Mord-Domino - Carsten Kühler - E-Book

Mord-Domino E-Book

Carsten Kühler

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Beschreibung

Mord-Domino ist ein Kriminalroman mit Lokalkolorit, der in Dortmund spielt und Spannung, Humor, Selbstironie, Szenen des täglichen Lebens, Sarkasmus und Erotik miteinander verbindet. Er befasst sich mit einem zeitlosen Thema: "Unersättliche Gier".

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Seitenzahl: 257

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Mord-Domino ist ein Kriminalroman mit Lokalkolorit, der in Dortmund spielt und Spannung, Humor, Selbstironie, Szenen des täglichen Lebens, Sarkasmus und Erotik miteinander verbindet. Er befasst sich mit einem zeitlosen Thema: „Unersättliche Gier“.

Carsten Kühler 2004

Das Buch

Dr. Hagelweide ist ein gewissenloser Bauunternehmer, der sich unter Ausnutzung von Gesetzeslücken an den Ersparnissen von den Bauherren bereichert. Doch da sind noch andere dunkle Kapitel in seinem Leben.

Was alles verbirgt sich hinter der Kulisse des erfolgreichen Geschäftsmannes?

Bei einer Betriebsfeier stürmt ein Ex-Mitarbeiter n den Saal, beschimpft Hagelweide und droht, ihn umzubringen. Danach überschlagen sich sonderbare Vorfälle. Hagelweide wird zusammengeschlagen. Auf dem Weg zum Joggen wird er verfolgt. Kurz darauf findet ein Spaziergänger seine Leiche. Hauptkommissarin Akemi Hansen nimmt die Ermittlungen auf. Hagelweides Tod ist der erste Dominostein, der fällt und die Kettenreaktion zu weiteren Morden auslöst.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 1

Bauunternehmer Dr. Siegmund Hagelweide trat ans Rednerpult. Passend zum feierlichen Anlass trug er einen dunkelblauen Anzug, dazu ein hellblaues Hemd sowie eine rote Seidenkrawatte und auf Hochglanz polierte, schwarze Schuhe. Dezent, elegant, und alles Maßanfertigung. Selbst die Schuhe hatte er sich extra in Italien anfertigen lassen. Dr. Hagelweide klopfte zaghaft auf das Mikrofon, um zu prüfen, ob es eingeschaltet war. Mit seiner kräftigen, basslastigen Stimme, die perfekt zu seiner stattlichen, hoch aufgewachsenen Figur passte, bat er um Aufmerksamkeit. Allmählich verstummte das Gemurmel. Im festlich dekorierten Saal des Nobelhotels Hilton Dortmund war es jetzt so still, dass nur noch das sanfte Hauchen der Belüftung zu hören war. Dr. Hagelweide musterte seine Belegschaft – die meisten Damen trugen Kostüme; einige hatten sich für ein elegantes Abendkleid entschieden; auch die Handarbeiter hatten sich in Schale geworfen. Erwartungsvoll sahen sie zu ihrem Chef auf.

„Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, die heutige außerordentliche Betriebsfeier habe ich anlässlich eines Jubiläums anberaumt, welches mir sehr am Herzen liegt.“ Dr. Hagelweide legte eine kurze Pause ein, um die Spannung zu erhöhen, doch jeder wusste bereits, was es zu feiern gab. Der Bauunternehmer räusperte sich und fuhr fort. „Unsere verehrte Frau Löbig steht seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren in meinen Diensten, zwanzig Jahre davon als Chefsekretärin. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihr bedanken.“ Gemurmel. Mit einer Geste deutete er Frau Löbig, sich zu erheben. Sie saß an einem blumengeschmückten Tisch direkt vor dem Rednerpult. Brigitte Löbig stand auf, machte auf Absätzen, die ihre Füße fast in die Senkrechte stellten, eine geübte 360°-Drehung und verneigte sich. Einige aus der Belegschaft, zumeist die Damen, begannen zaghaft zu klatschen. Dr. Hagelweide streckte beide Arme aus und deutete mit einer Geste zur Ruhe. Eine goldene, Brillanten besetzte Rolex blitzte im grellen Licht der Deckenlampen auf. Der Applaus verhallte. Alle Blicke waren wieder auf Hagelweide gerichtet.

„Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich verspreche Ihnen, mich kurz zu fassen.“

Die Belegschaft sah ihren Chef ungläubig an. Der hielt eine beeindruckende Lobeshymne auf seine bezaubernde Chefsekretärin. Wie befürchtet, hielt Dr. Hagelweide sein Versprechen nicht. Seine Rede dauerte fast eine Dreiviertelstunde. Hätte er Löbig noch weiter in den Himmel gelobt, wäre die gesamte Belegschaft wahrscheinlich schlafend von den Stühlen gefallen. Einige hatte es bereits dahingerafft, die Augen waren ihnen zugefallen. Andere gähnten, kämpften gegen den Schlaf. Als Dr. Hagelweide seine Rede beendet hatte, spendete ihm die Belegschaft theatralischen Beifall. Er verließ, stolz auf sich selbst und mit erhobenem Haupt, das Rednerpult und übergab seiner Chefsekretärin ein Bouquet aus roten und weißen Rosen, ihren Lieblingsblumen. Die hochgewachsene Dame im langen, azurblauen Abendkleid mit hochgeschlossenem Dekolleté wandelte mit ihren halsbrecherisch hohen Pumps, die jeden Orthopäden in einen Schockzustand versetzt hätten, nach vorne und lächelte in die Runde. Redegewandt, wie man es von einer Chefsekretärin erwartet, bedankte sie sich mit wenigen Sätzen bei ihrem Chef und der Belegschaft. Auch wenn man es den Gästen der Jubiläumsfeier nicht ansah, waren sie froh, dass sich Löbig bei ihrer Dankesrede kurzfasste. Sie verneigte sich tief und verließ das Rednerpult. Applaus begleitete die sinnliche Endvierzigerin, erst letzte Woche feierte sie ihren achtundvierzigsten Geburtstag, zu ihrem Platz. Dabei lächelte sie beinahe verlegen. Als Dr. Hagelweide wieder das Mikrofon übernahm, um das reich gedeckte Büffet zu eröffnen, platzte ein kleiner, gedrungener Mann mit kurzem, schwarzem Haar und dunkler Haut in den Saal. Seine flinken, schwarzen Augen fixierten den Bauunternehmer. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Hagelweide und beschimpfte ihn.

Entsetzt starrte die Belegschaft auf den teufelswilden, kleinen Türken. Jeder im Festsaal kannte ihn. Der Mann hieß Erkan Yüksel. Hagelweide hatte ihn vor drei Monaten entlassen. Yüksel stürzte direkt auf den Bauunternehmer zu. Er packte ihn an dessen maßgeschneidertem Sakko, schüttelte ihn und schubste ihn dann von sich weg, dass der Geschäftsmann ins Straucheln geriet und zu Boden fiel. Sofort kamen ihm einige Männer zu Hilfe. Yüksel wehrte sich heftig, als zwei muskelbepackte Männer, ihrem Aussehen nach zu urteilen Maurer, den Türken zu packen versuchten. Gerangel. Gezeter. Schreie. Arme wirbelten durch die Luft, Fäuste flogen. Sekunden später rann Blut aus einer Platzwunde am Kopf des Türken. Frauen sprangen von ihren Stühlen auf, flüchteten in den hinteren Teil des Saals, andere rannten hinaus. Angst breitete sich unter der Belegschaft aus. Selbst den muskelbepackten Arbeitern bereitete es Probleme, den immer noch wild um sich schlagenden Türken zu bändigen. Schließlich kamen drei Leute vom Hauspersonal zu Hilfe. Männer von beeindruckender Größe und Breite. Mit gekonnten Griffen mischten sie sich in die lautstarke Prügelei ein. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie Yüksel unter Kontrolle hatten. Die drei Security-Leute vom Hilton Hotel erteilten ihm Hausverbot, dann beförderten sie den fluchenden Türken hinaus. Während sie den Störenfried durch die Eingangstür zerrten, drehte sich Yüksel um und schrie seinem ehemaligen Chef wütend zu: „Ich bringe dich um! Das verspreche ich. Du bist so gut wie tot. Mieses Schwein. Tot!“

Dr. Hagelweide stand fassungslos und kopfschüttelnd in der imposanten Empfangshalle. Er verzichtete auf eine Anzeige.

Nachdem sich der Großteil der Belegschaft wieder beruhigt hatte, lediglich den Damen war der Schreck noch deutlich anzusehen, alle blass wie Bettlaken, versammelten sie sich wieder im festlich geschmückten Saal. Als Dr. Hagelweide seinen Maßanzug zurechtgerückt hatte, trat er erneut ans Rednerpult und entschuldigte sich bei seiner Belegschaft für die Unannehmlichkeiten. „Wir lassen uns durch Herrn Yüksel, der nach seiner Entlassung offensichtlich den Verstand verloren hat, die Stimmung nicht verderben.“ Er machte eine kurze Pause. „So, meine Damen und Herren, das Büffet ist eröffnet.“

Der Bauunternehmer hatte keine Kosten und Mühen gescheut. Kulinarische Genüsse, darunter auch ausländische Spezialitäten, sinnlich arrangierte Desserts, süße Versuchungen, einfach unwiderstehlich und eine wahre Augenweide, edle Weine und Champagner standen zur Auswahl. Während sich die Damen und Herren am Büffet bedienten, taten sie ihren Unmut über den beängstigenden Zwischenfall kund. Aufgeregtes Gemurmel. Erst langsam kam wieder feierliche Stimmung auf. Einige Herren scharwenzelten um immer noch leichenblasse Damen herum und versuchten, sie von dem Vorfall abzulenken. Zu guter Letzt brachten volle Mägen und Alkohol doch noch eine lustige Gesellschaft zustande. Musikalisch begleitet wurde die Feier von einer Koryphäe im DJ-Geschäft, Robert Noeske, in der Szene besser bekannt als Jukebox. Auf der Festplatte seines Computers war für jeden Geschmack etwas dabei. Noeske spielte die aktuellen Charts im Wechsel mit Kulthits. Jazznummern, Swing und Blues zog vor allem die etwas betagtere Generation auf die Tanzfläche. Kuschelrock für die Midsize-Generation. Jukebox legte zwischendurch immer wieder Wunschnummern auf. Dann tobte der Saal. Jeder tanzte mit jedem, da machte es keinen Unterschied, ob man Sesselpupser oder Malocher war. Erst in den frühen Morgenstunden löste sich die Runde allmählich auf. Die letzten Gäste, darunter auch Dr. Hagelweide, verließen das noble Hilton Hotel gegen 5.30 Uhr.

Kapitel 2

Der Herbstwind raste erbarmungslos mit fast neunzig Stundenkilometern über die Stadt. Sein Zorn war unüberhörbar – kakophonisches Kriegsgeschrei. Von Panik getrieben ergriffen Passanten die Flucht, suchten Schutz vor herunterstürzenden Dachpfannen oder abbrechenden Ästen. Zerfetzte Schirme wirbelten durch die Luft. Begleitet wurden sie von achtlos weggeworfenem Papier und Plastiktüten. Der wütende Atem von Tief `Melanie` riss Blätter, die keine Kraft mehr besaßen, aus ihren Verankerungen an den Ästen. Wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm wirbelten die farbigen Kunstwerke ziellos umher, halsbrecherische Kapriolen schlagend. Melanie peitschte Milliarden Regentropfen aus dunkelgrauen Wolken heraus, die dann mit ohrenbetäubenden Getöse niederprasselten.

Fünf Minuten Weltuntergangsstimmung. Zehn Minuten. Zwanzig. Vierzig Minuten Chaos auf Dortmunds Straßen. Sintflut. Die Kanalisation war mit den Wassermassen sichtlich überfordert. Melanie blies plötzlich ihr gesamtes Lungenvolumen mit einem Stoß heraus. Wolken rasten wie in einem Zeitraffer vorbei, als wollten sie sämtliche Geschwindigkeitsrekorde brechen. Nach fast anderthalb Stunden brach Melanie von einer Sekunde zur anderen erschöpft zusammen. Totenstille. Unheimlich. Als hätte ein schwarzes Loch Melanie verschlungen.

Dr. Hagelweide lenkte seinen Porsche Cayenne Turbo gegen 18.00 Uhr auf den Kundenparkplatz des Swingerklubs Silk Skin, der diskret hinter dem unauffälligen Gebäude in der Franz-Liszt-Straße lag. Fast zwei Drittel der großzügig bemessenen Parkfläche war bereits belegt. Wagen der Premiumklasse, darunter edle Limousinen, rassige Sportwagen, Oldtimer und SUVs. Einige Mittelklasse- und Kleinwagen parkten dazwischen. Der Bauunternehmer benutzte den Hintereingang, schließlich gehörte er zu den Persönlichkeiten der Stadt, die regelmäßig im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. Unerkannt bleiben um jeden Preis. Das galt auch für die gelegentlichen Besuche im Nobelbordell Mach 6. Sowohl die Begegnungsstätte Silk Skin als auch das Befriedigungsparadies Mach 6 gehörten demselben Mann – einem zwielichtigen und in der Szene gefürchteten Türken. Dr. Hagelweide drückte die Klingel. Dreimal kurz, einmal lang. Kurz darauf öffnete sich eine kleine Klappe in der Stahltür. Hagelweide trat vor das Guckloch und identifizierte sich.

„Dagobert Dollar“, flüsterte er. Der Bauunternehmer hatte dieses Pseudonym aus zweierlei Gründen gewählt. Erstens, weil jeder, der den Hintereingang benutzen wollte, um ins verbotene Reich zu gelangen, ein Geheimwort benötigte, und zweitens, weil er sich mit diesem stinkreichen Erpel aus der Disneywelt identifizierte. Dagobert Dollar war Dr. Hagelweides persönliche Eintrittskarte zum illegalen Bereich des Klubs. Paco, Türsteher und zugleich Bodyguard des Klubbesitzers, führte den Stammgast durch einen dunklen Flur in das obskure Hinterzimmer. Die Luft des kleinen Raumes war von Zigaretten- und Zigarrenqualm geschwängert. Es war so stickig, dass man kaum atmen konnte.

„Viel Spaß!“, sagte Paco mit seiner Reibeisenstimme und lachte dreckig. Dann fiel die Tür leise ins Schloss. Erdrückende Wärme und der beißende Qualm trieben dem Mann namens Dagobert Dollar unvermittelt winzige Schweißperlen auf die Stirn. Er lockerte seine Seidenkrawatte. Eine kleine, hässliche Schirmlampe aus den 70ern spendete schummeriges Licht. Um einen Holztisch herum saßen fünf finster dreischauenden Personen. Ausgewählte, zahlungskräftige Kundschaft. Drei Herren in maßgeschneiderten Anzügen und zwei Damen in figurbetonten Kostümen. Ihre Blicke wanderten in Begleitung von wechselndem Mienenspiel in der Runde hin und her, bevor sie auf der von Kratern, Rissen und Macken übersäten Tischplatte für einige Augenblicke verweilten. Dann wanderten ihre Augen wieder auf die Karten in ihrer Hand, dann zu dem Geldhaufen in der Mitte des Tisches. Pokerface von Lady Gaga ertönte aus einem knisternden Röhrenradio. Nostalgie spielte im Hinterzimmer des Silk Skins eine große Rolle. Plötzlich hielt die Runde, wie auf Kommando, inne, und alle sahen zu dem neuen Gast auf.

„Hallo Dagobert!“, begrüßte ihn ein Mann mit osteuropäischem Akzent. „Ist dein Geldspeicher noch nicht voll? Oder hast du dir schon einen Zweiten zugelegt?“

Der Mann hieß Wasilij Rudenko, in Moskau geboren und Sohn eines reichen Industriellen. Er besaß mehrere exklusive Privatklubs, in denen aufgebrezelte Edelhuren die wildesten Fantasien der Gäste erfüllten. Champagnerparties, bei denen das edle Getränk oft neben seiner eigentlichen Bestimmung auch anderweitig verwendet wurde; mal diente es als Badewasser, mal ließ man es Fontänenartig, wie ein Feuerwerk, in den Himmel schießen, ein anderes Mal übergoss man die Oberkörper von jungen Mädchen, die Gott in Sachen Rundungen reichlich beschenkt hatte, um den Wettbewerb Miss Wet T-Shirt standesgemäß auszutragen. Verschwendung in all seinen Facetten. Rudenkos Etablissements waren in sämtlichen Großstädten vertreten. Zudem betrieb er illegalen Waffenhandel. Rudenko hätte mit seinem Reichtum Fort Knox füllen können. Er machte auch kein Geheimnis aus seinem unermesslichen Vermögen und lebte seinen Reichtum in vollen Zügen aus. Der Playboy verprasste ihn mit Luxuskarossen, überteuerten Designerklamotten, wofür er extra mit einem Privatjet in die Modemetropolen zum Shoppen flog und dinierte in den exquisitesten Gourmettempeln. Zu seinen weiteren Leidenschaften zählten langbeinige und vollbusige junge Frauen und das Glücksspiel. Er lebte wie ein Gott in seinem eigenen Paradies, heute in Sodom, morgen in Gomorrha. Ihm fehlte es an nichts. Neben dem Privatjet nannte er noch eine Fünfundachtzigmeter-Yacht sein Eigen, die speziell nach seinen Wünschen gebaut worden war.

Rudenko raffte mit beiden Armen seinen Gewinn zusammen, es mochten gut und gerne siebzigtausend Euro gewesen sein, stand auf und bot Dr. Hagelweide seinen Platz an. Der stinkreiche Russe grinste zufrieden und tätschelte sein prall gefülltes Geldsäckchen.

„Der heutige Abend ist gesichert. Reicht für ‘n heißen Abend im Phantasia Island. Und morgen gehe ich mit meinen geilen Miezen mal wieder richtig shoppen. Die sind schon ganz heiß auf neue Klunker.“ Rudenko verabschiedete sich von den übrigen Gästen der elitären Runde und verließ fröhlich pfeifend das kleine, stickige Hinterzimmer des Silk Skins. Sein dicker Bauch hüpfte wie ein Flummi auf und ab.

Dagobert Dollar übernahm den Platz des Russen und legte mehrere Geldbündel auf den Tisch. Ein großer Mann im stahlgrauen Anzug verteilte schweigend die Karten. Halvard Johansson war Schwede, hochgeschossener Blondschopf mit himmelblauen Augen und typisch skandinavischem Akzent. Ihm gehörten zwei kleine Hotels. Seine Haupteinnahmen jedoch bezog er aus einer Kette von Spielhallen. Eine seiner Leidenschaften waren teure Zigarren, von Kubanerinnen handgedreht mussten sie sein. Johansson ließ sie sich exklusiv aus Kuba einfliegen.

Alice im Wunderland nahm ihre Karten zuerst auf. Larissa von Altstetten war ihr richtiger Name und die Jüngste in der Runde. Letzten Monat hatte sie ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Ihr schwerreicher Vater, von Beruf Schönheitschirurg, hatte seiner bildhübschen Tochter, sie wurde letztes Jahr sogar zur Miss Germany gekürt, eine überwältigende Party mit mehr als hundert Gästen ausgerichtet. Ihre großen, haselnussbraunen Augen starrten auf das Blatt. Alice im Wunderland verzog keine Miene und beobachtete die anderen Mitspieler. Für ihr Alter besaß sie schon ein perfektes Pokerface. Sie nickte dem Geber Johansson beinahe unmerklich zweimal kurz zu. Der Schwede zog genüsslich an seiner Havanna und schob von Altstetten zwei Karten zu. Die warf einen verstohlenen Blick darauf. Ihre Augen wanderten zu den anderen Mitspielern, dann wieder zurück auf ihr Blatt. Dagobert Dollar bemerkte leicht verärgerte Züge im hübschen Gesicht der jungen Frau. Alice im Wunderland neigte den Kopf leicht zur Seite. Die anderen der Runde deuteten mit unterschiedlichen Gesten an, wie viele Karten sie austauschen wollten. Zwei Spieler wollten drei, einer sogar vier. Dagobert Dollar kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen und musterte jeden Einzelnen der Runde. Er hatte einen verdammt guten Straight Flush, beginnend mit seiner Glückszahl 8. Der siegessichere Bauunternehmer verlor dreitausend Euro. Alice im Wunderland legte einen satten Royal Flush auf den Tisch. Damit nicht genug. Auch die nächste und übernächste Runde gewann von Altstetten. Ausgerechnet bei dem Spiel, wo die Einsätze am niedrigsten waren, gewann Dagobert Dollar. Schlappe achthundert Euro. Seine Pechsträhne verfolgte ihn den ganzen Abend lang. Sämtliche dicke Pötte sackte sich die noch amtierende Miss Germany ein. Misstrauisch musterte Dr. Hagelweide seine Gegenspieler. Sein Adrenalinspiegel stieg an. Nach neun Spielen stand er bereits mit zwölftausend Euro in den Miesen. Währenddessen wuchs der Geldberg bei Alice im Wunderland gewaltig an. Sie gewann jetzt beinahe jedes Spiel. Dr. Hagelweide kochte vor Wut. Zwei Mitspieler stiegen aus, noch rechtzeitig, bevor sie alles verloren. Die beiden Zwirnträger verließen die verqualmte Zockerhöhle. Dagobert Dollar war sich inzwischen sicher, dass man ihn eiskalt abservierte. Warum wohl sonst gewann immer dieses aufgetakelte, hochnäsige Barbiepüppchen? Gezinkte Karten! Er wurde nach Strich und Faden übers Ohr gehauen. Mit dreiundzwanzigtausend Euro in den Roten Zahlen. Unmöglich. Der Bauunternehmer strich mit der Hand durch sein kurzes, graumeliertes Haar. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Dagobert Dollar schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Der Holztisch knarrte ächzend.

„Was ist los, Dagobert?“, fragte Johansson, völlig unbeeindruckt von Dr. Hagelweides Wutanfall. Er sog den würzigen Zigarrenrauch tief in seine Lungen, parkte ihn dort

für ein paar Sekunden, bevor er ihn Dr. Hagelweide ins

Gesicht blies. Provozierend.

Der Bauunternehmer wandte sich hustend ab. Seine Lider zwinkerten. Die Augen tränten. Dagobert Dollar wischte sich die Tränen mit einem Stofftaschentuch ab, auf dem er sich sogar die Initialen `D. D.` und einen Erpel hatte sticken lassen. Sein Blick wanderte zwischen von Altstetten und Johansson hin und her. „Ihr beiden bescheißt mich doch! Glaubt wohl, ich merke das nicht?“, schrie er. „Fast jedes Spiel gewinnt Alice im Wunderland! Ich will sofort ein neues Kartenspiel!“

Johansson lehnte sich lässig im Stuhl zurück. Das Holz knarrte. „Wir haben die Karten bereits dreimal ausgetauscht. Aber gut, wie du willst.“ Der Schwede stand auf, ging zu einem Stahlschrank, öffnete ihn mit einem Schlüssel, nahm ein frisch verpacktes Kartenspiel heraus und verschloss den Schrank wieder. Er setzte sich und gab es Dagobert Dollar. Misstrauisch musterte der Bauunternehmer Johansson und von Altstetten.

„Pack es selbst aus und überzeug dich, dass mit den Karten alles in Ordnung ist“, sagte der Schwede und zog genüsslich an seiner dicken Zigarre.

Dagobert Dollar entfernte das Zellophanpapier und überprüfte jede einzelne Karte. Sie waren okay. Trotzdem war er davon überzeugt, dass Johansson und Miss Germany falsches Spiel mit ihm trieben.

Die nächste Runde ging an den Bauunternehmer. Lächerliche zweieinhalbtausend Euro. Danach kassierte die Chirurgentochter satte neuntausendsiebenhundert Euro. Ihre Siegesserie ging weiter. Inzwischen stand Dr. Hagelweide mit über dreißigtausend Euro in der Kreide. Er schmiss die Karten über den Tisch und sprang auf. Dabei flog der Stuhl nach hinten und knallte auf den Boden. Dagobert Dollar röhrte ungehobelte Schimpfwörter durch den zigarrenqualmgeschwängerten Raum und drohte Johansson und von Altstetten mit der Faust. Silke Mai, genannt Schlot, die zweite Spielerin am Tisch, irgend so eine aufgetakelte Tussi eines steinreichen Börsenmaklers, paffte eine Kippe nach der anderen. Ihr schien es egal zu sein, wie viel Kohle sie verlor. Schlot ging es nur um die düstere Atmosphäre und den Adrenalinkick. Cool wie ein Teenanger, der sich wichtigtun wollte, formte Mai aus dem Zigarettenqualm perfekte Ringe. Langsam größer werdend stiegen sie zur Decke, wo sie schließlich zerfielen.

„Abgekartetes Spiel. Verdammte Scheiße! Ihr hinterhältigen Schlangen.“ Dr. Hagelweide schrie so laut, das ihm kurz darauf die Stimme versagte.

Paco kam hereingestürzt... „Was ist hier los?“

Johansson stand auf und wandte sich an den Türsteher. „Unser verehrter Dagobert Dollar behauptet, wir würden ihn bescheißen. Dabei haben wir bereits das vierte Paket Spielkarten geöffnet. Von dem Letzten hat er sich selbst überzeugt, dass es originalverpackt und nicht gezinkt war. Es läuft alles korrekt.“

Paco sah den Bauunternehmer fragend an.

„Lüge! Alles Lüge! Johansson und von Altstetten machen gemeinsame Sache. Über dreißigtausend Miese! An einem Abend! Das ist doch oberfaul! Ich will mit Mehmet sprechen! Sofort!“

Mehmet, Türke aus dem tiefsten Anatolien, versuchte, den

Bauunternehmer zu beruhigen. Doch Dr. Hagelweide war in seiner Wut nicht zu bremsen.

„Es ist nicht das erste Mal, dass ich in deinem Klub so viel Geld verloren habe. Aber diesmal habt ihr euch ziemlich blöd angestellt. Ich wette, hinterher kassierst du sogar noch bei Johansson und dieser Alice im Wunderland ab!“

Mehmet sprang auf, demonstrierte seinen breiten, muskulösen Körper und durchbohrte sein Gegenüber mit finsteren Blicken. „Du unterstellst mir also, dass ich Leute zum Falschspiel auf dich ansetze und hinterher den Gewinn abkassiere?“

„Genau das meine ich!“ Dr. Hagelweides Lider zuckten unkontrolliert. Seine stahlgrauen Augen wanderten von dem Schweden zu Alice im Wunderland, dann zurück zu Mehmet. Sein zornesroter Kopf leuchtete. Als der Bauunternehmer auf die beiden losgehen wollte, packte ihn Paco am Arm. Dagobert Dollar wand sich wie ein Aal und versuchte sich loszureißen. Für einen kurzen Moment bekam er einen Arm frei. Er ballte eine Faust und schleuderte sie in Richtung des Klubbesitzers.

„Schmeiß ihn raus!“, befahl Mehmet seinem Türsteher. „Schaff mir diesen Unruhestifter aus den Augen! Ich will ihn hier nicht mehr sehen.“

„Du Schwein!“, fluchte Dr. Hagelweide. Seine Lippen bebten. Gesichtsmuskeln zuckten.

„Du hast Hausverbot. Ab sofort. Und zwar sowohl für diesen Klub als auch für das Mach 6. Und wenn ich erfahre, dass du irgendwo dort auftauchst, dann ...“ Mehmet sprach den Satz nicht zu Ende.

„Arschloch!“, schrie der Bauunternehmer. „Ich geh zur Polizei und lass dein illegales Glücksspiel auffliegen. Bei der Gelegenheit erzähle ich ihnen auch, dass du im Mach 6 Nutten aus Ostblockstaaten ohne Aufenthaltsgenehmigung beschäftigst. Und was die Polizei besonders interessieren wird, dass du Perversen sogar Minderjährige anbietest. Geldsegen ade, sag ich nur. Die stecken dich für ewig in den Knast.“

Mehmet entgegnete der Drohung mit einem breiten Grinsen und nickte seinem Bodyguard zu. Der verdrehte Dagobert Dollar die Arme, beförderte ihn unsanft durch die Tür und stieß ihn durch den Hintereingang hinaus auf den Parkplatz. Dr. Hagelweide strauchelte, konnte einen Sturz aber gerade noch abfangen.

„Das werdet ihr bereuen!“, schrie er Paco entgegen und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger. Der winkte ab, drehte sich um und ging zurück in den Klub.

Mit quietschenden Reifen raste der Porsche Cayenne Turbo vom Parkplatz und hätte beinahe einen Ferrari gerammt.

Kapitel 3

Ein alter, schmutziggrauer Golf fuhr in gemäßigtem Tempo die Galoppstraße im Dortmunder Nobelvorort Lücklemberg entlang. Nach etwa dreihundert Metern wendete er und fuhr zurück. Schließlich parkte der Fahrer den Wagen am Straßenrand. Eine schwarz gekleidete Person stieg aus, schaute sich aufmerksam um. Im Schutze der Morgendämmerung spazierte sie die Galoppstraße entlang, blieb vor einer imposanten Villa mit auffallendem Anstrich stehen, betrachtete diese ein paar Minuten lang und schlenderte dann langsam weiter. Nach etwa dreißig Metern blieb die Person erneut stehen, ging dann wieder zurück und bog in eine kleine Seitenstraße ein. Nur ein einziges Haus lag am Ende der Straße, verborgen hinter einer Hecke. Von hier aus konnte die Person ihr Zielobjekt beobachten, ohne von Anwohnern, Joggern oder Spaziergängern, die mit ihren Hunden Gassi gingen, gesehen zu werden. Das Haus war ein imposantes Meisterwerk architektonischer Baukunst im modernen Baustil – verwinkelt, geometrisch. Allein das Mauerwerk war künstlerisch in drei verschiedenen Blautönen gestrichen. Kontrastlos fügten sich die blauen Kunststofffenster in das Bild ein. Selbst bei den Dachpfannen hatte sich der Bauherr dieser eigenwilligen Villa für ein lasiertes Blau entschieden.

Die schwarz gekleidete Gestalt schaute auf ihre Uhr. Das Quarzfeld leuchtete weiß auf. 6.35 Uhr. Die nasskalte Morgenkühle suchte sich langsam einen Weg durch den Mantel und den Rollkragenpullover. Unruhig wippte die Person von einem Bein aufs andere. Sie ließ die Villa nicht aus den Augen.

Gegen 7.00 Uhr tauchte ein Porsche Cayenne Turbo in der

Ausfahrt des blauen Architekturwunders auf, stoppte kurz und bog dann links ab. Schnell rannte der Beobachter zu dem alten Golf, stieg ein und folgte dem schweren Geländewagen.

Auf der Zillestraße herrschte reger Berufsverkehr. Der Verfolger ließ zwei Wagen zwischen sich und dem Porsche Cayenne einfädeln. Es erforderte höchste Aufmerksamkeit, den Geländewagen nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich schlug die Ampel bei dem vor ihm fahrenden Wagen auf Gelb. Der Verfolger umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Fuß stand nervös auf dem Gaspedal. Sein Vordermann raste mit Vollgas bei Dunkelgelb geradeaus über die Kreuzung. Der Porsche Cayenne war nach rechts in die Holtbrügge abgebogen. In letzter Sekunde, die Ampel erstrahlte bereits in signalrot, riss der Verfolger das Lenkrad herum. Das Heck brach aus. Der Golf kam auf dem nassen Asphalt ins Schleudern. Mit hektischen Lenkbewegungen brachte Fahrer den Wagen wieder unter Kontrolle.

„Puh! Das war knapp“, murmelte er. Er war jetzt direkt hinter dem Zielobjekt. So konnte er sich wieder etwas zurückfallen lassen. Durchstraße. Brandisstraße. Es ging immer weiter in den Dortmunder Süden. Aus dem Fond des alten Golfs drang leises Knurren nach vorn. Die in schwarz gekleidete Person schaute über ihre Schulter nach hinten und lächelte. Schmatzen, Schnaufen. Die lange, rosafarbene Zunge des sabbernden Dobermanns hing weit aus seiner halbgeöffneten Schnauze heraus. Als der Verfolger wieder nach vorn schaute, schrak er zusammen. Aufgeregt fokussierten seine zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen die Straße. Wo zum Teufel war der Porsche Cayenne? Unvermittelt wendete er und fuhr mit verringerter Geschwindigkeit zurück. Er konnte ihn nur in dem kurzen Augenblick verloren haben, als er sich zu seinem Hund umsah. Also gab es nicht viele Möglichkeiten, wo der Geländewagen hatte abbiegen können. Auf der linken Seite lag eine Kleingartenanlage. Was sollte sein Zielobjekt um kurz nach sieben hier verloren haben? Eher unwahrscheinlich, dass der feine Pinkel hier eine dieser winzigen Gartenparzellen besaß. Schließlich stand seine blaue Villa auf einem riesigen, parkähnlichen Grundstück. Die dunkle Gestalt im schmutziggrauen Golf hielt an, überlegte kurz, wendete und bog am Automobilmuseum ab in den Niederhofer Kohlenweg. Sie gab Gas. Sechzig. Siebzig. Achtzig Stundenkilometer! Dann tauchten die Rückleuchten des Geländewagens wieder im Blickfeld des Verfolgers auf. Kurz darauf lenkte der Porsche Cayenne auf den kleinen Parkplatz am Haus Niederhofen in direkter Nachbarschaft vom Elisabeth Kinderheim. Aus sicherer Entfernung beobachtete die Person im Golf ihr Zielobjekt. Die mächtige Tür des Geländewagens schwang auf und ein großer Mann von stattlicher Figur im Trainingsanzug stieg aus und begann Dehnübungen zu machen. Anschließend trabte er mit gemäßigtem Tempo in das Niederhofer Holz hinein. Es ging eine leichte Brise. Das Laub in den Baumkronen raschelte. Graue Gewitterwolken zogen gemächlich vorbei und verschlangen ab und zu für einige Sekunden den hell leuchtenden Vollmond. Die Rufe mehrerer Käuzchen hallten durch den Wald. Eine mystische Atmosphäre. Unheimlich.

Die dunkel gekleidete Gestalt stieg aus, nahm vorschriftsmäßig ihren schwarzbraunen Dobermann an die Leine und folgte dem Frühsportler in den Wald. Zum Glück waren bereits einige Jogger und Spaziergänger mit ihren Hunden unterwegs, so dass die beiden nicht auffielen. Der feine Pinkel im Trainingsanzug erhöhte sein Tempo. Der Jogger war in guter Konstitution. Den Verfolger hingegen kostete es bereits Mühe, dem Zielobjekt unauffällig auf den Fersen zu bleiben. Er atmete kurz und schnell. Sein Herz raste, überschlug sich. Seine Augen nahmen alles nur noch verschwommen wahr. Doch die dunkle Gestalt kämpfte, musste dranbleiben um jeden Preis. Irgendwie hatte sie sich das einfacher vorgestellt.

Nach etwa einer Stunde beendete der Mann im Jogginganzug seinen Frühsport. Zurück auf dem Parkplatz, verschnaufte er einige Minuten lang. Dann stieg er in seinen Geländewagen und fuhr zurück zu seinem blauen Palast nach Lücklemberg.

Völlig außer Puste und mit letzter Kraft schleppte sich der Verfolger mit dem Dobermann in die Brücherhofstraße, wo er den Wagen geparkt hatte. Total erschöpft fiel er in die durchgesessenen Sitze des alten Golfs. Dann schaute er noch einmal in Richtung Wald. Nachdenklich. Dabei verzerrte ein teuflisches Grinsen sein Gesicht.

Kapitel 4

Im Konferenzraum des Morddezernats KK 6 im Polizeipräsidium Dortmund-Mitte herrschte große Anspannung. Sie äußerste sich in lautstarkem Gemurmel und wilden Spekulationen darüber, aus welchem Grund Polizeioberrat Gerhard Pelz sie hatte versammeln lassen. Einige vermuteten, es ginge um die Neubesetzung der Leitung des KK 6. Hauptkommissar Wilfried Hardach war letzte Woche in seinen wohlverdienten Ruhestand getreten. Dennoch schien es nicht ausgeschlossen, dass Pelz die leitende Stelle zunächst kommissarisch besetzen wollte, bevor er eine endgültige Entscheidung treffen würde. Sicherlich hatte er sich bereits Gedanken über potentielle Kandidaten gemacht, aber bisher kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Kommissar Klaus Borchert, Kommissarin Sybille Stern und Hauptkommissarin Nadja Pinsel steckten ihre Köpfe zusammen. Kurz darauf ertönte lautes Gelächter. Der Rest vom KK 6 sah das Trio fragend an. Die drei machten große Augen, zuckten mit den Schultern, ließen die anderen der Runde aber an ihren belustigenden Vermutungen über die Neubesetzung der begehrten Chefstelle im Regen stehen. Oder ging es um etwas ganz Anderes? Borchert, Stern und Pinsel waren verschrien, oft auf anderer Leute Kosten Witze zu machen.

Die Tür zum Konferenzraum öffnete sich und Polizeioberrat Pelz betrat in Begleitung einer kleinen, zierlichen Frau den Raum. Sie glich einer Porzellanpuppe mit Schlitzaugen. Sofort verstummte das Gemurmel. Alle Blicke waren auf die Asiatin gerichtet. Die Mordermittlerinnen- und ermittler musterten sie eingehend, bevor ihre Augen zum Polizeioberrat wanderten. Seine äußere Erscheinung glich der eines halbverhungerten Gartenzwerges. Dennoch zollte ihm das gesamte Präsidium gebührenden Respekt. Pelz erwartete Gewissenhaftigkeit, Einsatzbereitschaft und legte besonderen Wert auf Pflichtbewusstsein in all seinen Facetten, Korrektheit, Kollegialität und Respekt gegenüber Vorgesetzten. Er war erzkonservativ, ein Polizist der alten Schule.

Der Polizeioberrat deutete seiner hübschen Begleitung mit einer freundlichen Geste, in dem breiten Ledersessel vor Kopf des langen Konferenztisches Platz zu nehmen. Sie verneigte sich beinahe ehrfürchtig, lächelte dabei verhalten und ließ ihren zierlichen Körper langsam in das weiche Echtleder sinken.

„Meine Damen, meine Herren, ich möchte nicht lange um den Anlass dieser von mir anberaumten Versammlung herumreden. Nachdem unser verehrter Hauptkommissar Wilfried Hardach letzte Woche in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist, haben Sie sich bestimmt schon alle gefragt, wer die Nachfolge für den verantwortungsvollen Posten als Leiter des Morddezernats KK 6 antreten wird.“ Er legte eine kurze Pause ein und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. „Ich weiß, ich stehe hier vor hervorragend ausgebildeten, verantwortungsbewussten und strebsamen Mitarbeitern, die in ihrer bisherigen Karriere Leistungen auf sehr hohem Niveau gezeigt haben. Man könnte Sie alle, wie Sie hier sitzen, schon als Eliteeinheit unseres Präsidiums bezeichnen.“

Als Dank für sein Lob klopfte die Mannschaft vom KK 6 auf die Tischplatte.

Ein offenes Lächeln umspielte Pelz` blasse Lippen. Dann fuhr er fort. „Ich möchte Ihnen heute offiziell Ihre zukünftige Chefin vorstellen. Sie heißt Akemi Hansen, ist Hauptkommissarin und wird ab sofort die Leitung dieses Dezernates übernehmen. Alles Weitere wird Sie Ihnen jetzt selbst erzählen.“

Ohne weitere Erklärungen verließ der Polizeioberrat den Konferenzraum. Erstaunte Blicke. Wumm! Damit hatte niemand gerechnet.

Pinsel war enttäuscht. Sie schürzte ihre Lippen und zog ein grimmiges Gesicht. Seit drei Jahren war sie Hauptkommissarin und hatte sich bereits als Nachfolgerin von Hardach gesehen.

Die neue Chefin des KK 6 stand auf und musterte einen nach dem anderen. Hansen strich sich ihre langen, ebenholzfarbenen Haare aus dem Gesicht. „Meine Damen und Herren, wie Polizeioberrat Pelz bereits erwähnte, heiße ich Akemi Hansen, bin Hauptkommissarin und vierundvierzig Jahre alt.“

Erstauntes Raunen und hochgezogene Augenbrauen.

„Ich hätte Sie viel jünger geschätzt“, erlaubte sich Kommissar Martin Netzel das Kompliment und lächelte. „Auf Anfang bis Mitte dreißig vielleicht.“ Netzel besaß ein loses Mundwerk und war zudem als Frauenheld bekannt. Der Endzwanziger sprach seine Gedanken offen aus. Niemand verübelte ihm das und alle mochten seine lockere Art. Ein treuer Kumpel, mit dem man über alles reden konnte. Verliebt lächelte der Kommissar seine neue Chefin an.

Sie erwiderte sein Lächeln. „Vielen Dank ...“

„Kommissar Netzel, Martin Netzel“, stellte er sich vor.

„Danke für das Kompliment.“ Ihre vollen, sinnlichen Lippen waren für das Küssen wie

geschaffen. Netzel war bereits ihrer lieblichen Schönheit

verfallen und schwelgte in Träumen.

Hansen fuhr fort. „Ich habe mich auf eigenen Wunsch von Hamburg hierher nach Dortmund versetzen lassen. Wie unschwer zu erkennen ist, fließt in meinen Adern asiatisches Blut. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Japaner. Soviel zu meiner Person.“ Hansen holte kurz Luft. „Im Anschluss an diese Versammlung möchte ich über sämtliche laufenden Fälle informiert werden.“