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Sowas hab ich mein Lebtach noch nich‘ gesehen! An einem milden trockenen Morgen Anfang Mai wird auf einem Bahnhof in Hamburg ein Toter gefunden – ermordet. Schnell stellt sich heraus, dass dieser Mann während der letzten Woche an einer fünftägigen Dinnerveranstaltung in Hamburg teilgenommen hat. In dieser kulinarischen Kriminalgeschichte begleitet der Leser nicht nur die spannenden Ermittlungen in einem bizarren Mordfall mit viel Hamburger Lokalkolorit, er ist auch zu Gast bei fünf Teilnehmern, die während einer Woche fünf exotische Menüs für ein perfektes Dinner kreieren.
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Samstag:
Der Tote vom Bahnhof Ohlsdorf
Montag: Angelique
Cuína Mallorquina
Samstag:
In der Gerichtsmedizin
Dienstag: Sven-René
Menü der drei Köstlichkeiten
Samstag:
Im Polizeipräsidium
Mittwoch: Jockel
Apó tin Ellada
Samstag:
Im Polizeipräsidium
Donnerstag: Henner
Una notte speziale
Sonntag:
Lokaltermin bei Henner
Freitag: Ruth
Früchtezauber
Sonntag:
Lokaltermin bei Ruth
»So was hab ich mein Lebtach noch nich’ gesehen! Und eins schwör ich euch, Loide: So was will ich auch mein Lebtach nich’ noch ma’ sehen!«
Mit diesen Worten begrüßt Walter Dorn die ankommenden Kommissare, nachdem er den Toten auf dem Bahnsteig am Bahnhof Ohlsdorf gefunden hat. Es ist ein milder trockener Samstagmorgen Anfang Mai, aber für viele der hier Anwesenden wird dieser Samstag wohl eher ins Wasser fallen.
Walter Dorn ist auf dem Heimweg von seiner Spätschicht in der Fleischfabrik und riecht entsprechend. Er deutet mit zittrigem Finger auf einen Papierkorb: »Da hab ich Spuren entdeckt; hab noch gedacht, was für ein Besoffener da wohl reingekotzt hat. Aber die Spuren gingen weiter, und ich bin denen nachgegangen bis zu der Plane da.«
Die besagte Plane liegt an einer Schütte, in der Sand zum Streuen für den Winterdienst verwahrt wird. Walter fährt fort: »Da guckten zwei Beine oder Füße raus. Ich hab den ans Bein gefasst und gesacht: He, du Penner, oder so was, aber der hat sich nich’ gerührt, und dann hab ich die Plane wechgezogen und die Bescherung gesehen.« Er holt tief Luft und keucht: »Das war komisch … der hat sich da verkrochen wie … Machen manche Viecher das nich’ so, Elefanten oder was weiß ich, dass die sich zum Sterben verstecken, als wenn die allein sein wollten? – Himmel, mir is’ kotzübel, ich könnte glatt ’nen Schnaps vertragen!«
Walter sieht eher so aus, als habe er schon einen intus, aber er hat dann alles richtig gemacht: »Ich hab der Gerda vom Kiosk Bescheid gesacht, und die hat sich das angeguckt und ’n Notarzt und die Polizei angerufen; aber das mit dem Notarzt war wohl eher ’ne Formsache: Das war ja offensichtlich, der war noch toter als der Chicagoer Friedhof!«
Dann ist die übliche Maschinerie losgegangen: Notarzt, Streifenpolizei, Kriminalpolizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin verständigen, Fundort absperren. Denn dieser Tote ist entschieden keines natürlichen Todes gestorben: Er hat Spuren von Erbrochenem im Mundwinkel und auf der Kleidung. Seine ganze Haltung ist seltsam verkrampft, Augen und Mund sind panisch aufgerissen, und die Gesichtsfarbe ist zyanotisch.
Kommissaranwärter Max Thomas neigt sich zu dem Toten hinunter und kommentiert: »Hm, kein schöner Anblick.«
Max Thomas wurde vor zwei Jahren von Frankfurt nach Hamburg versetzt, und da er und seine Frau ursprünglich aus Norddeutschland stammen, freute sich seine kleine Familie geradezu über diese Versetzung. Max Thomas ist ehrgeizig: ein junger Heißsporn von Ende dreißig, der seinen Job sehr ernst nimmt, ein gutaussehender Mann mit dunklem, zurückgestrichenem Haar, oft lächelnden roten Lippen und dunklen Augen. Zwei Marotten haben ihn in seinem neuen Präsidium schnell berüchtigt gemacht: Die erste ist – statt eines Notizblocks – ein dickes unliniertes, fest und schwarz eingebundenes Buch, das er stets bei sich trägt und in dem er mit dickem Füllfederhalter akribisch seine Notizen einzutragen pflegt; die zweite ist eine jedermann tapfer eingestandene und auch leidenschaftlich gelebte Schwäche für Schokolade, die sich bis jetzt jedoch nicht in seiner Figur niedergeschlagen hat. Er hegt viel Bewunderung und Respekt für seinen Vorgesetzten und hofft, eines Tages in dessen Fußstapfen treten zu können.
Max’ Vorgesetzter Friedhelm Bolle ist das komplette Gegenstück zu dem jungen Nachfolger: etwas über sechzig Jahre alt, von gemütlichem Wesen und kurz vor der ersehnten Pension, mit eisgrauem, sich lichtendem Haar, gepflegtem Vollbart und einem »Waschmaschinenbauch« (wie er selbst schalkhaft sagt), der seine Leidenschaft für gutes Essen nicht verleugnet.
Auch Friedhelm beugt sich über den Toten und konstatiert: »Der ist wohl auch nicht schön gestorben. Ich vermute, Herr Kollege, der Appetit auf Schokolade ist Ihnen vorläufig vergangen.«
»Weiß Gott, ja.« Max holt tief Luft und reckt seinen Hals, als wollte er ihn verlängern. »Ich vermute, Sie haben eine Idee, woran unser Kandidat verstorben ist.«
»Ja«, brummt Friedhelm nachdenklich, »aber wir wollen erst mal sehen, was unser Kollege Ypsilon dazu sagt. – Ypsilon, hast du schon was für uns?«
Bei dem so Angesprochenen handelt es sich um Lutger Dabelstein, die begnadete Koryphäe vom gerichtsmedizinischen Institut, einem drahtigen Mann mit grauem gepflegtem Streichholzschnitt über einem hellen, stets lachenden Gesicht mit wachen Blauaugen. Den Spitznamen Ypsilon hat Friedhelm Bolle ihm vor Jahren verpasst wegen der üblichen Maßnahme des Ypsilon-Schnitts an den Kandidaten auf seinem Tisch in der Gerichtsmedizin – einer Maßnahme, gegen die diese Kandidaten sich im Allgemeinen nicht zu wehren pflegen.
»Das Offensichtliche siehst du selbst«, erwidert Lutger, nachdem er den Toten zunächst oberflächlich untersucht hat. »Der Mann ist an einer Vergiftung gestorben. Ich könnte mich jetzt ins Land der Sagen und Märchen begeben und Vermutungen anstellen, was das für ein Gift war, aber ich werde mich schwer hüten!«
Er reicht den Kommissaren eine in Plastikfolie gehüllte Brieftasche, und Max zieht diese mit behandschuhten Händen heraus und klappt sie auf.
»Wenigstens hat euer Toter einen Namen und eine Adresse«, knurrt Lutger und wendet sich zum Rückzug. »Alles Weitere nach der Obduktion. Das Sprüchlein kennt ihr ja. Ich nehme ihn mir gleich vor.«
»Kein Führerschein, nur eine Dauerkarte für den HVV«, murmelt Max, und Friedhelm erwidert: »Na ja, er wird mit der Bahn gefahren sein.«
»Das würde ich vielleicht auch, wenn ich abends die Absicht habe, etwas zu trinken, aber deswegen lasse ich nicht meinen Führerschein zu Hause, oder machen Sie das?«
»Nein, das ist natürlich völlig richtig.« Friedhelm guckt seinem Kollegen über die Schulter auf den Personalausweis. »Er wohnte in Wandsbek. Wir werden mal sehen, ob wir da Angehörige verständigen können, dann erfahren wir vielleicht auch gleich, wo er gestern Abend war.«
Zwei Stunden später sitzen die beiden Kommissare in ihrem Büro im Polizeipräsidium. Lisbeth Möller, die kleine dralle Assistentin, steckt ihren gepflegten kurzen Blondschopf zur Tür herein und schmettert: »Wollt ihr ’nen Kaffee?«
»Gerne, Lieschen«, brummt Friedhelm, und Lieschen stellt ihm einen Becher mit starkem schwarzem Gebräu und Max einen Kaffee mit viel Milch und Zucker auf den Tisch. Max wickelt nachdenklich ein Schokoladenosterei aus der Verpackung und beißt hinein. »Wir sind nicht wesentlich schlauer, oder?«
Der Tote hat noch bei seiner Mutter in einer Einliegerwohnung in deren Einfamilienhaus gewohnt. Die Mutter haben die beiden Kommissare auch zu Hause angetroffen, aber nach der Überbringung der traurigen Nachricht ist die Dame regelrecht mit einem Schock zusammengeklappt und ins Krankenhaus überführt worden. Vorläufig nicht vernehmungsfähig, hat der Arzt erklärt. Sie war auch nicht imstande zu erzählen, wo ihr Sohn den gestrigen Abend verbracht hat. Eine kurze Durchsuchung der Wohnung hat immerhin ergeben, dass der Tote Filialleiter bei Runner’s Point im Wandsbek Quarree gewesen ist.
»Das ist bei seiner Wohnung um die Ecke, da kann er auch zu Fuß oder mit dem Rad hingekommen sein. Führerschein haben wir keinen gefunden, also hatte er wohl tatsächlich keinen«, denkt Max laut, und Friedhelm spricht sich zwischen zwei Schluck Kaffee selbst Mut zu: »Bei Runner’s Point arbeiten die heute wenigstens. Vielleicht wissen seine Arbeitskollegen was. Aber der Laden macht erst um zehn auf, vorher treffen wir da niemanden an.«
»Ich frage mich, was der in Ohlsdorf zu suchen hatte. Wenn er mit der S-Bahn unterwegs war, hätte er bis Wandsbek durchfahren können«, sinniert Max, aber Friedhelm winkt ab: »Er muss ja nicht mit der S-Bahn auf dem Heimweg gewesen sein. Da gibt’s so viele Möglichkeiten. Vielleicht wollte er von der U-Bahn umsteigen. Oder in die U-Bahn, vielleicht wollte er nicht nach Hause, sondern noch woandershin. Eine weitere Variante wäre, dass ihm in der Bahn schlecht wurde und er ausstieg, um frische Luft zu schnappen.«
»Irgendwie kommt mir diese Variante am realistischsten vor«, befindet Max. »Wenn wir wenigstens wüssten, womit der vergiftet wurde. Vielleicht können wir kurz bei Ypsilon …«
»Die Gerichtsmedizin ist da«, unterbricht Lieschen vernehmlich seine Gedanken, und Friedhelm murmelt trocken: »Seit wann kommt der Knochen zum Hund?«
»Nee, nicht Herr Dabelstein«, Lieschen winkt eine große schlanke Blondine ins Büro, »Frau Sievert, deine Freundin. Das solltet ihr euch mal anhören. Sie kennt euren Toten oder so.«
»Maike, mien Sööten, wat hest denn för uns?«, begrüßt Friedhelm die junge gerichtsmedizinische Assistentin wohlwollend. Süß ist ein Eigenschaftswort, das auf die Sievert als Allerletztes passt, denkt Max. Maike Sievert ist groß und fast mager, und ihre schicken weißen Turnschuhe knallen zackig über das Linoleum, als sie das Zimmer betritt. Ihr weißer Kittel flattert offen über ein Sweatshirt und eine Jeans, die sie sich nur mit Hilfe einer Kneifzange angezogen haben kann, und das weizenblonde lange, zu einem Pferdeschwanz gegürtete Haar hat sie so straff nach hinten gestrichen, dass ihre Stirn fast wie geliftet aussieht.
»Moin, Männers«, grüßt sie salopp. »Das geht um den Toten vom Bahnhof Ohlsdorf. Ypsilon hat ihn gerade auf dem Tisch. Und ich hab eventuell was, was euch weiterhilft.«
»Sie kannten den Toten?«, fragt Max gespannt, und Maike schüttelt den Kopf: »Nee, das nicht, aber ich habe ihn gestern Abend gesehen. Ich meine, ich weiß, wo der war. Gestern war ich so gegen halb sieben zu Hause und ziemlich platt, ich wollte nur noch Fast Food und fernsehen …«
»Falls Sie damit andeuten wollen, dass der Tote Ähnlichkeit mit Fast Food hatte …«, riskiert Max einen lahmen Witz, aber sie bügelt ihm ungeduldig dazwischen: »Nee, ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Der war gestern Abend Gast beim perfekten Dinner.«
Die Köpfe von Friedhelm, Max und Lieschen schießen gleichzeitig in die Höhe. Friedhelm fragt wie vom Donner gerührt: »Davon hat meine Frau schon mal was erzählt. Was ist das für ’ne Sendung?«
»Die läuft montags bis freitags um sieben auf VOX.« Aus Lieschen spricht die Expertin. »Ich sehe das auch ganz gerne mal, wenn ich mal pünktlich aus diesem Irrenhaus rauskomme. Fünf Leute aus einer Stadt oder Region – letzte Woche aus Hamburg, nehme ich an – richten ein Menü aus; jeder ist an einem Wochentag mal dran und lädt die anderen ein. Und die müssen dann Punkte vergeben und den Sieger ermitteln.«
»Und du bist sicher, dass der Mann dabei war?«, fragt Friedhelm ein wenig zweifelnd, und Maike nickt bekräftigend: »Du, ich habe den doch gesehen. Der liegt bei uns auf dem Tisch. Und der Name auf dem Ausweis, die Adresse … hundertprozentig.«
Max wendet sich wie alarmiert an Lieschen: »Frau Möller, googeln Sie doch mal im Internet, wir brauchen die Telefonnummer von VOX, und rufen Sie da doch mal an …«
»Dafür brauche ich kein Internet. Ich hab ’ne Programmzeitschrift hier«, versetzt Lieschen praktisch. »Da steht die Service-Hotline von dem Sender drin. Ich hänge mich gleich mal ans Telefon. Ist klar, ihr braucht ’ne Gästeliste.«
»Wir sollten vielleicht auch noch ’n paar zusätzliche Streifenhörnchen zum Ohlsdorfer Bahnhof schicken«, schlägt Max vor, und Friedhelm haut zustimmend mit der Hand auf den Tisch: »Völlig richtig, Herr Kollege! Wenn Lieschen jetzt bei VOX anruft und erzählt, dass es ’nen Toten unter den Dinnergästen gegeben hat, macht sie da vielleicht die Pferde wild, und der Sender schickt umgehend irgendwelche Geier zum Tatort, die diese Geschichte ausschlachten wollen.«
»Man sollte meinen, dass diese Story keine gute Reklame für die Sendung ist«, brummt Maike düster, aber niemand achtet auf sie. Die Kommissare haben gespannt die Löffel gespitzt in Richtung Lieschens Telefon.
Das Menü:
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Tapas variadas: Pa amb oli mit marinierten Gemüsestreifen
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Lomo con col mit patatas bravas und aioli
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Flan mit heißen Kirschen
Angelique ist eine Augenweide. Eine mittelgroße Frau, 37 Jahre alt, mit weiblichen, aber nicht zu üppigen Formen, strahlenden dunkelbraunen Augen, langem glatten dunklen Haar und einer Haut, die immer ein wenig nach Urlaubsbräune aussieht, was ihr gewinnendes Lächeln noch mehr zur Geltung bringt, als sie das Team von VOX in ihrer Wohnung empfängt.
»Wir sind vor kurzem umgezogen.« Sie deutet schwungvoll um sich. »Es sieht hier leider noch etwas wüst aus. So ein Umzug ist ja immer chaotisch, und dann mit zwei Kindern, und mein Mann ist beruflich sehr eingespannt und kann sich nicht immer so um alles kümmern, also habe ich das alles an der Backe. Dann habe ich noch einen Job. Manchmal wollte ich, ich könnte mich klonen … Na ja, das wird schon irgendwie.«
Angelique wohnt in einer hübschen großzügigen Maisonettewohnung mit Blick auf alte Bäume, Wiesen und den Kanal. Weiß-, Creme- und dezente Brauntöne dominieren die Einrichtung in den meisten Zimmern, es ist schlicht und nobel. Nur die Zimmer der beiden Töchter, die Angelique natürlich auch präsentiert, leuchten in fröhlichem Gelb und Blau und weisen das übliche überladene Kleinkinderchaos aus, und neben der Garderobe stören zahllose übereinandergestapelte Umzugskartons ein wenig das Ambiente.
Angelique arbeitet halbtags an der Telefonzentrale eines Hotels. Ihr Mann ist Architekt und kommt abends oft sehr spät heim. Die sechs- und achtjährigen Mädchen, von denen die stolze Mama auch gleich entsprechende Fotos zeigt, sind heute bei einer Freundin untergebracht.
»Die schlafen da heute Nacht auch, die finden das toll«, erklärt Angelique. »Das wäre auch nicht so ganz passend, wenn meine beiden Mäuse hier zwischen den Gästen rumwuseln würden. Ich muss sowieso mal sehen, wie ich das hier alles auf die Reihe kriege. Das ist ja auch alles immer nicht so ganz einfach, mit der Arbeit und wie ich das mit meinen Kindern organisiere … Na ja, ich lege dann besser mal los.«
Erst mal geht es in einen spanischen Supermarkt. Angelique spricht Spanisch wie ein Donnerwetter, wie sie gleich bei der Verhandlung mit dem Verkäufer demonstriert, während sie einen Kohlkopf und Kartoffeln sowie Schweinelendchen und einige Flaschen Trapiche erwirbt. Auf dem Rückweg erzählt sie von ihrer Leidenschaft für die spanische, Pardon, mallorquinische Küche: »Es fing mit einem Urlaub an. Erst verliebte ich mich in die Insel, in die Sprache, dann in das Essen und dann in einen Deutschen, der da vor kurzem eine Bar eröffnet hatte. Ich habe ihn öfter besucht – ich war fünfundzwanzig und habe monatelang praktisch nur aus dem Koffer gelebt –, dann bin ich zu ihm gezogen. Es knallte schon nach einem Jahr. Aber ich bin noch zwei weitere Jahre dageblieben. Dann habe ich da meinen Mann kennen gelernt und bin zurück nach Deutschland. Na ja, aber die Liebe zu Mallorca ist geblieben.«
Die Küche ist nicht riesig, aber hell, modern und mit allem ausgestattet. Angelique blanchiert den Kohlkopf und zieht ihm ein paar Blätter ab, in die sie die zuvor gewürzten Schweinelendchen wickelt. Diese Lomos werden mit Schinken- und Zwiebelwürfeln angebraten, dann mit Gemüsebrühe und passierten Tomaten abgelöscht, mit Rosinen und Mandelstiften verfeinert und kommen dann in den Ofen. Alsbald gesellen sich die Patatas bravas, die wilden Kartoffeln, ihrer Schale beraubt und längs geviertelt, dazu.
»Später mehr«, murmelt Angelique und verfügt sich ein wenig gehetzt ins angrenzende Esszimmer. »Das Dessert habe ich gestern schon vorbereitet und das marinierte Gemüse auch, das muss nämlich ziemlich lange durchziehen … Meine beiden Mädels haben mir auch schön geholfen. Die sind natürlich ganz aufgeregt, dass ihre Mama ins Fernsehen kommt … So, dann werde ich mich mal um die Tischdeko …«
Dunkelrote Platzdeckchen, gelbe Servietten, weißes Geschirr; leichte Verwirrung beim korrekten Eindecken von Besteck und Gläsern; akzentuiert ein paar kleine Fächer und Kastagnettenpärchen auf den Tisch und gegenüber vom Kopfende des Tisches eine flache Glasschale, die mit hellem Sand, Muscheln und Seesternen gefüllt ist. Leichte Panik bei der Gastgeberin, die jetzt fahrig zum Handy greift: »Ich hab vergessen, Blumen zu bestellen … Ach, jetzt ist es ohnehin zu spät. Und der Tisch sieht doch auch so toll aus, oder? Richtig spanisch, oder? Egal, die Gäste kommen bald, ich werfe mich jetzt in Schale.«
Was auch immer Angelique darunter versteht … sie hat eine etwas schönere Jeans angezogen und den weiten Pulli zur Feier des Tages mit einer weiten Bluse vertauscht. Ein wenig nervös wuselt sie von der Küche zum Esszimmer und wieder zurück: »Gott, bin ich aufgeregt … Ich bin ja so gespannt auf die Gäste …«
Da klingelt’s auch schon, und die Gastgeberin öffnet die Tür. Herein kommt eine stattliche Frau mit kurzem rotblondem Schopf und Sommersprossen, rein optisch Mitte fünfzig, in einer weiten grünen Bluse mit exotischem Muster und einer geraden schwarzen Hose, und grüßt mit warmer, fröhlicher Stimme: »Hallo-o, ich bin die Ruth!«
»Angelique. Freut mich. Wir sagen du, ja?« Angelique fällt ein Stein vom Herzen, sie mag ihren ersten Gast sofort. Sie führt Ruth in den Flur und hat sofort wieder das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen: »Es ist hier noch etwas wuselig, wir sind vor kurzem umgezogen, und ich bin noch nicht dazu gekommen, das hier alles wegzuräumen. Das war alles ’n bisschen viel in letzter Zeit, mit meinem Job und mit meinen beiden kleinen Töchtern, und so ’n Umzug ist ja auch immer ’n Haufen Arbeit …«
»Ich kenne das, ich habe auch eine Tochter«, Ruth nickt verständnisvoll, »die ist zwar schon achtundzwanzig, aber, na ja, Kinder bleiben immer Kinder. Als die umgezogen ist, herrschte bei uns auch das organisierte Chaos.«
Es klingelt erneut. Der zweite Gast bewirkt, dass sich Angelique mit einer sehr weiblichen Geste über ihre dunkle Mähne streicht: vielleicht etwas jünger als Ruth, dezent muskulös, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, graumeliertem kurzen Haar und gepflegtem Dreitagebart. Sein buntes Hemd und die helle Hose sehen nicht aus, als seien sie von der Stange, die Augen funkeln schalkhaft, und die markig hervorgetragene Begrüßung hätte man jedem anderen übel genommen, zu ihm passt sie: »Ja grüßt euch, Mädels, ich bin der Henner! Mann, das wird ja ’n Superabend mit zwei so schönen Frauen … Aber ich bleibe wohl nicht der Hahn im Korb, was?«
Die Mädels stellen sich ebenfalls vor und sind von diesem Hahn sehr angetan. In der Tat bekommt Henner augenblicklich männlichen Beistand, denn wieder klingelt es. Herein kommt – ein Junge: groß, schlaksig, sicherlich noch unter dreißig, helles Hemd und die obligatorische Jeans; blass, mit feuerroten drahtigen Locken und Sommersprossen und einer fast schüchternen Stimme, deren Klang einen beinahe zärtlichen Ausdruck in Ruths warme Augen zaubert: »Hallo, ich bin Sven-René.«
Die nächste Vorstellungsrunde folgt, und Angelique ist selig, dies scheint eine sehr harmonische Truppe zu werden. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, denn der letzte Gast, der kurz darauf die Wohnung betritt, sorgt bei den anderen für leichtes Befremden, als er sich mit dunkler Stimme ein wenig großspurig vorstellt: »Moin. Ich bin Jochen. Meine Freunde nennen mich Jockel.«
Auch Jockel ist groß, dabei aber sehr massig, mit hoher Stirn und streichholzkurzen schwarzen Haaren, der fusseligen Andeutung eines Bärtchens um die Lippen, einer strengen schwarzen Brille und diversen Ringen und Steckern in den Ohren. Er trägt ein rotes T-Shirt, das an ein Fußballtrikot erinnert, eine wadenlange schwarze Hose und klobige schwarze Turnschuhe. Selbst Angelique wirkt gegen ihn geradezu overdressed.
Nachdem sich jetzt alle miteinander bekannt gemacht haben, bittet Angelique ins Wohnzimmer: »So, ich freue mich sehr, dass ihr alle gekommen seid …«
Ruth wendet sich fragend dem cremefarbenen Sofa zu, und die Gastgeberin besinnt sich wieder auf ihre Rolle: »Ja, bitte nehmt doch Platz. Ja, wie ihr wisst, mein heutiges Motto ist Cuína Mallorquina, mallorquinische Küche sozusagen, und ich möchte euch erst mal einen typisch spanischen Aperitif servieren.«
Es gibt Sangría, die Angelique ebenfalls gestern vorbereitet hat. Sie schöpft diese aus einem roten Bowlekrug, der wie die bauchigen Henkeltassen die Form einer Erdbeere hat, gibt noch ein paar Früchte in jede Tasse und serviert jedem Gast seinen Aperitif je mit einem kleinen Löffel und einem kleinen Untersetzer.
Kommentar von Sven-René: »Ich glaube, die Truppe ist okay. Ruth und Henner sind auf jeden Fall sehr nett. Jockel fällt ’n bisschen aus dem Rahmen. Und Angelique … ganz lieb, aber ’n bisschen chaotisch, oder? Na, vielleicht ist sie nervös, würde mir auch so gehen, wenn ich der erste Gastgeber wäre. Die Sangría war jetzt nicht so das Pralle. Ich mag kein spanisches Essen. Ü-ber-haupt nicht! Das hat persönliche Gründe. Aber dafür kann Angelique natürlich nichts, und das konnte sie schließlich nicht wissen. Na, schaun wir mal.«
Kommentar von Jockel: »Also, diese Angelique würde ich nicht von der Bettkante schubsen. Ich glaube, die hat Pfeffer im Arsch! Die Wohnung ist geil, die Hütte schwitzt Kohle aus jeder Fuge. Als Architekt verdient man wahrscheinlich auch nicht schlecht. Ääh … mallorquinische Küche? Keine Peilung. Tapas variadas … Also, verschiedene … weiß ich nicht. Und Lomo con col … irgendwas mit Kohl, oder? Flan ist okay. Ich bin nun mal ein Süßer. Die Sangria war auch lecker.«
Kommentar von Ruth: »Na, wir sind ja ’ne bunte Mischung. Das wird bestimmt ’ne spannende Woche. Sven-René ist goldig, unser Küken, noch ein richtiger Junge. Und Angelique, Gott, die tat mir so leid, die war so aufgeregt. Die Sangría war mir viel zu süß. Sicher, typisch spanisch, passt natürlich zum Thema. Ich bin sowieso mal neugierig, mit spanischer Küche kenne ich mich so gar nicht aus …«
Kommentar von Henner: »Ich sag, das wird lustig! Ruth ist klasse, die Mutter der Nation. Angelique geht mir ’n bisschen auf die Nerven. Klar ist man nervös, wenn man gleich als Erstes dran ist, aber die ist teilweise so durch ’n Wind, das steckt richtig an. Die Sangría war mir viel zu spritig. So was als Aperitif zu kredenzen, also das geht gar nicht! Das ist überhaupt ’n ziemlich deftiges Menü, was sie sich da vorgenommen hat. Ich bin mal gespannt, wie sie das hinkriegt … Unter einem perfekten Dinner verstehe ich jedenfalls eigentlich was anderes.«