Mord an Rotkäppchen - Thomas Wick - E-Book

Mord an Rotkäppchen E-Book

Thomas Wick

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Beschreibung

Eine tote junge Frau liegt erschossen am Fuße des Wasserturms einer Kleinstadt im Nordschwarzwald. Als Tom und Falko, zwei Freunde, die sich von Jugend an kennen, die Frau auf einem Ausflug finden, bietet sich ihnen ein bizarres Bild: Die Tote trägt ein Rotkäppchen-Kostüm und ein Kettchen mit einem Wolfsanhänger um den Hals. Die herbeigerufenen Polizisten zeigen wenig Motivation, das Verbrechen konsequent aufzuklären. Bei der Toten handelt es sich um eine osteuropäische Prostituierte. Was sie ausgerechnet in den Schwarzwald geführt hat, bleibt unklar und interessieret die Beamten nicht. Tom und Falko beschließen, auf eigene Faust zu ermitteln. Sie geraten in einen Strudel aus organisiertem Verbrechen, Prostitution und Gewalt. Obwohl sie oft genug nahe daran sind aufzugeben, schaffen sie es, die übermächtigen Gegner in die Enge zu treiben. In der Nähe der Wolfsgrube, auf einer Waldlichtung kommt es zu einem ebenso spannenden wie überraschenden Finale.

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Liebe Leserinnen und Leser,

Sie halten einen Roman in der Hand. Kein Sachbuch und keine Autobiographie!

Wie heißt es doch so schön: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen…

Nein, das wäre auch gelogen. Natürlich bediene ich mich der Erfahrungen aus meinem persönlichen Umfeld. Natürlich denken Falko und Tom gelegentlich so, wie ich in dieser Situation vielleicht denken würde. Aber ich bin weder Falko noch Tom und das ist mir wichtig!

Das gilt erst recht für die anderen Personen in diesem Roman.

Ich habe sie mir bei langen Spaziergängen mit dem Hund ausgedacht und zu hoffentlich interessanten Figuren entwickelt. Eine Ähnlichkeit mit real existierenden Personen wäre ebenso zufällig wie unbeabsichtigt.

Das Städtchen Neubulach ist höchst real, keineswegs zufällig und immer einen Besuch wert. Ich habe mich sehr darum bemüht, dieser sympathischen Kleinstadt mit ihren Sehenswürdigkeiten gerecht zu werden.

Lokale, Cafés und Restaurants habe ich beim Namen genannt, weil ich sie nur empfehlen kann und sie gerne unterstütze.

Apropos Neubulach: Ob es Ähnlichkeiten zwischen der Bürgermeisterin im Roman und unserer real existierenden Bürgermeisterin gibt, müssen Sie entscheiden. Auf jeden Fall kennt sie das Buch und hat mich mit Rat und Tat bei der Veröffentlichung unterstützt.

Folgen Sie also unbeschwert meinen beiden Helden durch Neubulach, Calw und durch den nördlichen Schwarzwald.

Begleiten Sie Tom und Falko auf ihren Exkursionen ins Elsass und nach Bulgarien.

Seien Sie nachsichtig mit mir, wenn mir ein Fehler unterlaufen ist und nehmen Sie den Inhalt nicht zu ernst. Ein spannendes und unterhaltsames Lesevergnügen wünscht

Thomas Wick

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Danke!

Prolog

Angst! Abgrundtiefe Angst! Panik umklammerte ihr Herz. Heftige, rasende Herzschläge bis in den Hals. Würde der Mond doch nur für ein paar Minuten hinter den Wolken verschwinden! So hatte sie keine Chance. Selbst am Waldrand war es fast taghell und sie blieb für einen Moment stehen, um sich zu orientieren. Sie konnte die Männer, die sich mit Rufen verständigten schon hören, auch wenn ihr eigener keuchender Atem alles zu überdecken schien. Sie kamen immer näher.

Ein paar hundert Meter entfernt konnte sie Lichter

entdecken. Straßenlaternen. Um sie herum duckten sich einige kleine Gebäude und sie glaubte auch, Konturen von Wohnwagen oder Containern zu erkennen. Das musste ein Campingplatz sein. Wenn sie den erreichte, war sie gerettet, denn dort gab es bestimmt Menschen. Menschen, bei denen sie vor diesen Ungeheuern, die hinter ihr her waren, Schutz finden konnte.

Wenn sie doch nicht diese viel zu engen Stiefel mit den glatten Sohlen angezogen hätte!

Sie strauchelte, konnte sich aber blitzschnell wieder aufrappeln. Ihr Atem überschlug sich. Sie versuchte, ruhiger zu werden, aber es gelang ihr nicht. Sie musste sich links halten, um den Campingplatz zu erreichen. Dann bemerkte sie, dass zwei ihrer Verfolger den Weg, der entlang eines Zaunes führte, bereits erreicht hatten. Sie waren so deutlich zu erkennen, dass sie sogar wusste, um wen es sich handelte. Der Weg zum Campingplatz war abgeschnitten.

Also nach rechts! Nachdem sie auf einer Wiese noch einmal hingefallen war - jetzt fiel es ihr schon viel schwerer, wieder aufzustehen - erreichte sie einen Schotterweg, von dem sie nicht wusste, wohin er führte. Aber sie hatte keine Wahl.

Sie war nicht durchtrainiert, obwohl sie schlank und gut proportioniert war. Ihrem Körper hatte sie schon viel zu viel zugemutet. Auch wenn ihr äußerlich wenig anzusehen war, hatten der Alkohol und die Drogen unsichtbare Spuren hinterlassen.

Vielleicht war es besser, einfach stehen zu bleiben und ihr Schicksal anzunehmen. Aber sie rannte weiter, mit schmerzenden Lungen und Krämpfen in ihren Beinen. Die Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen, bemerkte sie nicht.

Die junge Frau lief hinter einem riesigen Hühnerstall mit seinen Legebatterien vorbei, der sich durch seinen stechenden Geruch nach Ammoniak bemerkbar machte.

Sie wollte einen Moment stehen bleiben, nur, um sich ein klein wenig ausruhen zu können.

Ein Mann verstellte ihr den Weg. Er sprach kein Wort, schaute sie fast bedauernd an und zog dann eine Pistole aus der Tasche, die so klein und zierlich war, dass sie geradezu lächerlich wirkte.

Auch der Knall, den sie erzeugte, war so hohl und leise, dass er von einem kleinen Feuerwerkskörper hätte stammen können.

Das Loch, das sich auf der Brust der Frau abzeichnete, hatte einen Durchmesser von kaum mehr als sechs Millimetern. Trotzdem war sie schon tot, als sie mit ungläubigem Gesichtsausdruck auf dem Boden aufschlug.

Kapitel 1

Die warme Augustsonne schuf ein Licht voller Wärme und Weichheit. Vom Rande der Lichtung, gegenüber des Wasserturms, war das Klopfen eines Spechts zu hören. Der Schwarzwald hatte heute nichts Düsteres, nichts Unheimliches. In Einklang mit dem Duft von Wiesenblumen und trocknendem Heu verbreitete er eine Atmosphäre, die friedlicher nicht sein konnte.

„Heute wäre genau der richtige Tag und der richtige Ort, um Aufnahmen für einen Ferienprospekt oder Postkarten zu machen“, wandte sich Tom Ritter an seinen Freund Falko Eulert, „oder ist es die Sentimentalität eines alten Mannes, die mir den Blick verklärt? Aber Spaß beiseite: es ist einfach schön hier und ich bin ehrlich dankbar, dass es mich hierher verschlagen hat. Aber bevor ich mich in Kitsch ergehe, zeig ich dir unseren Wasserturm. Leider kann man ihn heute nicht besichtigen, der Blick von oben ist nämlich wunderschön. Man kann bis zur Schwäbischen Alb schauen.- Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

Falko schien etwas entdeckt zu haben und blieb wie versteinert stehen, bevor er, sich am Sockel des Turms abstützend, in die Knie ging.

Jetzt sah auch Tom das schreckliche Szenario, das auf den ersten Blick durch ein niedriges Weißdorngestrüpp verborgen geblieben war.

Eine Frau lag im Halbschatten und rührte sich nicht.

Der Blutfleck war nur eine Nuance dunkler als der rote Umhang, der ihr halb von der Schulter gerutscht war.

Tom bückte sich tief und kniff die Augen zusammen. Aber das Bild blieb bestehen.

Die Frau war tot. Der starre Blick ihrer offenen Augen und ein schillernder Käfer, der über ihre Stirn krabbelte, zeigten, dass hier keine müde Wanderin den Schatten gesucht hatte, um sich ein wenig auszuruhen.

Nahe des Brustbeins, am oberen Rand des Blutflecks war ein Einschussloch zu erkennen, kreisrund und nicht mal einen Zentimeter im Durchmesser.

Wie lange sie so regungslos verharrten, hätten sie später nicht sagen können. Vermutlich waren es nur ein paar Sekunden, bevor Tom als erster etwas sagte.

„Die Frau ist tot! Wir haben eine Tote gefunden! Erschossen! Wie schrecklich!“ Tom hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Aber schau nur, das passt doch nicht zusammen. Das ist doch völlig verrückt. Siehst du, was die Frau anhat?

Bin ich dabei, verrückt zu werden oder siehst du das Gleiche wie ich?“

Falko riss sich zusammen und betrachtete die tote Gestalt genauer. „Das ist Rotkäppchen! Also ich meine das Mädchen ist gekleidet wie das Rotkäppchen aus dem Märchen!“ Falkos halb gestammelte Beschreibung hätte einen unbedarften Betrachter der Szene sicher verwirrt; für jeden, der die Tote sah, wäre sie sofort einleuchtend gewesen.

Vor ihnen lag, ein wenig verdreht, tatsächlich die bizarre Kopie der Grimmschen Märchengestalt. Und wenn Falko eben von einem Mädchen gesprochen hatte, so war das nicht ganz richtig. Die Frau war älter, Mitte dreißig vielleicht, gutaussehend, sofern man das von einer Toten sagen konnte. Falko suchte in seiner Jacke nach Zigaretten, obwohl er vor mehr als 10 Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.

„Wir können sie doch nicht so liegen lassen, wir müssen Hilfe holen!“

„Hilfe? Du bist gut! Der ist nicht mehr zu helfen. Und bewegen dürfen wir sie auf keinen Fall. Da ist doch ein Verbrechen passiert.“

Tom kramte sein Handy aus der Tasche. „Spreche ich mit der Polizei?“ Seine Beschreibung der Situation und des Ortes, an dem die Tote lag, war erstaunlich präzise und nüchtern.

Sein Ansprechpartner am Telefon schien dennoch nicht zufrieden, denn Toms Tonfall wurde ziemlich ärgerlich, als er hinzufügte. „Nein, ich nehme Sie keineswegs auf den Arm.“

Die Zeit dehnte sich, als die beiden die Leiche der Frau genau betrachteten. Der Vergleich mit Rotkäppchen lag wirklich nahe.

Statt einer roten Mütze hatte ihr Umhang eine rote Kapuze, unter der das hellblonde Haar gut zu erkennen war. Die weiße Bluse war tief dekolletiert und wurde durch ein Schnürmieder mit rosa Bändern ergänzt. Der Minirock war aus dem gleichen Stoff und ebenfalls mit rosa Bändern besetzt. Er war nach oben gerutscht und gab den Blick auf ein weißes Höschen mit Rüschenbesatz frei. Weiße glatte Baumwollstrümpfe reichten bis ans Knie und überragten die roten Stiefel um wenige Zentimeter.

Um den Hals trug sie ein dünnes, goldenes Kettchen mit einem Anhänger, der einen stilisierten Wolf darstellte.

„Schlimm, ganz schlimm, was ist mit dem Mädchen geschehen? Warum liegt im Schwarzwald ein Rotkäppchen herum und warum hat sie ein Einschussloch in der Brust?“

Tom schüttelte auf Falkos Frage nur den Kopf. „Ein Rotkäppchen, das ziemlich gewöhnlich gekleidet ist und eher aussieht wie aus einem Faschingskatalog.“

Falko bestätigte seinem Freund „Ein bisschen auf sexy gestylt sieht sie schon aus, wenn man das über eine Tote sagen darf.“ „Können wir wieder auf die andere Seite gehen? Mir ist ganz elend. Wo bleibt denn nur die Polizei? Es geht ja hier nicht ums Falschparken!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Tom die paar Schritte bis zur Eingangstür des Wasserturms, die von einem bekannten Sprayer mit dem Bild eines heulenden Wolfes verschönert worden war.

Falko folgte ihm auf dem Fuß. Er zitterte, was nicht an der Temperatur dieses warmen Spätnachmittags im September liegen konnte.

Auf dem Parkplatz des benachbarten Friedhofs kam eine dunkelblaue Limousine an, aus der ein älteres Ehepaar ausstieg. Tom trat in den Schatten des Turms zurück und zog Falko mit sich. „Ich habe keine Lust, ausgerechnet jetzt in ein Gespräch verwickelt zu werden.“

Am Ende der kleinen, asphaltierten Straße, am Ortsrand des Dorfes waren die nahenden Geräusche eines Fahrzeugs zu hören und kurz darauf war auch schon zu erkennen, dass sich ein blau-silberner Polizei Vito in unspektakulärem Tempo näherte.

***

Dabei hatte der Tag vor gut sechs Stunden sehr harmonisch und positiv begonnen.

„Super! Du bist ja auf die Sekunde pünktlich“, freute sich Tom, der auf der Treppe des Tor-Turms, einem Teil der Stadtmauer von Neubulach saß. „Das war nicht immer so bei dir, wenn ich mich recht erinnere. Seit wann hast du dir diese spießbürgerliche Pünktlichkeit angewöhnt?“

„Du irrst dich, mein Freund! Auch in meinen Zeiten als Asta Sprecher habe ich mich penibel um Pünktlichkeit bemüht. Wir wollten die studentische Revolution ja nicht verschlafen und ganz kann ich auch meine konservative Erziehung nicht verleugnen“

„Lange her, dass du mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit den Muff aus den Talaren pusten wolltest. Während du über die Entfremdung der Arbeit diskutiert hast, habe ich Doppelschichten als Tankwart geschoben, um mir den ersten VW Käfer kaufen zu können.

Aber Schwamm drüber! Grüß Gott und herzlich willkommen im Herzen Neubulachs, der Perle des nördlichen Schwarzwaldes!“ Tom schüttelte herzlich Falkos Hand, während er ihm die andere auf die Schulter legte. „Jetzt bist du hier und ich finde, es spricht für uns, dass es so schnell mit unserem Treffen geklappt hat, nachdem wir uns erst vor 14 Tagen bei Monets Garten in Stuttgart über den Weg gelaufen sind.“

„Stimmt, und es spricht auch für uns“, erwiderte Falko mit einem Augenzwinkern, „dass wir uns auf der Ausstellung sofort wiedererkannt haben, wir haben uns doch ziemlich verändert, zumindest du“. Als er den skeptischen Blick von Tom bemerkte, ergänzte er schnell: „Aber die stahlblauen Augen, sind dir geblieben. Was machen da schon die 20 Kilo mehr auf den Rippen?“

„Ich glaube schlanker geworden sind wir beide nicht, alter Freund, aber so verkehrt sehen wir für unser Alter auch nicht aus, zumindest in diesem gnädigen Licht.“

„Es gibt bestimmt unglaublich viel zu erzählen“, nahm Falko den Ball wieder auf. „Fang doch einfach mal mit deiner neuen Heimat an. Warum haben wir uns gerade hier getroffen?

„In erster Linie, weil ich hier zu Hause bin und es mir hier so gut gefällt. Das ist mein Städtle, meine Heimat. Wir befinden uns übrigens direkt an der Stadtmauer der alten Bergwerksgemeinde und gehen jetzt als Aperitif erst mal auf den Turm, ich habe einen Schlüssel. Aber bitte brich dir nicht die Knochen, in unserem Alter sollten wir das vermeiden.“

Gut gelaunt, in einem lockeren, kameradschaftlichen Ton plaudernd, stiegen sie die steilen, rund 70 Stufen empor und landeten schließlich in der Turmstube, die einen weiten Blick bis zur schwäbischen Alb ermöglichte.

Tom fing sofort an, etwas über die Geschichte der kleinen mittelalterlichen Stadt zu erzählen, wurde aber von Falko unterbrochen: „Mit der Geschichte des Bergwerks im Mittelalter kenne ich mich ganz gut aus, außerdem wohne ich in Böblingen, gerade mal 30 Kilometer entfernt, also so ein bisschen was weiß ich schon über Bualich, wie ihr Eingeborenen wohl sagt. Viel interessanter ist die Frage, wie es mit deiner persönlichen Geschichte seit dem Mittelalter aussieht. Das interessiert mich mehr.“

Tom ließ es sich trotzdem nicht nehmen, wenigstens den vom Turm aus gut sichtbaren historischen Diebsturm zu erwähnen, bevor er den Faden wieder aufnahm. „Was willst du denn über mich wissen? Ich glaube es war 1988, als wir uns in Heidelberg in der Uni- Bibliothek über den Weg gelaufen sind und dann war erstmal für gut 30 Jahre Sendepause. Dafür haben wir in unserer Jugend ungeheuer viel Zeit auf dem Fußballplatz verbracht und auch die ersten Disco Erfahrungen zusammen gesammelt.“

„Wenn wir jetzt wieder 30 Jahre warten, dann wird es eng mit einem Wiedersehen. Aber du hast natürlich Recht. Ich habe später noch mitbekommen, dass du nach deinem Studium nicht in die freie Wirtschaft gegangen bist, sondern an der Berufsschule verschiedene Fächer unterrichtet hast.“

„Na ja, die freie Wirtschaft habe ich mir selbst geschaffen mit meinen Parkhäusern. Die haben sich nicht selbst gebaut und verwaltet. Und mit dem Lehrerjob ließ sich das ganz gut verbinden.“

„Und - wie lebt es sich denn so als Millionär? Hast du das erreicht, was du im Leben erreichen wolltest?“

Tom blieb ernst und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „So ein bisschen wie in der Sparkassen Werbung: Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Da bin ich schon privilegiert. Aber ich habe nichts geerbt, alles erarbeitet, teilweise wie ein Idiot geschuftet und jeden Cent umgedreht. Und das Haus auf Mallorca gehört jetzt meiner geschiedenen Frau. Vielleicht hätte ich weniger arbeiten und mich mehr um sie kümmern sollen“

Bevor eine leise Bitterkeit in ihm hoch zu steigen drohte, ging Tom in die Offensive: „Wie lebt es sich denn als emeritierter Professor mit einer soliden Pension? Hast du nicht auch ein paar Bücher geschrieben, die sich jeder Studierende im Erstsemester kaufen muss, ob er will oder nicht?“

„Ich glaube, wir können uns beide nicht beklagen. Am Hungertuch nagt keiner von uns beiden.“

„Emotional schon ein bisschen“, ließ sich Tom seine depressiven Gedanken nicht gleich wegnehmen.

Aber dann zeigte er aus einem der kleinen Fenster, das nach Süden zeigte. „Komm Falko, wir gehen ins Alte Rathaus Café. Ich gebe einen Cappuccino aus. Dann siehst du auch den schönen Marktplatz und die Vogtei und wir können weitere touristische Highlights abhaken, konsequent wie wir nun mal sind“.

Gesagt, getan. Gestärkt durch die Cappuccinos, die sie um zwei Butterbrezeln ergänzt hatten, verließen sie eine knappe Stunde später das Alte Rathaus, um sich auch noch die Burg und den Diebsturm anzuschauen.

„Jetzt sollten wir allmählich unserem Rentnerimage gerecht werden und uns auf einem Bänkle in die Sonne setzen. Ich denke, ich habe schon einen guten Eindruck von dem Städtchen bekommen.“

„Gut, aber freu dich nicht zu früh! Meine Stadtführung ist damit noch keineswegs beendet. Jetzt kommen nach dem historischen Teil des Städtchens die Highlights für den internationalen Kurgast! Ich nenne nur drei Stichworte: Golf, Kurpark, Seerosenteich.“

„Um Himmels willen! Wo bringt Ihr denn in diesem Kleinstädtchen einen Golfplatz unter?“ wunderte sich Falko.

„Ich hab wohl aus Versehen die Vorsilben Mini- vergessen? Alles ist ein bisschen kleiner und etwas gemütlicher bei uns, dafür werden wir von jedem, der vorbeigeht, ob alt oder jung, gegrüßt. Wetten?“

Tom sagte das ohne Ironie. Das gute Verhältnis zu seinen Mitbürgern war ihm wirklich wichtig, eine Herzensangelegenheit.

„Wollen wir zu Fuß gehen?“, fragte Falko.

„Ich denke wir sollten es nicht gleich übertreiben und fahren mit dem Auto.“

Tom führte Falko zu einem knallgelben Lotus Elise S 3 mit schwarzen Sportsitzen, den er vor der Sparkasse geparkt hatte.

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst! Entweder du steckst ganz tief in einer ziemlich verspäteten Midlife Krise oder es ist etwas Ernsteres. Wenn ich eins deiner Kinder wäre, würde ich dich spätestens jetzt entmündigen lassen. Mit 70 kann man vielleicht noch einen Porsche fahren, wenn man halbwegs fit ist und über das nötige Kleingeld verfügt, aber einen Lotus?“ Falko war echt geschockt.

Tom grinste. „Stimmt, den Kindern ist das schon etwas peinlich. Aber ich habe in meiner Jugend schon von einem Lotus geträumt und als ich mir einen leisten konnte, habe ich ihn mir gekauft. Manchmal schäme ich mich selbst dafür, aber wenn man erstmal drin sitzt, macht er einfach nur Spaß. Meistens steht er in der Garage und ich fahre mit meinem braven Alltagsauto. Meckere nicht, alter Mann und steige ein falls du dazu in der Lage bist. Ich habe auch eine CD eingelegt, die dir bestimmt gefallen wird. Harvest von Neil Young.“

Zwei Minuten später parkte Tom den Lotus unterhalb der kleinen Parkanlage, die er vorher als Kurpark bezeichnet hatte. Während Tom sich Mühe gab, sich möglichst gelenkig und ohne zu stöhnen aus dem engen Gefährt zu schälen, ließ Falko seinem Missmut freien Lauf und ächzte und maulte, als er langsam und mit offensichtlich zur Schau gestellten Anstrengung dem tiefliegenden Sportwagen entstieg.

Wenn Falko eine verkleinerte Form des Baden-Badener Kurparks erwartet hätte, wäre er sicher enttäuscht worden, aber in der spätsommerlichen Sonne standen die Seerosen im Teich in voller Blüte und innerlich zufrieden und ausgeglichen nahmen sie auf einer Parkbank Platz.

Nachdem sie zwei, drei Minuten gar nichts gesprochen hatten, ergriff als erster Tom das Wort. „Sag mal, bist du eigentlich in irgendeiner Form liiert? Einen Ring hast du zumindest nicht an der Hand.“

„Nee, du hast Recht. Irgendwie habe ich das verpennt. Die Promotion, später die Habilitation, da hatte ich für die Liebe keine Zeit. Und als ich dann als Lehrstuhlinhaber mal was mit einer jungen chinesischen Studentin angefangen habe, hätte mich das fast die akademische Karriere gekostet.“

„Und was hat die junge Frau dafür bezahlt?“

„Werde bloß nicht moralisch!“ Falko beantwortete die Frage nicht.

Die Unterhaltung versandete. Vielleicht war es doch nicht so einfach, als ältere Herren an eine Jugendfreundschaft anzuknüpfen, die vor über 50 Jahren auf gemeinsamen Interessen gegründet war und danach nicht zuletzt durch die unterschiedliche berufliche und familiäre Situation mehr oder weniger im Sande verlaufen war. Das Treffen in der Unibibliothek war da nur ein kleines Intermezzo gewesen.

Aber Tom gab nicht auf. „Komm wir fahren jetzt noch zum Wasserturm. Von dort aus hat man einen tollen Blick bis zur Schwäbischen Alb.“

„Sofern ich dein Auto überlebe.“

Sie machten sich auf den Weg.

***

Tom und Falko sahen, wie zwei Männer aus dem Vito ausstiegen. Einer trug eine Uniform, der andere Jeans und Lederjacke.

Eilig legten sie die paar Meter bis zum Wasserturm zurück. Anders als in den Fernsehkrimis zückte keiner seinen Dienstausweis. Das Polizeiauto und die Uniform des einen mussten wohl genügen. Immerhin stellte die Lederjacke sich und den Kollegen vor: „Ich bin Polizeioberkommissar Lindemann und das ist mein Kollege PK Schnäble. Warum haben Sie uns gerufen?“

Tom führte sie um den Wasserturm herum.

„Was ist das denn für eine Sauerei! Sie haben also ganz zufällig eine Tote gefunden? Kennen Sie die Frau? Stehen Sie in einer Beziehung zu der Toten?“

„Moment, ganz langsam! Haben wir uns falsch verhalten, weil wir Sie gerufen haben? Wir haben nichts anderes gemacht, als an diesem prächtigen Früherbst-Tag spazieren zu gehen.“ Tom war ziemlich sauer.

Lindemann schien mit der Antwort zufrieden und führte die beiden Freunde vor den Eingang des Wasserturms zurück.

Er wandte sich an Schnäbele. „Hol Absperrband und fordere die Spusi an. Das große Besteck.“

Während der uniformierte Beamte sich wieder entfernte, ließ sich Lindemann von Tom und Falko erzählen, was sie zum Wasserturm geführt hatte. Offensichtlich leuchtete ihm die Geschichte ein, denn sein Tonfall wurde zunehmend freundlicher, war nicht mehr aggressiv, sondern von einer sachlichen Nüchternheit geprägt. Auf Details legte er wenig Wert. Sein iPhone nutzte er als Diktiergerät. Es war ihm wichtig, die Kontaktdaten der beiden Freunde festzuhalten. Zufrieden, dass beide ihm eine Visitenkarte in die Hand drückten, schien er seine Aufgabe größtenteils als erfüllt anzusehen.

„Sie können jetzt gehen“, sagte er nun wieder ungeduldig, als ein weißer VW Bulli, offenbar mit den Kollegen der Spurensicherung auf dem Wasserturm Parkplatz ausrollte.

„Wie erfahren wir denn, wie es mit der Toten weitergegangen ist“, wollte Falko noch wissen.

„Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen. Schauen Sie doch die nächsten Tage mal in den Schwarzwälder Boten, vielleicht steht was drin.“ Lindemann ließ die beiden stehen und informierte offensichtlich seine Kollegen, was zu tun war.

Schweigend und in sich gekehrt, legten die beiden Freunde die wenigen Meter bis zum geparkten Lotus zurück.

„Jetzt brauch ich was zu trinken und jemanden, der mich kneift, damit ich weiß, dass ich das alles nicht nur geträumt habe. Ich hoffe, du hast noch ein bisschen Zeit.“

„Auf mich wartet niemand zu Hause und mir gehen auch 1000 Dinge durch den Kopf. Komm wir gehen noch ins Rössle. Vielleicht sollten wir auch mal was essen, die Kutteln sind dort sensationell.“

„Ich wollte eigentlich keine Dschungelcamp-Prüfung ablegen, sondern den Tag reflektieren.“

„Schon gut Herr Professor, ich wollte Sie nicht mit meinen körperlichen Bedürfnissen belästigen.“

Im Auto wurde es wieder sehr ruhig. Schweigend und grübelnd fuhren sie in das Brauerei-Bistro im Zentrum des Städtchens.

Biggi, die gute Seele des Lokals begrüßte sie fröhlich, merkte aber sofort, dass Falko und Tom wohl lieber ihre Ruhe haben wollten. Freundlich und zurückhaltend nahm sie Tom Bestellung auf.

„Bring uns bitte eine Flasche Acolon, ein Wasser, medium und vier Gläser, liebe Biggi. Ob wir was essen, diskutieren wir noch aus.“

Eine Minute später stand der Rotwein, dessen Trauben aus einer Kreuzung aus Lemberger und Dornfelder hervorgegangen waren auf dem Tisch. Biggi zog sich hinter die Theke zurück.

„Mir geht dieses Bild von dem Rotkäppchen nicht aus dem Kopf“, stieg Tom in die Aufarbeitung des Geschehenen ein.

„Das ist doch völlig verrückt und irreal. Du besuchst mich zum ersten Mal im Schwarzwald, wir finden bei unserem kleinen Ausflug eine weibliche Leiche und nicht genug damit, die Frau sieht aus wie die Softporno-Version der Märchenfigur. Kannst du mir das erklären? Schließlich hast du nicht nur Geschichte, sondern auch ein paar Semester Psychologie studiert.“

„Und du meinst, das befähigt mich zum Lösen des Rätsels? Aber du wirst lachen, das Märchen vom Rotkäppchen hat schon viele namhafte Psychologen beschäftigt, vor allem in der Entwicklungspsychologie. Hier wird Freud mit seinen Theorien von Trieblehre und Libido aufgegriffen. Häufig wird das Märchen auch so interpretiert, dass Rotkäppchen und der böse Wolf vor der Vergewaltigung durch Männer warnen soll, wobei die rote Kappe des Mädchens für die mit der Pubertät einsetzenden Menstruationsblutungen und der böse Wolf für die sexuellen Absichten der Männer stehen soll.“

„Hm, das macht mich jetzt ehrlich gesagt auch nicht schlauer“, warf Tom ein, der aufmerksam zu gehört hatte. „Wenn man wenigstens wüsste, um wen es sich bei der Frau handelt und was sie nach Neubulach geführt hat. Für mich macht das alles keinen Sinn! Das einzige, was mir noch eingefallen ist, ist die Tatsache, dass ich in meiner Jugend des Öfteren mal auf einem Faschingsball Mädchen in Rotkäppchen Kostümen gesehen habe. Die hatten auch immer sehr kurze Röcke an, was mich nicht unbedingt gestört hat.“

Die Unterhaltung verebbte wieder. Auch eine zweite Flasche Rotwein brachte sie einer Lösung nicht näher und führte lediglich dazu, dass Tom sein Auto unter der Linde beim Biergarten stehen lassen musste und Falko mit dem Taxi nach Böblingen in seine Altbauwohnung zurückfuhr, in der er nun schon über 20 Jahre wohnte. Sie befand sich in einer Villa aus der Gründerzeit, die mit viel Aufwand restauriert worden war.

Kapitel 2

Tom konnte am nächsten Tag ausschlafen und gönnte sich ein Frühstück mit Croissants, Butter und Honig. Die Zeiten, in denen er ein schlechtes Gewissen wegen der kleinen Kalorienbomben gehabt hätte, waren längst vorbei.

Er wechselte noch ein paar Worte mit der freundlichen Putzfrau, deren Job mittlerweile eher einer Haushälterin glich, was bei einem Haus mit 280 Quadratmetern Wohnfläche und einem großen Garten nicht verwundern konnte.

Eigentlich war es völlig unlogisch, dieses große Haus aus den frühen 90er Jahren zu behalten, seitdem er geschieden war. Auch die Kinder gingen längst ihre eigenen Wege. Aber er war damals so stolz gewesen, für sich und seine Familie dieses Haus mit dem mächtigen Walmdach bauen zu können, dass er sich einfach nicht davon trennen wollte. Die Einrichtung war schon etwas in die Jahre gekommen, auch wenn alle Möbel und die Teppiche sehr hochwertig und praktisch unverwüstlich waren.

Im Prinzip stand in diesem Haus die Zeit still, seit seine Frau ausgezogen war.

Tom wies Frau Lepple noch auf den Zettel hin, den er am „schwarzen Brett“ in der Küche hinterlassen hatte.

„Kein Problem, Sie können sich auf mich verlassen, Herr Ritter. Zuerst erledige ich die Bügelwäsche und ihre Blumen lasse ich auch nicht verdursten.“

Gegen 11.00 Uhr saß Tom in seinem Auto und gab eine Adresse in Mannheim ins Navi ein. Den knallgelben Sportwagen hatte er in der Doppelgarage gelassen und saß in seinem Arbeitsgerät, wie er den anthrazitfarbenen Skoda Octavia nannte. Unauffälliger konnte man kaum unterwegs sein.

Heute fuhr er sozusagen in die Keimzelle seines kleinen Parkhausimperiums, wo er als Fünfzehnjähriger eine Lehre als Tankwart angefangen hatte. Damals ein durchaus gängiger Lehrberuf, der erst in den 70er Jahren praktisch ausgestorben war.

1967 war das gewesen und was war in den folgenden 50 Jahren nicht alles geschehen. Abendschule, Abitur, Studium, Wohlstand.

Und privat? Eine gescheiterte Ehe, ein Sohn und eine Tochter, die er kaum hatte groß werden sehen und mit denen er fast nur zu Geburtstagen und an Weihnachten zusammen war.

Das Handy klingelte. Es war Falko, dessen Nummer er erst vor 14 Tagen eingespeichert hatte. „Wo treibst du dich denn rum?“, nahm Tom das Gespräch nach einem kurzen Blick auf das Display ohne Begrüßung an.

„Danke, ich wünsche dir auch einen guten Tag, mein lieber Tom. Ich bin gerade auf der A81, weil ich in Nürnberg für den Lions Club einen Vortrag halten darf zum Thema „Wiederholt sich die Weimarer Republik im Deutschland der 20er Jahre des zweiten Jahrtausends? Zugegeben ein etwas sperriger Titel, aber ich kann ein bisschen meine karge Rente aufbessern.“

Tom ging nicht auf die scherzhaft gemeinte Bemerkung ein und fragte stattdessen: „Ist dir noch was zu unserem Rotkäppchen eingefallen?“

„Nein, ich kann sie aber auch nicht vergessen. Sie lässt mich nicht mehr los. Ich habe zwar erstaunlich gut geschlafen, aber gegen Morgen einen ziemlichen Quatsch geträumt, der etwas was mit dem Märchen zu tun hatte. Irgendwann bin ich in dem Traum dann nur noch weggerannt und als ich wach geworden bin, war ich nass geschwitzt. Mit einem frischen T-Shirt konnte ich dann nochmal einschlafen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: ich kann mir nach wie vor keinen Reim darauf machen, warum eine tote junge Frau als Rotkäppchen verkleidet unter dem Wasserturm in Neubulach liegt. In der Zeitung konnte heute Morgen auch noch nichts stehen, so schnell ist die Böblinger Zeitung nicht. Heute übernachte ich in Nürnberg und morgen fahre ich dann zurück.“

„Da bin ich noch nicht zu Hause. Von Mannheim aus fahre ich noch nach Sinsheim und Karlsruhe.“

„Holst du deine Geldkoffer ab?“

„Sehr witzig! Oder höre ich gar eine Spur von Sozialneid? Ganz im Gegenteil, ich stehe vor einer ziemlich großen Investition. Wir wollen die Parkhäuser mit hochmodernen Schnellladestationen versehen und das kostet viel Geld und nicht weniger Nerven. Weißt du, die Investition ist die eine Sache, aber fast noch schlimmer ist die Bürokratie. Da sind die Energieversorger, die oft mit im Boot sitzen wollen und auf der anderen Seite die Verwaltungen, die jeden Tag neue Vorschriften und Regeln zu generieren scheinen. Manchmal macht das keinen Spaß, vor allem, wenn ich mit der Finanzierung in die Vorlage gehen muss. Aber ich möchte einfach auch beweisen, dass es Unternehmer gibt, die sich um unsere Umwelt Gedanken machen.“

„Dafür bist du mittlerweile ja auch in der richtigen Partei“, spielte Falko auf die Mitgliedschaft Toms bei den Grünen an, der mit 20 noch Mitglied der Jungen Union gewesen war.

Tom, dem nicht danach war, politische Diskussionen zu führen und der sich schon innerlich auf seinen nächsten Gesprächspartner einstellte, kürzte das Telefongespräch ab:

„Du, ich bin jetzt gleich an meinem Ziel angekommen. Ich melde mich morgen Abend, wenn ich zu Hause bin, aber das kann ziemlich spät werden.“

***

Am darauf folgenden Abend war Falko gerade auf seiner Coach vor dem Fernseher eingeschlafen, obwohl er die Reportage „Frauen der NS Zeit“ auf Arte interessant gefunden hatte, als das Handy, das auf einer Ladestation lag, klingelte.

„Falko Euler!“

„It’s me Falko, Tom. Ich nähere mich gerade der Ausfahrt Pforzheim West und wollte fragen, ob Rotkäppchen heute in den Printmedien ein Echo gefunden hat?“

„Nee du, auch nicht bei Radio BB, der Mord scheint irgendwie niemanden zu interessieren.“

„Mich schon“, sagte Tom beinah trotzig. „Wir haben das Mädchen gefunden, wir kümmern uns auch drum. Schließlich haben wir ziemlich viel Zeit und sind niemandem Rechenschaft schuldig“

„Meinst du wirklich, das ist unser Thema? Zwei alte Männer, die eine kriminalistische Ader in sich entdeckt haben, ohne jede Ausbildung oder Vorerfahrung?“

„Stimmt, aber wie sagte schon der Esel von den Bremer Stadtmusikanten: etwas Besseres als den Tod finden wir allemal. Und schließlich sind wir ja zwei alte Esel und das Märchen ist genau wie Rotkäppchen von den Brüdern Grimm.“ Tom ließ sich nicht so leicht beirren.

„Na wenn das keine Begründung ist!“ Falko verzog das Gesicht.

Tom hatte eine Idee, die für ihn typisch war: „Weißt du was, ich fahre einfach noch bis zum Kreuz Sindelfingen weiter und komme dann noch bei dir auf einen Espresso vorbei.

Falko war davon nicht begeistert: „Mañana es otro día! Ich verlasse jetzt meine Couch und setze den Schlaf in meinem einsamem Boxspringbett fort“.

„Selbst schuld“, meinte Tom und ließ offen, ob er damit den verpassten Espresso oder die Einsamkeit in Falkos Bett meinte.

„Lass uns morgen auf ein Frühstück im Bäckereicafé bei dir in Neubulach treffen, ich hab nämlich nichts mehr im Kühlschrank.“

Sie verabredeten sich auf 10:00 Uhr im Städtle.

Kapitel 3

Falkos alter Saab stand schon auf dem Parkplatz des Cafés. Er stieg aber erst aus, als Tom neben ihm einparkte.

Das kontinentale Frühstück ergänzten sie großzügig mit Rührei, Wurst und Käse. An der Bestelltheke nahmen sie noch die Tageszeitung mit und nachdem sie auf der Terrasse einen ruhigen Platz gefunden hatten, blätterte Tom den Lokalteil durch.

„Wieder kein Rotkäppchen!“ Er faltete die Zeitung enttäuscht zusammen. „Ich hab die Schnauze jetzt voll!

Wie wär es jetzt mit einem kleinen Besuch bei der Kripo in Calw. Mal sehen wie groß die Freude von Kommissar Lindemann ist, wenn wir ihn im Hirsauer Wiesenweg besuchen gehen.“

„Ich bin gerne dabei“, stimmte Falko ihm zu. Aber jetzt wird erstmal in Ruhe gefrühstückt, wir sind Rentner und haben uns das verdient.“

Ein gute halbe Stunde später saßen sie beide in Falkos Saab, Toms Auto ließen sie auf dem Parkplatz der Bäckerei zurück.

„Hast du dir schon eine Taktik überlegt?“, fragte Falko.

„Wir lassen es einfach mal auf uns zukommen und folgen unserer Intuition. Wir wissen ja nicht mal, ob Lindemann im Haus ist.“

Nachdem sie sich an der Pforte ausgewiesen hatten und konkret nach Oberkommissar Lindemann gefragt hatten, wurden sie tatsächlich nach einem kurzen Telefonat zu Lindemanns Büro im ersten Stock begleitet. Von den beiden Schreibtischen im Raum war einer verwaist, am anderen erwartete sie Lindemann mit einem erstaunlich freundlichen Gesichtsausdruck.

„Meine Herren, was kann ich denn für Sie tun? Haben Sie sich noch nicht von Rotkäppchen lösen können? Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

Falko und Tom nahmen in einer kleinen Besucherecke Platz und bekamen ihren Kaffee in zwei typischen Bürotassen mit Werbeaufdruck der Firma Abus serviert.

„Wir haben in der Tat noch Fragen zu dem Mord an Rotkäppchen“, begann Falko nach dem ersten Schluck Kaffee, an dem er sich prompt die Zunge verbrannte. „Sie haben uns ja selbst auf die Informationsmöglichkeit in der Lokalpresse hingewiesen, aber wir haben weder im Schwarzwälder Boten, noch in den Böblinger Kreisnachrichten auch nur eine Zeile über die Leiche am Wasserturm gelesen.“

„Tja“, meinte Lindemann und zog eine Augenbraue hoch, „da wird das öffentliche Interesse wohl nicht so groß gewesen sein.“

„Kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen“, insistierte Tom.“ „Wenn ich sehe, wie die Lokalredaktionen förmlich nach Themen gieren, muss doch eine Ermordete in dem kleinen Städtchen mindestens für drei Tage als Thema herhalten. Wenn der Liederkranz einen Satz neuer Noten anschafft, reicht das schon für einen mehrspaltigen Artikel. Also an mangelndem Interesse der Bevölkerung liegt das bestimmt nicht!“

Lindemann richtete sich im Sessel auf. Sein Lächeln war einem konzentrierten, verschlossenen Ausdruck gewichen.

„Manchmal sieht unsere Pressestelle auch nicht die Notwendigkeit, alles, was so passiert, an die Presse weiterzugeben. Wenn sie zum Beispiel der Ansicht ist, dass es eher schadet, die Bürger zu beunruhigen.“

„Wie meinen Sie das konkret?“, Falko hakte nach.

„Stellen Sie sich vor, es traut sich keiner mehr an die frische Luft zu gehen, nur weil aus irgendeinem Grund ein Zuhälter auf die Idee gekommen ist, eine seiner Damen im Nordschwarzwald zu liquidieren und zu entsorgen.“

„Sie kennen also die Identität der Toten?“ Falko ließ nicht locker.

„Warum sollte ich Ihnen dazu Auskunft geben?“

„Weil Sie ohne uns die Leiche wahrscheinlich noch gar nicht gefunden hätten.“

„Ihre Logik erschließt sich mir nicht“. Der Kommissar zögerte. „Aber weil sie extra hergekommen sind, verrate ich Ihnen, dass es sich um eine osteuropäische Prostituierte handelt, die in Deutschland schon mehrfach straffällig geworden ist.“

„Aus welchem Land kommt sie denn, wie heißt sie und was wissen Sie sonst noch über die Frau? Und warum war sie“ als Rotkäppchen verkleidet?“

„Herr Ritter“, wandte sich der Kommissar an Tom, „ich habe Ihnen schon mehr gesagt, als ich eigentlich darf, ich habe eine Menge Arbeit und der Mord an einer Prostituierten hat nicht die höchste Priorität. Und ob sie als Rotkäppchen oder Schneewittchen verkleidet war, ist mir ehrlich gesagt ziemlich schnuppe!“

Das Telefon klingelte.

„Trinken Sie ruhig Ihren Kaffee aus, ich bin gleich wieder da.“ Lindemann schnappte sich eine blaue Unterschriftenmappe und rannte fast schon aus dem Büro, dessen Tür er demonstrativ offen ließ.

Kaum, dass die Schritte leiser wurden, saß Tom schon hinter dem Schreibtisch des Kriminalbeamten.

„Bist du wahnsinnig geworden?“ Falko zerrte an Toms Ärmel.

Tom blieb ganz ruhig. „Geht doch nichts über eine lange Bildschirmzeit, bevor die automatische Sperre eingreift. Ob das wohl den Dienstvorschriften entspricht? Hier haben wir doch schon unser Rotkäppchen! Sie heißt Desislava Minova und kommt aus einem Städtchen namens Bankya. Hier ist auch ein Bild von ihr.“

In diesem Augenblick waren Schritte auf dem Flur zu hören. Tom fingerte in größter Eile sein iPhone aus der Innentasche seiner Jacke und drückte zweimal auf den Auslöser der Kamerafunktion, bevor er sich – für einen 70jährigen erstaunlich behände - wieder in den Besucherstuhl der Sitzecke warf. Keine Sekunde zu früh, denn schon betrat Lindemann wieder sein Büro und schaute sich misstrauisch um.

„Ich glaube, ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Ihr Kaffee kann eigentlich nicht mehr so heiß sei“ Er zog die Augenbrauen nach oben.

„Und wie geht es jetzt weiter mit Rotkäppchen?“ So leicht ließ sich Tom nicht abwimmeln.