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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2023
Kulturdezernat & Textflash präsentieren
Mord im Metropol
June Is | J.S. Hartmann | Julia K. Hilgenberg Catherine R. Striker | Effi Clifford Eweka Catherine Strefford | Nike Leonhard | Saskia Dreßler Michaela Stadelmann (Hrsg.)
Wollen Sie mal in einen Text eintauchen? Nicht nur gemütlich auf dem Sofa, in der einen Hand das Buch, mit der anderen in der Pralinenschachtel? Dann werden Sie Literaturagent des Kulturdezernats! Schlagen Sie ein Buch auf und betreten Sie die Handlung! Baden Sie in Ihren literarischen Millionen, jetten Sie um die Welt! Erleben Sie ungeahnte Abenteuer an Orten, die nie ein Mensch zuvor betreten hat! Kämpfen Sie gegen Monster und - Budgetkürzungen! Die sind die Hauptsorge der Obersten Lektorin Rota Styft. Wie soll sie für Ordnung und gute Literatur sorgen, wenn sie weder die Mittel noch genügend Agenten hat? Und ausgerechnet jetzt tauchen ständig Fragmente eines dubiosen Krimis auf: Mord im Hotel Metropol. Rota Styft sieht sich genötigt, die Jungagenten Lia Schmitt und Simon Roth darauf anzusetzen. Doch bereits bei ihrer ersten Mission in einem unfertigen Manuskript stoßen sie auf Ungereimtheiten, die die Sektion Literatur in ihren Grundfesten erschüttern: Logikfehler, schlechte Plots, magere Grammatik und die namenlose Gefahr, die alles und jeden zu verschlingen droht. Wenn die beiden es nicht schaffen, den Hollywood-Modus abzuschalten, bedeutet dies das Ende guter Unterhaltungsliteratur …
© 2023 Saskia Dreßler, Michaela Stadelmann, Effi Clifford Eweka, Julia S. Hartmann, Julia K. Hilgenberg, June Is, Nike Leonhard, Catherine Strefford, Catherine R. Striker, Akiko Hana1
Lektorat: Nike Leonhard, Michaela Stadelmann (www.textflash.de)
ISBN Softcover: 978-3-347-82558-1
ISBN E-Book: 978-3-347-82559-8
Druck und Distribution im Auftrag der Autorinnen:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autorinnen verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorinnen, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Verdammt!
Wir brauchen noch einen Klappentext!
Rota Styft, Oberste Lektorin des Kulturdezernats
Jemand sollte die Katze füttern.
BDB
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Lennard Seiler
Rota Styft
Suzie Wong
Rota Styft
Lennard Seilers Mutter
Basti, der IT-Advisor
Charlene
Rota Styft & BDB
Lennard Seiler
Rota Styft
Lennard Seiler
Charlene
Lennard Seiler
22.34 Uhr
22.41 Uhr
22.47 Uhr
22.52 Uhr
22.57 Uhr
Lennard?
23.11 Uhr
Lia & Simon
Lia Schmitt & Lennard Seiler
Rota Styft
Lia Schmitt
Lennard Seiler
Basti, der IT-Advisor
Suzie Wong
Simon Roth
Suzie Wong
Simon & Lia
Suzi Wong & Rota Styft
Lennard Seiler
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Die Autorinnen
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Lennard Seiler
Berlin.
Die Stadt der Künste!
Die Stadt der Liebe …
Lennard Seiler klopfte das Herz immer noch bis zum Hals. Diese Nacht würde nicht dem Schlaf gehören, soviel stand fest. Diese Nacht würde, nein, diese Nacht war die Nacht der Nächte! Mit einem Wimpernschlag hatten sich Ungewissheit und Finsternis zu winzigen Glitzerpunkten aufgelöst, bevor sie in den Himmel aufstiegen. Und dort schwebten sie nun und formten ein Gesicht – das Gesicht seiner Muse.
Elvira.
Oh Gott, Lennard war so fürchterlich verliebt wie noch nie in seinem Leben. Ihm war, als hätte ihm jemand etwas in sein verschmiertes Cocktail-Glas gekippt. In einem Moment wähnte er sich verloren an der Theke des Szene-Clubs, in den er sich verirrt hatte, und nippte an seinem Cola-Rum-Drink mit Crushed Ice, garniert mit Sternfrüchten. Und im nächsten hatte sie vor ihm gestanden.
Elvira!
Mit ihren Augen, die glühten wie schwarze Kohlestückchen, hatte sie ihn lachend gemustert und gefragt: „Na? Auch hier?«, als wäre er ein alter Bekannter. Ein sehr guter alter Bekannter, auf dessen Fingern schon bald Elviras warme Hand ruhte, sein Handgelenk streichelte und schließlich hatte sie – als hätte eine überschwängliche Liebesromanautorin zu viele Rosenblätter aufs Manuskript gestreut – ihre Lippen auf seine gedrückt.
Ganz kurz nur.
Und doch so – aaah …
Lennard öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit seines Schlafzimmers. Vorbeifahrende Autos projizierten Scheinwerferemanationen an die schlecht verputzte Zimmerdecke. Schlagartig kippte auch Lennards Gewissen ins Graue. Denn noch vor dem alles verzehrenden Kuss – na ja, eigentlich war es eher ein Küsschen gewesen – hatte die erste Lüge seinen Mund verlassen. Autor sei er, hatte er Elvira vorgeschwindelt, und eigentlich auch nicht, weil er hauptberuflich als Buchhalter seine Brötchen verdiente – aber er schrieb ja wirklich Geschichten. Doch ihr Lächeln ließ die Sätze wie von selbst aus ihm herauspurzeln: Derzeit säße er an einem Krimi – denn Krimis waren männlich – über einen Mord ganz im Stil von Agatha Christie. Zwei verfeindete Schachspieler und eine verruchte Lady mit ihrem nicht minder skandalumwitterten Chauffeur trafen in einem Hotel der Luxusklasse aufeinander. Rockstars und windige Betrüger gaben sich die altmodischen Zimmertürklinken in die Hand, in den Hinterzimmern wurden schmierige Komplotte geschmiedet. Schließlich der Mord, der in die trügerische Sicherheit der Zwischenwelt einbrach und einen besonnenen Kommissar auf den Plan rief. Während er sich ein Detail nach dem anderen aus den Fingern sog, wurde das Geschehen vor Lennards innerem Auge immer plastischer, jedes Detail, sogar einzelne Sequenzen. Nur das große Ganze war ihm noch nicht klar, aber darum ging es in dem Moment nicht. Elvira sollte ihm zuhören, was sie auch bereitwillig tat, seine verzagte Seele streicheln … Aber er hätte nicht sagen sollen, dass man davon ganz gut leben konnte.
»Wie ein Künstler halt von seinen Einkünften lebt«, hatte Elvira mit ihrem süßen Lächeln auf den Lippen gesagt. »Ich weiß, wie das ist, ich bin Tänzerin.«
»Zwei verwandte Seelen«, hatte Lennard mit weichen Knien gescherzt, und dann –
Die Erinnerung an ihren Kuss kitzelte immer noch seine Lippen.
Viel zu schnell trennten sie sich danach. Er war sich so sicher gewesen, dass er die Nacht mit Elvira verbringen würde. Stattdessen hatte sie nur rasch seine Wange gestreichelt und war davongeschwebt wie eine Sommerbrise am Wannsee …
An Schlaf war definitiv nicht mehr zu denken. Zu voll war Lennards Kopf mit Elvira. Und der kleinen, überhasteten Lüge. Aber an der Tätigkeit eines Buchhalters mit unsicheren Engagements über die Zeitarbeit war nun mal nichts Sinnliches oder gar Erotisches. Und sinnlich und erotisch wollte Lennard mit Elvira werden – wenn sie sich denn wiedersahen …
Entschlossen schlug er die Bettdecke zurück und ging hinüber in sein kleines Wohnzimmer. Er musste schreiben. Klappte den Laptop auf, schaltete ihn ein, wartete, bis das Betriebssystem hochgefahren war, legte eine neue Datei mit dem Namen »Elvira« an – und konnte plötzlich nicht mehr die Hände auf die Tastatur legen.
Die Worte fehlten ihm.
Eine Weile starrte er auf den blinkenden Cursor.
Die Systemuhr in der Ecke zählte unerbittlich die Minuten weiter.
Eine Stunde verging, in der er nur atmete, an Elvira dachte und von einem verwirrt-verliebten Strudel in den nächsten gesaugt wurde. Irgendwann kämpfte sich der Gedanke aus den Fluten, das aufzuschreiben, was er an der Theke so selbstsicher vorgetragen hatte. Doch die Hoffnung, dass sich ihm der Zusammenhang zwischen den rasch hingeworfenen Versatzstücken von selbst erschließen würde, sobald er nur am Laptop saß, hatte ihn wie immer getrogen. Er hatte ja nicht mal einen Titel. Nach Krimi war ihm ehrlich gesagt auch nicht. Und seinen Gefühlen für Elvira Ausdruck zu verleihen, seinen Ideen, Illusionen eine Form zu geben – dazu waren sie noch zu frisch, zu rein. Er konnte doch nicht beschreiben, wie er Elviras Körper erkundete, bevor er selbst – in ihr – aufging …
Ihm stockte der Atem.
Eine Woge der Verzweiflung, ja, ein ganzer Kaventsmann schwappte im Sturm auf dem emotionalen Ozean über ihn hinweg. Die Nacht drohte sich unter der Last der Glaubenssätze, die Lennards Leben in ihren Griff zwangen, zu verfinstern: Niemals würde er seine Anima finden, niemals seinen Traum verwirklichen, als Schriftsteller ein Zeichen zu setzen! Und beschwipst genug, um endlich, wenn auch tieftraurig, zu schlafen, war er auch nicht mehr.
Mit zwei Klicks verband er sich mit dem Internet. Katzenvideos würden Abhilfe schaffen. Oder eine Folge seiner Lieblingsserie »Gornum«, ein englisch untertiteltes Fantasy-Epos aus Malaysia. Er hatte schon mindestens dreimal alle acht Staffeln gesehen und bekam trotzdem nicht genug davon. Doch bevor er auf die Seite des Streaming-Dienstes gelangte, ploppte ein kleineres Fenster unten rechts auf.
Na? Auch hier?
Elviras Worte. Lennard erstarrte.
Im Hintergrund baute sich die Landingpage des StreamingDienstes auf. Ein Ausschnitt der letzten Gornum-Folge, die er sich angeschaut hatte, erschien. Lennard hätte ihn nur anklicken müssen.
Wie geht’s dir?
Ein Chat-Bot, dachte Lennard dumpf. Was dann genau geschah, konnte er später nicht mehr sagen. Vielleicht brachte ihn das überwältigende Gefühl der Nichtigkeit im Gefüge der Welt dazu, den zitternden Mauszeiger auf das Fenster zu schieben und in die Antwortzeile zu klicken, um nicht von der plötzlichen inneren Leere zerrissen zu werden.
Geht so.
Brauchst du Hilfe?
Nein.
Warum hast du dann geantwortet? :-)
Der Smiley ließ das KI-Progrämmchen etwas sympathischer erscheinen.
Weil
Das Wörtchen blinkte eine ganze Weile in der Antwortzeile, ohne dass Lennard es abschickte.
Fehlen dir die Worte?
Spottete der Bot etwa über ihn?
Plötzlich wurde Lennard von einem weiteren Sog erfasst, der sich nicht mit der Nacht, Elvira, seiner Verwirrung oder seinem Schwips erklären ließ. Das alles war doch genauso unbegreiflichsurreal wie die Begegnung mit Elvira … in die er einfach hineingestürzt war.
Zufällig ist das der Fall. Kennst du ein Mittel dagegen?
Wer weiß ;-) Wo hakt es
denn?
Mal sehen, ob das Programm damit was anfangen kann, dachte Lennard und tippte:
Ich bin Autor und hänge in einem Plotloch fest.
Hast du es schon mal mit einem Exposé probiert?
Die Antwort ließ Lennard erneut innehalten. Gut programmiert, dachte er, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie man überhaupt etwas programmierte.
Was soll das bringen?
Nun. Du bist Autor und weißt ja, was ein Exposé ist. Dann wirst du mir auch zustimmen, wenn ich dir bestätige, dass ein Exposé einer Story Struktur verleiht. Verlage stehen auf so was.
Das stimmte. Verlage standen auf so was.
Es war ein wenig merkwürdig, von einem virtuellen, körperlosen Ding so detailliert belehrt zu werden. Lennard kannte die Gefahren des Internets. Er wusste, dass er bei seinen virtuellen Touren rund um die Welt jede Menge persönliche Spuren hinterlassen hatte, die nun von diesem Bot gezielt ausgelesen und offensichtlich verarbeitet wurden … Andererseits juckte es ihn in den Fingern, eine konkrete Frage zu stellen, denn er war nicht anders als seine schreibenden Kollegen. Er wollte vom Schreiben leben und jetzt erst recht, seit er Elvira angeflunkert hatte. Wie irrwitzig war demnach seine Vermutung, dass dieser Bot nicht nur gut programmiert war, sondern ihm tatsächlich Informationen zu Verlagen geben konnte, die andere nicht hatten? Rasch schrieb er:
Du weißt, wie man bei Autoren die richtigen Knöpfe drückt.
Als Antwort schickte der Bot das GIF einer teuflisch lachenden Katze.
Von einer weiteren Welle aus Mut, Verzweiflung und Neugier erfasst, tippte Lennard:
Also gut. Hast du einen Namen? Was kannst du mir bieten?
Ich heiße Vicky und ich bin zufällig ein Literatur-Bot. Wenn du möchtest, kann ich dir die richtigen Tipps geben, wie du dein Manuskript bei einem Verlag platzierst.
Was kostet das?
Ich bin ein Open-Source- Bot. Ich bin nicht käuflich. Jeder darf mich für seine Zwecke verwenden. In meiner Lizenz– Information kannst du dich über Spendenmöglichkeiten informieren. Meine Programmierer würden sich freuen, wenn du ihnen eine Tasse Kaffee zukommen lässt.
Lennard schmunzelte und klickte in die Menüleiste des kleinen Fensters. Tatsächlich. Da war sie, die Lizenz-Information. Mit ein paar Klicks spendete Lennard einigen unbekannten Programmierern irgendwo auf der Welt ein paar Tassen Kaffee und Donuts.
Okay, Vicky, ich glaube, ich habe eine Frage an dich. Es geht um einen Plot, der mir heute Abend eingefallen ist und den ich irgendwie nicht zusammenbringe.
Schieß los! :-)
Vickys lächelnder Smiley beflügelte Lennard. Er begann zu schreiben.
Rota Styft
Deutschland, 2019.
Die Krise kommt näher. Und näher.
Eine Krise kann nicht näherkommen, nur präsenter, greifbarer werden, rügte Rota Styft sich für ihren unüberlegten Gedanken. Außerdem war keine Zeit für emotionale Schwäche. Nein, auch nicht in den stillen fünf Minuten, die sie sich nahm, nehmen musste, um die nächsten Aufgaben in eine logische Reihenfolge zu bringen, bevor …
Ihre Hand blieb über dem Festnetztelefon hängen. Das war doch alles dummes Zeug. Womit wollte Lothar die Reduzierungen des Etats vor dem Gremium begründen? Dass die Finanzen knapp waren, sich niemand mehr für das geschriebene Wort interessierte, nur noch Massenware auf den Markt geworfen wurde und – was Rota persönlich noch viel schlimmer fand – dadurch die Verdummung sowieso nicht mehr aufzuhalten war?
Erschöpft ließ Rota ihre Hand unter dem Tisch auf den Kopf des weißen Bürokaters sinken. Bereitwillig reckte das schöne Tier ihr die Stirn entgegen. Sein warmes Schnurren durchdrang wohltuend die Stille, die nach Meinung der Obersten Lektorin nur aus Büchern bestehen sollte. Leider gehörten auch Zahlen und unerquickliche Gespräche mit Lothar, dem Chef-Controller, zu ihrem Alltag. Und der Kater, der nun mit einem eleganten Satz auf Rotas Schoß sprang.
»Weiße Katzenhaare auf schwarzem Fischgrätenstoff«, murmelte Rota und fuhr durch das gepflegte Fell, das sich heute ein bisschen stumpf anfühlte. »So könnte der nächste Popliteraturtitel heißen. Aber Lothar ist das zu anspruchsvoll, stell dir das mal vor, Gerd. Er will Verkaufsgarantien. Als ob echte Kunst jemals für Garantien gestanden hätte! Lothar ist eben ein wenig dumm, nicht wahr?«
Gerd Fröbe, der Kater, schaute mit seinen wässrig-blauen Katzenaugen zu ihr auf, die rosa Zungenspitze zwischen den flachen Lippen. Der Blick erinnerte Rota an ihre Tante Lydia, die sie stets dazu ermahnt hatte, mit dem Geldbeutel zu denken. »Nun. Lothar ist vielleicht auch nur ein armer, kurzsichtiger Zahlenmensch, der in jedem Ding einen Geldbetrag sehen muss, um glücklich zu sein.« Noch einmal strich sie über den schmalen Katerrücken, dann setzte sie das Tier wieder auf den Boden. Immerhin gab Lothar sich Mühe und versuchte wenigstens, kreativ zu sein. Was dazu geführt hatte, dass der Zahlenmensch Lothar mit einer Schwäche für Filmkunst – oder mit der plumpen Begeisterung für Ian Flemings Werk – den Bürokater Gerd Fröbe (und zum Glück nicht Goldfinger!) getauft hatte.
Rasch pickte Rota ein paar weiße Katzenhaare von ihrer Kostümhose. Dann öffnete sie Lothars letzte E-Mail und druckte den Anhang aus; dreißig Seiten Tabellen, von denen sie genau zehn Zeilen interessierten. Rota war nun mal ein Papiermensch, ein Dinosaurier, wie Lothar sie nannte. Die ganze Branche bestand aus Dinosauriern, denen die Existenz digitaler Lesemedien immer noch unangenehm war und für die Ziffern nur in Zeilennummern und Seitenzahlen existierten. Das mathematische Jonglieren damit überließ man gerne den »Anderen aus der Zahlenwelt«, eben den Zahlenmenschen.
Doch jetzt hatte Lothar, der Zahlenmensch, sie in der Hand: Entweder sie generierten mit dem Kulturverlag endlich zehn Prozent mehr Umsatz oder die Literatursektion wurde ganz unprätentiös an die bildende Kunst angegliedert. Das hätte zur Folge, dass Rota sich den Chefposten mit dieser eingebildeten Xanthippe würde teilen müssen, diese, wie nannte sie sich? Raphaella Dalí. Die ihre Agenten ohne Rücksprache und Genehmigung des Controllings um die Welt schicken konnte, um wertvolle Kunstwerke vor dem Zerfall zu retten.
Na ja!
Die Falte zwischen Rotas Augenbrauen vertiefte sich. Ein Vermeer war inzwischen wirklich schwerer vor Schaden zu bewahren als die Gutenberg-Bibel unter Glas oder die ägyptischen Schriftrollen im British Museum in London. Doch während Raphaella (die Teuflische, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde) ihre Agenten in zweidimensionale Welten entsandte, in denen sie, mit Farbeimern und Pinseln ausgestattet, Pigmente auf Leinwände zurücktüpfelten und die Teufelchen im Detail in Schach hielten (Dantes Inferno von Hieronymus Bosch war im wahrsten Sinne des Wortes eine bis in alle Ewigkeit verdammte Baustelle), mussten Rotas Agenten komplette Figurenschicksale retten, um die Stabilität der Welt des Wortes aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel war es bei Biografien absolut kein leichtes Unterfangen, der Flut der Sekundärliteratur etwas entgegenzusetzen! Doch wenn jetzt Zusammenlegung und Kürzung der Mittel dräuten …
Endlich hob Rota den Telefonhörer des Festnetztelefons ab und wählte eine Nummer. Die Welt der Kunst war nun mal auf Liquidität gebaut, da half kein Jammern. Und noch etwas anderes war bitter nötig.
»Neue Literatur ist nur mit frischem Blut möglich«, hatte Rota am Ende des unerquicklichen Gesprächs gesagt. »Dafür brauche ich neue Leute. Sonst schleppen mir meine Dinosaurier wieder die alten Schinken an. Und das wollen wir doch beide nicht, oder?«
»Pah«, hatte Lothar halb abschätzig, halb zustimmend gesagt und gleich drei neue Stellen genehmigt. »Du schaffst es doch immer wieder, mir das nicht vorhandene Geld aus der leeren Tasche zu ziehen.«
»So bin ich eben.«
»So bist du eben.«
Dann hatten sie falsch gelacht und Rota war in ihr Büro zurückgekehrt.
»Hallo, hier ist OL Styft. Ich habe eine Genehmigung für drei neue Stellen, die Rekrutierung kann sofort beginnen. – Ja, ich weiß, dass es mitten in der Nacht ist, ich kann die Uhr schon lesen! – Ja. Alle Altersgruppen. Wir müssen so viele Genres wie möglich abdecken. – Natürlich verfüge ich über Ausbildungsmaterial!«
Unwillig tastete Rota nach der ungeliebten PC-Maus und klickte eine E-Mail im Ordner »MS-Fundus« an. Hier landeten alle Texte, mit denen niemand etwas anfangen wollte oder konnte. Wie immer quoll der Ordner förmlich über mit alten, neuen und noch nicht geschriebenen Manuskripten. Eine bestimmte E-Mail hatte Rota schon vor ein paar Tagen markiert.
»Jede Menge Perspektivwechsel und Logikfallen«, bestätigte Rota dem unsichtbaren Zuhörer am anderen Ende der Leitung. »Auf jeden Fall Waffeneinsatz. Bringen Sie mir nur die richtigen Leute. – Ach ja, ich hätte gerne Ihr Glamourgirl, diese Charlene Irgendwas als Tutorin dabei. – Warum? Weil sie ins Setting des Trainingsromans passt.«
Am anderen Ende grummelte es.
»Ich übernehme die volle Verantwortung. – Danke.«
Mit einem tiefen Seufzer legte Rota den Hörer zurück auf das Telefon. Agnes war und blieb eine regeltreue Seele, was für eine Ausbildungsleiterin und Bibliothekarin im Grunde nicht schlecht war. Nun denn, dachte Rota, packen wir es an.
Agnes Geigenbaum-Brettlmacher: Eine besondere Gabe – Effi Clifford Eweka
»Welchen Klassiker hast du dir denn für heute vorgenommen?«
Agnes hörte ihren Mann die Frage stellen und fragte sich, ob er eine ausführliche Antwort erwartete. Um sich anschließend über klassische Bücher lustig zu machen.
»Die Klassiker in dieser Woche neu zu binden war ein Auftrag, der mir besonders gefallen hat.« Sie hatte den Eindruck, dass Ralf ihr zuhörte und fügte hinzu: »Heute sind zum Abschluss ›Udolphos Geheimnisse‹ dran.«
»Wie heißt das Buch?« Ralf lächelte. »Kennt das überhaupt jemand?«
Agnes nahm ihren Teelöffel in die Hand, wie um sich für den Meinungsaustausch zu wappnen. »Ralf Brettlmacher, das Buch ist ein Klassiker. Es gibt Leute, die befassen sich nicht mit Computern, sondern lesen Literatur.«
»Das ist schade, da Computer die Wissensquellen von morgen sind. Es wird soweit kommen, dass Bücher mehr und mehr aus der Mode kommen. Die nächste Generation wird eher mit Computern umgehen, als Bücher zu lesen. Außerdem kenne ich jemanden, der mich schon aufgefordert hat, in meinen Fachbüchern nachzuschauen.«
»Ja, ich habe dich schon gebeten, in deine Lektüre zu schauen. Trotzdem werden Computer nie ein kompletter Ersatz sein. Es gibt zum Glück eine Nachfrage nach Büchern. Ich kenne mich in meinem Beruf aus und du bist wahrlich ein Computer-Genie.«
Ralf öffnete den Mund, um etwas zu erwidern und seine Frau nutzte den Moment, ihm zwei Weintrauben in den Mund zu schieben. »Und du bist heute an der Reihe, die Post zu holen.«
Kauend machte er sich auf den Weg zum Briefkasten im Hausflur. Während Agnes den Tisch abräumte, streifte ihr Blick den Kalender an der Wand gegenüber. Die Markierung stand bei Freitag, den 26. Juni 1998. Nicht mehr lange und ein neues Jahrtausend fing an.
Ralf war der Meinung, dass die Jahrtausendwende eine Veränderung in ihrem Berufsleben bringen würde. Nach Büchern bestand dann keine Nachfrage mehr. Computer würden an die Stelle von Buchhandel und Verlagen treten. Sicher würden sie beide in diesem Punkt nie zu einer Einigung gelangen. Egal, wie oft sie versuchten, sich mit der Meinung des anderen zu arrangieren.
Ralfs Pfeifen von »All that I need« war an der Wohnungstür zu hören.
»Hallo, neues Mitglied von ›Boyzone‹, ist wichtige Post gekommen?« Agnes ging zu ihm und nahm ihre Postsendungen entgegen.
Sie kehrten an den Küchentisch zurück. Ralf legte seinen neuen Katalog ab. »Lycos Europe ist im letzten Jahr gestartet.« Seine Stimme klang erfreut. »Der Sitz ist in Den Haag und der Hauptgeschäftsführer gehört zur Bertelsmann-Familie.
»Und weiter?« Agnes behielt einen Umschlag in der Hand und sah ihn abwartend an.
»Das bedeutet in meinen Augen einen Fortschritt in der Internetentwicklung. Man kann in sieben Ländern ins Internet und das in der jeweiligen Sprache.«
»Ich bin damit zufrieden, in Büchern nachzuschlagen, wenn ich etwas wissen möchte. Und ich glaube, dass es auch in Zukunft Menschen geben wird, die sich nicht nur auf das Internet verlassen.«
»Die leben dann hinter dem Mond! Die Büchereien werden in der Zukunft ihre gedruckten Exponate in die Regale räumen. Die Mitarbeiter können dann für Eintrittsgeld Führungen für Interessierte veranstalten, die Bücher sehen wollen. Schüler und Studenten sowie jeder, der noch kein Internet zu Hause hat, wird schnell auf das Gesuchte treffen. Die Entwicklung wird dahingehen, dass jeder einen Computer besitzt.«
Agnes hatte schon bei Ralfs Frage am Frühstückstisch den Eindruck gehabt, dass wieder einer dieser Dispute im Raum stand. Sie merkte, wie Ärger in ihr aufstieg und versuchte, ruhig zu bleiben. »Das mag sein, ich bleibe trotzdem dabei. Computer werden Bücher niemals ganz ersetzen können. Es gibt dann Leute, die gern einen eigenen Computer haben. Und es gibt die, die niemals auf ihre Bücherregale verzichten werden.«
Ralf lachte und machte einen Schritt auf sie zu, um sie zu umarmen. »Sei nicht sauer mit mir. Ich kann nichts für den Fortschritt.«
Sie wich zur Seite aus. »Du weißt genau, dass du mich ärgerst, wenn du dich über Bücher und die Branche lustig machst. Ich habe meinen Beruf und ich mag ihn sehr!«
»Mehr als mich?«
»Ja, im Moment schon. Wenn ich mich mit Büchern beschäftige, machen die sich nicht über mich lustig.«
»Ich bin brav, ich verspreche es.« Er versuchte noch mal, sie in die Arme zu nehmen. Diesmal lehnte sie kurz ihren Kopf an seine Schulter. Er streichelte über ihr Haar.
»Du armer Schatz, musst du wirklich den ganzen Weg vom zweiten Stock bis zur Werkstatt im Parterre zurücklegen? Soll ich dich auf dem Weg zur Arbeit lieber tragen?«
»Auf jeden Fall!« Agnes schlug mit dem Umschlag aus vergilbtem Papier leicht auf seinen Arm. Dann öffnete sie den DIN-A-5-großen Brief, der auf der Rückseite mit einem roten Siegel verschlossen war. Der Briefkopf zeigte die Illustration von Emilie St. Aubert aus dem Buch, das sie aktuell vorhatte, neu zu binden. »Schatz, sieh mal. Das ist ja ein origineller Brief!«
»Von wem ist er denn? Ist es ein Auftrag oder Werbung?« Ralf sah sich den Brief an. »Kennst du einen oder eine B. Debe von der Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Literatur?«
»Nein, kenne ich nicht.« Agnes nahm den Brief zurück und las.
Sehr geehrte Frau Geigenbaum-Brettlmacher,
sind Bücher, ob im Berufsleben oder als Hobby, Ihre große Leidenschaft? Liegt Ihr Interesse auch bei den Klassikern der Literatur, ob national oder international? Bekannte Bücher wie zum Beispiel »Jane Eyre« von Charlotte Brontë oder auch weniger bekannte Bücher? Ein gutes Beispiel ist das Werk Udolphos Geheimnisse von Ann Radcliffe aus dem Jahr 1794.
Mrs. Radcliffes Werke sind international nicht so bekannt wie z.B. Jane Austens Bücher oder die Buchausgaben der Schwestern Brontë. Sie werden aber ebenso von unserer Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Literatur hoch geschätzt und beschützt. Wir legen unseren Schwerpunkt auf die Werke des späten 18. Jahrhunderts, des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
»Und so weiter und so weiter, mit freundlichen Grüßen B. Debe. Das trifft ja genau die Zeiträume meiner letzten Aufträge in diesem Monat. Den Brief nehme ich mit in die Werkstatt.«
Sie nahm den Briefumschlag und steckte das Schreiben hinein. Anschließend ging sie zum Telefontisch in der Diele und nahm das Branchenbuch für Deutschland. Sie holte zusätzlich noch die Liste für klassische Literatur vom Bücherregal im Wohnzimmer. Ralf hatte seinen Autoschlüssel vom Schlüsselbrett genommen und sah ihr amüsiert zu.
»Jetzt stell dir einmal die Zukunft vor. Du gehst an den Computer und findest alles, was du nachsehen willst. Du brauchst dazu nicht mal das Branchenbuch 97/98, sondern du bist immer auf dem neuesten Stand.«
»Vielen Dank für die Aussicht, aber ich bin zufrieden so. Ich sehe nachher nach, was ich finden kann.«
»Ich bin sicher, wenn ich in der Pause bei web.de nachschaue, werde ich fündig. Ich kann auch gleich mal Lycos Europe aufrufen. Wir werden ja sehen, wer diese Gesellschaft eher findet.«
Ein letztes Mal hielt Agnes ihm den Umschlag hin. »Die Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Literatur – nicht vergessen, mein Lieber. Wenn ich mehr darüber gelesen habe, kann ich bei der Gelegenheit gleich antworten.«
»Indem du einen Brief schreibst? Ich kann heute auch ein Fax schicken, sobald ich wieder zu Hause bin.«
»Danke, ich schreibe lieber einen Brief.«
»Warum nicht gleich Rauchzeichen?«
»Ralf Brettlmacher, du wolltest dich nicht mehr über mich lustig machen. Ich gehe jetzt an die Arbeit.«
»Warte, wir gehen doch immer zusammen.«
Aber Agnes war schon im Hausflur. Am oberen Ende der Treppe holte er sie ein. Gemeinsam gingen sie hinunter zur Werkstatt.
»Dann bis heute um kurz nach 17 Uhr.«
»Wenn du dich von deinen Büchern trennen kannst?«
»Es reicht jetzt wirklich! Fahr in dein Informationszentrum und schwelge in deiner Technik. Aber lass mich jetzt in Ruhe arbeiten.«
Sie schloss die Zwischentür zum hinteren Werkstattbereich auf und ging hinein. »Bis dann.« Sie machte die Tür hinter sich zu. Drinnen lauschte sie noch einen Moment und hörte Ralf dann die Haustür öffnen.
Kurze Zeit später hörte sie ein Auto starten und wegfahren.
Sie wusste, dass sie kurz angebunden gewesen war. Sie hatte jedoch genug von den Späßen über Bücher und ihre Unkenntnis von Computern und der ganzen Technik.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, war ihre Werkstatt genau der richtige Ort.
Sie legte das Branchenbuch und das Buch mit den Listen der Klassiker auf ihren Schreibtisch. Oben auf das Listenbuch platzierte sie den DIN-A-5-Umschlag.
Auf ihrem Arbeitstisch legte sie ihr Material zurecht und spannte den Buchblock in die Buchpresse. Die präzisen Arbeitsabläufe gaben ihr bei der Arbeit ein sicheres Gefühl.
Sie sprach leise vor sich hin. »Es wäre schön, wenn ich auch in meinen Lieblingsbüchern erscheinen könnte. Zum Beispiel, um der Hauptfigur zu helfen. Dir, Emilie, würde ich beistehen und zeigen, wie du dich verteidigen kannst. Auch gegen Männer.« Sie holte mehr Arbeitsmaterialien herbei und fuhr fort: »Vor allem gegen Männer. Die sind oft der Meinung, bei allem im Recht zu sein. Aber das ist ein Irrtum!«
Nach dem Vernähen der schmalen Längsseite verteilte Agnes den Kleber sorgfältig mit dem Pinsel auf dem Buchrücken. Sie machte sich, während er trocknete, eine Tasse Tee und freute sich auf das fertige Buch.
An ihrem Schreibtisch nahm sie den Umschlag zur Hand und schlug im Branchenbuch beim Buchstaben G nach.
Sie war sich zwar sicher, dass sie eine Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Literatur dort nicht so ohne Weiteres finden würde. Trotzdem versuchte sie es auf gut Glück. Gesellschaften waren auf drei zweispaltigen Seiten aufgelistet. Sie fuhr mit dem Zeigefinger suchend die Mitte und das Ende der dritten Seite entlang. Sie fand eine Anzeige am Ende der Seite. Das erste Wort hinter dem Artikel war in altdeutscher Druckschrift geschrieben. Dann schaute sie noch einmal hin und erkannte, dass das Wort in derselben Schriftart geschrieben war wie die anderen Wörter.
Agnes nahm einen Schluck Tee. Ihre Augen waren noch tadellos. So konnte sie sich doch nicht getäuscht haben.
In der Anzeige war der Name der Gesellschaft, jedoch fehlte die Anschrift. Es stand eine Nummer dort, ohne die Bezeichnung Telefon. Sie griff nach einem Stift und ihrem Telefonverzeichnis und wollte die Nummer notieren. Jetzt standen die Ziffern 26698 dort und die Buchstaben BDEBE. Sie schlug das Buch wieder zu und legte es zur Seite. Sie litt doch nicht an Halluzinationen! Erst hatte sie eine andere Schrift gesehen – und dann eine andere Zahlenreihe und keine Buchstaben.
Sie nahm einen tiefen Atemzug und schlug die betreffende Seite noch mal auf. Die Anzeige stand da mit den fünf Ziffern und den fünf Buchstaben. Nachdem sie die Seite ein zweites Mal angeschaut hatte, legte sie das Buch aufgeschlagen auf den Schreibtisch und blätterte im Listenbuch der Klassiker. Viele ihr bekannte Namen erschienen bei den Werken in der deutschen und der englischsprachigen Literatur. Bei dem Namen Ann Radcliffe (1764 – 1823) las sie den Titel ihres Romans »Udolphos Geheimnisse«. Neben dem Klappentext mit der kurzen Inhaltsbeschreibung war die im Buch verwendete Illustration von Emilie. Sie trug ein Kleid nach der Mode des französischen Landadels im späten 16. Jahrhundert. Auf ihrem Kopf hatte sie eine Haube, die ihr zu Zöpfen geflochtenes und hochgestecktes Haar bedeckte. Diese ließ nur die vorderen Haarsträhnen frei.
Sie hatte sich den Text vorher noch nicht so genau angesehen. Hatte es schon vorher eine Illustration neben der Beschreibung gegeben?
Sogar die kaum bekannte deutsche Schriftstellerin Louise von Francois (1817 – 1893) wurde aufgeführt. Agnes hatte weder sie noch ihre Romane jemals in einer Auflistung gelesen.
Agnes nahm das Schreiben aus dem Umschlag und las es erneut. Die Bücher, die in dem Schreiben erwähnt wurden, hatte sie mehr als einmal gelesen. Ihre Sympathie galt den Hauptfiguren der Bücher. Vor allem Catherine Morland aus Jane Austens »Northanger Abbey« und Emilie hatten sie nach Beenden der Lektüre noch eine Weile beschäftigt.
Zurück am Arbeitstisch prüfte Agnes, ob der Kleber schon trocken genug war. Sie rundete anschließend den Buchrücken leicht ab und stellte ihn fertig.
»Ich wäre wirklich gern an deiner Seite, Emilie.« Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, nahm einen Briefbogen und beschloss, eine Antwort an die Postfachadresse der Gesellschaft zu schreiben.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und sah zur Seite. Die Zeichnung auf dem Briefkopf sah aus wie vorher. Sie hatte dennoch den Eindruck, dass sich Emilie verändert hatte …
Das konnte alles nicht sein. Die Diskussion am Morgen mit Ralf konnte doch nicht solche Auswirkungen haben. Es war schließlich nicht ihr erster Disput über dieses Thema gewesen und würde sicher nicht ihr letzter sein. Sie hatte sich lediglich kurze Zeit über ihn geärgert und fand es schade, diese Gespräche öfter führen zu müssen. Wenn er Gefallen an Computertechnik, dem Internet und allem, was damit zusammen hing fand, bitte schön, sie hatte daran kein Interesse. Aber damit musste er sie doch nicht ständig aufziehen!
Trotzdem schloss sie die Augen, stützte die Ellbogen auf und legte den Kopf in die Hände … Und ein paar Minuten später war da plötzlich das Gefühl, nicht allein in der Werkstatt zu sein. Aufmerksam hob sie den Kopf. Obwohl jemand dicht bei ihr zu sein schien, hatte sie keine Angst oder fühlte sich unbehaglich.
»Ich sollte den Brief schreiben, bevor ich mich an die Neubindung mache«, sagte Agnes laut zu sich – und zu der Person, die sich auch irgendwo hier aufhielt.
Sehr geehrte/r B. DeBe,
vielen Dank für Ihre Vorstellung der Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Literatur. Sowohl in beruflicher Hinsicht als auch aus privatem Interesse schätze ich die Klassiker des von Ihnen genannten Zeitraums sehr. Ich hoffe, bald mehr von Ihrer Arbeit zum Erhalt und Schutz der Literatur zu erfahren.
Hochachtungsvoll
Agnes Geigenbaum-Brettlmacher
Sie verschloss den Umschlag, adressierte ihn und klebte eine Briefmarke drauf. Gleich nach Feierabend würde sie ihn in den Briefkasten werfen.
Es klopfte. Agnes schaute auf ihre Armbanduhr. Es war Zeit, die Ladentür aufzuschließen.
Um 17 Uhr schloss Agnes die Werkstatt wieder ab, ging zum Briefkasten Ecke Savignyplatz und dann zurück nach Hause. Ralf war schon seit einer Stunde da und hatte den Tisch gedeckt. Ein schöner Blumenstrauß stand in der Mitte.
»Hallo, mein Schatz.« Sein Lächeln war jungenhaft und etwas schuldbewusst. Sein Auftreten war nun anders als am Morgen.
»Na, was hast du im Internet gefunden?«, fragte Agnes angriffslustig.
»Also … nicht viel. Besser gesagt, gar nichts.«
»Gar nichts? Ich denke, das Internet ist Büchern so überlegen.«
»Ich meine, im Moment ist es das noch nicht …«
»Also, ich habe im Branchenbuch was gefunden und einen Brief geschrieben und bin ganz ohne Rauchzeichen ausgekommen.«
»Frieden, mein Schatz. Du hast gewonnen. Diese Runde geht an dich und das Branchenbuch.«
»Jawohl.« Agnes ließ sich von Ralf in den Arm nehmen. »Diese Runde geht an mich und ein Buch.«
Als Agnes nach dem Abendessen einmal mehr im Branchenbuch nachsah und im Listenbuch blätterte, konnte sie die Anzeige der Gesellschaft zur Erhaltung der Literatur nicht mehr finden. Ebenso war in der Auflistung neben dem Titel »Udolphos Geheimnisse« keine Illustration mehr. Sie schaute mehrmals, aber es änderte sich nichts. Sie hatte aber das Schreiben mit Emilies Bild – und sie war sich sicher, einen Brief an die Gesellschaft geschrieben und abgeschickt zu haben … Ralf war mit seinem Katalog für Fachbücher über Webseiten beschäftigt und bemerkte nichts von ihrer Verwunderung.
*
Rota zog Agnes‘ Personalmappe aus der Schublade mit den Agentenheftern und blätterte sie auf. Das Empfehlungsschreiben der BDB auf dem Endlospapier war schon etwas verblasst. Damals hatte noch die gute alte Höferin die Einstellungsformalitäten mit den Rekruten abgewickelt. Inzwischen konnten die Neulinge froh sein, wenn jemand ihnen zur Begrüßung die Hand schüttelte und ihnen etwas zu trinken anbot, bevor sie umgehend in den Lesesaal gebracht und von einem virtuellen Ausbilder an der Arbeitsstation eingewiesen wurden.
»Ich schweife ab«, sagte Rota zu sich und Gerd Fröbe, der es sich auf dem Besuchersessel gemütlich gemacht hatte. Zustimmend schlug der Kater mit dem Schwanz.
BDB ÖFFENTLICHES DOKUMENT
[Dokument ANFANG]
Nennen Sie mich Bedebe. Budaba ist ebenfalls akzeptabel, auch wenn es auf Zulu so viel bedeutet wie »Materie«. Gleichzeitig heißt es aber auch »herunterladen« auf Yoruba. Das trifft schon eher zu. Außerdem will ich nicht kleinlich sein. Man hat mir im Lauf der Zeit so viele unpassende Namen gegeben, da kommt es auf einen mehr oder weniger auch nicht an. A rose by another name would smell as sweet, richtig? So lange Sie mich nicht Bodaba nennen, werden wir perfekt miteinander auskommen. Wie ich zum Kulturdezernat gekommen bin, wollen Sie wissen? Warum fragen Sie mich nach etwas, das Sie jederzeit in den Annalen des Kulturdezernats nachlesen können? Da steht das alles schwarz auf weiß.
Ach so, Small Talk. Ich bin nicht gut in Small Talk. Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten wollen, werden Sie sich daran gewöhnen müssen. Ich plaudere nicht, sondern liefere Fakten. Zu Ihrem eigenen Besten übrigens. Ich bin nämlich diejenige, die Ihnen aus dem Dschungel einer Geschichte heraushelfen wird, wenn Sie sich in irgendwelchen Nebenhandlungen oder Zeitsprüngen verlaufen. Ich bin die, die Sie vorzeitig vor Fallen warnt und die verrät, welchen Figuren Sie nicht vertrauen dürfen.
Nein, ich werde Ihnen jetzt nicht im Detail erklären, wie das funktioniert. Wenn Sie sich über meine Funktionsweise und meine Einsatzmöglichkeiten informieren wollen, lesen Sie das Manual. Was heißt hier zu dick und »keine Lust, mich da durchzukämpfen«? Erst mal: Das sind bloß 3648 Seiten. Und zum anderen: Was glauben Sie, wie sich die Agenten auf ihre Einsätze vorbereiten? Wie sie die Plotlöcher finden, um in die Handlung hineinzuschlüpfen? Natürlich durch Lesen. Wenn Sie erst mal fest für das Kulturdezernat arbeiten, wird Lesen eine Ihrer Hauptaufgaben sein.
Natürlich hätten Sie das früher genauso gemusst. In meiner Anfangszeit war ich nichts als ein Haufen Karteikästen und eine mit Lochkarten betriebene Tabelliermaschine. Was meinen Sie, was das für ein Aufwand war! Heute dagegen können sie ganz bequem per Hyperlink zwischen den Stichworten navigieren.
Vor der Tabelliermaschine? Da gab es nur die Karteikästen. Das Ordnungssystem musste man im Kopf haben – und wehe, jemand hat eine Karteikarte falsch abgelegt. Genau das war einer der Gründe, weshalb Edith Bashir auf die Idee gekommen ist, mich zu erfinden.
Wie, wer ist Edith Bashir? Haben Sie sich denn überhaupt nicht mit der Geschichte des Kulturdezernats beschäftigt? Man hat Sie gestern erst rekrutiert – gut, das will ich als Entschuldigung gelten lassen. Also ihre Kurzbiografie: Edith Bashir war im 19. Jahrhundert als Agentin des Kulturdezernats tätig. Ihr Haupteinsatzgebiet war die Science Fiction und sie war großartig! Eine unermüdliche Kämpferin gegen Stilblüten und Klischees mit einem klaren Blick auf aktuelle Entwicklungen technischer und gesellschaftlicher Natur.Sie korrespondierte unter anderem mit Ada Lovelace, Henry David Thoreau, Helene Lange und Karl Marx. Muss ich betonen, dass sie außerdem ungemein belesen war? Sie war sogar für den Posten des obersten Lektors im [Dokument ENDE]
Suzie Wong
Rota kam gerade um die Ecke, als Suzie Wong sich vom Regalbrett gleiten ließ. Mit dem Ellbogen stieß sie schnell das Buch, aus dem sie gerade ausgestiegen war, in die Reihe zurück, wissend, dass ihr Besuch in der Abteilung des 18. Jahrhunderts jederzeit in der BDB festgestellt werden konnte. Wie sie Rota einschätzte, würde die Oberste Lektorin Suzies Aufenthalt umgehend überprüfen.
»Sieh an«, sagte Rota erwartungsgemäß und verschränkte die Arme vor der Brust. »Darf man fragen, was dich um diese Zeit in die Niederungen der französischen Literaturgeschichte treibt?«
Demonstrativ strich Suzie sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. »Literarische Recherche.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, einen entsprechenden Auftrag gegengezeichnet zu haben.«
Jeder andere Agent des Kulturdezernats hätte der Styft Rede und Antwort gestanden. Agentin Wong schenkte Rota lediglich ein vielsagendes Lächeln und schwieg.
»Na ja, auch egal. Ich werde nachher in der BDB nachschauen und einen Bericht anfordern.«
Einen Bericht anfordern bedeutete, sich anhand eines Fragebogens und eines frei zu formulierenden Teils mindestens zwanzig Seiten Text abzuringen und von mehreren Büros abzeichnen zu lassen, bevor der Bericht archiviert wurde. Um sicherzustellen, dass er auf dem Postweg nicht verloren ging, trug man ihn am besten persönlich in jedem Büro vorbei und nahm ihn wieder mit; alles unnötiges Gerenne und Geschmeichel, das Suzie Wong Ausschlag vor Langeweile bescheren würde. Das Verfahren war seit der Digitalisierung des »Kulturgutes Buch« überflüssig geworden, wurde aber immer noch als Disziplinarmaßnahme gegen allzu kreative Agentenmissionen eingesetzt.
»Na schön!« Resigniert zuckte Suzie mit den Schultern. »Ich hatte Schmacht auf Histo-Fantasy und bin auf diesen Schinken gestoßen.« Sie zog das Buch aus dem Regal. »Es wurde noch nicht digitalisiert, deshalb bin ich hergekommen. Sonst hätte ich es mir weniger aufwendig auf mein Tablet geladen.«
Langsam nahm Rota ihr das Buch ab und schlug es auf. »Ein fantastischer Verschnitt der drei Musketiere mit Zaubermusketen, die–« Sie starrte auf die Inhaltsangabe. »Die ihre Musketen bei der Contessa hervorragend einzusetzen wissen? Herrje, das wurde bestimmt längst ausgelistet! Warum steht es noch hier? Warum steht es überhaupt in der Abteilung des 18. Jahrhunderts?«
»Weil man sich schon damals erotische Geschichten am Lagerfeuer erzählt hat?«, schlug Suzie unschuldig vor.
»Das ist sicher eine gut gemachte Fälschung. Ich nehme es mit und lasse es prüfen.« Entschlossen klemmte sich Rota das Buch unter den Arm. »Und den Bericht schreibst du trotzdem, kapiert?«
Nachdenklich legte Suzie den Kopf in den Nacken und musterte die Oberste Lektorin von oben bis unten. Nichts weiter. Sie wusste, dass sie Rota damit aus der Fassung bringen konnte.
Doch Rota ging nicht mehr auf das Spielchen ein. Jeder wusste, dass Suzie noch daran zu kauen hatte, dass nicht sie, sondern Rota damals die Stelle der Obersten Lektorin bekommen hatte. Aber auch wenn Rota weniger Dienstjahre hätte vorweisen können, wäre Suzie mit ihrer progressiven Einstellung zur Literatur beim Gremium nicht angekommen. Dinosaurier liebten nun mal die Beständigkeit. Da wurde jeder Komet, der auf Kollisionskurs mit der Erde am Himmel erschien, misstrauisch in Augenschein genommen und erst mal in die Wiedervorlage einsortiert.
»Ich habe gehört, dass du Leute suchst«, sagte Suzie schließlich im stummen Eingeständnis, dass sie heute bei Rota nichts mehr würde in Wallung bringen können. »Die Nachricht kam vor einer halben Stunde oder so durch. Welche Richtung soll‘s denn sein?«
»Alles, möglichst jung.« Energisch strich Rota sich einen Fussel von der Schulter. »Warum fragst du?«
»Weil ich vielleicht jemanden für dich hätte.« Aus einer geheimen Tasche zog Suzie einen Zettel und reichte ihn Rota. »Lia, jung, Buchhandelsauszubildende mit einer großen Portion Romantik. Gerät ständig mit ihrer Lehrherrin in Konflikt.«
»Wer ist das?«, frage Rota interessiert.
»Traute Markwart.« Suzie grinste. »Die gute Traute macht Lia ein wenig das Leben schwer, weil sie doch ganz gern mal vor sich hinträumt. Aber Fantasie hat ja noch niemandem geschadet, besonders nicht in unserem Job.«
Rota ließ sich Zeit beim Lesen. »Das qualifiziert sie noch nicht für eine Stelle bei uns. Was kann sie denn noch außer in den Tag hineinzuträumen?«
»Sie ist wegen Traute gerade in einer Sinnkrise, kann aber sehr stur sein und setzt sich fast immer gegen sie durch«, zählte Suzie auf. »Und sie täte der Diversitätsquote der Literatursektion gut.«
Interessiert schaute Rota vom Zettel auf. »In welcher Weise?«
»Ich sage nur: Sensitivity-Reading. Ihre Eltern stammen aus Asien. Dann wären wir Agenten mit Migrationshintergrund einer mehr in einem Sack voller mehlweißer Europäer.« Gespannt lächelte Suzie Rota an.
»Ich trage den Vornamen meiner estnischen Großmutter«, hielt Rota kühl dagegen.
»Aber auch du bist weiß und hier aufgewachsen. Du stehst immer ein bisschen besser da als ich und meine Freunde.« Suzie wusste, dass sie damit nicht nur bei Rota gewonnen hatte.
Sie fochten rasch einen weiteren Kampf mit Blicken aus, dann gab Rota Suzie den Zettel zurück. »Also gut, rekrutier sie. Am besten hältst du gleich nach einem Partner für sie Ausschau oder noch besser: Sobald sie den Basislehrgang bestanden hat, soll sie sich selbst nach einem Partner umschauen. Vielleicht findet sich ja jemand in einer strategisch günstig gelegenen Uni – jemand, der was mit Sprachen macht.«
»Ich könnte sie auch mit jemandem aus meinem Antiquariat zusammenbringen«, meinte Suzie.
»Nein. Deine Mitarbeiter sind zu alt. Ich suche explizit junge Leute. Wir müssen uns an die Zielgruppe zwischen 19 und 49 halten. Lothar will Umsatz.«
»Wie langweilig«, bestätigte Suzie. »Da kommt ja die Kunst viel zu kurz.«
Der Stich ging daneben, weil Rota mit einer spitzen Bemerkung gerechnet hatte. »Bring mir diese Lia, dann reden wir weiter.« Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich und stöckelte, das vermaledeite Fantasy-Histo-Machwerk unter dem Arm, davon.
Suzie verschränkte die Finger und ließ genüsslich die Gelenke knacken. Ihr würde in der nächsten Zeit garantiert nicht langweilig werden.
Simon Roth: Emile Foucard - Nike Leonhard
»Du studierst Germanistik?«
Simon hasst diese Frage. Nicht nur, weil die Antwort offensichtlich ist. Warum sonst sollte er im Fachbereichscafé sitzen, ein Notizbuch auf dem Tisch, ein mittelhochdeutsches Wörterbuch auf den Knien und eine Ausgabe des Willehalm in der Hand? Ganz besonders hasst er die Frage, weil sie immer mit Betonung auf dem »du« gestellt wird. Als ob einer wie er nur Basketballspieler sein könnte oder allenfalls noch Rapper. Dabei ist er gerade mal einsachtzig groß und nach der angeblich angeborenen musikalischen Begabung haben schon seine Kindergärtnerinnen vergeblich gesucht. Aber er will nicht allzu unhöflich sein. Es kommt selten genug vor, dass sich jemand einfach zu ihm an den Tisch setzt. Noch dazu eine Frau. Also zuckt er mit den Schultern. »Ja.«
»Eine bestimmte Richtung?«
Immerhin fragt sie nicht, ob man damit Geld verdienen kann. »Ich bin noch im Grundstudium.«
Falls sie die Antwort als ruppig empfindet, lässt sie es sich nicht anmerken. Ihr Blick hält Simon fest. Natürlich kann sie nicht in ihm lesen. Kein Mensch kann das. Trotzdem wird ihr Blick Simon unbehaglich. Sie ist älter als er. Sie gehört nicht zum Fachbereich. Was will sie also hier und vor allem von ihm? Ihn anmachen? Es gibt solche Frauen. Seine Klassenkameraden haben manchmal dar-über geredet. Auch darüber, wie geil sie es fänden, mal so eine zu treffen. Eine, die weiß, was sie will. Die scharf ist und das auch sagt.
Simon hofft, dass sie nichts sagt. Er mag den Blick dieser Frau nicht. Es liegt etwas Abschätzendes darin und gleichzeitig ist es wie eine Berührung. Wie eine schmierige Hand, die einem über die Haut fährt. Nur dass der Schmutz nicht auf der Haut bleibt. Am liebsten würde er seine Sachen packen, aufstehen und gehen. Aber das hier ist verdammt noch mal das Fachbereichscafé. Wenn er sich hier vertreiben lässt, wo soll er dann noch hin? Zu hause bleiben wie sein Vater, der nur noch zwischen Büro und Couch pendelt? Immer korrekt gekleidet, mit Anzug und Krawatte. Bloß nicht auffallen. Nicht anecken. Eine Welle aus Zorn und Mitleid steigt in Simon auf.
Er müsse Verständnis haben, sagt seine Mutter manchmal. Es sei eben nicht einfach gewesen für ihn und für Oma. Schon gar nicht, nachdem Opas Regiment abgezogen worden war. Von Oma war nichts geblieben, nur ein Foto. Und Papa. »Das war nicht wie heute. Es galt in den Fünfzigern ja schon als Schande, ein uneheliches Kind allein großzuziehen.«
Simon weiß das alles, aber er hat es satt. Er will kein Verständnis haben. Für das spießige Duckmäusertum seines Vaters genauso wenig wie für die abgefuckten Idioten, die nur die Farbe seiner Haut und die krausen Haare sehen und ihn deshalb in irgendwelche Schubladen stecken. Er hat es so satt. Er will nicht als Bro angesprochen werden, nur weil irgendwer zufällig die gleiche Hautfarbe hat. Er will nicht wegen Dope angelabert werden, wenn er durch den Hauptbahnhof geht. Er hat keinen Bock, von den Bullen kontrolliert zu werden, nur weil er am Main chillt. Er will einfach nur Simon sein. Wie so ein ganz normaler Mensch.
»Magst du das? Mittelalterliche Minnelyrik?« Sie sieht ihn immer noch an.
»Der Willehalm ist keine Minnelyrik, sondern Epik«, antwortet Simon automatisch.
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich handle mit Büchern und bin absolut sicher, dass ich eine schönere Ausgabe als das zerfledderte Ding da habe. Lohnt sich natürlich nur, wenn du mittelhochdeutsche Epik magst.« So, wie sie das sagt, klingt es nach verdorbenem Fisch.