die sie sie in Erinnerung hat. Annas Engagement stieß nicht nur auf Begeisterung bei den Namibiern, die den Völkermord, den ihre Vorfahren an ihren Ahnen verübt hatten, nicht vergessen können und der jungen Deutschen oft mit Argwohn, Misstrauen und sogar Hass begegneten. Als Katrin schließlich selbst ins Visier des Täters gerät, muss sie eine folgenschwere Entscheidung treffen: Soll sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause fliegen und den Mord ungesühnt lassen oder ihr Leben riskieren, um Annas Tod aufzuklären und einen Unschuldigen vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren? In ihrem Debütroman widmet sich das Autorenduo Almut Hielscher und Uta König einem packenden Kriminalfall vor der faszinierenden Kulisse Namibias und verflechten atemberaubende Spannung mit beeindruckend recherchierten historischen Details, die die deutsch-namibische Vergangenheit schonungslos und ehrlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

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Seitenzahl: 324

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Almut Hielscher und Uta König

Mord am Waterberg

Impressum

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-049-5

www.heypublishing.com

Das Buch beruht auf historischen und kulturellen Tatsachen. Die genannten Orte sind real. Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

„Waren Sie schon mal in der Etosha-Pfanne?“

Katrin schreckt auf und zieht die Wolldecke enger um die Schultern. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die Fenster in das Innere des Flugzeugs.

„Etosha-Pfanne. Sie wissen doch, der Nationalpark. Wo es die vielen Elefanten und Löwen gibt.“ Seine Stimme klingt freudig erregt. „Gleich sehen wir den Park. Bombastisch, sage ich Ihnen. Sie müssen unbedingt in die Etosha-Pfanne fahren.“

Katrin schaut kurz auf und murmelt: „Dafür habe ich keine Zeit.“

Der Unbekannte hat einen Safari-Hut auf dem Kopf. Er stutzt. „Ja, was machen Sie denn dann in Namibia?“

Katrin schweigt. Der Mann lässt nicht locker und rückt näher: „ Die Etosha-Pfanne ist ein Muss auf jeder Namibia-Reise.“ Jetzt erst sieht Katrin das Hutband: Es ist aus Leopardenfell. Scheußlich. Seit zehn Stunden sitzt sie neben dem Mann. Kein freundliches Wort hat sie bisher mit ihm gewechselt, keinen Blick getauscht. Unangenehm findet sie, wie er sich auf seinem Sitz breitgemacht hat.

Und wieder dringt die Stimme an ihr Ohr. „Schauen Sie. Phantastisch. Der Waterberg. Da war diese Schlacht zwischen den Deutschen und den Herero. Da haben die Eingeborenen von uns gehörig eins auf den Deckel gekriegt.“

Katrin drückt sich fester in ihren Sessel, schließt die Augen und würde sich am liebsten die Ohren zuhalten. Namibia, Waterberg, das Dorf Okakarara 30 Kilometer entfernt, seit vier Jahren die Wahlheimat ihrer Schwester Anna. Und jetzt lebt sie nicht mehr. Vor zwei Tagen kam der Anruf mit der schrecklichen Nachricht. Wie oft hatte Katrin versprochen, nach Namibia zu kommen. Aber immer wieder hatte sie sich herausgeredet: die Arbeit in der Buchhandlung mit Sonderschichten vor Weihnachten und Ostern. Und wenn sie Urlaub hatte, dann wollte sie nicht nach Afrika. Nie hätte sie es gewagt, ihrer kleinen Schwester zu sagen: Sei mir nicht böse, aber ich halte die Armut nicht aus. Ich brauche meine Ferien, um mich zu erholen, auf Sardinien oder im Schwarzwald. Nein, das hätte sie Anna niemals sagen können. Anna war mutig, voller Lebensfreude und Abenteuerlust. Und sie hatte sie durchschaut. Einmal hatte sie lachend vorgeschlagen: „Du kannst ja deine Sagrotan-Tücher mit nach Afrika nehmen.“ Eigentlich unverschämt, wie Anna sie als alte Jungfer verspottete, dabei war sie doch erst 35, nur sechs Jahre älter.

Anna und ihr Afrika-Spleen. Martin hatte sie auch noch darin bestärkt, der Bruder war in seine kleine Schwester vernarrt. Als kleines Mädchen spielte Anna mit schwarzen Puppen, malte Giraffen und Elefanten, verschlang Bücher über den schwarzen Kontinent. Und das alles hatte mit ihrer Großtante Else zu tun, die der Familie in Deutschland in langen Briefen von ihrem Leben auf der Rinderfarm am Waterberg erzählte. Stets lagen Fotos dabei, die die Phantasie des kleinen Mädchens beflügelten. Niemand hätte damals gedacht, dass Anna ihre Träume eines Tages wahr machen würde. Tante Else war erst Ende der 80er Jahre als alte Frau nach Deutschland zurückgekehrt. Anna und Katrin hatten sie in dem Heidelberger Altenheim besucht, in dem sie bis zu ihrem Tod lebte.

Die Eltern waren entsetzt. Ausgerechnet Afrika! Anna hatte ihnen freudestrahlend erzählt, dass sie für den Deutschen Entwicklungsdienst, DED[1], nach Namibia gehen werde. Katrin dachte genauso wie die Eltern: Afrika ist viel zu gefährlich für eine weiße Frau. Aber gesagt hatte sie nichts.

„Legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an und stellen Sie die Tische aufrecht. Wir landen in zehn Minuten. Die Außentemperatur beträgt sieben Grad Celsius.“ Die Stimme der Stewardess reißt Katrin aus ihren Gedanken. Sie schaut aus dem Fenster auf eine karge Landschaft: zerklüftete Hügel, gelblicher Sand, knorrige Bäume. Alles eingetaucht in ein ungewöhnlich helles Licht. Katrin wühlt in ihrer Handtasche, sucht ihren Pass, versichert sich, dass sie alles dabei hat: die Briefe von Tante Else, die alten Fotos von der Farm, die letzte Karte von Anna, den Zettel mit den Adressen, die Bestätigung für das Miet-Auto. Hastig füllt Katrin das kleine Ankunfts-Formular aus, das die Stewardess im Flugzeug verteilt hat. Die Zeile für das Datum der Abreise lässt sie offen. Im Pulk der schwatzenden Urlauber rückt Katrin zur Passkontrolle vor. Der uniformierte Schwarze am Schalter sieht sie prüfend an: „Sie wissen nicht, wann Sie unser Land wieder verlassen? Das muss aber eingetragen werden.“ Katrin zögert: „Schreiben Sie einfach Ende des Monats.“ Der Mann schreibt das Datum: 31. August 2004. „Ich wünsche Ihnen wunderschönen Urlaub in wunderschönem Namibia“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Er lacht sie an. Katrin nimmt ihre Reisetasche über die Schulter und geht durch die automatische Schiebetür. Sie hat wenig mitgenommen, nur das Nötigste. Höchstens ein paar Tage will sie bleiben, und schließlich ist es heiß in Afrika. In der Eingangshalle kommt ein junger schwarzer Mann auf sie zu. Er trägt einen beigen Leinenanzug. „Madam, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Katrin weicht einen Schritt zurück und presst ihre Tasche an sich. „Nein, danke. Ich brauche keine Hilfe.“ Der Mann verschwindet in der Menge.

Am Kiosk in der Ankunftshalle will sie schnell noch eine Landkarte kaufen. Etwa drei Stunden wird sie unterwegs sein vom Hosea Kutako Flughafen bei Windhoek bis zu Annas Heimatdorf im Herero-Land. Das hatte sie von Annas Chef am Telefon erfahren. Als Katrin nach der Landkarte greift, fällt ihr Blick auf den Zeitungsständer. Sie blickt in Annas lachendes Gesicht. Die deutschsprachige Allgemeine Zeitung hat mit dem Foto ihrer Schwester und der Schlagzeile aufgemacht: „Raubmord an deutscher Entwicklungshelferin“. Da steht es Schwarz auf Weiß: Raubmord. Anna ist tot. Katrin beginnt zu begreifen. Vor zwei Tagen hatte die Nachricht etwas Unwirkliches. Sie kam von so weit her. Anna sollte tot sein? Mitten in der Nacht hatte ihr der Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes das Unfassbare mitgeteilt und darum gebeten, dass ein Familienmitglied nach Namibia komme. Katrin hatte eigentlich gehofft, dass ihr Bruder Martin sie begleiten würde. Doch sie musste allein fahren. Martin war IT-Manager einer großen Firma und konnte unmöglich weg. Sein Terminkalender war auf Wochen hinaus ausgebucht. Aber noch wichtiger war sein kleiner Sohn Jan, den er seit der Trennung von seiner Frau im Wochenwechsel betreute. Sie wollte ihren Bruder nicht bedrängen, denn sie wusste, wie schwer es ihm fallen würde, die Absprache mit dem Kind nicht einzuhalten. Sie spürte aber auch, dass es ihm sehr leid tat, sie alleine reisen zu lassen. Martin und Anna waren sich immer besonders nahe gewesen. Hemmungslos hatte er geweint, als er von Annas Tod erfuhr. Katrin hatte den Bruder noch nie so aufgelöst erlebt, nicht einmal nach dem Tod der Eltern vor zwei Jahren. Dass sie alleine nach Namibia reisen würde, um die tote Schwester nach Hause zu holen, berührte ihn sehr. Er sagte zu Katrin: „Willst du das wirklich auf dich nehmen? Wenn du das schaffst, dann ziehe ich den Hut vor dir. Ich würde dir so gerne beistehen, aber du weißt ja, es geht nicht.“

Als Katrin auf dem Parkplatz vor dem Flughafen ihren Mietwagen sucht, hört sie Annas Stimme in ihrem Kopf: „Komm her und du wirst sehen, wie zauberhaft die Fahrt von Windhoek in mein Dorf ist. Keine Angst, die Straße ist gut und Verkehr gibt es kaum.“ Damals hatte sie ihr nicht geglaubt. Ach, du übertreibst schon wieder, hatte sie gedacht. Mit dem Auto durch Afrika – da sah Katrin nur Staubwolken und riesige Schlaglöcher im Asphalt. Viel zu riskant. Jetzt sitzt sie am Steuer. Seit zehn Minuten ist ihr kein Fahrzeug entgegengekommen. Und das auf der großen Straße zwischen der Hauptstadt Windhoek und dem Ovamboland im Norden. Ungewöhnlich hatte Anna das Spiel von Licht und Farben in Namibia genannt. Von dem weiten Horizont hatte sie geschwärmt und versucht, sie anzulocken: „Die Landschaft hier ist so weit wie das Meer, das du so liebst. Hier ist der Himmel wirklich himmelblau und der Boden leuchtet so rot wie Dachziegel.“ Warum bin ich nicht früher gekommen? Die Landschaft zieht an ihr vorüber, als ob sie ihren Namibia-Reiseführer durchblättern würde. Gestochen scharfe Fotos in Blau, Grün und verschiedenen Brauntönen. Sie sind wie eine Kulisse, in die sie nicht eintauchen kann. Meine Schwester ist tot. Ich bin zu spät gekommen.

Vor ihrer Abreise nach Namibia hatte sie Annas Briefe hervorgeholt. Darin hatte sie einmal ihre Route von Windhoek in ihr Dorf beschrieben – ein Wegweiser, dem Katrin jetzt folgt. „Wenn du durch die Stadt Okahandja fährst, dann stößt du links auf die Bäckerei Schmidt. Dort bekommst du ein deutsches Frühstück mit Brötchen und Kaffee.“ Katrin erinnert sich, wie sie damals darüber gelacht hatte. Ein deutsches Frühstück mitten in Afrika? Die Kolonialzeit lässt grüßen. Sie hält am Straßenrand an. Von allen Seiten kommen Kinder angelaufen und umringen den Wagen. Einige halten die Hände auf: „Misses, give me Dollar!“, andere wollen auf das Auto aufpassen. Katrin will nicht die böse Weiße sein, sie fühlt sich aber so. „No, no“, sagt sie. Die Kinder drängen immer dichter heran. Die meisten von ihnen sind schmutzig und tragen zerlumpte Kleider. Instinktiv wischt sich Katrin über ihre Arme und das weiße T-Shirt, als hätten die Berührungen der Kinder sie dreckig gemacht. „Haut ab“, fährt sie die Kleinen an, und im selben Moment tut es ihr leid. Sie weichen zurück. „Bettelnden Kindern darfst du nichts geben“, hatte Anna ihr eingeschärft, „wenn du einem etwas schenkst, kommen zwanzig andere angelaufen.“

In der Bäckerei Schmidt fühlt sich Katrin wie in Stuttgart-Plieningen: Vollkornbrote im Regal, Kaiserbrötchen mit Leberwurst und Gurkenscheibe in der verglasten Vitrine, Rosinenschnecken und Plunderecken. „Was darf es sein?“, fragt die alte weiße Frau in gutem Deutsch. Sie trägt eine geblümte Kittelschürze. Mit einer Leberwurstsemmel und einer Tasse Filter-Kaffee setzt sich Katrin an ein rundes Tischchen mit Häkeldecke und Strohblumen-Strauß. Sie findet den Laden rührend-altmodisch und befremdlich zugleich. Wie in Deutschland in den fünfziger Jahren, hätten die Eltern gesagt. Die Bäckerei Schmidt ist ein beliebter Haltepunkt auf dem Weg zum Nationalpark Etosha-Pfanne im Norden des Landes. Um Katrin herum haben deutsche Touristen Platz genommen. Sie sind leger gekleidet, in Shorts, Jeans, die meisten tragen Gesundheitssandalen.

Katrin trägt einen hellblauen Hosenrock aus knitterfreier Mikrofaser, bequem und weit geschnitten. Dazu T-Shirt und hellbraune Slipper. Ihr halblanges Haar mit Seitenscheitel sitzt perfekt. Schon als Kind war es ihr wichtig, sich beim Spielen nicht schmutzig zu machen. Selten hatte sie aufgeschlagene Knie, und nie fehlte ihr ein Taschentuch. Manchmal wunderte sie sich, dass Fremde sie für älter hielten, als sie war. Ihre Freundinnen beneideten sie um ihre schlanke Figur und ihr volles Haar.

Seit Anna in Afrika arbeitete, hatte Katrin in ihrer Buchhandlung öfter mal Reiseführer über Namibia durchgeblättert. Die Kapitel über die deutsche Kolonialgeschichte hatten sie besonders interessiert: Wie die deutschen Missionare in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten Stationen aufbauten, um die Ureinwohner zu bekehren. Wie der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz mit einem betrügerischem Vertrag 580 000 Quadratmeter Land an der Westküste kaufte, wie Reichskanzler Bismarck im Jahr 1887 Südwestafrika als staatliche Verwaltungskolonie übernahm und immer mehr Soldaten schickte. Wie immer weitere deutsche Siedler kamen und den Einheimischen ihr Land wegnahmen, wie sich seit 1904 ein namibischer Stamm nach dem anderen gegen die deutsche Kolonialmacht erhob, wie die deutschen Schutztruppen in der großen Schlacht am Waterberg die rebellischen Herero niedermetzelten und das Volk in die Omaheke-Wüste trieben und dort verdursten ließen. Jetzt ist Katrin auf dem Weg zu genau diesem historischen Waterberg.

Links am Horizont liegen die Omatako-Berge wie zwei riesige Pyramiden in der Ebene. Die kennt sie von einer Postkarte, die Anna ihr geschickt hatte. Das Verkehrsschild mit dem Pfeil und der Aufschrift Okakarara taucht etwa eine Stunde später am Straßenrand auf. „Wenn ich dieses Straßenschild erreiche, überkommt mich ein Glückgefühl“, hatte Anna ihr geschrieben, “danach fahre ich immer am Waterberg entlang. Nur noch 72 Kilometer und ich bin zu Hause.“ Katrin fährt langsamer und schaut über eine golden glänzende Wiese. Eine Sinnestäuschung? Im Gras stehen Zebras und Antilopen – wie bei uns die Kühe, denkt sie. Seit mehr als einer halben Stunde fährt sie auf der Straße parallel zum Waterberg. Er scheint endlos lang zu sein. Mit seinem platten Gipfel sieht er wie ein riesiger Tisch aus. Der Sandstein seiner Zinnen leuchtet rötlich. Auf einem Zaun rechts am Weg hockt eine Affenhorde. Ein mächtiger Pavian oben auf einem Pfahl kratzt sich am Kopf. Tiere leben hier, aber offensichtlich nur wenige Menschen. Ab und zu sieht Katrin Einfahrten zu Farmen. Die deutschen Namen sind ihr vertraut und unangenehm zugleich, völlig deplatziert in der afrikanischen Landschaft: „Heimaterde“, „Waldesruh“, „Erlengrund“. Wäre sie früher als Touristin hierher gekommen, hätte sie die Landschaft paradiesisch und die Deutschtümelei befremdlich gefunden. Jetzt wirkt alles wie eine absurde Maskerade – die Kulisse für ein furchtbares Verbrechen. Okakarara ist nicht mehr weit. Links und rechts des Weges reihen sich Blechhütten aneinander. Abgemagerte Kühe streunen durchs Gestrüpp, sie wühlen in Abfallbergen. Links an der Straße steht ein Schild. Es zeigt einen Kuhkopf mit der Zeichnung des Waterbergs zwischen den Hörnern. Es ist das Logo des Kulturzentrums. Dort hat Anna fast vier Jahre lang gearbeitet. Ein schmaler Sandweg führt zu einem eisernen Tor. Es steht weit offen.

Ein kleiner, kompakter Mann, etwa so alt wie Katrin, kommt auf ihren Wagen zu und winkt. Er trägt Anzug und Schlips, sein mächtiger Glatzkopf wirkt in der Sonne wie poliert. Er sieht sie freundlich an: „Endlich sind Sie da. Ich habe Sie schon gestern erwartet.“ Das muss Annas Kollege sein, denkt Katrin. Sie steigt aus. Er stellt sich vor. „Ich bin Arnold Kaure, der lokale Partner des Deutschen Entwicklungsdienstes. Ich bin der Manager des Zentrums, Anna war meine Mitarbeiterin. Es tut mir so leid, was mit Ihrer Schwester passiert ist.“ Dann nimmt er ihre Hand und flüstert: „Gottes Wege sind unergründlich.“ Katrin zieht ihre Hand zurück. Sie hatte sich Annas afrikanischen Chef ganz anders vorgestellt – eher schlank, hochgewachsen, lässig und intellektuell.

Auf dem Weg zu seinem Auto teilt ihr Manager Arnold Kaure eine gute Nachricht mit: „Wir haben den Täter schon gefasst. Er sitzt hinter Gittern. Unsere Polizei erwartet Sie bereits. Folgen Sie mir, ich fahre voraus.“ Der Dienstwagen des Managers ist mit großen blauen Buchstaben beschriftet – DEUTSCHER ENTWICKLUNGSDIENST. Kurz vor dem Ortseingang sieht Katrin zwei riesengroße Plakattafeln am Straßenrand. Auf der linken Seite das Foto eines weißen jungen Mannes, der bekennt: „Ich bin HIV HIV-positiv.“ Rechts eine junge schwarze Schönheit, die gesteht: „Seit ich über meine Krankheit rede, will ich mich nicht mehr umbringen.“ In der Stuttgarter Zeitung hatte Katrin gelesen, dass jeder vierte Namibier HIV-positiv sei und das Thema ein Tabu. Sie ist überrascht. Die Plakate sprechen eine andere Sprache. Solche modernen Aufklärungsplakate hatte sie in Namibia nicht erwartet.

Die Polizeistation liegt kurz hinter dem Ortsschild von Okakarara. Vor dem flachen grauen Betonbau ist die namibische Fahne gehisst. Im Vorgarten scharren Hühner, eine Ziege knabbert an einem verdorrten Bäumchen. Neben der Tür sitzen Polizisten auf einer Bank und plaudern. Drinnen, hinter einem großen hölzernen Tresen steht ein junger Polizist. Katrin schätzt sein Alter auf Ende 20. Er hat ein offenes Gesicht, auch er scheint auf sie gewartet zu haben: „Sie sind bestimmt Anna Sattlers Schwester.“ Katrin nickt. Der Polizist ist unsicher und verlegen. Sein Englisch klingt holprig. „Ich war es, der als erster zum Tatort gerufen wurde. Ich heiße William Katjeho.“ Er gibt ihr die Hand.

Sie fragt zaghaft: „Wo ist meine Schwester? Kann ich sie sehen?"

Der Polizist schüttelt den Kopf. Bedauernd schaut er sie an: „Das sollten Sie nicht tun.“

Sie bittet: „Ich möchte sie noch ein letztes Mal sehen.“

„Tun Sie sich das nicht an. Ihre Schwester ist erschlagen worden. Wir haben sie sofort in die Pathologie nach Windhoek gebracht.“

Katrin sieht, wie der Manager dem Polizisten zunickt. „Dann sagen Sie mir bitte, wie es passiert ist.“

Der Polizist zieht eine Mappe mit Papieren aus der Schublade und bietet Katrin höflich einen Stuhl an. Er beginnt, sehr langsam zu lesen. Englisch ist für ihn eine Fremdsprache, die er nicht beherrscht: „Montag, 16. August 2004. 18:15 Uhr: Anruf aus dem Haus der Anna Sattler. Das Haus ist im Verwaltungsregister eingetragen als Nummer 637. Es meldet sich Frau Agnes Kandji, wohnhaft im Nachbarhaus, im Verwaltungsregister eingetragen als Nummer 638. Die Anruferin erklärt, die Bewohnerin Anna Sattler soeben leblos auf dem Fußboden in ihrem Haus vorgefunden zu haben.“ Das Telefon klingelt. Der Polizist hebt ab und spricht in seiner Muttersprache. Katrin kehrt in Gedanken nach Stuttgart zurück. Dieser 16. August war ein drückend heißer Montag. Als sie kurz nach sechs die Tür der Buchhandlung abschloss, fielen die ersten schweren Tropfen. Sie wollte unbedingt den Bus erreichen und rannte los. Ein Sommer-Gewitter prasselte nieder. Schon nach wenigen Metern war sie bis auf die Bluse klatschnass, ihre feinen Wildleder-Pumps ruiniert. Im Bus stand sie eingepfercht zwischen feuchten und schwitzenden Fahrgästen, presste ihre Arme an den Körper und machte sich so klein wie möglich. Die Stimme des Polizisten holt sie zurück nach Okakarara. „Der unterzeichnende Polizeibeamte trifft um 18:44 Uhr im Hause von Anna Sattler ein. Er findet im Hauptraum des Hauses eine leblose weibliche Person vor. Anna Sattler liegt auf dem Rücken und weist eine schwere Verletzung im Bereich der Stirn auf. Unter dem Kopf hat sich eine Blutlache gebildet. Der Tod muss durch einen oder mehrere Schläge mit einem schweren Gegenstand herbeigeführt worden sein. Die Tatwaffe konnte nicht sichergestellt werden. Nach erstem Augenschein steht fest: Weder Haustür noch Fenster sind beschädigt worden.“ Katrin schweigt, sie weint nicht, sie starrt auf die Mappe, die der Polizist zurück in die Schublade steckt.

„Einen Tag später“, berichtet Polizist Katjeho, „konnten wir bereits den Täter festnehmen. Es handelt sich um Raubmord. Nach dem Stand unserer Ermittlungen gibt es keinen Zweifel, dass Ihre Schwester in ihrem Haus mit einem schweren Kerzenhalter erschlagen wurde. Wir konnten die Tatwaffe sicherstellen. Der Täter, ein 17-jähriger Jugendlicher, wollte Ihre Schwester ausrauben. Wir haben ihn gefasst und in Gewahrsam genommen.“

Anna, erschlagen mit dem prächtigen silbernen Kerzenleuchter. Katrin sieht ihn vor sich. Sechsarmig, feinziseliert, edel glänzend und sehr schwer. Ein Erbstück der Urgroßmutter. Zu Weihnachten und Ostern wurde er geputzt und schmückte die Festtafel. Bevor Anna nach Afrika ging, durfte sie sich etwas aus der elterlichen Wohnung aussuchen. „Ein bisschen Luxus brauche ich auch im Busch“, hatte sie lachend gesagt und auf den Silberleuchter gezeigt. Katrin fand es anmaßend, dass Anna sich das Schönste und Wertvollste rausgesucht hatte. Und ausgerechnet damit ist sie erschlagen worden. Wie makaber. Sie will es nicht glauben, sie muss es sehen, das kostbare Familienstück, das zur Mordwaffe geworden ist. „Zeigen Sie mir den Kerzenhalter.“

Der Polizist sieht sie entgeistert an. „Misses, das geht nicht, das ist die Mordwaffe. Nein, das geht nicht!“ Katrin bittet ihn noch einmal eindringlich, ihr den Kerzenhalter zu zeigen. Der Tod ihrer Schwester ist für sie etwas Unwirkliches. Die Leiche wurde fortgebracht, die Tatwaffe ist unter Verschluss. Irgendetwas muss Katrin sehen, um die schreckliche Wahrheit begreifen zu können. Der Polizist versteht nicht, warum Katrin unbedingt die Mordwaffe sehen will. „Misses, es tut mir leid. Aber es gibt Vorschriften, an die ich mich zu halten habe.“ Manager Kaure pflichtet dem Polizisten bei: „Vielleicht gelten bei Ihnen in Deutschland andere Regeln. Bei uns ist so etwas nicht erlaubt. Damit müssen Sie sich abfinden, auch wenn Sie unsere Gesetze nicht gutheißen.“

Entschieden und aggressiv – so hören sich für Katrin die letzten Worte des Managers an. Sie spürt seinen prüfenden Seitenblick und kapiert: gegen diese beiden Männer kommt sie nicht an. Die mauern und finden ihr Ansinnen absurd. Und sie macht sich nur lächerlich, wenn sie weiter insistiert.

„Okay, ich habe verstanden.“ Katrin versucht, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie will weg, einfach raus aus der Polizeistation. Die stickige Luft nimmt ihr fast den Atem. Aber wo soll sie hin? „Ich habe eine Bitte. Wo finde ich hier in Okakarara ein Hotelzimmer?“

Der Polizist und der Manager werfen sich einen kurzen Blick zu und sprechen wie mit einer Stimme: „Ein Hotel? Hier gibt’s kein Hotel.“ Der Manager schüttelt den Kopf: „Wissen Sie eigentlich, wo Sie hier sind? Okakarara ist ein Dorf mitten in Namibia. Hier leben die Menschen in Blechhütten. Sie sind arm. Touristen verlaufen sich nur ganz selten hierher, sie tauchen höchstens auf, wenn ihr Tank leer ist und sie Benzin brauchen. Es ist bekannt, dass wir hier eine Tankstelle haben, das ist in Namibia auch nicht selbstverständlich. Im Übrigen – wozu brauchen Sie denn noch ein Hotelzimmer, ich dachte, Sie wollten heute Abend zurück nach Windhoek? Was hält Sie hier noch? Hier gibt es nichts zu besichtigen, ich kann ihnen nichts Schönes zeigen. Die Habseligkeiten Ihrer Schwester müssen Sie nicht zusammenpacken. Diese Arbeit nehmen wir Ihnen gerne ab, wir kümmern uns auch um den Rücktransport Ihrer Schwester. Ihrer Abreise steht nichts mehr im Wege.“

Er spricht, als hätte er diese Sätze vorher auswendig gelernt. Katrin will sich aber nicht abwimmeln lassen und besteht darauf: „Ich brauche eine Unterkunft hier im Ort. Ich bin müde, ich habe eine lange Reise hinter mir.“

Arnold Kaure wirkt überrascht: „Hier finden Sie kein Zimmer. Hotels gibt es reichlich in Windhoek. Dort finden Sie ein gutes Hotel, und morgen können Sie gleich zurück nach Deutschland fliegen.“

„Nein, ich will heute in Okakarara bleiben. Wo ist das Haus meiner Schwester? Wo ist der Schlüssel? Liegt der hier auf dem Polizeirevier?“ Katrin erschrickt über ihren zu barschen Tonfall.

Beide Männer schauen sie fragend an und schweigen. Sie bleibt hartnäckig und wiederholt: „Ich will das Haus meiner Schwester sehen. Vielleicht kann ich dort auch übernachten.“ Zögernd reicht ihr der Polizist einen Schlüsselbund: „Wenn Sie meinen.“

Kaure wirft dem Polizisten einen vorwurfsvollen Blick zu, er scheint verärgert zu sein, dass Katrin die Hausschlüssel bekommen hat: „Sind Sie sich darüber im Klaren, wo Sie schlafen werden? In diesem Haus ist Ihre Schwester ermordet worden. Wollen Sie sich das wirklich antun? Ich muss Ihnen davon abraten.“

„Wo soll ich denn sonst hin? Bitte geben Sie mir die Adresse. Ich finde mich schon allein zurecht.“

Kaure spürt ihre Unsicherheit und will sie beruhigen: „Das schaffen Sie nicht alleine. Offensichtlich sind Sie zum ersten Mal in Afrika. In unserem Ort haben die Straßen keine Namen und die Häuser keine Nummernschilder. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“

Als sich Katrin beim Hinausgehen noch einmal umdreht, sieht sie, dass der junge Polizist ihr ratlos hinterher schaut.

„Mein kleines Sommerhaus“ hatte Anna ihre Bleibe genannt. Links von der Hauptstraße führt ein sandiger Weg in eine Siedlung mit umzäunten Grundstücken. Mittendrin Annas Häuschen. Von allen Seiten laufen Kinder herbei und starren Katrin an. Anna nannte sie „mein Empfangskomitee“. Der Manager bremst ab, springt aus seinem Auto und lässt sich von Katrin den Schlüsselbund durchs offene Fenster reichen. Das klapprige Tor aus Maschendraht und Holzlatten ist halbhoch und mit einem eisernen Vorhängeschloss verriegelt. „Früher stand es immer offen, nach Annas Tod hat die Polizei es zugeschlossen“, erklärt Kaure. Beide Autos fahren auf den Hof. Im Garten ist es genauso sandig wie auf der Straße. Rund um das Haus aber grünt und blüht es. Anna hat ihren Garten gehegt und gepflegt. Bisher hatte Katrin geglaubt, nur sie hätte einen grünen Daumen für ihre Balkonpflanzen. Rechts und links von der Eingangstür stehen Terrakotta-Töpfe mit Blumen und Kräutern. Eine Kletterpflanze mit zarten weißen Blüten zieht sich an der Wand über dem Türrahmen hoch. Der Zaun zu den Nachbargrundstücken ist verrostet, löchrig und an einigen Stellen herunter getreten. Türen und Fenster des Hauses aber sind durch zusätzliche Gitter geschützt. Da konnte ja jeder in den Garten, nur das Haus ist wie ein Gefängnis gesichert, denkt Katrin und dreht den Schlüssel in einem dicken Vorhängeschloss um. Hinter der Gittertür muss sie noch einmal zwei Schlösser öffnen, bis sie in einem lichtdurchfluteten Raum steht. Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fallen durch die Fenster zum Garten auf den hellgrauen Fußboden. Muffige Luft und verdorbenes Essen auf dem Herd nehmen Katrin fast den Atem. Sie sieht einen zusammengerollten Strohteppich und daneben die Umrisse einer Person, die mit weißer Kreide auf den Beton gemalt sind. Anna. Anna am Boden, den linken Arm nach oben verdreht, nah am Kopf, so als wolle sie sich schützen.

Katrin spürt, wie sich ihr Begleiter wendig an ihr vorbeischiebt und mit einem kräftigen Tritt den Teppich über die Kreidezeichnung schieben will. Der Teppich ist voller Blutflecken. Katrin zieht den Manager am Arm zurück: „Lassen Sie das!“ Sie bückt sich und rollt den Teppich so zusammen, dass Anna wieder sichtbar wird.

„Sie dürfen sich nicht unnötig quälen. Ich hole einen Lappen und wische das weg. Die Ermittlungen sind abgeschlossen.“ Arnold Kaure spricht leise, seine Stimme klingt fürsorglich.

„Nein, nein, nicht wegwischen. Sie soll hier bleiben. Sie soll bei mir bleiben.“ Katrin spricht vor sich hin, als wäre sie allein im Haus. Ein Korbsessel mit bunten Kissen, Bücherregale, an den Wänden Fotos und kleine Ölgemälde, auf dem Herd eine gusseiserne Pfanne mit gebratenen Tomaten und Zwiebeln. Offensichtlich wollte Anna sich gerade ihr Abendbrot zubereiten, als der Mörder kam. Katrins Blick fällt auf eine moderne, kleine HiFi-Anlage aus mattem Edelstahl und Holz. Daneben ein Stapel CDs. Auf einer Kommode unter einem alten Spiegel steht eine blau-weiße Porzellanschale mit Schmuck – Annas geliebte silberne Ringe, die Goldkette der Mutter mit Jugendstil-Anhänger und eine Vielzahl von Ohrringen. Draußen dämmert es. Katrin hat ihre Reisetasche in das anliegende Schlafzimmer gestellt. „Du kannst immer bei mir wohnen, ich habe sogar ein kleines Gästezimmer“, hatte ihr erst kürzlich die Schwester am Telefon gesagt. Manager Kaure lehnt am Türrahmen und lässt sie nicht aus den Augen. Seine Stimme klingt besorgt, als er fragt: „Haben Sie denn gar keine Angst, hier zu übernachten?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin nur müde. Ich habe im Flugzeug kein Auge zugetan.“

Er macht ihr einen Vorschlag. „Ich hole Sie morgen früh um zehn Uhr ab und zeige Ihnen unser Kulturzentrum. Vor Ihrer Rückreise müssen Sie sehen, wo Ihre Schwester gearbeitet hat. Dann können Sie gleich nach Windhoek zum Flughafen weiterfahren.“ Kaure dreht sich um und nuschelt etwas in sich hinein. Er geht.

Endlich ist sie allein. Sie fühlt sich kraftlos, leer und hundemüde, aber sie wagt nicht, sich in einen der Sessel zu setzen, es sind Annas Sessel. Sie traut sich nicht, die Fenster zu öffnen. Draußen wird es gerade dunkel. Sie fürchtet sich vor afrikanischem Ungeziefer, das vom Licht im Haus angezogen wird. Aber in dieser muffigen Luft kann sie die Nacht nicht überstehen. Deshalb reißt sie zwei Fenster auf und lässt die Terrassentür zum Garten offen stehen. Sie schreit auf, als sie eine Ameisenstraße an der Wand hinter dem Herd entdeckt. Panisch rennt sie mit der schweren gusseisernen Pfanne in den dunklen Garten und sucht die Mülltonne. Vergeblich. Schimpfend kippt sie die Speisereste in einen Busch am Zaun. Katrin ist fertig. Gestank, Blut auf dem Strohteppich, Ungeziefer. Alles findet sie hier primitiv und abstoßend. Wie konnte Anna hier bloß leben? Unruhig läuft sie im Haus auf und ab. Sie guckt in alle Ecken, geradeso als lauere überall Unheil. Ein dickes schwarzes Oktavheft, verschlossen mit einem Gummiband, liegt auf einem Tischchen neben dem Bett. Solche Hefte hat Anna immer schon für ihre Notizen benutzt. Katrin schlägt die Kladde auf und legt sie sofort erschrocken zurück, als habe sie etwas Unrechtes getan. Man liest nicht in fremden Tagebüchern. Anna könnte gleich zur Tür reinkommen. Unsinn, Anna ist tot. Katrin setzt sich auf den Boden, ein paar Zentimeter von dem Kreidekreis entfernt, der Annas Kopf skizziert. Sie schließt die Augen und schon sieht sie Anna als Fünfjährige auf der Wiese am Baggersee liegen.

An einem heißen Sommernachmittag radelte Katrin mit ihrer Schwester zum Badesee. Die kleine Anna saß hinten auf dem Gepäckträger und hatte ihre Arme um die Schwester geschlungen. Katrin war elf und Anna gerade fünf. Der kleine See mit Schilf am Ufer, die glitzernde Sonne im Wasser, die Badestelle mit Sandstrand. Katrins Freundinnen tobten im Wasser und winkten ihr zu. Sie sprang vom Rad, zog schnell ihr Kleid aus und ermahnte Anna: „Bleib hier auf der Wiese sitzen, bis ich dich hole. Pass auf unser Rad auf.“ Katrin rannte zu den Freundinnen und vergaß die Zeit, Anna und alles um sie herum. Da hörte sie einen Hilfe-Schrei. Katrin sah, wie Erwachsene von der Liegewiese aufsprangen und zum Wasser eilten. Sie sah das Fahrrad auf der Wiese. Keine Anna. Wo war sie? Sie schwamm in heller Aufregung zum Ufer und lief zu den Badegästen, die einen Kreis bildeten. Alle schrien durcheinander: „Schnell, einen Arzt!“ Katrin sah durch die Beine der Umstehenden, wie Anna in ihrem bunten Badeanzug im Sand lag. Die braunen Haare hingen wirr im bleichen Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Sie bewegte sich nicht. Eine Frau versuchte, das Kind mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zu beleben. Katrin stand wie angenagelt vor ihrer kleinen Schwester. Sie brachte kein Wort heraus, sie dachte nur: Ich bin schuld, ich habe sie umgebracht. Der Notarztwagen fuhr quer über die Wiese, zwei Sanitäter sprangen heraus. „Zu wem gehört dieses Kind?“ Katrin wäre am liebsten weggelaufen. Sie flüsterte: „Zu mir.“ Automatisch beantwortete sie alle Fragen: Name, Adresse, Telefon, Krankenversicherung. Anna wurde auf einer Trage in den Notarztwagen geschoben, die Doppeltür knallte zu. Der Krankenwagen fuhr mit ihrer Schwester davon.

Katrin setzte sich wie benommen auf die Wiese. Von allen Seiten prasselten die Vorwürfe auf sie nieder. „Warum hast du nicht auf die Kleine aufgepasst?“, „Schäm dich!“, „Du bist schuld, wenn deine Schwester stirbt. Beinahe wäre sie ertrunken“, „Wie konntest du nur so egoistisch sein?“ Katrin weiß nicht mehr, wie sie an diesem Tag den Weg nach Hause gefunden hatte. Sie erinnert sich nur, dass sie den Schlüssel vorsichtig umgedreht und in die Wohnung geschlichen war. Aber da war niemand, der sie hätte trösten können. Anna überlebte. In der Nacht kam sie mit den Eltern aus dem Krankenhaus zurück. Katrin hörte die Wohnungstür zuklappen und schnappte ein paar Worte auf, die ihre Eltern im Flur zu Anna sprachen. „Alles wird wieder gut. Heute darfst du bei uns im Bett schlafen.“ In dieser Nacht kam niemand in ihr Kinderzimmer – weder Mutter noch Vater. Auch Martin, der drei Jahre jüngere Bruder, kam nicht an ihr Bett. Katrin weinte sich in den Schlaf. Sie war Luft für ihre Eltern. Das war die schlimmste Strafe, viel schlimmer als der Schmerz einer Ohrfeige.

Katrin steht auf. Es ist stockdunkel geworden. Sie weiß nicht, wie lange sie auf dem Boden gesessen hat. Die Luft im Haus ist jetzt viel besser, es stinkt nicht mehr. Sie macht Licht an und will gerade die Vorhänge im Schlafzimmer zuziehen, da schaut sie in lauter verschwommene dunkle Kindergesichter. Die Mädchen und Jungen pressen ihre Nasen an die Scheibe. Katrin fühlt sich belästigt. Sie zieht den Vorhang zu, schließt die Tür zum Schlafzimmer und dreht den Schlüssel herum. Sie lässt sich aufs Bett fallen. Wenn Martin doch nur mitgekommen wäre.

Dumpfe Schläge an der Haustür. Katrin schleicht sich heran und horcht. Ob der Manager etwas vergessen hat? Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und ruft: „Wer ist da?“

Eine tiefe Stimme antwortet: „Ich bin Chief John Kambanda, ein Freund Ihrer Schwester.“ Katrin öffnet die Tür nur einen Spalt breit: „Ja, Ihren Namen hat meine Schwester öfter erwähnt.“ Ein hagerer hochaufgeschossener Mann lächelt sie an: „Ich möchte Ihnen mein Beileid bekunden.“ Sie lässt den Chief eintreten und mustert ihn verstohlen. Einen Häuptling hat sie sich anders vorgestellt – mit einem prächtigen Gewand oder wenigstens irgendeinem Zeichen seines Ranges. Dieser alte Herr aber hat ein abgetragenes europäisches Jackett an und trägt ausgetretene Turnschuhe. Sein braunes, erstaunlich glattes Gesicht ist ein schöner Kontrast zu dem vollen schlohweißen Haar. Das muss der Häuptling sein, den Anna bewundert hat. Katrin schiebt ihm den großen bequemen Korbsessel zurecht. Sie sucht in der Küche nach einer Teekanne. Ob sie ihm Tee servieren soll? „Möchten Sie etwas trinken?“ Der Chief winkt ab: „Der Tee kann warten.“ Dann schaut er sich in dem Raum um, lässt seinen Blick aufmerksam über jeden Gegenstand schweifen: „Hier habe ich oft mit Anna gesessen. Sie war eine liebenswerte Frau. Wir haben gut zusammengearbeitet. Ich bin sehr traurig über ihren Tod.“

Katrin wundert sich über sich selbst. Ohne Angst und ohne Misstrauen sitzt sie in einem wildfremden Land mit einem wildfremden Mann mitten in der Nacht wie selbstverständlich zusammen. Sie mag die Art, wie er über Anna spricht, und sie ahnt, dass er mehr über ihre Schwester weiß als sie selbst. „Erzählen Sie mir von Anna. Wie lebte sie hier?“

Der Chief ist erstaunt: „Wissen Sie das nicht? Sie sind doch die Schwester?“

„Ich habe mich nicht genug um Anna gekümmert“, entschuldigt sie sich. „Zu Hause war immer so viel los. Vor einem Monat haben wir das letzte Mal miteinander geredet. Am Telefon hat man nie genug Zeit, um in Ruhe zu sprechen.“

„Ja, ja, das weiß ich schon. Die Menschen haben keine Zeit füreinander, nicht einmal in der Familie.“ Seine Stimme wird weich. Katrin spürt, der Chief mochte Anna. Und er will wissen, warum sie ihre Schwester nie besucht hat. Sie hört keinen Vorwurf aus seinen Worten heraus. Sie zuckt mit den Schultern, sie weiß es selbst nicht. Sie weiß nur, sie hat ein schlechtes Gewissen. „Es tut mir so leid und jetzt ist alles zu spät. Ich war übrigens heute bei der Polizei und habe erfahren, dass der Täter 17 Jahre alt ist und von hier stammt. Kennen Sie ihn?“

„Ja, seit seiner Geburt. Ich weiß nicht, was wirklich geschehen ist. Ich bin fassungslos über Annas Tod. Das ist ein großes Rätsel und eine Schande für unsere ganze Region.“

Für Katrin hat das Gespräch gerade erst begonnen. Sie hat noch viele Fragen, aber Chief Kambanda steht auf: „Ich muss gehen. Sie können mich jederzeit anrufen. Hier ist meine Telefonnummer. Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Anna hatte mir bei einem meiner letzten Besuche etwas versprochen, was Sie wissen sollten. Sie wollte mir den schönen Kerzenleuchter schenken. Ich hatte irgendwann einmal erwähnt, dass mir dieser Silberleuchter sehr gefällt. Sie sagte, dieses Familienstück wolle sie mir geben, wenn sie eines Tages Namibia verlasse. Anna scherzte ein wenig und meinte, sie möchte nicht, dass ich sie vergesse.“ Der Chief wirft Katrin einen kurzen Blick zu, gerade so, als wolle er die Wirkung seiner Worte testen. Dann fügt er ruhig und bestimmt hinzu: „Ich würde mich freuen, wenn Sie mir das Geschenk von Anna überlassen, sobald die Polizei das Stück freigegeben hat.“

Als Katrin sich von ihm vor der Haustür verabschiedet, ermahnt er sie noch: „Vergessen Sie nicht, beide Türen und auch die beiden Gitter davor gut abzusperren. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme und hat nichts mit dem Tod Ihrer Schwester zu tun. Das machen hier alle so. Ihre Schwester lebte wie wir. Sie hatte weder Nachtwächter noch Dienstpersonal. Das gefiel uns sehr.“

„Woher wussten Sie, dass ich heute hier angekommen bin?“

Der alte Mann lacht: „Bei uns spricht es sich sofort herum, wenn ein fremdes Gesicht auftaucht.“

Der Kerzenleuchter ist die Tatwaffe. Katrin empfindet es als unangemessen, ja sogar taktlos, diesen Gegenstand, mit dem die Schwester erschlagen wurde, als Dekoration aufstellen zu wollen. Eine Mordwaffe auf einem festlich gedeckten Tisch? Geschmacklos. Oder ticken Afrikaner anders? Der Chief ist ihr sympathisch, aber sein Wunsch befremdet sie. Anna hat ihr mal erzählt, Afrikaner äußern ihre Wünsche oft sehr direkt. Darüber möchte Katrin jetzt mit ihrem Bruder reden. Als sie den Hörer aufnimmt, merkt sie, dass die Leitung tot ist. Trotzdem wählt sie die Stuttgarter Nummer. Auch ihr Handy kann sie nicht benutzen. Der Akku ist leer, und das Aufladegerät hat sie in der Aufregung in Stuttgart liegenlassen.

Das Thermometer am Fenster zeigt drei Grad plus. Katrin war auf Sommer eingestellt, dachte, auch der afrikanische Winter sei mild. In ihre Reisetasche hat sie nur zwei leichte Kleider und ein paar T-Shirts gepackt. Sie fröstelt und geht ins Schlafzimmer. Im großen Kleiderschrank findet sie zwei flauschige Decken und einen dicken Pullover. Sie wickelt sich ein Wolltuch um die Hüften und kriecht unter Annas Federbett. Jetzt fehlt nur noch die Wärmflasche, denkt sie. Sie ist todmüde und findet trotzdem keinen Schlaf. In ihrem Kopf schwirrt es von den vielen neuen Eindrücken. Ihre Gedanken verheddern sich, fangen an zu kreisen. Festgehakt in ihrem Kopf ist das Bild, das sie nicht verdrängen kann: Die Kreide-Figur auf dem Betonfußboden. Immer wieder hört sie die Stimme des Polizisten. „Tun Sie sich das nicht an! Was für ein grässlicher Tod!“ Katrins Magen krampft sich zusammen. Sie friert und zittert, obgleich sie zusammengekauert unter der dicken Zudecke liegt. Sie lauscht seltsamen Geräuschen nach. Im Hause knistert und knackt es, es trappelt und knirscht, sie hört flüsternde Stimmen, kehliges Lachen. Katrin springt aus dem Bett, tappt im Dunkeln ans Fenster, hebt den Vorhang ein paar Zentimeter hoch, öffnet das Fenster einen Spalt und blickt hinaus in die Nacht. Sie erspäht ein offenes Feuer mit einem großen Topf darauf. Der Maschendrahtzaun ist so heruntergetreten, dass sie beobachten kann, was sich im Garten nebenan abspielt. Schwarze Gestalten mit merkwürdigen langen Gewändern und sperrigen Hüten laufen hin und her. Babys schreien, Kinder hüpfen herum. Aus der Ferne dringt monotone Disco-Musik in ihr Haus. Katrin ist neugierig geworden und möchte zu gerne wissen, was zu später Stunde bei den Nachbarn los ist. Für sie ist Okakarara eine Welt voller Geheimnisse.

Sie schließt das Fenster und kriecht unter die schwere Bettdecke. Aber der Schlaf kommt nicht. Raubmord – sagt die Polizei. Was hat der Mörder mitgenommen? Wieder verlässt Katrin das Bett, läuft durch alle Zimmer, öffnet Schübe und Schränke: Es scheint nichts zu fehlen, nichts ist durchwühlt, alles liegt ordentlich an seinem Platz – der Schmuck, der CD-Player, das Radio, die Box mit Kassetten und CDs, die Bücher, die Seidenschals. Es kann kein Raubmord gewesen sein. Aber was war es dann? Wiederholt schreckt sie auf, taumelt an die beiden Türen und kontrolliert, ob die Schlösser unversehrt sind. In den Nachbargärten sind die Feuer längst erloschen. Aber rund um das Haus hört sie noch verdächtige Laute. Ein Hund knurrt, und als sie aus dem Toilettenfenster schaut, meint sie, eine dunkle Gestalt davonhuschen zu sehen. Jetzt dringt auch noch verzweifeltes Katzengeschrei in ihr Schlafzimmer. Ob das Annas Tiere sind?

Ihre Schwester liebte Katzen, und da sie in Stuttgart in ihrem winzigen Ein-Zimmer-Appartement keine Tiere halten durfte, hatte sie gleich nach ihrer Ankunft in Afrika zwei Katzen zu sich geholt. Katrin wagt nicht, die Tür zu öffnen. Erst gegen Morgen findet sie ein paar Stunden Schlaf.

Draußen scheint die Sonne. Katrin schaut in einen strahlend hellen und kalten Morgen. Der Monat August gehört zum afrikanischen Winter. Arnold Kaure steht um Punkt zehn mit einer Tüte vor ihrer Tür. Er trägt einen dunkelblauen Pullover und Jeans. Er scheint bester Stimmung zu sein und will wissen, ob sie gut geschlafen hat.

„Naja, es war etwas unheimlich.“ Katrin wickelt die Decke fester um die Hüften.