Mord an der Förde - Heinrich Dieter Neumann - E-Book

Mord an der Förde E-Book

Heinrich Dieter Neumann

4,9

Beschreibung

Eigentlich wollte Kommissarin Helene Christ in den wohlverdienten Segelurlaub mit Freund Simon Simonsen aufbrechen, doch ein Mord durchkreuzt ihre Pläne. Im Wald nahe der Ostseesteilküste wird die Leiche der vierzehnjährigen Clarissa gefunden. Das Mädchen war Teilnehmerin des Ferienlagers Nis Puk und laut Freundin Gesa in einen ihrer Betreuer verknallt. In der Mordnacht hatte sie eine Verabredung mit Alim Tayfur - und von dem fehlt seither jede Spur. Als man Alims DNA an der Leiche identifiziert, steht der Mörder für Christs Kollegen Edgar Schimmel daher schnell fest. Fakten lügen nicht. Helene Christ bekommt jedoch hautnah mit, dass in der Familie des Mädchens einiges im Argen liegt. Bruder Patrick hat keinen Zweifel daran, dass sein Vater Clarissas Mörder ist. Und tatsächlich verhält sich Carl von Sassenheim alles andere als kooperativ. Im Gespräch mit dem Mann überkommt Helene ein ungutes Gefühl. Was haben die von Sassenheims zu verbergen?

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H. Dieter Neumann

Mord an der Förde

Kriminalroman

© 2015 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: mem-film.de / photocase.de

eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-89425-191-8

Der Autor

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte.

Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.

Die Tote von Kalkgrund erzählt vom ersten Fall für das ungleiche Ermittlerduo Helene Christ und Edgar Schimmel.

www.hdieterneumann.de

Für Ökken, Amelie, Ille

Prolog

Heute tragen vier Gäste Pistolen, die Männer unter ihren Jacketts, die Frauen in Umhängetaschen.

Die Zweiertische, an denen sie sich gegenübersitzen – jeweils ein Mann und eine Frau –, sind nicht die besten im Lokal, stehen tief im Raum, weit entfernt von den Fenstern. Dafür aber nahe der Garderobe.

Schon dieser Teil der Operation ist schwierig gewesen, erforderte genaue Planung. Die passenden Tische mussten Tage vorher reserviert werden, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Alles hängt davon ab, dass der Mann, der der Grund für diese Aktion ist, nicht aufgescheucht wird. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Und seine Bodyguards auch nicht.

Die Leute, die um sie herum im Saal sitzen, sind den vier Spezialisten des Bundeskriminalamtes an den kleinen Tischen herzlich gleichgültig. Diese Gäste sind gekommen, um gut zu essen – italienische Küche vom Feinsten. Dafür nehmen sie die Hitze in Kauf, die den hoffnungslos überfüllten Gastraum jetzt im Sommer in ein Treibhaus verwandelt, stören sich nicht an der Enge, am Lärm der vielen anderen Feinschmecker, an der Hektik des überforderten Personals, nicht einmal an den unverschämten Preisen.

Man muss hier lange im Voraus reservieren und freut sich, wenn man tatsächlich eine Zusage bekommt. Die Trattoria Antonio ist eine Institution in der Stadt.

Einen Tisch aber, einen ganz speziellen, kann niemand reservieren, das wissen die vier BKA-Polizisten. Diesem Tisch gilt ihr Interesse. Er steht, umgeben von zehn Stühlen, in einem Raum hinter der Garderobe, an dessen Tür ein Schild mit dem Wort Privat hängt – für die vier Gäste an ihren Plätzen gut sichtbar. Meist ist diese Tür verschlossen.

Heute nicht. Antonio persönlich hat sie vorhin aufgeschlossen.

Natürlich wissen die vier Beamten auch, dass es noch eine zweite Tür gibt. Sie führt aus dem Privatzimmer hinaus auf den Hinterhof und von dort direkt auf eine stille Wohnstraße.

Die Gäste der Trattoria ahnen nichts vom eigentlichen Zweck dieses Separees. Allenfalls vermuten sie den Zugang zu Antonios Wohnung hinter der Tür. Ganz selbstverständlich halten sie den freundlichen, kugelrunden Italiener für den Inhaber der Trattoria, die seinen Namen trägt.

Nur zwei-, dreimal in der Woche könnte es einem aufmerksamen Beobachter auffallen, dass Antonio höchstselbst, und ausschließlich er, mit Tabletts voller Speisen und Getränken den Raum betritt und mit leeren Tellern, Gläsern und Schüsseln wieder herauskommt, um sie in die Küche zu tragen. Das sind die Tage, an denen der Padrone hier tafelt. Tage, an denen nicht nur gut gegessen und getrunken, sondern das ganz große Rad gedreht wird.

Heute ist solch ein Tag. Einer, an dem hinter der Tür bei Schwertfischsteaks – am frühen Morgen frisch eingeflogen – mit pikanter Sardellenbutter und kühlem Mantonico aus Kalabrien Geschäfte besprochen werden. Gefährliche Geschäfte. Seit Jahren stellt der wahre Besitzer des Hauses hier die Weichen für seine geheimen und überwiegend kriminellen Unternehmungen. Er tafelt eben gern gut.

Der Präzisionsschütze im dunklen Overall über der Schutzweste, der in der Nacht schon seinen Posten hinter dem Schornstein bezogen hat, kann den Hinterhof der Trattoria Antonio vollständig einsehen. Das dreistöckige, gelb verklinkerte Wohnhaus, auf dessen Flachdach er liegt, steht auf der anderen Seite der Straße, der vergitterten Pforte zum Hof fast genau gegenüber. Auch die Hintertür kann er sehen, die vom Hof ins Restaurant führt, direkt in den Raum, in dem man heute ein Abendessen servieren wird. Ein besonderes Essen für einen besonderen Gast – und seine sogenannten Geschäftsfreunde.

Fünf weitere Scharfschützen sind in der Dunkelheit auf den Dächern der Häuserblocks in dieser ruhigen Straße in Stellung gegangen. Und das SEK, zwölf Mann in kompletter Ausrüstung und bis an die Zähne bewaffnet, bereitet sich in einer der Erdgeschosswohnungen auf den Zugriff vor.

Auf dem Dachboden des gelben Klinkerbaus, am Fuße der Leiter, die zum Posten neben dem Schornstein hinaufführt, ist ein langer Klapptisch aufgebaut, auf dem verschiedene elektronische Geräte mit Kabeln verbunden sind. Drei Leute in lässiger Zivilkleidung haben in den letzten Stunden eine gewaltige Richtantenne aufgebaut und ausgerichtet. Nun sitzen sie an dem Klapptisch, jeder mit einem Kopfhörer auf den Ohren, und drehen unentwegt an den Reglern der Empfangsanlage.

Noch spricht niemand in jenem Raum dort drüben. Aus den Kopfhörern tönt nur das leise Klirren von Gläsern und Tellern, die eingedeckt werden. Nachher aber wird jedes Wort, das in dem verschwiegenen Hinterzimmer gesprochen wird, hier oben klar und deutlich zu verstehen sein.

Der Einsatzleiter steht mit umgehängtem Sprechgeschirr an der Dachluke und schaut auf seine Armbanduhr. Er wendet den Kopf, sieht fragend hinüber zu den Technikern. Einer von ihnen hebt den Daumen und nickt. »Alles okay. Kann losgehen.«

»Dann schalten Sie auf laut«, befiehlt der Einsatzleiter, und sofort darauf bebt die stickige Luft auf dem Dachboden von einem atmosphärischen Rauschen, manchmal unterbrochen von lautem Scharren und von den schweren Schritten des Wirtes, der wohl gerade die Stühle noch einmal ausrichtet.

Am Ende des Tisches sitzt eine junge Beamtin am Funkgerät. Auch sie lauscht angespannt in ihre Ohrhörer. Plötzlich zuckt sie zusammen. »Pate Sieben meldet: Vier Wagen kommen von Süden. Biegen gerade in die Straße ein.«

Der Mann auf dem Dach hat den Konvoi schon im Blickfeld, als sein Chef mit einem Satz neben ihm auftaucht und ruhig in sein Kehlkopfmikrofon spricht: »An alle, hier Pate Eins: Sie kommen. In Deckung bleiben! Zugriff erst, wenn er wieder herauskommt. Und nur auf mein Kommando.«

Ein dunkelgrauer S-Klasse-Mercedes vorn und zwei Wagen des gleichen Modells in Schwarz als drittes und viertes Fahrzeug kommen in schnellem Tempo näher. Zwischen den deutschen Limousinen fährt ein nagelneuer hellsilberner Maserati Quattroporte. Der kleine Konvoi prescht bis kurz vor die Gitterpforte, dann stoppt er abrupt. Der schwere Maserati kommt direkt vor dem Tor zum Stehen.

Die Türen des ersten und des letzten Mercedes gehen auf, aus jedem Wagen springen drei Männer in hellen Trenchcoats, suchen rasch mit ihren Blicken die Umgebung ab und verteilen sich auf beiden Straßenseiten. Einer öffnet die Pforte und bleibt daneben stehen, während ein zweiter langsam hindurchgeht, wobei er mit seinen Augen aufmerksam den Hof absucht. Im Maserati und im zweiten Mercedes hat sich noch nichts gerührt. Die Türen bleiben geschlossen.

»Der Kerl ist wirklich vorsichtig«, murmelt der Einsatzleiter leise. Er drückt den Sendeknopf an seinem Funkgerät: »Im Mercedes Nummer zwei befindet sich unser Informant, zusammen mit zwei anderen Capos. Nach seinen Angaben sitzt im Maserati wahrscheinlich der Gast aus Italien – und natürlich die Zielperson.«

Er sieht, dass der Mann im Hof an die Hintertür klopft. Diese öffnet sich sofort, und Antonios runder Kopf erscheint. Nach einem kurzen Nicken hebt der Bodyguard den Daumen der rechten Hand in die Luft. Die Türen des zweiten Autos gehen auf, und drei Männer in dunklen Anzügen steigen aus.

»Der Große mit der Hornbrille ist unser Informant, der ›Finanzberater‹ der Organisation – so bezeichnet er sich jedenfalls«, gibt Pate Eins über Funk durch, während er zusieht, wie der Mann an der Pforte jetzt an den Maserati tritt und die rechte hintere Tür öffnet. »Scheiße, was ist denn das?«, entfährt es ihm, als er das kleine Mädchen entdeckt, das die Beifahrertür aufreißt und fröhlich aus dem Auto springt.

»Ein Kind! Das ist … verdammt … ja, das ist seine Tochter! Mein Gott, er hat seine Tochter dabei«, kommt es aus dem Kopfhörer.

»Ich sehe es.« Nur ein Knurren.

Von der Rückbank wuchtet der Padrone seinen imposanten Leib aus dem Wagen. Auf der anderen Seite steigt sein Gast aus, ein spindeldürrer Mann in einem beigen Anzug und mit einer übergroßen Sonnenbrille im Gesicht. Er geht um den Wagen herum und schließt zu dem Dicken auf, der lachend hinter seiner hüpfenden Tochter, einem etwa siebenjährigen Kind in hellgelbem Sommerkleidchen, durch die Pforte tritt.

»Keine Änderung des Plans«, gibt der Einsatzleiter entschlossen über Funk durch. »Wir schneiden alles mit, was drinnen gesprochen wird. Wenn ihm egal ist, was das Mädchen mitbekommt, dann können wir auch keine Rücksicht nehmen. Kind hin oder her, wir greifen ihn uns, wenn er rauskommt.«

Er nimmt den Finger vom Sendeknopf und beobachtet aufmerksam die kleine Prozession, die, angeführt von dem hüpfenden Mädchen, nur noch wenige Meter von der Hintertür entfernt ist.

Dann passiert es. Einer der Bodyguards sieht offenbar aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem Dach neben dem Restaurant und stößt sofort einen Warnruf aus. Plötzlich haben alle Männer Pistolen in der Hand, die Bodyguards zerren sogar MPs unter ihren Mänteln hervor.

Die Hölle bricht los. Mit zwei, drei Schüssen wird der SEK-Mann, der sich zu weit vorgewagt hat, vom Dach geholt und fällt leblos kopfüber in den Hof. Im Nu erfüllt das bösartige Bellen vieler Waffen die Luft. Und lautes Geschrei.

Der Einsatzleiter brüllt Befehle in den Äther, die anscheinend keiner mehr hört. Aus der Wohnung nebenan stürzen die schwarz vermummten Beamten des SEK heraus und eröffnen das Feuer.

Das kleine Mädchen stößt einen hellen, durchdringenden Schrei aus, fasst sich an die schmale Brust und bricht wimmernd zusammen. Blutüberströmt stürzt der zierliche Körper auf den Boden, vor das Gesicht des Vaters, der sich neben einem Müllcontainer in Deckung geworfen hat.

»Aurelia!« Das lang gezogene Heulen hallt entsetzlich über den Hof. Die Waffen sind verstummt.

1

So liebte sie die Stadt. Träge räkelte sich Flensburg unter einem hellblauen Ostseehimmel voller fröhlicher heller Kumuluswölkchen in der Sommerhitze. Aus dem offenen Wohnzimmerfenster ihrer Altbauwohnung am Schlosswall hoch im Westen der Stadt blickte Helene Christ über die dicht gedrängten Dächer hinweg auf das blaugrüne Wasser der Innenförde. Sie hatte ihre Arme auf die breite Brüstung gestützt und sog die warme Sommerluft ein, die durch das offene Fenster in den Raum strömte. Selbst hier oben schmeckte Helene noch die salzige Würze in der Luft. Genüsslich drehte sie ihren Kopf in den leichten Wind, der selbst die heißesten Sommer an der Küste erfrischte und das Fördewasser unter ihr mit munteren weißen Wellenkämmen sprenkelte.

Viele Segelboote waren da unten unterwegs, kleine und große, alte und neue, die meisten mit deutscher oder dänischer Flagge. Aber auch andere Nationalitäten konnte Helene durch ihr Fernglas erkennen, das die bunten Tücher am Heck der Boote ganz dicht heranholte. Polen ebenso wie Schweden, Norweger und Engländer. Selbst eine australische Flagge fehlte nicht. Sie wehte auf einer bestimmt sündteuren Megayacht, einer eleganten Ketsch mit dunkelblauem Rumpf, die am Kai vor dem Klarschiff festgemacht hatte. Dieses lang gestreckte Gebäude im Stil eines Kreuzfahrtschiffes war der neue Blickfang am Ostufer des Hafens.

Ferienzeit, Hochsaison.

Sehnsüchtig sah Helene dem schlanken dunkelbraunen Rumpf eines Zwölfers hinterher, einer klassischen Yacht, die gerade hart am Wind unter Vollzeug in Richtung Außenförde tief unter ihr vorbeijagte. Noch zwei Tage, dann hatte sie endlich Urlaub. Und dann hieß es auch für sie: Segeln!

Von Kindesbeinen an war sie auf dem Wasser gewesen. In Arnis am Ostseefjord Schlei aufgewachsen, hatte ihr Großvater sie schon früh auf seinem Kutter mitgenommen, hinaus auf die Ostsee zum Fischen. Heute wusste sie, dass der Alte damals ihre Liebe zum Meer geweckt hatte. Viel geredet hatte er nicht. Schweigend pickte er die kleine Lene mitsamt einer altertümlichen Korkschwimmweste an der Seereling ein, wo sie noch immer stand und über den Bug schaute, wenn der stäbige Kahn nach einem Tag auf See im Licht der sinkenden Abendsonne über die geheimnisvoll düstere Schlei in den Hafen hineinglitt.

Den Duft dieser Jahre mit dem Großvater hatte Helene noch heute in der Nase. Die Frische des Wassers, gemischt mit dem starken Geruch geilgelber Rapsfelder an den Ufern, des würzigen Seewindes, der alten Holzplanken des Bootes. Den beißenden Qualm der Buchenholzspäne im Räucherofen hinter der Fischerkate. Das Aroma von Salz und Tang und Meer der frischen Fische, die niemals so stanken wie die traurigen Kadaver in manchem Geschäft, das sie seither stets fluchtartig verlassen hatte.

So wie viele Kinder in Süddeutschland irgendwann in einen Skiklub eintreten, um zu lernen, wie man sich auf zwei schmalen Brettern die Abhänge hinunterstürzt – für Helene eine grauenhafte Vorstellung –, hatte ihre Mutter sie ganz selbstverständlich im Segelverein angemeldet, als Helene gerade in die Schule kam.

Übermorgen wollten Simon und sie ablegen. Drei Wochen auf der Seeschwalbe – ein herrlicher Gedanke! Der Wetterbericht zeigte ein stabiles Hochdruckgebiet über Skandinavien und der westlichen Ostsee sowie guten Wind aus östlichen Richtungen. Ideale Bedingungen für den Törn zur norwegischen Küste, den sie sich vorgenommen hatten.

Ihr Blick ging über das muntere Treiben auf dem Wasser unter ihr, aber sie sah schon sonnenbestrahlte felsige Schären im dunkelblauen Wasser vor sich, mit bunten Holzhäusern darauf und weißen Segeln dazwischen, dachte an stramme Törns und ruhige Abende in windgeschützten Buchten, an …

Die Töne von Coldplays A Sky Full Of Stars rissen sie aus ihrem Tagtraum. Vorsichtig stellte sie das Fernglas aufs Fensterbrett, lief über die knarzenden alten Dielenbretter hinüber zum Esstisch, auf dem ihr Handy zwischen einem Berg von Büchern und Zeitungen unverdrossen vor sich hin musizierte, und meldete sich.

»Es wird dir nicht gefallen, Helene«, sagte Edgar Schimmel zur Begrüßung.

Ihr Kollege. Kennengelernt hatte sie ihn als schwer erträglichen, pedantischen Kriminaler der alten Schule, grässlich herablassend und besserwisserisch, der seine Pensionierung im übernächsten Jahr kaum erwarten konnte. Dann aber wurde er – wider Erwarten und offensichtlich zu seiner eigenen grenzenlosen Überraschung – doch noch zum Hauptkommissar befördert. Seither sprach der graue Edgar wenigstens nicht mehr unablässig vom Ruhestand, wurde auch etwas umgänglicher als zuvor. Sogar das Du hatte er ihr, seiner jungen Kollegin, kürzlich angeboten – er, der ansonsten jede persönliche Nähe zu verabscheuen schien.

Alles an ihm war grau, nicht nur sein Haar und der ewig zerknitterte Anzug, auch sein Gesicht hatte eine fahle Farbe wie von beständiger Erschöpfung. Dazu passte seine meist zur Schau gestellte Miene, die Helene stets nur ein Wort denken ließ: Überdruss.

Sie wusste allerdings sehr gut, wie viel sie ihm verdankte. Wäre er mit dem SEK bei ihrem ersten Fall als Ermittlerin hier bei der Kripo in Flensburg nicht gerade noch rechtzeitig aufgetaucht, als Simon und sie schon in das schwarze Loch am Ende des Laufs einer 45er Glock starrten, dann …

»Was, bitte, wird mir nicht gefallen, Edgar?«, fragte Helene misstrauisch und strich sich eine dicke Strähne ihrer weißblonden Mähne aus der Stirn.

»Dein Urlaub sollte doch morgen …«

»›Sollte‹?«, wiederholte sie alarmiert. »Was heißt denn ›sollte‹? Heute ist mein letzter Arbeitstag vor dem Urlaub, basta. Lasst euch da bloß nichts einfallen …« Sie witterte Unrat. Ganz deutlich.

»Na ja«, sagte Schimmel, und seine Stimme hörte sich an, als müsse er sich überwinden weiterzusprechen. »Wir haben da eine Leiche. Kein natürlicher Tod, ganz eindeutig nicht. Und, na, du weißt ja …«

Natürlich wusste sie. Zwei Kollegen der Mordkommission waren nach einem Dienstunfall immer noch im Krankenhaus und Oberkommissar Bahnsen im Urlaub. Blieben Schimmel und sie. Eigentlich hatte der Chef ihr gar nicht freigeben wollen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die beiden Kollegen länger als vorhergesehen ausfallen würden. Aber Schimmel hatte für sie Partei ergriffen. Es sei schließlich nichts Akutes auf dem Tisch, hatte er gesagt, nur Routinefälle. Und Bahnsen käme ja schon in einer Woche aus dem Urlaub zurück.

»Der Chef sagt, wir sollen das übernehmen, wir beide. Zumindest die Anfangsermittlungen, danach kann ich erst mal allein weitermachen, bis Bahnsen wieder da ist. Du segelst dann eben zwei, drei Tage später los. Einen Flug habt ihr ja nicht gebucht, oder?«

Mist, verdammter. Jetzt bräuchte man zwei Flugtickets nach Santo Domingo. Dann müssten sie sich etwas anderes einfallen lassen.

Trotzdem, so geht das doch nicht, dachte Helene wütend. Nur weil sie wissen, dass ich mit einem Boot losfahre, das hier an der Küste liegt …

»Also weißt du, Edgar, das ist unfair«, stieß sie hervor. »Simon hat doch seinen Urlaub auch geplant. Was uns am Anfang verloren geht, können wir nicht einfach hinten dranhängen. Und überhaupt: Der Urlaubsantrag ist genehmigt und …«

»Helene!«

»Ja?«

»Ein Mädchen, vierzehn Jahre alt. Seit gestern aus dem Jugendlager bei Steinberg an der Küste verschwunden. Gerade haben sie ihre Leiche im Wald gefunden, nicht weit entfernt vom Zeltlager. Erstochen.«

Helene schwieg.

»Lauter Jugendliche dort, weißt du. Ich … äh … ich wär froh, wenn ich dich dabeihätte. Wenigstens am Anfang. Bis wir wissen, in welche Richtung das läuft.«

Da lag etwas Flehendes in der Stimme des alten Zausels, unüberhörbar. Zumindest für Helene. Sie seufzte. »Ach, verflucht, was soll’s. Ich hätte sowieso in einer Stunde Dienstbeginn. Hol mich doch einfach hier ab, dann fahren wir gleich raus. Gerichtsmedizin und Spurensicherung …«

»… ist alles schon organisiert«, erwiderte der Hauptkommissar hörbar erleichtert. »Bin in zehn Minuten bei dir, ist das okay?«

»Klar, ich komm runter«, sagte Helene.

Wer weiß, ging ihr durch den Kopf, mit etwas Glück war es ja ein simpler Fall, irgendeine Fehde zwischen den jungen Leuten im Ferienlager. Oder auch ein gefährliches Spiel, das ein schlimmes Ende genommen hatte, eine klare Sache, die keine komplizierten, langwierigen Ermittlungen erfordern würde. Doch im selben Augenblick gestand sie sich widerwillig ein, dass sie sich etwas vormachte. Nichts roch hier nach einer ›simplen‹ Sache. Vierzehn Jahre alt – und erstochen, dachte sie betroffen, während sie in ihre hellen High Sneaker schlüpfte und die Tasche vom Garderobenhaken nahm.

Meine Güte, dann musste es eben sein. Hoffentlich würde Simon das genauso sehen. Unbehagen überfiel sie, wenn sie an das Gespräch dachte, das ihr da bevorstand.

Ach, Unsinn. Er würde das sicher verstehen. Bei der Personallage war es ja geradezu eine Art … Notfall. Ja wirklich, sie konnte schließlich gar nicht anders handeln, dachte sie fast trotzig. Und überhaupt.

2

»Wo ist denn das Zeltlager?«, fragte Helene, als Edgar Schimmel den blauen Dienstpassat mitten auf dem Feldweg vor der Polizeisperre aus rot-weißem Trassierband anhielt.

»Weiter runter auf diesem Weg hier, denke ich«, sagte der Graue und zeigte an den Fahrzeugen vorbei, die schon am Rand entlang der Böschung standen. Helene erkannte den unscheinbaren Kombi der Spurensicherung, der hinter einem Krankenwagen und zwei Polizeiautos abgestellt war.

Rechts dehnten sich Kornfelder über die sanften Hügel, zwischen denen weit hinten die blaue Ostsee hervorlugte. Links vom Feldweg lag ein dichtes Waldgebiet, am Rand bewachsen von kaum passierbarem Gebüsch, das unmittelbar neben dem Weg mit seinen sandigen Schlaglöchern aufragte.

»Hinter dem Wald kommt gleich die Steilküste«, sagte Schimmel, der entlang der Flensburger Förde jeden Baum zu kennen schien.

»Eigentlich schön hier«, murmelte Helene.

Schimmel sah sie kurz an. »Ja, vor allem schön abgelegen.«

Helene deutete auf eine Gruppe junger Leute, die aufgeregt miteinander sprachen. Sie standen neben dem Weg im Feld, allesamt mit dem Blick auf die Polizeiabsperrung. »Die werden wohl aus dem Lager sein. Wollen sehen, was hier passiert, nehme ich an.«

Schimmel nickte. »Hoffentlich müssen wir die nicht alle vernehmen«, stieß er mürrisch hervor und trat an die Absperrung. Ein uniformierter Kollege grüßte ihn und hob das Trassierband hoch.

»Danke, Herr Kollege«, sagte Helene und nickte dem schwitzenden Mann freundlich zu.

»Stets zu Diensten«, scherzte der Uniformierte und schickte Schimmel, der kommentarlos an ihm vorbeigestampft war, einen vielsagenden Blick hinterher. Jeder Polizist hier oben kannte den alten Kriminalbeamten, der sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren keinerlei Mühe gegeben hatte, besondere Beliebtheit im Kollegenkreis zu erlangen.

Helene erlaubte sich ein kurzes Lächeln und folgte dem Alten dann auf einem schmalen Pfad durch das dichte Unterholz hinein in den Mischwald. Hier drang unüberhörbar das Geräusch von Wellen an ihr Ohr, die in der Nähe an den Strand rollten. Hinter den Bäumen musste die Steilküste liegen. Und fast zwanzig Meter darunter das Meer.

Nach einem kurzen Marsch durch den dichten Wald trat sie auf eine Lichtung. In ihren voluminösen weißen Overalls ging eine Handvoll Spurensicherer bereits ihrer Arbeit nach. Ein uniformierter Beamter stand am anderen Ende der Lichtung, sprach mit zwei Halbwüchsigen, die mit dem Rücken zum Tatort vor ihm Aufstellung genommen hatten, und machte sich Notizen in seinem kleinen Schreibheft. Helene erkannte den gewichtigen Polizeihauptmeister Mommsen. Er war der ›Dorfsheriff‹ in Simons Heimatort, wo auch die Seeschwalbe ihren Liegeplatz hatte. Nur wenige Kilometer von hier entfernt, lag dieser Hafen in einer malerischen Bucht.

Der Fotograf der Spusi hatte sich hinter dem am Boden knienden Gerichtsmediziner aufgebaut und schoss über ihn hinweg mit dem Teleobjektiv Aufnahmen von der Leiche und dem Tatort – wenn dies denn tatsächlich auch der Tatort war. Im Halbschatten des dichten Waldes rundherum zuckten die Lichtblitze der Kamera immer wieder grell auf. Helene kniff halb geblendet die Augen zusammen, als sie näher herantrat.

Hauptkommissar Schimmel stand bereits vornübergebeugt einen Meter vor den Füßen der Toten, die in hellen Sandalen steckten. Die Leiche lag auf der Seite, sodass Helene die rosafarben bemalten Fußnägel sehen konnte. Sie holte tief Luft und trat näher.

»Lag sie etwa so auf der Seite?«, fragte Schimmel unwirsch.

Der Gerichtsmediziner blickte hoch, blinzelte kurz, als ihn ein Blitz des eifrigen Fotografen traf, und verzog das Gesicht zu einem schwachen Grinsen. »Nein, sie lag auf dem Gesicht. Wurde alles fotografiert, zigmal sogar. Ich hab sie jetzt umgedreht, um auch noch …«

»Konnten Sie denn nicht warten, bis wir hier waren?«

Der Arzt kam aus der Hocke hoch. »Nein. Wir sind hier schon seit einiger Zeit bei der Arbeit, verehrter Herr Oberkommissar.«

»Haupt-!«, erwiderte Schimmel. »Hauptkommissar – hat lang genug gedauert. Aber lassen wir das. Was haben Sie …?«

»Hallo, Frau Christ«, wandte sich der Mediziner betont freundlich an Helene. »Macht bestimmt ’ne Menge Spaß, die Zusammenarbeit mit diesem Griesgram, was?«

Helene verkniff sich gerade noch ein Lachen. Dr.Asmussen war berüchtigt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber es überraschte sie auch nicht sonderlich, eben noch aus den Augenwinkeln zu sehen, dass dem Grauen für den Bruchteil einer Sekunde die Andeutung eines Grinsens in den Mundwinkeln stand.

»Na, Sie sind ja heute wieder gut drauf, Herr Doktor. Macht Ihnen wohl Spaß, der Job?«, sagte Schimmel, sofort wieder mit völlig unbewegter Miene.

Asmussen winkte nur müde ab, atmete kurz durch und startete seinen knappen Bericht: »Ein breiter, sehr tiefer Einstich im Rücken. Lange Klinge, etwa fünfundzwanzig Zentimeter, vielleicht auch länger. Der Täter muss gewaltige Kraft ausgeübt haben; die Klinge ist schräg von hinten bis ins Herz gedrungen und hat dabei auch die Lunge verletzt. Sie sehen die hellroten Blutbläschen am Mund und den blutigen Schaum auf dem Moos.«

»War sie sofort tot?«, konnte sich Helene nicht zurückhalten.

Der Arzt sah sie an. »Na ja, auf der Stelle wohl nicht. Immerhin gab es keinen langen Todeskampf. Eine, zwei Minuten vielleicht.« Zischend sog er die Luft ein. »Lang genug. Üble Quälerei, ganz gewiss.«

Schimmel fragte: »Ist das hier Ihrer Meinung nach auch der …«

»… der Tatort?«, unterbrach ihn der Leiter des Spurensicherungsteams, der gerade herantrat und Schimmels Frage gehört hatte. »Ja, ziemlich sicher. Keine Schleifspuren, alles weist darauf hin, dass sie genau hier ermordet wurde. Wenn Sie mich fragen, sie ist keinen Meter mehr gelaufen. Einfach stumpf nach vorn umgefallen, ins Moos hier. Und liegen geblieben. Sehen Sie mal her!« Er beugte sich hinunter und wies mit dem Finger auf eine Stelle im weichen Moos, die aussah wie eine winzig kleine Grube, in der sich Grasbüschel, Moosreste und Erde miteinander vermischten. »Da hat sie sich im Todeskampf mit ihrer rechten Hand in den Boden gekrallt. Moos, Blattreste und Erde finden sich in ihren beiden Händen. Da«, er zeigte auf eine Stelle etwa einen halben Meter links neben dem Kopf der Leiche, »sehen Sie die gleiche künstliche Mulde wie hier – von ihrer linken Hand.«

»Sonst irgendwelche verwertbaren Spuren?«

»Ja, dahinten – wir haben die Stelle markiert«, meldete sich der Spusi-Mann und deutete auf ein paar kleine Schilder mit Nummern, die etwa dreißig Meter entfernt in einem Kreis am Rand der Lichtung aus dem Moos ragten. »Dort haben mindestens zwei Menschen längere Zeit gelegen. Sieht so aus, als hätten sie sich herumgewälzt oder so. Sieht man an den abgeknickten Halmen und dem stellenweise platt gedrückten Moos.«

»Blut oder andere Körperflüssigkeiten dort drüben?«

»Nichts.«

»Fußspuren?«

»Kann man keine sichern auf diesem Untergrund.«

»Na gut – oder auch nicht. Danke.« Schimmel wandte sich wieder an den Arzt. »Hinweise auf eine Vergewaltigung? Haben Sie da etwas gefunden?«

Dr.Asmussen runzelte die Stirn. »Halte ich für unwahrscheinlich. Sie sehen doch den Einstich im Rücken. Sie hat mit großer Sicherheit gestanden, als das Messer von hinten eindrang. Dann dürfte sie nach vorn gefallen sein. Ihre Finger krampften noch für kurze Zeit im Moos, während sie starb.«

»Aber sie könnte doch da drüben vergewaltigt worden sein«, gab der Graue zurück und deutete auf die im Kreis aufgestellten Schildchen. »Dann hat sie sich aufgerappelt, wollte fliehen, und der Täter hat ihr von hinten das Messer in den Rücken gerammt.«

»Glaub ich eher nicht. Es gibt keine Spuren von sexueller Gewaltanwendung. Auch an der Kleidung ist nichts zerrissen, wie Sie sehen. Aber die genaue Untersuchung der Leiche kann ich natürlich erst im Institut vornehmen.«

»Und der Todeszeitpunkt? Wollen Sie sich dazu schon äußern?«, fragte Schimmel und ließ dabei seinen Blick forschend über die Leiche wandern.

»Ziemlich sicher etwa zwischen Nachmittag und … sagen wir … dem späten Abend gestern. Krieg ich aber noch genauer hin«, antwortete Dr.Asmussen.

Schimmel nickte und drehte sich zu Polizeihauptmeister Asmus Mommsen um, der inzwischen ebenfalls hergekommen war. Er hatte die beiden Jugendlichen offenbar verdonnert, am Waldrand stehenzubleiben und nicht auf die Lichtung zu schauen. Jedenfalls standen sie nun dort im Schatten der Bäume, starrten in Richtung Steilküste, traten von einem Bein auf das andere und wagten hin und wieder einen verstohlenen Blick über die Schulter.

Und noch etwas anderes sah Schimmel: Den uralten orangefarbigen VW-Bulli seines Lieblingsfeindes, der gerade am Trassenband der Polizeiabsperrung hielt. Wie erwartet, sprang Jacobi heraus, ein freiberuflicher Reporter, der seit Jahren fast an jedem Tatort auftauchte – wusste der Himmel, woher er diese Information immer nahm, wer ihm steckte, wo gerade ein Verbrechen geschehen war.

»Ich hätte den Kerl schon längst erschießen sollen«, murmelte der Graue in sich hinein.

Der Polizist grinste. »Die richtige Nase für seinen Job hat er jedenfalls.«

»Gegen den Eigengeruch ihres Trägers muss die aber resistent sein«, erwiderte Schimmel und beobachtete, wie der Reporter zu den wartenden Jungen trat. Resigniert drehte er sich um und blickte den Uniformierten an. »Nun zur Toten. Ich nehme an, Sie können uns schon etwas zu ihr sagen, Kollege Mommsen?«

Der Hauptmeister schien nicht erstaunt, von Schimmel mit seinem Namen angesprochen zu werden. Seit fast zwanzig Jahren war er der Dorfpolizist im Ort. Kein Wunder, dass der Alte ihn kannte. Es hieß, Schimmel habe die Namen aller Polizisten im Kopf, die zwischen Flensburg und Schleswig ihren Dienst taten. Wahrscheinlich kannte er sogar Asmus Mommsens Spitznamen.

»Clarissa von Sassenheim«, antwortete er, ohne in sein Heftchen zu schauen. »Wohnte in der Nähe von Kappeln. Die Eltern haben dort einen Reiterhof – liegt ein paar Kilometer außerhalb. Ziemlich bekannte Leute in der Gegend. Eine Pferdezucht betreiben sie auch. Der Vater hat irgendeine Firma. Mode, hm, Bekleidung oder so was – ist wohl tagsüber nicht zu Hause. Den Reiterhof managt hauptsächlich die Mutter. Das Mädchen war hier im Ferienlager, das wissen Sie ja bereits. Liegt nicht weit von hier in die Richtung, das Lager.« Er deutete mit seinem Kugelschreiber hinter sich.

»Wie lange war sie schon im Lager?«

»Seit einer guten Woche. Die Älteren sind in der zweiten Ferienhälfte dort – bis Ende August. Sie ging auf die Klaus-Harms-Schule in Kappeln, also das Gymnasium dort.«

»Sind die Eltern bereits verständigt?«, fragte Schimmel.

»Wir haben noch gewartet«, sagte Mommsen und streifte mit einem fast scheuen Blick die Leiche, die vor seinen Füßen lag. »Sie werden wahrscheinlich persönlich hinfahren wollen, hab ich mir gedacht.«

»Hm. Werden wir wohl müssen«, gab der Graue zurück und fuhr fort: »Wann wurde sie denn hier gefunden – und von wem eigentlich? Ich nehme an, von den beiden da drüben?«

»Genau. Die jungen Leute haben angeblich schon die ganze Nacht nach ihr gesucht …«

»Und wieso wurde sie dann erst vor zwei Stunden gefunden?«

»Na ja, ich denke mal, dass sie erst die Wege abgewandert haben, vielleicht haben sie auch noch die Böschung und die Gräben links und rechts abgesucht. Aber die Lichtung hier liegt doch ziemlich tief im Wald und ist vom Weg her nicht einsehbar. Außerdem weiß man nicht, wie eifrig die bei der Sache waren.«

»Wer genau?«

»Die Jugendlichen aus dem Lager. Zusammen mit ihren Betreuern – ›Teamer‹ nennen sie die. Clarissa war abends nicht ins Lager zurückgekommen …«

»Woher zurückgekommen? Wo war sie denn?«

»Die Jugendlichen dürfen tagsüber für ein paar Stunden das Lager verlassen, wenn sie Bescheid sagen. Müssen aber abends um zwanzig Uhr wieder zurück sein. Wo sie genau war, weiß der Lagerleiter nicht, sagt er. Der heißt … Moment …«, Mommsen klappte den festen blauen Deckel seines Notizbüchleins auf und blätterte darin hin und her, »… der heißt Rast, Torsten Rast, von Beruf Erzieher, einunddreißig Jahre alt. Übrigens wartet er im Lager auf Sie. Ich hab ihm gesagt, Sie würden sicher mit ihm sprechen wollen, aber er musste zurück, um sich um die Kinder … na ja, um die jungen Leute zu kümmern. Riesenaufregung bei denen – ist ja wohl klar.«

Die Jungen, die er gerade vernommen hatte, beide zwölf Jahre alt, hätten dann vor etwa zwei Stunden die Leiche hier gefunden, berichtete Mommsen. Angeblich hätten sie nichts berührt, auch nichts verändert, sondern sofort über ihr Handy den Lagerleiter verständigt, der mit einer anderen Gruppe drüben in den Feldern auf der Suche nach Clarissa war. Er sei dann ein paar Minuten später hier eingetroffen und habe sofort die Polizei angerufen.

»Apropos Handy: Wo ist denn das der Toten?«, fragte der Hauptkommissar in Richtung des Spurensicherers.

»Kein Handy hier. Weit und breit keins«, war dessen knappe Antwort.

»Hören Sie, die Mädels in diesem Alter haben alle immer ein Handy dabei. Die können ohne die Dinger gar nicht leben.«

»Das ist mir bekannt, Herr Schimmel«, gab der Mann im weißen Overall verärgert zurück. »Aber wenn ich Ihnen sage, hier ist kein Handy zu finden, dann ist das so.«

»Glaub ich Ihnen, glaub ich Ihnen ja«, beschwichtigte Schimmel zerstreut, »hab nur laut gedacht.« Er wiegte seinen Schädel hin und her. »Dann hat der Mörder das Mobiltelefon mitgenommen, oder? Na, jedenfalls ist das wahrscheinlicher, als dass sie gar keines bei sich hatte.«

»Wir besorgen uns gerade die Nummer aus dem Lager und versuchen natürlich, es zu orten, aber …« Der Spurensicherer sparte sich den Rest des Satzes.

»Ja, ich weiß«, gab Schimmel zurück, »er wird kaum so blöd sein, es eingeschaltet zu lassen. Versuchen müssen wir es trotzdem, danke.«

Helene hörte alles, was gesprochen wurde, aber ihr Blick ruhte fest auf dem Gesicht des toten Mädchens. Kaum zu glauben, dass sie erst vierzehn Jahre alt gewesen war. Der Tod hatte eine fahle Blässe über ihr hübsches Gesicht gelegt, das Gesicht einer jungen Erwachsenen. Doch trotzdem –auch mit den schaumigen Blutverkrustungen um den Mund – war das unverkennbar ein schönes Gesicht mit ungewöhnlich ebenmäßigen Zügen. Umrahmt wurde der Kopf von glattem dunklem Haar, fast schwarz sogar, mit einem feinen bläulichen Schimmer.

Die Tote trug eine hellblaue Jeans, stonewashed, dieselbe Marke, wie sie auch Helene anhatte. Die Hose des Mädchens aber war knapp über den Knien abgeschnitten und ausgefranst, dazu trug sie ein weißes T-Shirt, das in Höhe des Nabels endete. Die kurzen Fingernägel waren ebenfalls mit einem hellrosa glänzenden Lack bemalt. Kinderhände, dachte Helene spontan, mit kleinen glatten Fingern. Frauenhände sahen anders aus. Diese Beobachtung stürzte sie in eine tiefe Traurigkeit, die ihr fast den Atem raubte.

Sie riss mühsam ihren Blick los und schaute auf den Oberkörper des Mädchens. Außer dem obszön gleichmäßig runden rostroten Fleck hinten auf dem T-Shirt – und abgesehen von dem eingetrockneten schaumigen Auswurf im Moos – war kein Blut zu sehen. »Innerlich verblutet«, hatte Dr.Asmussen vorhin noch gesagt und sein Gesicht verzogen. Vermutlich hatte er bereits den Horror vor Augen, der sich bei der Obduktion bieten würde, die ihm bevorstand. Gütiger Himmel, fuhr es Helene durch den Kopf, wer tut so etwas?

Sie räusperte sich. »Doktor«, fragte sie den Gerichtsmediziner, »können Sie eine Vermutung über die Art der Mordwaffe abgeben, ich meine, außer dass die Klinge sehr lang war?«

Der Arzt schaute sie an und schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Und ich fürchte, auch die Obduktion wird nur die Länge und Breite der Klinge genauer bestimmen. Ein Messer, sehr scharf geschliffen, ein … großes Messer, Klinge am Heft etwa vier Zentimeter breit. Sorry, mehr hab ich nicht für Sie.«

»Vier Zenti- … Scheiße«, entfuhr es Helene, »das ist ja … verdammt!« Sie schüttelte sich kurz, als ein kaltes Grausen sie überkam. Ein riesiges Schlachtermesser, dachte sie aufgewühlt. Das Bild dieser schrecklichen Mordwaffe stand ihr blitzartig vor Augen. Auf einmal spürte sie eine maßlose Wut auf den Kerl, der dem jungen Mädchen diese mörderische Klinge in den Rücken gestoßen hatte.

Sie holte tief Luft und schaute irritiert um sich. Der Wind war plötzlich eingeschlafen, die Blätter raschelten nicht mehr, und das Rollen der Wellen unten vor der Steilküste war zu einem leisen Plätschern geworden, das kaum noch heraufdrang. Auf einmal war es sehr still im Wald.

3

Nis Puk stand in weißen Buchstaben auf dem Holzschild, das über dem Eingangstor hing.

Im Schneckentempo und laut fluchend, hatte Schimmel den Dienstpassat durch die tiefen Schlaglöcher auf dem Feldweg bis zur Lagerzufahrt gelenkt. Nun holperten sie, eingehüllt in eine hellgelbe Staubwolke, durch die Einfahrt.

»Nis Puk«, grummelte Schimmel, »man sollte meinen, so ein Märchenname passt eher zu einem Kindergarten. Hier sind sie wohl schon ein wenig zu alt für so was.«

Helene war nicht nach Geplänkel zumute »Ach was, ich find’s nett. Altes Volksmärchen hier oben. Ein guter Hausgeist, den nur die Kinder sehen können, und der auf alle aufpasst …«

»Weiß ich. Scheint in diesem Fall aber versagt zu haben.«

Der Zynismus des Alten war manchmal schwer zu ertragen, fand Helene. Sie warf ihrem Kollegen einen eisigen Blick zu. »Das Ferienlager ist ja auch für Jüngere. Die Kleinen sind in der ersten Ferienhälfte hier, danach kommen erst die Jugendlichen.«

»Woher weißt du das alles eigentlich?«, fragte Schimmel eher desinteressiert, während er aufmerksam das Gelände betrachtete.

»Ich war in meiner Jugend drei oder vier Jahre selbst in den Sommerferien in diesem Lager. Das gibt’s schon lange«, gab Helene zurück.

Schimmel grinste. »Na, so lange ist es ja noch gar nicht her.«

»Was?«, hakte Helene misstrauisch nach, die ahnte, was kam.

»Dass du hier deine Ferien verbracht hast. Ich meine … sagtest du nicht, das sei in deiner ›Jugend‹ gewesen?« Mit einem fiesen Lächeln stoppte er das Fahrzeug auf einem großen Sandplatz.

»Nur kein Neid, alter Mann!«, gab Helene zurück, als sie ausstieg.

Sie sah sich um. Ein lang gezogenes, dunkelrot angestrichenes Holzhaus mit ein paar weißen Sprossenfenstern stand am hinteren Ende des Platzes. Direkt davor waren Tische und Bänke aufgebaut, auf denen ein paar Jungen und Mädchen gerade das Geschirr für das Mittagessen eindeckten. Links und rechts des breiten Platzes dehnten sich gerodete Flächen, planiert und mit Gras bewachsen. Die eine davon reichte bis an einen Maschendrahtzaun vor der Steilküste, die andere bis an den Waldrand. Auch das Gebäude am Kopfende des Platzes grenzte direkt an den Wald. Auf dem ausgetrockneten, gelblichen Gras der Wiesen standen die Zelte, sauber in Reihen nebeneinander, jedes groß genug für etwa acht Personen.

Ein hochgewachsener Mann in ausgefransten, kurzen Jeans trat aus der Tür des Holzhauses und kam auf sie zu. Als er bei den beiden Kriminalbeamten ankam, konnte Helene den Aufdruck auf seinem grellgrünen Poloshirt lesen: NIS PUK – DAS ZELTLAGER MIT DEM KICK.