Die Tote von Kalkgrund - Heinrich Dieter Neumann - E-Book

Die Tote von Kalkgrund E-Book

Heinrich Dieter Neumann

4,8

Beschreibung

»Dieser letzte Freitag im April war für Simon der schlimmste in einer langen Reihe beschissener Tage.« Firma weg, Frau weg, Boot weg - Simon Simonsen hat in kürzester Zeit alles verloren, was ihm etwas bedeutet hat. Ihn trösten nur noch ein steifer Grog und Frau Sörensen, seine segelohrige Hundedame. In einem dieser wenig ruhmreichen Momente schlägt die Polizei bei ihm auf: Die Kriminalkommissare Helene Christ und Edgar Schimmel überbringen die Nachricht, dass in der Ostsee eine Leiche gefunden wurde - die seiner Exfrau Lisa. Simon ist der Hauptverdächtige, da er angeblich am Todestag mit Lisa auf seinem Boot gesehen wurde. Während Edgar Schimmel, der kurz vor der Pension steht, den Fall schon als gelöst betrachtet, gräbt Helene Christ etwas tiefer. Dabei versucht sie auszublenden, dass sie zu Simon die professionelle Distanz verloren hat …

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H. Dieter Neumann

Die Tote von Kalkgrund

Kriminalroman

©2015 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: assalve / istockphoto.com

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte.

Für Jens-Uwe

Prolog

Verängstigt drängte sich Oana an ihre Leidensgefährtin, die im Dunkel des Lieferwagens neben ihr hockte.

Viele Stunden waren sie nun schon unterwegs, seit sie in Hamburg in den Kombi gepfercht worden waren. Hinter ihnen hatte Nelu den Laderaum bis zur Klappe mit Apfelkisten vollgepackt. Zwischen diesen und dem Führerhaus eingeklemmt, blieb den beiden jungen Frauen nur ein winziger Fleck, auf dem sie mit angezogenen Knien saßen. Schon längst waren ihnen die Beine eingeschlafen und jede noch so kleine Bewegung, um sie zu durchbluten, verursachte höllische Schmerzen. Offenbar war der Wagen auf eine Nebenstraße voller Schlaglöcher gewechselt. Er rumpelte gefährlich und schaukelte so stark, dass die Mädchen die Apfelkisten mit ihren Händen abstützen mussten, damit sie nicht auf sie herabfielen.

Gestern erst waren sie in Hamburg angekommen. Eine weite Reise lag hinter ihnen, seit sie in Tulcea, einer rumänischen Stadt an der Donau, an Bord eines Flussschiffes gebracht worden waren. Während der zweiwöchigen Fahrt mussten sie sich tagsüber verstecken, durften nur manchmal nachts an Deck kommen, um frische Luft zu schnappen.

Neun junge Frauen hatten in dem Verschlag hinter dem Maschinenraum gehaust, alle voller Furcht vor dem, was ihr neues Leben werden sollte. Ihre Verwandten hatten bis zu zweitausend Euro kassiert, für jede von ihnen.

In Hamburg hatte man sie getrennt. Der junge Nelu übernahm Oana und Sorina und brachte sie zu seinem Auto. Die Mädchen weinten und wollten nicht durch die Heckklappe kriechen.

»Nun macht schon!«, brüllte Nelu sie an. »Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns!«

Wie gelähmt drängten sie sich zitternd aneinander und starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

»Ihr habt unwahrscheinliches Glück«, versuchte er es mit einer anderen Taktik. »Ihr kommt nach Dänemark, nach Kopenhagen.«

Sie wussten nicht, wo Dänemark lag, hatten von Kopenhagen noch nie etwas gehört. Aber als Nelu sagte, das sei die Hauptstadt von einem sehr, sehr reichen und sauberen Land und dort bekämen sie Stellen als Kindermädchen, lösten sie sich voneinander und stiegen zögernd in den Wagen.

Gut würden sie es haben, sagte er schmeichelnd, viel besser als zu Hause. Während er die Kisten hinter ihnen auftürmte, erzählte er von diesem fernen Dänemark, von hübschen bunten Häusern auf vielen Inseln, vor denen immer rot-weiße Fahnen im Wind flatterten, von freundlichen Menschen und von dem großen Meer rundherum um Dänemark und überall dazwischen.

Und nun waren sie fast am Ziel.

Nelu hatte ihnen auch erklärt, dass sie mit einem Boot fahren würden, nachts, da sie keine Papiere hätten und auf den Straßen an der Grenze zwischen Deutschland und Dänemark immer noch scharf nach illegal Einreisenden gefahndet werde.

Oana und Sorina hatten Angst, fühlten sich hilflos und völlig verloren, seit sie vorhin von Nelu gehört hatten, dass eine von ihnen in einem Versteck würde warten müssen, bis auch sie an der Reihe war.

Der Wagen hielt.

Nelu lud fluchend einige Kisten aus und der Schein seiner Lampe fiel auf die beiden Mädchen, die zusammengekauert am Ende der Ladefläche saßen.

»Oana, komm raus! Du, Sorina, bleibst noch sitzen. Ich hol dich nachher ab, dann kommst du in ein Haus und kannst schlafen. Morgen Nacht bist du wahrscheinlich dran.«

Oana presste sich an ihre Leidensgefährtin und umklammerte sie wimmernd.

»Los, steh auf, komm raus! Sei nicht blöd, morgen früh bist du schon in Dänemark und schläfst in einem sauberen Bett. Komm endlich, das Boot wird jeden Moment da sein!«

Als Oana mit tauben Beinen wankend neben dem Wagen stand, roch sie sofort den Duft des Meeres, mehr noch, sie konnte die Wellen an den Strand schlagen hören, ganz nah.

»Schau mal da rüber«, sagte Nelu und deutete über das dunkle Wasser in die Nacht hinaus.

Oana sah ganz fern ein paar Lichter leuchten.

»Das sind Häuser. Dort warten sie schon auf dich«, sagte Nelu.

Oana fragte nicht, wer auf sie wartete. Es war ihr egal. Sie wurde erwartet. Sofort wurde ihr leichter ums Herz.

»Und da ist Kopenhagen?«, fragte sie.

»Nein, das ist eine Halbinsel, die heißt Kegnæs. Von dort bringen sie dich nach Kopenhagen.«

»Aber das ist doch Dänemark da drüben, die Häuser, die Lichter?«

»Ja, natürlich«, gab Nelu ungeduldig zurück.

Oana nickte, ohne genau zu wissen, warum. Die Lichter waren so warm und die frische, salzige Luft roch nach Freiheit, nach einem besseren Leben, nach dem Ende ihrer Qual.

So also roch Dänemark.

Zuerst hörte Oana das Brummen, das stetig lauter wurde. Doch lange bevor das flache Boot knirschend auf den Strand auflief, wurde der Motor abgestellt.

Ein Mann in einem schwarzen Overall sprang heraus und kam auf sie zu. Er wechselte mit Nelu ein paar Worte in einer Sprache, die Oana nicht verstand, und übergab ihm ein Päckchen. Dann trat er an sie heran, riss sie am Arm und schubste sie den Strand hinunter zu dem kleinen Boot.

Der schwarze Mann machte ihr Angst. Sie wollte Nelu fragen, ob alles in Ordnung sei, doch der war bereits im Dunkel der Nacht verschwunden.

Ein zweiter Mann wartete im Boot und zog sie mit einem Ruck über die Bordkante, sodass sie auf den nassen, harten Boden stürzte. Weinend blieb sie liegen und beobachtete verzweifelt die beiden Fremden, die das Boot nun aufs Wasser hinausruderten. Nach ein paar Minuten sprang der Motor an und das Boot nahm Fahrt auf.

Oana fror jämmerlich im Fahrtwind.

Wieso waren die Männer so brutal? Alles würde doch jetzt gut werden.

Leise sprach sie mit sich selbst. Immer wieder dieselben Worte. »Dänemark, sie bringen mich nach Dänemark, ganz bestimmt …«

Danach hatte das Meer gerochen.

1

Flach blies der Nordwest nadelfeine Salzwasserspritzer über die Asphaltdecke des ehemaligen Fähranlegers, der weit in die Bucht am Südufer der Flensburger Außenförde hineinragte. Mit eingezogenen Köpfen kämpfte sich die dunkle Prozession gegen den Wind auf das kleine Fahrgastschiff zu, das sich am Molenkopf im Seegang wiegte.

Karsten Janssen stand in seiner besten Kapitänsuniform im Brückenhaus des Schiffes und beobachtete mitleidig die etwa zwanzig Frauen und Männer, die da auf ihn zuliefen. Manche von ihnen hatten Blumensträuße dabei, zwei sogar Kränze, die sie krampfhaft festzuhalten versuchten, während der Wind unablässig an ihnen zerrte.

»Bestattungswetter«, murmelte Janssen, warf sich rasch seinen Regenmantel über und stieg hinunter an die Reling, um die Trauergesellschaft in Empfang zu nehmen.

Ostern war schon vorbei, doch der Frühling machte heute an der Küste noch einmal eine unangenehme Pause. Laut Wettervorhersage sollte der Spuk aber morgen schon wieder vorüber sein. Ein Hochdruckgebiet war im Anmarsch auf die westliche Ostsee.

Über zehn Jahre – seit er nach seiner letzten Ostasienfahrt als Kapitän von Bord eines Containerfrachters und direkt in Rente gegangen war – fuhr Janssen nun schon mit der Nordstern die Urnen hinaus auf die Ostsee und versenkte sie dort mehr oder weniger pompös, je nach Maßgabe der Angehörigen. Oder nach Höhe des Seebestattungs-Vorsorgevertrages.

Manchmal waren es absonderliche Veranstaltungen, die sich die Hinterbliebenen ausdachten, zum Beispiel was den Blumenschmuck betraf. Im letzten Sommer hatte Janssen die Asche eines Millionärssohnes – das war wohl auch dessen Berufsbezeichnung gewesen – zu ihrem kühlen Grab gefahren. Passenderweise war der Mittzwanziger bei einem Segeltörn in volltrunkenem Zustand vom plötzlich überkommenden Großbaum erschlagen worden.

Solch ein Tod schrie förmlich nach einer Seebestattung, auch wenn der Erbe ansonsten mit dem Meer wohl nicht viel am Hut gehabt hatte, soweit Janssen wusste. Diese Bestattungsfahrt wurde denn auch eine der bemerkenswertesten, die er je erleben durfte. Nicht zuletzt deswegen, weil die Freunde, vor allem aber die zahlreichen ehemaligen Gespielinnen des so plötzlich Verblichenen, keine Kosten gescheut hatten, um die alte Nordstern geradezu verschwenderisch mit Blumen schmücken zu lassen. Das Geschäft ihres Lebens für die örtliche Blumenhändlerin.

Janssen schüttelte sich noch heute, wenn er daran dachte, wie die Angelkutterkapitäne und die Fischer ihn von ihren Booten angegrinst hatten, als die Nordstern, herausgeputzt wie zum Wasserkarneval in Santiago de Cuba, in Richtung Kalkgrund gedampft war, umwogt von stampfender Discomusik.

›Genau so hätte er sich das gewünscht‹, waren sich die Trauergäste einig, die auf der Fahrt zum Bestattungsort – ihrer Rührseligkeit tapfer trotzend – beherzt dem Schampus zusprachen.

Überhaupt die Musik. Orgelklänge von der CD waren Standard, aber Janssen hatte auch schon richtige Kammerorchester an Bord gehabt und einmal sogar eine Blaskapelle, die zur Versenkung der Urne mit der Asche ihres ersten Posaunisten Ich bete an die Macht der Liebe intonierte. Da die Blechbläser bereits auf der Herfahrt das Fell ihres Kameraden nachhaltig versoffen hatten, geriet ihnen dieser letzte musikalische Gruß zu einem wahren Inferno heftiger Dissonanzen und von solch peinigender Lautstärke, dass die Möwen ihre Absicht, über die Platten mit den Fischbrötchen an Bord herzufallen, augenblicklich aufgaben und mit wilden Flugmanövern flohen.

Meistens aber waren es ruhige Fahrten, manchmal mit Pastor, manchmal ohne. Dann sprach Kapitän Janssen, falls gewünscht, ein paar Worte und der Bootsmann ließ das Schiffshorn tönen, während die Urne im Meer verschwand.

Janssen nutzte die Bestattungstouren, um auf seine alten Tage ein bisschen aufs Wasser zu kommen. Es ging ihm nicht ums Geld, seine Rente und die Altersversorgung von der Reederei reichten ihm völlig. Jeder Cent, den man ihm als Bestattungskapitän zahlte, landete bei der örtlichen Station der Seenotretter.

Als der Leuchtturm Kalkgrund in Sichtweite kam, hatte die Nordstern das Bestattungsgebiet erreicht. Wind und Seegang waren schwächer geworden, stellte der Kapitän fest und lächelte zufrieden.

»Ja, grins nur, Käpt’n«, rief Kai, der Bootsmann, vom Kartentisch herüber, »hast recht gehabt mit deiner Vorhersage.«

»Hätte auch schiefgehen können«, antwortete Janssen bescheiden. »Eine Stunde länger Starkwind, dann hätten wir umdrehen müssen. Bei dem Geschaukel wär das nichts geworden …« Er blickte besorgt auf die kleinen weißen Wellenkämme. »Wird auch jetzt noch ein bisschen ruppig.«

»Ach, dat geiht wull. Sind ja alles Leute von hier, oder?«

Janssen nickte. »Die Familie eines pensionierten Lehrers aus Flensburg. Er hat sich ’ne Seebestattung gewünscht, weil er das Meer so liebte, hat die Witwe mir vorhin erzählt.«

»Wie alt?«

»Achtundachtzig.«

»Jou.«

Das hieß, wusste Janssen, dass für Kai alles seine Ordnung hatte, so wie es war.

»Wie lange noch bis zur Position?«, fragte er.

»Zwei Minuten, so um und bei. Wi sünn glieks dor.«

»Ich geh dann schon mal zu den Leuten«, sagte Janssen, trat aus dem Steuerhaus und kletterte den Niedergang auf das Passagierdeck hinunter.

Pastor Bramsen, obwohl ohne Zweifel einer ›von hier‹, stand mit grünem Gesicht direkt am Fuße der Niedergangstreppe und hielt sich krampfhaft an der Reling fest.

»Du liebe Güte, Herr Pastor. Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Janssen besorgt.

»Na ja, mir ging’s schon mal besser«, brachte der Gottesmann würgend hervor. »Wird heute eher eine kurze Zeremonie. Ist Ihnen ja sowieso am liebsten.« Er warf einen schrägen Blick auf den Kapitän. Der räusperte sich kurz, setzte seine professionelle Kapitänsmiene auf und öffnete die Tür zum Salon, in dem die Trauergäste saßen und je nach individueller Robustheit Tee mit oder ohne Rum tranken oder nur unglücklich vor sich hin starrten.

Janssen trat vor den Mahagonitisch, auf dem die rot-gold lackierte Urne aus seewasserlöslichem Muschelkalk rutschsicher in einer Vertiefung stand, und erklärte: »Meine Damen und Herren, in einer Minute erreichen wir die Position für die Seebestattung. Bitte ziehen Sie sich Ihre Mäntel an, der Wind ist kalt.«

Die Trauergemeinde hatte sich an Deck versammelt, Kapitän Janssen stand an der Reling, hielt die Urne in seinen Händen, die in edlen schwarzen Lederhandschuhen steckten, und Pastor Bramsen begann eine sehr kurze Andacht. Schließlich trat die Witwe, eine einzelne weiße Nelke in der Hand, gestützt von zwei Familienmitgliedern, an die Reling.

»Und so übergeben wir dich nun, wie du es dir gewünscht hast, dem ewigen Meer, aus dem alles Leben stammt«, rief Pastor Bramsen in den Wind hinein, und Kapitän Janssen ließ die Urne langsam an dünnen Seilen auf die Wogen hinabgleiten, und die Witwe schluchzte auf und warf die Nelke hinterher, und das Nebelhorn der Nordstern trötete.

Und genau da schwamm die Leiche vorbei.

Getrieben von Wind und Strömung, von den kurzen Wellen in eine fast natürliche Bewegung versetzt, rollte der bleiche, aufgedunsene Frauenkörper plötzlich von der Bauch- in die Rückenlage, ein milchweißer Arm hob sich dabei kurz aus dem Wasser, als wolle er die prächtige Urne grüßen, und das Gesicht drehte sich zu den Trauernden auf dem Schiff hin, als betrachte die nackte Tote erstaunt die schwarz gewandete Gesellschaft an Bord.

Doch dazu fehlten ihr die Augen. Die Möwen hatten nur zwei ausgefranste blassrote Höhlen zurückgelassen.

2

Kein guter Tag. Überhaupt nicht.

Auch wenn er von dieser Sorte schon so manchen im letzten Jahr erlebt hatte – dieser letzte Freitag im April war für Simon der schlimmste in einer langen Reihe beschissener Tage.

Schwarzer Freitag.

Während ihm der Regen aus der rostigen Dachrinne des alten Bootsschuppens in den Kragen tropfte, beobachtete er mit feuchten Augen die aufgekratzte Schar unten am Anleger. Bereits der dritte oder vierte Sektkorken knallte und die angemalte Blondine mit dem schlabbrigen Hush-Puppy-Gesicht rief in breitem Berlinerisch: »Ick will doch hoffen, det wa nich imma so ’n Rejen haben bei ’n Sejeln!«

Blöde Kuh.

Das Schiff war mit Signalflaggen geschmückt. Nicht richtig, nicht über die Toppen. Vermutlich wussten sie nicht einmal, wie man das anstellte. Stattdessen baumelten die kleinen pitschnassen Fähnchen traurig an der Reling.

Vorhin hatte die Blondine eine monströse Champagnerflasche, die an einer Wäscheleine hing, mehrmals gegen die Bordwand geworfen. Wie aus einer mittelalterlichen Steinschleuder abgeschossen, krachte sie auf die ehrwürdigen Holzplanken. Und natürlich zersprang sie nicht, sondern schwang stets unbeschädigt wieder zurück.

Dafür zersprang bei jedem Aufschlag etwas in Simon.

Wumm. Wumm. Das ganze Boot schien zu stöhnen.

Nicht auszuhalten.

Schließlich waren sie es leid und knallten die Pulle Moët & Chandon brutal auf die Niroverkleidung der Süllkante. Ein fürchterliches Krachen, ein Splittern, Glasscherben spritzten auf die Pflastersteine des Kais, das sündhaft teure Gesöff schäumte in alle Richtungen.

Siegesgeschrei aus vielen Kehlen.

Frau Sörensen regte sich so auf, dass Simon befürchtete, sie werde jeden Augenblick einer Herzattacke erliegen. Fast vergaß er darüber, wie mies er sich selbst fühlte.

Er holte seinen alten Flachmann aus der Tasche, übersah geflissentlich den vorwurfsvollen Blick von Frau Sörensen und schraubte die Kappe ab. Ob er wollte oder nicht, bevor er die versilberte Flasche an die Lippen setzte, fiel ihm der ziselierte Schriftzug ins Auge.

Seeschwalbe.

Seit zehn Minuten hieß sie Püppi.

Taten anständige Menschen so was? Wussten diese Schampusschlürfer nichts von der Seele eines Bootes? Wie in Gottes Namen konnte man einen fünfzig Jahre alten Colin Archer, dem alle Winde von Nord- und Ostsee in seinen Tüchern steckten, in Püppi umtaufen?

Schon wieder leer, der Flachmann. So schön er war – ein Geschenk seiner Frau aus besseren Zeiten –, es passte immer weniger hinein. Schrumpfte wohl mit dem Alter. Vielleicht hätte er ihn besser an Bord lassen sollen, mitverkaufen. Einfach nur ein weiteres Teil von Pütt und Pann.

Zu viele Erinnerungen.

Frau Sörensen wagte sich aus ihrer Deckung, stellte sich trotzig in den Regen und keifte laut in Richtung Kai.

»Lass gut sein! Die dürfen mit dem Schiff machen, was sie wollen. Gehört uns nicht mehr«, knurrte Simon, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, dem Flachmann einen allerletzten Tropfen zu entlocken, während die kleine schwarz-weiße Hündin mit den Segelohren unverdrossen weiterbellte.

»Jetzt halt die Klappe! Da ist nichts mehr dran zu ändern.« Simon steckte die leere Flasche in seine Jackentasche.

»Det Beste an dem Schiff is der starke Motor«, dröhnte Herr Papke, der Hush-Puppy-Rüde, gerade, »da könn wa janz jemütlich tuckan, wenn wa keene Lust auf Sejeln ham!«

O Herr, womit hab ich diese Prüfung verdient …

Aber Papke, ein Schrotthändler aus Pankow, hatte den besten Preis geboten. Und Simon brauchte jeden Euro. Nicht, dass er vom Verkaufserlös auch nur einen Cent gesehen hätte. Natürlich nicht – die Bank hatte sich vorgedrängelt. Seine Hausbank.

Die durfte sich zu Recht mit diesem Namen schmücken, schließlich besaß sie ja sein Haus. Mit dem Geld der Hush Puppys konnte Simon nun wenigstens die aufgelaufenen Raten zahlen, sonst hätte er ausziehen müssen. Nicht das auch noch! Schlimm genug, dass er Simonsen Hoch- und Tiefbau verloren hatte. Zwar wurden beim Verkauf wenigstens die Arbeitsplätze für seine Stammbelegschaft gerettet, dafür war auch er seither nur noch ein Angestellter in der Firma, die er einmal selbst aufgebaut hatte. Die gehörte nun einer Hamburger Holding – mit Beteiligung der Hausbank.

Nach zwölf Jahren der Selbstständigkeit bekam Simon wieder einen Chef vorgesetzt – und musste noch froh sein, dass der Mann ihm den Job als Betriebsleiter überhaupt angeboten hatte. Auf Simons uralte Verbindungen hier in seinem Heimatort und in der ganzen Gegend wollte der jung-dynamisch-erfolgreiche Konrad Lambert dann wohl doch nicht verzichten. Auch wenn er ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass er nichts mehr zu sagen hätte.

Simon fröstelte plötzlich. Verdammt, er brauchte was zu trinken. Außerdem wurde es langsam ungemütlich unter der löchrigen Regenrinne.

Lautstark verabschiedeten sich die Gäste der Taufzeremonie. Einer grölte La Paloma.

Frau Sörensen jaulte. Simon grinste müde und beobachtete, wie die Leute in ihre Autos stiegen und davonfuhren, Seitenscheiben heruntergelassen, schreiend und hupend. Arm in Arm standen die Hush Puppys an der Seereling und winkten hinter den Autos her.

Flaschen, Gläser und Pappteller mit Kanapeeresten blieben auf dem Campingtisch am Kai im Regen stehen.

Bei Hinrich in der Fischerhütte wurde Simon langsam wieder warm. Er saß in seiner Stammnische am Ende des Tresens vor dem zweiten Glas Grog. Frau Sörensen lag unter seinen Füßen und schlief. Ihre Riesenohren zuckten unkontrolliert. Vielleicht träumt sie von ihrer Koje auf dem Schiff, quälte sich Simon mit perversem Genuss, nahm einen tiefen Schluck und badete in einem Meer aus Selbstmitleid.

Haus überschuldet, Frau weg, Firma weg – und jetzt auch noch seine Seeschwalbe …

Püppi!

Hastig nahm er einen tiefen Zug aus seinem Glas und schaute sich um. Die Tische im Gastraum füllten sich langsam. Abendessenszeit. Die Fischerhütte war bekannt für ihre gute Hausmannskost und für reichhaltige Portionen. Außer den Hausgästen – fünfzehn Zimmer standen für Touristen zur Verfügung – liebten zahlreiche Tagesgäste und vor allem die Inhaber der Bootsliegeplätze die ›urige Atmosphäre‹ dieses Hotel-Restaurants, das oberhalb des alten Hafens lag. Mit diesem zusammen bildete die Fischerhütte das touristische Herz des kleinen Ortes, der etwa fünfundzwanzig Kilometer östlich von Flensburg an einer malerischen Bucht der Außenförde lag.

Simon hatte seit dem vorletzten Jahr ein eher gestörtes Verhältnis zu den Fischernetzen, die sich, gespickt mit allerlei maritimem Nippes, unter der Decke des Gastraumes spannten. Nach der Preisverteilung für die ›Mettwurstregatta‹ des Segelklubs war es hier damals hoch hergegangen. In den frühen Morgenstunden hatte er sich tollkühn in die Netze gehängt, um Lores Tanga wieder herauszufischen. Bis heute konnte sich niemand erklären, wie das delikate Kleidungsstück der Frau des Kassenwarts den Weg in die Deckendekoration gefunden hatte. Es mochte etwas zu tun haben mit Lores orientalischer Bauchtanzeinlage auf dem Stammtisch. Mehr Bauch als Tanz, soweit sich Simon entsinnen konnte.

Lore selbst fehlte angeblich die Erinnerung an die Veranstaltung. Kassenwart Friedrich, ein Freund von Simon, der in Eckernförde eine Kanzlei als Fachanwalt für Steuerrecht betrieb, zog es vor, sich dieser partiellen Amnesie anzuschließen. Wäre die Sache mit dem Reizwäscheteil nicht gewesen – zweifellos würden beide heute standhaft leugnen, dem Bacchanal überhaupt beigewohnt zu haben.

Jedenfalls endete Simons heroischer Rettungsversuch damit, dass er, unentrinnbar in die muffige Dekoration verstrickt, auf dem Boden lag, während sich hilfsbereite Klubkameraden messerschwingend auf ihn stürzten. »Wir schneiden dich raus!« Starr vor Angst musste er zusehen, wie dicht neben seinem Kopf blitzende Klingen in die Maschen fuhren.

Ein pures Wunder, dass sie ihn nicht ebenfalls perforiert hatten.

Wieder öffnete sich die Tür und eine neue Gruppe fröhlicher Menschen strebte einem der freien Tische zu. Zwei Bedienungen, eine davon Hinrichs Tochter Kira, liefen herum, servierten die üppig beladenen Teller und nahmen neue Bestellungen auf.

Über die Osterfeiertage, an denen die Küste schon mit Frühlingstemperaturen und warmem Sonnenschein verwöhnt wurde, waren die meisten Boote bereits aus dem Winterlager geholt, mit dem Kran ins Wasser gesetzt und dann an ihre Liegeplätze gebracht worden. Und jetzt kamen nach und nach die restlichen Eigner, um ihre Schiffe segelfertig zu machen. Dass der Frühling immer wieder mal für einen oder zwei Tage eine Pause mit Wind und Regenschauern einlegte, war hier im Norden nichts Ungewöhnliches. Spätestens an Pfingsten war der kleine Sportboothafen wieder rappelvoll, wusste Simon.

Den angestammten Liegeplatz der Seeschwalbe hatte Papke, der neue Eigner, ebenfalls übernommen. Von hier aus wollte er ein paarmal im Jahr mit seiner offenbar mehrfach mit mäßigem Erfolg gelifteten Gattin ›det Meer auf eijenem Kiel erkunden‹, wie die Dame sich ausgedrückt hatte. Immerhin gab es die Vereinbarung, dass Simon einen Schlüssel für das Schiff behielt und während der Abwesenheit der Papkes am Liegeplatz und an Bord nach dem Rechten sehen sollte.

Auch wenn ihn das weiter quälen würde, hatte Simon diesem Vorschlag nicht widerstehen können. So kam er wenigstens immer wieder mal auf sein geliebtes Schiff.

»Mach mir mal noch ’n Grog, Hinrich!«

Frau Sörensen knurrte im Schlaf. Hatte sich jedenfalls so angehört.

»Hm.« Hinrich sagte nie viel.

»Was heißt denn ›Hm‹? Hm – ja, oder Hm – nein?«, fragte Simon ärgerlich.

Hätte er nicht tun sollen, wie er sofort merkte. Hinrich rang sich nämlich eine Rede ab, die er gar nicht hören wollte: »Klar kriegst du deinen Grog, wenn du unbedingt willst. Schließlich verdien ich mein Geld damit, dass die Leute bei mir saufen. Aber ich finde es eine Schande, dass du hier trübe rumhängst und dich volllaufen lässt. Reiß dich gefälligst zusammen! Da haben andere schon mehr verloren.«

Viele Worte für den schweigsamen Hinrich. Er kam mit der Rumbuddel und einer Thermoskanne mit heißem Wasser heran und knallte beides vor Simon auf den Tresen. »Mach dir die Mischung selbst. Und ’n Strich aufm Deckel.«

Simon schenkte sein Glas voll – nicht zu viel Wasser – und tat ein Stück Zucker hinzu. Gerade führte er das heiße Getränk vorsichtig zum Mund, da rief Hinrichs Tochter: »Simon, Besuch für dich!«

Sie stand an der Eingangstür neben zwei tropfnassen Gestalten, einem Mann Mitte fünfzig mit knittrigem Gesicht in grauem Regenmantel und einer jungen blonden Frau in knallgelbem Friesennerz, die offenbar gerade hereingekommen waren, und zeigte zu ihm herüber.

»Ich gebe heute keine Audienzen«, grunzte Simon missmutig und Frau Sörensen seufzte.

Unbeeindruckt kam die junge Frau heran, baute sich direkt vor Simon auf und fragte leise: »Entschuldigen Sie, sind Sie Herr Simonsen?«

»Wer will das wissen?«

»Die Kriminalpolizei«, kam es von dem nassen grauen Mann, der inzwischen an der Wand hinter Simons Barhocker Aufstellung genommen hatte.

Helene Christ, Kriminalkommissarin, las Simon auf dem Ausweis, den die junge Frau ihm vor die Nase hielt. Und Polizeidirektion Flensburg stand auch drauf, direkt neben dem Dienstsiegel.

»Aha«, murmelte Simon verstört und griff mechanisch zu seinem Grogglas.

Frau Sörensen hatte sich aufgesetzt und musterte mit leicht angelegten Ohren misstrauisch die gelbe Regenjacke der Kriminalbeamtin. So was trugen gern auch die Touristen. Und für Frau Sörensen waren Touristen Beute. Allzu gern rannte sie wild kläffend hinter denen her und wedelte jedes Mal fröhlich mit ihrem Rattenschwanz, wenn sie harmlosen Urlaubern Angst einjagen konnte.

»Können wir uns hier irgendwo in Ruhe unterhalten?«, fragte der Mann hinter Simon.

»Hm, gehen wir in den Klubraum«, antwortete Simon und rutschte von seinem Hocker. Er drehte sich zu Hinrich um. »Ist der Raum offen?«

»Ja, klar. Darf ich den Herrschaften etwas bringen?«

»Einen Kaffee bitte«, sagte die Kommissarin und zog ihren Friesennerz aus.

»Für mich bitte auch«, rief ihr Kollege, der sich ebenfalls seines nassen Mantels entledigt hatte und beide Kleidungsstücke hastig an einen Wandhaken neben der Theke hängte, bevor er Simon dicht auf den Fersen folgte. Bei jedem Schritt stolperte er dabei fast über Frau Sörensen.

»Für dich noch einen Grog, Simon?«, fragte Hinrich scheinheilig.

Simon warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Nee, bring mir auch einen Kaffee, schwarz und groß.«

»Sie sind verheiratet, Herr Simonsen?« Der graue Beamte, der sich als Edgar Schimmel ausgewiesen hatte und Oberkommissar war, sah Simon fest ins Gesicht.

»Ist das eine Frage? Ach egal … ja, ich bin verheiratet, aber ich hab Lisa, also meine Frau, seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Worum geht es hier eigentlich? Was wollen Sie von mir?«

»Sie wohnen also seit zwei Monaten nicht mehr zusammen?«, wollte die Kommissarin wissen und fixierte Simon mit ihren hellblauen Augen.

»Nein, länger. Ich habe sie nur zuletzt vor ungefähr zwei Monaten gesehen. Das war bei einer Versammlung von unserem Segelklub. Aber wir leben schon seit über einem Jahr getrennt.«

»Geschieden sind Sie nicht?«

Simon schüttelte den Kopf. »Sie hat wohl jetzt einen Anwalt … Zum Teufel«, fuhr er plötzlich auf, »jetzt kommen Sie endlich zur Sache, was …« Er unterbrach sich, als Hinrich das Tablett mit einer großen Kaffeekanne und drei Bechern auf den Tisch stellte.

»Danke, Herr Wirt, wir bedienen uns selbst«, sagte die Kommissarin. »Lassen Sie uns jetzt bitte mit Herrn Simonsen allein.«

Nachdem alle ihren vollen Kaffeebecher in der Hand hielten, fragte Simon scheinbar ruhig: »Es ist was passiert, oder? Mit meiner Frau?«

Kommissarin Christ ließ Simon nicht aus den Augen, als sie nachhakte: »Wie kommen Sie darauf?«

»Na, da braucht man nicht viel Fantasie! Sie kommen um diese Zeit hierher, wollen mich allein sprechen und fragen nach meiner Frau …«

»Wir fürchten, Ihrer Frau ist etwas zugestoßen, Herr Simonsen.«

»Etwas Schlimmes«, ergänzte Oberkommissar Schimmel gewichtig.

»Nun reden Sie endlich! Was ist mit Lisa?«, fragte Simon scharf. Frau Sörensen, die jetzt neben seinem Stuhl saß, legte ihren Kopf schräg und blickte ihn aufmerksam an, als sie den Namen hörte.

»Sie haben von der Wasserleiche gehört, die vorgestern in der Geltinger Bucht aufgefunden wurde?«

»Ja, natürlich, Käpt’n Janssen wohnt bei uns um die Ecke, also der Kapitän von dem Schiff, mit dem die Bestattungen …«

»Wir kennen Kapitän Janssen«, sagte Oberkommissar Schimmel leicht ungeduldig, »er hat die Leiche ja sozusagen … äh … aufgefunden.«

»Natürlich, klar.« Simon nickte. »Also, gestern Abend war er hier und hat von dem grausigen Fund erzählt. Außerdem sind ja die Zeitungen heute voll davon. Wasserleiche bei Seebestattung und solches Zeug. Alle fragen sich, wie es sein kann, dass eine nackte Tote da draußen meilenweit vor der Küste treibt. Aber was hat das denn …« Simon stockte plötzlich, als ihm aufging, was er gerade fragen wollte. »Die Tote von Kalkgrund, soll das … also meinen Sie etwa, dass das meine Frau …« Er schüttelte unwirsch den Kopf, um den Rumnebel zu verscheuchen. »Völliger Unsinn, das kann gar nicht sein«, sagte er entschieden. »Soviel ich weiß, ist meine Frau mit ihrem neuen … Also, sie hat Urlaub und ist verreist, glaube ich.«

»Sagen Sie, Herr Simonsen, Sie haben doch ein eigenes Boot, einen alten Segelkutter, nicht wahr?«, wechselte Schimmel abrupt das Thema.

»Was hat denn das … äh, ja … das heißt nein …« Simon verstummte und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee.

»Wollen Sie behaupten, Sie hätten kein Boot?«, fragte der Oberkommissar scharf und setzte nach: »Wir wissen, dass Sie noch vor ein paar Tagen, also am vergangenen Wochenende, damit auf See waren.«

»Ja, aber leider zum letzten Mal«, antwortete Simon, »inzwischen ist es … Aber wieso fragen Sie das alles? Und woher wissen Sie das?«

»Haben Sie nun ein Boot oder nicht?«, fragte Helene Christ sanft und sah Simon mit einem mitleidigen Blick an.

»Ich hatte ein Boot, ja. Ist verkauft. Am letzten Wochenende habe ich noch einmal einen Törn damit gesegelt. Heute haben die neuen Besitzer es umgetauft.«

»Aha«, sagte Oberkommissar Schimmel. »Waren Sie allein an Bord bei dem Wochenendtörn?«

»Ja, leider«, Simon rang sich ein müdes Lächeln ab, »nur Frau Sörensen war dabei.«

»Wir brauchen die Adresse dieser Frau Sörensen!«, erwiderte Schimmel in scharfem Ton und zückte einen kleinen Notizblock.

»Wohnt bei mir.« Simon zeigte auf die Hündin, die bei der mehrfachen Nennung ihres Namens die Fledermausohren aufgestellt hatte, mit dem Schwanz wedelte und interessiert in die Tischrunde blickte.

»Sehr witzig«, schnappte der Oberkommissar. »Heißt das, außer Ihnen und dem Hund war niemand an Bord?«

»Das heißt es«, gab Simon laut zurück und ließ seine flache Hand mit einem vernehmlichen Klatschen auf den Tisch fallen. »Und Sie sagen mir jetzt, was Ihr Besuch und dieses sonderbare Verhör zu bedeuten haben. Und zwar sofort!«

»Erst einmal …«, setzte Schimmel an, wurde aber von seiner jungen Kollegin unterbrochen. Sie sagte leise: »Herr Simonsen, wir haben eine schlechte Nachricht für Sie. Es tut uns leid, aber alles deutet darauf hin, dass die Tote von Kalkgrund Ihre Frau ist.«

Frau Sörensen ließ ein erschrecktes Quieken hören, als Simon plötzlich seinen Stuhl zurückstieß, aufsprang und sich mit den Händen auf die Tischplatte stützte. Gepresst knurrte er: »Das ist doch ausgemachter Unsinn, den Sie mir hier erzählen! In den Zeitungen stand, sie sei nackt gewesen, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerfressen von den Fischen oder Vögeln oder was weiß ich …« Simon würgte und musste schlucken. »Woher wollen Sie also wissen, dass das Lisa war?«

»Beruhigen Sie sich bitte.« Kommissarin Christ legte Simon vorsichtig eine Hand auf den Unterarm. »Inzwischen konnten wir die Tote einwandfrei identifizieren. Der zahnärztliche Befund …«

»Wir haben den Zahnstatus an alle Zahnärzte in der Region gemailt, also von Eckernförde die Küste hoch bis Flensburg«, sagte Schimmel. »Die Antwort hatten wir sehr schnell. Der Zahnarzt Ihrer Frau …«

»… war immer Dr.Tramsen hier im Ort, früher jedenfalls …«, stieß Simon mit erstickter Stimme hervor.

»Genau. Der hat das Gebiss einwandfrei identifiziert. Es gibt leider keinen Zweifel, Herr Simonsen.«

Simon ließ sich auf den Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern zuckten.

»Ich will sie sehen«, stieß er hervor.

»Natürlich«, antwortete Helene Christ, »das werden Sie, auch wenn wir bis dahin noch einige Schritte einleiten müssen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Simon, nahm die Hände herunter und starrte die junge Frau an.

»Nun ja, uns liegt da eine Zeugenaussage vor, die Sie belastet, schwer belastet, um genau zu sein.«

»Eine … was für eine Aussage? Und welcher Zeuge? Was bezeugt der denn? Das kann ja wohl alles nicht …«

Der graue Oberkommissar Schimmel erwiderte: »Sie werden alles bei uns in Flensburg erfahren.« Dann erhob er sich bedächtig und sagte: »Herr Simon Simonsen, ich nehme Sie vorläufig fest. Sie stehen in dringendem Verdacht, Ihre Ehefrau Lisa Maria Simonsen ermordet zu haben.«

3

Simon fuhr sich verzweifelt durch seinen wirren Haarschopf.

Ein Albtraum, ein gottverdammter Albtraum – etwas anderes konnte das doch nicht sein, was da gerade mit ihm geschah!

Seit über zwei Stunden saß er bereits im Verhörraum der Bezirks-Kriminalinspektion Flensburg gegenüber der Hafenspitze. Die Digitaluhr über der Tür des Verhörzimmers zeigte 01:17Uhr an.

Als er verwundert hatte feststellen müssen, dass dieses sonderbare Kommissargespann die verrückte Anschuldigung tatsächlich ernst meinte, hatte er Hinrichs Tochter gebeten, sich um Frau Sörensen zu kümmern, und sich vom Wirt eine große Flasche Mineralwasser geben lassen, die er auf der Fahrt nach Flensburg austrank.

Nun saß er hier, hatte entsetzliche Kopfschmerzen und hoffte immer noch, dass die Tür aufging und jemand hereinspazierte, der das Ganze für einen riesigen Irrtum erklärte, und er wieder nach Hause gefahren wurde …

»Ihr Haus wird gerade von unseren Kollegen untersucht«, sagte Oberkommissar Schimmel, als habe er Simons Gedanken erraten. »Und die Kollegen von der Wasserschutzpolizei suchen nach Ihrem ehemaligen Boot. Weit kann der neue Besitzer ja noch nicht gekommen sein. Wenn sie es gefunden haben, werden sie auch dort gründlich nach Spuren suchen. Falls der Mord tatsächlich an Bord stattgefunden hat, wird sich das schnell beweisen lassen.«

»So ein Unsinn! Was suchen Sie denn da bei mir?«

»Beweise, Herr Simonsen. Zum Beispiel die Kleidung der Toten. Der Täter hat die ja irgendwo lassen müssen. Erst hat er die Leiche entkleidet, um die Identifizierung zu erschweren, und sie dann ins Meer geworfen. Aber wo hat er die Kleidung gelassen? Auch ins Wasser geworfen? Möglich. Aber wenn wir die bei Ihnen finden …«

»Bei mir? Wie kommen Sie … was fällt Ihnen ein …?«, setzte Simon an, doch Schimmel schob ihm ein amtlich aussehendes Dokument über den Tisch.

»Das ist der Durchsuchungsbeschluss, es ist also alles rechtens.«

Daran hegte Simon keine Zweifel – alles hier war bestimmt rechtens. Sie durften ihn von der Theke weg verhaften (»Nein, nein, nur vorläufig festnehmen«, hatte Schimmel ihn vorhin berichtigt), sie durften ihn zum Verhör nach Flensburg karren, sie durften natürlich seine Wohnung und das Boot durchwühlen – alles rechtens, ganz sicher.

Aber alles eben völlig falsch.

»Noch einmal, Herr Simonsen«, sagte Kommissarin Christ eindringlich, »Sie sollten unbedingt mit Ihrem Anwalt sprechen!«

»Mit ›meinem‹ Anwalt? Das hat mich schon immer bei den Krimis im Fernsehen gestört«, gab Simon aufgebracht zurück, »dass da alle ›ihren‹ Anwalt haben. Leute, die nie etwas verbrochen haben, wissen immer sofort, wer ›ihr Anwalt‹ ist, den sie mitten in der Nacht anrufen können – und der dann auch postwendend auf der Matte steht.« Er hielt kurz inne und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ich bin aber kein Mafioso und ich habe keinen Verteidiger, der sich mit Mord und Totschlag auskennt. Brauchte ich noch nie. Wahrscheinlich hätte ich mir demnächst einen Anwalt für die Scheidung besorgen müssen …« Er brach ab. Das hatte sich ja jetzt wohl erledigt.

»Also verzichten Sie während der weiteren Vernehmung auf die Anwesenheit eines Anwalts?«, fragte Schimmel und setzte mit einem Blick auf das laufende Aufnahmegerät hinzu: »Ich frage nur fürs Protokoll.«

»Und ich gebe Ihnen hiermit zur Kenntnis, auch nur fürs Protokoll«, erwiderte Simon, »dass ich ab sofort nichts mehr sagen werde. Ich will jetzt schlafen. Wenn Sie mich dafür nicht nach Hause lassen, dann eben hier. Morgen früh werde ich mich nach einem Anwalt erkundigen. Und wenn der da ist, dann machen wir weiter. Vorher sage ich kein Wort mehr zu Ihren absurden Vorwürfen, egal, wie lange Sie mich noch befragen.«