Mord im Wendland - Klaas Kroon - E-Book

Mord im Wendland E-Book

Klaas Kroon

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Zwei Wilderer stoßen im Hausflur eines verlassenen Bauernhofs, tief im Wald bei Gartow, auf zwei Leichen. Geschockt von ihrem Fund fliehen die beiden Männer auf die Landstraße, wo sie von Dorfpolizistin Sabine Langkafel aufgegriffen werden. Wer waren die Toten, die hier vier Jahrzehnte fast unbemerkt lebten? Sabine Langkafel übernimmt die Ermittlungen und gerät tief in die jüngere Geschichte der Region rund um Gorleben. Sie stößt auf Helden und Verlierer und wirbelt viel Staub auf - zu viel?

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Seitenzahl: 482

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Klaas Kroon

Mord im Wendland

Kriminalroman

Zum Buch

Spurensuche Zwei Männer sind im nächtlichen Wald bei Gartow auf illegaler Wolfsjagd, als sie auf einem entlegenen Bauernhof zwei Leichen entdecken. Dorfpolizistin Sabine Langkafel greift die geschockten Wilderer auf der Landstraße auf und ruft die Kripo Lüneburg zu Hilfe. Gemeinsam mit Kriminalkommissarin Melanie Gierke stößt sie im Keller des Bauernhofes auf drei weitere Opfer. Die Identität der Toten ist zunächst nicht festzustellen. Bei der Befragung geben die beiden Männer an, im Wald ein Kind gesehen zu haben. Auch im Haus deutet einiges darauf hin, dass dort ein Kind gelebt hat, doch finden können es die Beamten, trotz großangelegter Suchaktion, nicht. Bei den Ermittlungen stoßen Sabine Langkafel und Melanie Gierke auf die unheimliche Geschichte einer Gruppe Menschen, die in den 1980er Jahren in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv waren. Offenbar hatten sie in den letzten vier Jahrzehnten in totaler Isolation auf dem Bauernhof gelebt. Kommissarin Gierke glaubt immer mehr an die Theorie des erweiterten Selbstmordes verirrter Sektenjünger, doch ist das wirklich die Lösung des Falls?

Klaas Kroon ist das Pseudonym eines 1960 in Düsseldorf geborenen Journalisten und Marketingmanagers. Seit einigen Jahren schreibt er Krimis, die in seiner Wahlheimat, Norddeutschland, spielen. Er leitet eine Agentur für Unternehmenskommunikation in Kassel und lebt in Hamburg. Das Wendland und die Lüneburger Heide bereist er seit Jahren intensiv mit Rennrad und Motorrad.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fietzfotos / Pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6948-0

Kapitel 1

Jetzt war es ganz still. Im Haus rührte sich nichts mehr. Irgendwo im Erdgeschoss brannte noch Licht. Vermutlich in der Küche. Die Tür zur Küche stand offen und die zur Stube auch, und so konnte Sahas den Lichtschein durch ein Fenster von draußen sehen. Es war verboten, Licht brennen zu lassen, wenn niemand im Raum war. Sahas war weggerannt, so schnell wie es in den zu großen Hausschuhen möglich war, und hatte sich in einiger Entfernung hinter einem Baum versteckt. Er trug nur eine Schlafanzughose und ein T-Shirt. Das weiße, mit SpongeBob drauf. Sahas zitterte. Dabei war es gar nicht kalt. Den Tag über war es sogar sehr heiß gewesen und Sahas hatte sich am Mittag in das kleine Planschbecken im Garten gesetzt. Aber das Wasser war schmutzig und warm gewesen und hatte keine Abkühlung gebracht.

Sahas versuchte, sich zu erinnern, was passiert war. Wer hatte was gemacht? Und wann? Er wusste es nicht. Die Ereignisse der letzten Stunden waren aus seinem Kopf verschwunden.

Sollte Sahas wieder hineingehen? Das war keine gute Idee. Dort drinnen war etwas Schreckliches passiert. Er hatte nur keine Ahnung mehr, was.

Aber wo sollte er sonst hin? In die Welt? Hinter dem Wald begann die Welt, und wenn er eines gelernt hatte, dann das: In der Welt war er verloren. Nie wäre es ihm früher in den Sinn gekommen, alleine in die Welt zu gehen. Und er war auch jetzt nicht bereit dafür.

Wohin sollte er also nun laufen? Um ihn herum war der Wald und irgendwo weit dahinten lag ein Feld, das er mal durch die Bäume hindurch gesehen hatte. Das Feld gehörte schon zur Welt und dort wäre er im Mondlicht gut sichtbar. Also in die andere Richtung, tiefer in den Wald. Der Wald war Sahas nicht so fremd wie das Feld. Im Wald war er mit Udgam häufiger gewesen, im Schutz der Bäume hatte er nicht ganz so viel Angst.

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Wald war sehr dicht, abgestorbene Bäume, Wurzeln und Büsche bedeckten den Boden. Sahas ging tiefer hinein, bis kaum noch Licht zu ihm durchdrang und ihn die Dunkelheit umfing wie eine schützende Decke. Er war an Dunkelheit gewöhnt. Es gab nicht immer Licht, dort, wo er lebte. Dunkelheit war Stille, und solange es dunkel war, konnte nicht wirklich etwas Schlimmes passieren.

Der Boden unter seinen Füßen war weich und trocken. Er trat auf Äste, Steine, kleine Grasbüschel. Es gab keinen Weg, er musste vorsichtig gehen, um nicht umzuknicken. Bei jedem Schritt knirschte und knackte es leise. Mehrfach musste er sich durch Haufen abgestorbener Zweige zwängen oder darüberklettern. Es roch nach Sonne, obwohl die schon lange untergegangen war. Sahas ging einfach immer geradeaus. Er stieg über Baumwurzeln. Schließlich setzte er sich auf einen Baumstumpf und lauschte in den Wald. Wenn man selbst ganz ruhig war, konnte die Stille richtig laut werden. Der Wind, der leicht durch die Bäume rauschte. Ein Vogel, der in die Nacht rief. Und es gab viele Geräusche, die Sahas nicht kannte und von denen er nicht wusste, woher sie kamen. Aber er hatte keine Angst vor dem Wald. Er hatte Angst vor der Welt und nun auch vor dem Haus. Er würde im Wald bleiben.

Nach einer Weile fühlte es sich am Hintern feucht und kalt an. Sahas stand auf und sah, dass an dem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, etwas Merkwürdiges wuchs. Es war groß und weiß und bestand aus vielen Blasen. Einige davon waren zerbröselt und auf den Boden gefallen. Er nahm die Brösel auf und roch daran. Ein sehr schwacher, modriger Geruch ging von ihnen aus. Er zog die Schlafanzughose runter und pinkelte auf die Blasen. Das weiße Zeug veränderte sich nicht. Direkt vor seinen Füßen raschelte es. Da, eine Bewegung. Schnell. Eine Maus, die sich davonmachte und im trockenen Laub verschwand. Mäuse kannte Sahas, die machten ihm keine Angst.

Sein Herz schlug nicht mehr so stark wie am Anfang. Nun wurde Sahas müde. Er hatte ja schon geschlafen, als es plötzlich laut geworden war im Haus und alle in den Schutzraum sollten. Er hatte sich in seinem Geheimversteck verkrochen und von dort die Sachen gesehen, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, sosehr er es auch versuchte. Und dann war er weggerannt.

Die Müdigkeit kehrte zurück. Ein Stück neben dem Baumstumpf legte er sich auf den Rücken. Es war weich und warm dort, fast wie in seinem Bett. Er blickte nach oben. Das Ende der Bäume war kaum zu erkennen, und an ihren Spitzen stießen sie so zusammen, dass er nur ahnen konnte, wo der Himmel war. Waren da Sterne? Sahas liebte Sterne und sah sie sich gerne durch das Fenster seines Zimmers an. Er stellte sich dabei vor, wie er durchs Universum schwebte von Stern zu Stern, wie dieser kleine Prinz, von dem Kamini ihm vorgelesen hatte. Er schlief ein.

Es war immer noch dunkel, als er wieder wach wurde. Lange konnte er nicht geschlafen haben. Was hatte ihn geweckt? Ein Geräusch? Durch die Spitzen der Bäume drang schwaches Licht. Der Mond stand nun höher am Himmel. Sahas sah sich im Wald um und konnte etwas mehr erkennen. Baumstämme, Baumstümpfe, dort noch mehr von diesen weißen Blasen.

Er hörte ein Geräusch, vermutlich das gleiche, durch das er zuvor aufgewacht war. Ein Hecheln? Atmete da jemand? Er drehte sich langsam um und entdeckte nicht weit weg, neben dem nächsten Baum: einen Hund. Der Hund war recht groß, weiß und grau, und er war dünn. Er sah Sahas an. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit.

Auf dem Hof hatten sie bis vor einiger Zeit auch Hunde gehabt. Zwei. Die hatte Sahas gut gekannt, aber sie waren weggelaufen. Sie haben sich in die Welt gewagt, hatte Kamini ihm erklärt, und dort seien sie verschlungen worden. Sie schien gar nicht so traurig darüber zu sein wie er. Die Hunde auf dem Hof waren freundlich gewesen, und auch dieser Hund da neben dem Baum wirkte freundlich. So einen Hund hatte er noch nie gesehen. Das Tier nickte mit dem Kopf und schob zögerlich eine Pfote vor, als wolle es auf Sahas zugehen, traue sich aber nicht. »Komm«, rief Sahas leise und lächelte den Hund an. Der rührte sich nicht.

Eine ganze Weile blickten sich Sahas und der Hund an. Niemand bewegte sich auf den anderen zu. Dann hob der Hund ruckartig den Kopf, spitzte die Ohren. Jetzt hörte Sahas es auch: Stimmen, von Männern. Sie näherten sich, langsam, flüsternd. Der Hund warf einen Blick in die Richtung, aus der die Geräusche zu ihnen drangen, und plötzlich zerriss ein schrecklich lauter Knall die Stille. Der Hund lief weg, langsam, lautlos und an den Boden gedrückt. Sahas folgte ihm, ebenfalls leise und gebückt. Der Hund wurde schneller und schneller. Sahas hatte Mühe, hinter ihm zu bleiben.

Kapitel 2

Olaf hatte lange genug auf den Marschbefehl gewartet. Es war schon einige Wochen her, dass der Bauer vom Leineweberhof und noch ein paar andere Kerle auf ihn zugekommen waren und ihm das verlockende Angebot gemacht hatten. Genau im richtigen Moment, denn die Zeiten waren hart. Seit fast zwei Jahren war Olaf nun arbeitslos und bald würde er Hartz IV beantragen müssen. Er würde auch in den kommenden Wochen keinen Job finden. Als Busfahrer ohne Führerschein war das nicht so einfach. Lagerarbeiter ging nicht wegen seines Rückens, Landarbeiter auch nicht. Einräumer im Supermarkt stand noch auf der Liste, doch die hatten ihn nicht genommen, weil er beim Vorstellungsgespräch zu viel intus gehabt hatte. Egal, er war nicht scharf auf so einen Scheißjob, und wenn sich ihm ab und zu Gelegenheiten wie diese bieten würden, war das Leben ja erträglich. 5.000 Euro hatte der Bauer geboten. Da Olaf den Job aber nicht alleine machen konnte, musste er jemanden finden, der ihm half.

Karsten, genannt Kiste, war der Auserwählte. Der hatte gerade mal wieder einen Job, allerdings nur Teilzeit in einem Getränkecenter zum Mindestlohn. Kiste war für solche Sachen zu haben. Und Kiste hatte ein Auto – oder genauer gesagt sein Bruder, der momentan in Lüneburg eine kurze Haftstrafe wegen Kreditkartenbetrugs absaß und den Wagen nicht brauchte. Das Auto war für den Abtransport bestimmt. Die Auftraggeber bestanden nämlich darauf, zu sehen, dass der Job erledigt war. Das war der gefährlichste Teil der Sache.

Egal. Am Nachmittag war der Anruf gekommen und es konnte losgehen. Die Warterei bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte Olaf fast irre gemacht. Er hätte zu gerne seine Aufregung mit einem Kümmel oder zwei heruntergeregelt, doch das verbot sich von selbst. Er musste eine ruhige Hand und ein ungetrübtes Auge haben. Das mit der ruhigen Hand war schwierig. Viele Jahre der Sauferei ließen sich nicht wegdrücken. Er hatte auch lange nicht mehr geschossen. Eigentlich wollte er vor dem Einsatz üben, aber wo hätte er das tun sollen? Im Schützenverein war er seit Langem nicht mehr und für ein ruhiges Plätzchen im Wald hätte er gehen müssen. Mit dem Gewehr über der Schulter. Auf dem Weg von seiner kleinen Bude am Stadtrand von Dannenberg bis in den nächsten Wald war es fast eine Stunde zu Fuß. Unterwegs wäre ihm bestimmt jemand begegnet und hätte doofe Fragen gestellt.

Die alte doppelläufige Schrotflinte seines Vaters lag nun geölt und geladen vor ihm auf dem Wohnzimmertisch. Sie würde ihren Zweck erfüllen.

Die Sonne ging unter. Es klingelte. Olaf öffnete die Tür. Kiste lehnte betont lässig am Türrahmen und sog an einer Zigarette. Er war etwas jünger als Olaf, 48 oder so, aber das sah man ihm nicht an. Die grauen Haare hingen dünn und strähnig auf die Schultern. Rasiert hatte er sich sicher seit zwei Wochen nicht mehr. Kiste trug ein grünes T-Shirt und eine abgeschnittene Jeans, dazu ausgelatschte Sneakers. Wenigstens hatte er sich an Olafs Anweisung gehalten und keine grellen Farben angezogen wie sonst.

»Im Wald wird nicht geraucht«, sagte Olaf streng und Kiste nickte nur.

»Warte hier«, sagte Olaf, der nicht wollte, dass Kiste einen Fuß in seine unordentliche Bude setzte, obwohl es bei ihm zu Hause sicher nicht besser aussah. Er schob das Gewehr in das dunkelgrüne Futteral und zog sich die hellgrüne Weste an, in deren Taschen er ein paar Patronen verstaut hatte. Dann verließen sie das Haus.

Zum Auto mussten sie ein Stück gehen, weil man nicht direkt bis zu Olafs Hütte fahren konnte, die in einer Art Schrebergartensiedlung lag. Sie kamen an der Bushaltestelle vorbei, an der immer die kleinen Jungs aus den Hochhäusern herumlungerten und kifften. Sie musterten Olaf und Kiste interessiert.

»Ey, Almans«, rief der Kleinste von ihnen, »was habt ihr denn vor? Einen umlegen?«

»Halt die Fresse, du Schwuchtel, sonst bist du der eine«, rief Kiste und Olaf boxte ihn in die Rippen.

»Spinnst du? Ich will jetzt keinen Ärger mit den Kanaken.«

»Halt du die Fresse, Alman«, rief ein anderer aus der Gruppe, »sonst komm ich mal rüber.« Sie lachten.

Olaf und Karsten gingen etwas schneller. Bevor die Situation eskalieren konnte, waren sie schon an Karstens Wagen. Kiste schloss den alten Golf auf und Olaf legte das Gewehr auf die Rückbank.

»Hey, nicht dahin«, zischte Kiste, »in den Kofferraum, da sieht das Ding keiner.«

Karsten setzte sich hinters Steuer und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Oh, muss das sein?«, maulte Olaf, dem es bei allen schlechten Angewohnheiten wenigstens gelungen war, mit dem Rauchen aufzuhören. Vor Jahren schon.

»Sind wir hier im Wald, oder was?«, sagte Kiste und lachte. Sie fuhren los. Es war verdammt heiß in dem alten Wagen, eine Klimaanlage gab es natürlich nicht, und das Fenster auf Olafs Seite ließ sich nicht öffnen. Die Kurbel fehlte. Am Rückspiegel baumelte ein grüner Duftbaum, der sicher längst den Gestank der vielen Zigaretten angenommen hatte, die hier geraucht wurden. Der Fußraum auf der Beifahrerseite war vollgemüllt mit McDonald’s-Verpackungen, leeren Zigarettenschachteln und Coladosen. Olaf versuchte, das Radio einzuschalten, doch Kiste sagte nur: »Kaputt.«

Olaf beobachtete Kiste. Der Kerl schien kein bisschen nervös zu sein. Schnallte er nicht, dass sie auf dem Weg waren, eine schwere Straftat zu begehen, auf die viele Jahre Knast stand?

Die beiden Männer kannten sich erst knapp zwei Jahre. Sie hatten sich bei einem Bewerbungstraining des Arbeitsamtes kennengelernt und waren nach dieser komplett sinnlosen Maßnahme in Olafs Stammkneipe versackt. Dort liefen sie sich seitdem immer wieder über den Weg, denn Kiste hatte die Sport-Klause auch zu seiner Stammkneipe erkoren. Waren sie Freunde? Olaf stellte sich diese Frage nicht. Mit Kiste konnte er trinken, lachen und quatschen, den ganzen Mist für ein paar Stunden vergessen. Und er konnte mit ihm so ein Ding drehen und sich einigermaßen darauf verlassen, dass Kiste ihn nicht verpfeifen würde.

»Bist du sicher, dass wir das mit ner Schrotflinte hinkriegen?«, fragte Kiste, als sie auf der Dannenberger Straße Richtung Südosten den Ort verließen.

»Ich denke schon. Hast du was Besseres?«

»Nee. Ich mein ja nur.«

»Du sollst nicht meinen, Kiste, du sollst tun, was ich dir sage. Dafür bekommst du nen Tausender.«

»Und die Arschlöcher tun wirklich bloß 2.000 raus? Ich finde, das ist echt wenig.«

»Ja, ist halt so. Hättest ja nein sagen können, dann hätte ich jemand anders gefragt. Verhandeln ist mit denen nicht.«

»Ja, ja, ist schon gut.«

Olaf hatte kein schlechtes Gewissen, Karsten hinsichtlich des Geldes zu belügen. Er hatte den Job aufgetrieben, er besaß das Gewehr und er würde am Ende schießen. Da war es nur gerecht, dass sein Anteil größer ausfiel. Das hätte Kiste aber nie eingesehen, und deshalb war es besser, die Wahrheit etwas zu bearbeiten.

»Wie ist dieser Bauer überhaupt auf dich gekommen, Olaf?«, fragte Kiste. »Kennste den? Ist doch gar nicht unsere Gegend.«

»Nee. Ich kenne einen von seinen Arbeitern – oder besser Sklaven. Siggi heißt der. Mit dem war ich im Schützenverein. Der ist aber auch ziemlich parterre inzwischen. Der hat mich wohl empfohlen.«

»Und warum macht der Siggi den Job nicht selbst, wenn er so parterre ist?«

»Was weiß ich, Kiste. Weil er zu alt und zu blind dafür ist, weil er Schiss hat. Mir egal.«

Kiste konnte nie lange die Klappe halten. Schon stellte er die nächste blöde Frage. »Und woher weißt du, wo wir suchen müssen? Ich mein, der schlägt ja nicht irgendwo ein Zelt auf und wartet auf uns«, sagte er, während er zu schnell durch eine langgestreckte Kurve auf der Dannenberger Straße Richtung Gorleben fuhr. Der alte Wagen schlingerte beunruhigend. Es war nun fast dunkel.

»Der Bauer hat ihn da gestern Abend rumschleichen sehen, und wenn er heute ein paar Schafe auf seine Weide stellt, dann taucht der Mistkerl wieder auf. Garantiert.«

Karsten schwieg einen Moment und starrte auf die Straße. Er schien nachzudenken. Olaf war sicher, dass er selbst der Intelligentere von ihnen beiden war, doch er vermied es, Kiste das spüren zu lassen.

»Sind ja eigentlich ganz tolle Tiere, oder?«, sagte Kiste versonnen.

»Hä? Alles klar bei dir? Jetzt werd bloß nicht gefühlsduselig. Wir machen das Monster platt. Wir sind nicht im Auftrag von Greenpeace unterwegs.«

»Ja, ja. Keine Sorge. Aber wieso ist der überhaupt alleine? Sind die nicht sonst im Rudel unterwegs?«

»Das ist so ein Einzelgänger. Ein alter Hund. Der macht besonders viel kaputt, wenn er die Gelegenheit dazu hat.«

»Aha, hast du ne Doku gesehen, oder was?«, fragte Kiste und grinste.

»Nee. Hat der Bauer mir erzählt.«

»Und was ist, wenn das Monster auf uns losgeht? Ich mein, wenn der so ein Lonesome Cowboy ist …«

»Mensch, Kiste, kriegste Schiss, oder was?«

»Nee, Quatsch. Wenn der böse Wolf kommt, dann machst du ihn doch mit einem Schuss aus deinem Henry­stutzen sofort platt, oder, Old Shatterhand?«, Kiste lachte sich kaputt über seinen eigenen blöden Witz. Fast hätte er den Abzweig verpasst, den Olaf mit einem Fingerzeig angekündigt hatte.

Nun fuhren sie langsam über eine schmale, asphaltierte Straße tiefer in den Wald hinein. Olaf suchte auf seinem Smartphone nach der Stelle, die der Bauer ihm genannt hatte. Bis auf das unrunde Motorgeräusch des Golfs war es totenstill. Keine Menschen, keine Autos, das Ende der Welt.

»Hier halten wir, Kiste. Fahr da rechts in den kleinen Waldweg rein«, kommandierte Olaf und Kiste gehorchte. Er stellte den Motor ab und sie stiegen aus. Olaf nahm das Gewehr aus dem Kofferraum und zog es aus dem Futteral. Er ließ die Hülle im Auto liegen und knickte den Doppellauf der Flinte ab, um sich zu vergewissern, ob wirklich zwei Schrotpatronen in den Läufen steckten.

Kiste musterte den geparkten Wagen. »Der kann doch so nicht stehen bleiben. Wenn den jemand sieht und sich das Nummernschild notiert, dann …«

»Was willste denn machen? Ne Tiefgarage ist hier nicht, Kiste.«

»Ich versteck den da hinter dem Stapel«, sagte Kiste und sprang ins Fahrzeug. Umständlich kurvte er hinter den verwitterten Holzstapel, den sein Besitzer sicher längst vergessen hatte, und bohrte den Golf regelrecht in das Gebüsch. Die paar Kratzer mehr würden neben den vielen anderen nicht auffallen.

Kiste ging einige Schritte und betrachtete aus der Entfernung sein Versteck. »Genial ist das, Olaf, wie weggezaubert, die Karre.«

»Ja, Kiste, bist Siegfried und Roy in einer Person.«

»Und jetzt?«, fragte Kiste voller Tatendrang.

»Jetzt gehen wir in diese Richtung in den Wald rein. Auf der anderen Seite, ungefähr 800 Meter von hier, ist die Weide von dem Bauern, wo er hoffentlich seine stinkenden Heidschnucken platziert hat. So wie der Wind im Moment steht, wird der Wolf die Schafe wittern, aber nicht uns, weil wir aus der anderen Richtung kommen. Verstehste?«

»800 Meter?«, bellte Kiste. »Wird das ne verfickte Nachtwanderung, oder was?« Kiste wollte sich schon wieder eine Zigarette anzünden, doch ein kritischer Blick von Olaf reichte, um ihn zu stoppen.

»Wir gehen jetzt da rein«, sagte Olaf ernst und deutete auf die dunkelgrüne Wand aus Fichten, die sich vor ihnen aufbaute. »Und wir halten die Fresse, kein Wort. Wir sind auf der Jagd, kapiert?«

Kiste nickte.

Leicht gebückt schlichen sie in den Wald. Olaf hatte das Gewehr so über der Schulter hängen, dass er es sofort in Anschlag bringen konnte.

Es war stockfinster. Kein Mond, keine Sterne. Zwischen den dichten Bäumen hätte Licht auch kaum eine Chance gehabt. Natürlich hatten sie Taschenlampen dabei, aber da hätten sie ja gleich laut herumbrüllen können. Olaf hatte einen Kompass mit Leuchtzeigern in der Hand und folgte stur der eingeschlagenen Richtung. Immer wieder stolperten sie über Wurzeln, traten in tiefe Furchen. Sie mussten um Haufen abgestorbener Äste herumgehen. Äste bohrten sich in ihre Beine. Sie kamen recht langsam voran. Das trockene Laub und die kleinen Zweige unter ihren Füßen machten einen Höllenlärm in dieser totenstillen Umgebung. Olaf hoffte, dass der leichte Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstreifte, ihre Geräusche von den empfindlichen Ohren des Wolfes fernhielt.

Der Wald war sehr dicht. Unordentlich standen die gut 20 Meter hohen Fichten nebeneinander. Es gab keine Lichtungen, keine Flächen für die Holzarbeiter oder Picknickplätze für Wanderer. Unvermittelt legte Olaf Karsten die Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Auch er selbst ließ sich auf den Waldboden sinken. Sie drehten sich in die Richtung, in der Olaf die Weide in ungefähr 200 Metern Entfernung vermutete, und starrten in die Dunkelheit. Olaf bildete sich ein, einen leichten Schafsgeruch wahrzunehmen. Es war offensichtlich, dass sich Kiste zusammenreißen musste, um nicht irgendeinen Quatsch zu reden. Nach einer halben Stunde, in der sich Karsten alle 30 Sekunden anders hingesetzt hatte, hielt er es nicht mehr länger aus.

»Wie lange sollen wir jetzt hier rumhocken?«, flüsterte Kiste.

»Bis er kommt.«

»Der Wolf?«

»Ja, der. Und der Mond.«

Kaum, dass Olaf das gesagt hatte, wurde es über ihren Köpfen hell. Nicht wirklich hell, aber in dieser Dunkelheit wirkte jedes Glühwürmchen wie eine Flutlichtanlage. Nun konnten sie mehr von ihrer Umgebung erkennen. Die Weide, die Heidschnucken oder gar den Wolf sahen sie jedoch nicht.

Eine Viertelstunde später stand Olaf auf und ging langsam in Richtung Weide. Kiste folgte. Irgendwann zeigte er mit dem Finger nach rechts auf etwas zwischen den Bäumen. Zunächst erkannte Olaf nichts, doch dann bemerkte auch er ein schwaches Licht, das zwischen den Stämmen hindurchschimmerte. Irgendwo da hinten musste ein Haus sein. Würde der Wolf hier überhaupt auftauchen, wenn so nah Menschen lebten? Aber der Bauer hatte ihn in der Nähe gesehen, also würde er kommen.

Langsam gingen sie weiter. Kiste platzte fast vor Mitteilungsdrang.

»Hat die ganze Aktion überhaupt noch Sinn?«, maulte er in einer Lautstärke, die nicht mehr als Flüstern durchging.

»Halt den Rand«, zischte Olaf ihn an, »sonst können wir wirklich gleich abhauen.«

Und plötzlich, an einer Stelle, an der die Bäume etwas unregelmäßiger verteilt wuchsen und sich ein kleiner Hügel erhob, stand auf diesem Hügel: der Wolf. Sie sahen ihn von der Seite und er blickte in die Richtung, in der sie kurz zuvor das Licht entdeckt hatten. Olaf brach augenblicklich der Schweiß aus. Nie zuvor war er einem Wolf in freier Wildbahn begegnet. Klar, im Wildpark Schwarze Berge, da gab es auch Wölfe, aber hier im Wald, keine 50 Meter entfernt, das war schon verdammt krass.

Olaf hatte in der Zeitung gelesen, dass es inzwischen wieder viele Wölfe in der Gegend gab. Man sprach von zehn Wolfsrudeln allein im östlichen Niedersachsen. Sie wurden zu einer echten Plage für die Schaf- und Rinderzüchter und erschießen durfte man sie nicht. Bis zu fünf Jahre Gefängnis und 50.000 Euro Strafe drohten beim Abschuss eines Wolfes. Olaf konnte verstehen, dass die Bauern das nicht einsahen. Warum sollte man ihnen verbieten, ihr Eigentum zu schützen? Aber so war das heute. Da haben die Ökos aus der Stadt mehr zu sagen als die Leute, die jeden Tag mit harter Arbeit auf dem Land ihr Geld verdienen müssen. Zum Kotzen.

Olaf hob langsam die Büchse und legte an. Er zitterte. Seit fast 24 Stunden hatte er keinen Tropfen getrunken. Das war er nicht gewohnt. Und aufgeregt war er. Nur einen guten Schuss entfernt von 4.000 Euro Cash. Es musste klappen.

Er spannte den Hahn. Das Klicken dröhnte in seinem rechten Ohr wie eine Bombenexplosion. Nun drehte der Wolf seinen Kopf, schaute in Olafs Richtung und spitzte die Ohren – für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sprang er von dem Hügel und verschwand zwischen den Bäumen.

Scheiße, weg. Keine Chance mehr, ihn zu erwischen. Mit diesem Gedanken zog Olaf den Abzug. Ein fürchterlicher Knall und im grellen Feuerschein der Büchse bemerkte Olaf noch etwas. Etwas Kleines, Helles huschte hinter dem Wolf her. Ein Junges? Ein Welpe? Nein, dafür war es zu groß. War es ein Mensch, ein kleiner Mensch? Oder irrte er sich? Er pinkelte sich fast ein vor Aufregung.

»Kiste, hast du das gesehen?«, zischte er dem Komplizen zu, der zehn Meter entfernt hinter einem Baum kauerte.

»Ja, habe ich. Du hast danebengeschossen, Old Shatterhand.« Er kicherte leise.

»Ach Quatsch, ich meine das Kind. Da war doch ein Kind, oder ein kleiner Erwachsener, irgendwas.« Olaf bemühte sich nicht länger, leise zu sein. Der Wolf war weg.

»Nee, da war nix. Nur der Wolf. Bis er nicht mehr da war.«

»Du bist ja total blind«, schimpfte Olaf und ging vorsichtig zu der Stelle, an der vorher der Wolf gestanden hatte. Er hatte Angst. Wenn da nun wirklich ein Mensch gewesen war und er ihn getroffen hatte? Nicht auszudenken. Dann wäre er geliefert. Er suchte den Waldboden ab. Schließlich auch mit der Taschenlampe, die er in seiner Weste bei sich trug. Er leuchtete in Büsche, in Farne.

»Was machst du?«, fragte Kiste, der ihm gefolgt war. »So verjagst du das Vieh auf jeden Fall.«

Olaf antwortete nicht. Langsam machte er ein paar Schritte in die Richtung, in die der Wolf und die andere Gestalt gelaufen waren, und leuchtete auf den Boden vor seinen Füßen. Er war darauf vorbereitet, jeden Moment auf etwas Schockierendes zu stoßen. Blut. Oder vielleicht sogar einen Menschen. Verletzt. Tot. Warum rennt da mitten in der Nacht einer im Wald rum? Verdammter Mist.

Doch er entdeckte nichts Schockierendes. Olaf und Kiste irrten planlos durch den Wald, dem schmalen Lichtschein von Olafs Taschenlampe folgend. Sie hatten sich verlaufen. Irgendwann standen sie vor dem Haus, dessen Licht sie vermutlich schon zu Beginn ihrer Jagd von Weitem gesehen hatten.

Es war ein einfaches Bauernhaus, wie es sie viele in der Gegend gab. Eineinhalb Stockwerke, ein Dach, das früher sicher mal mit Reet gedeckt war, nun aber mit vermoosten Ziegeln. Es war in schlechtem Zustand, auch das Fachwerk und die Ziegel der Wände des Hauses schienen nicht gepflegt. Von den hölzernen Fensterrahmen blätterte der weiße Lack. Das Haus war mittelgroß, kein fetter Gutshof, aber auch keine Kate. Olaf schätzte sechs Räume im Erdgeschoss und ebenso viele im Dachgeschoss, vielleicht ein Keller.

»Wo willst du hin?«, fragte Kiste, als Olaf langsam an dem Haus vorbei auf den Hof schlich. »Meinst du, der Wolf hat sich da verschanzt und nimmt erst mal ne warme Dusche, oder was?«

Olaf schüttelte genervt den Kopf und ging weiter. Erst jetzt bemerkte er, dass er die ganze Zeit die Büchse fast schussbereit unter dem Arm trug. Eine Patrone steckte noch im Lauf. Der Wolf würde sich sicher nicht auf diesen Hof flüchten. Aber vielleicht der Mensch, den Olaf glaubte, gesehen zu haben.

Mitten auf dem Hof blieb er stehen. Neben dem Hauptgebäude gab es einen kleinen Schuppen, dessen Tor offenstand, es befand sich kein Fahrzeug darin. Gegenüber dem Haupthaus und ein wenig abseits entdeckte er eine etwas größere Scheune. Der Vollmond stand nun so, dass er alles gut erkennen konnte. Die Scheune war in noch schlechterem Zustand als das Haupthaus. In dem zweiflügeligen Holztor fehlten einige Latten. Das Tor hing schief in seinen Angeln. Im Dach klafften große Löcher. Was auch immer in dieser Scheune gelagert wurde, es konnte nicht mehr viel taugen.

Der Hof war bewohnt. Davon zeugten Gartengeräte und verblichene Liegestühle, die an der Hauswand lehnten, eine überquellende Mülltonne und eine leere, eingestaubte Colakiste, die neben der dreistufigen Treppe zum Haupteingang stand. Rechts neben dem Haus meinte Olaf einen Garten zu erkennen, mit Bohnenstangen und Tomatenstauden. Die Haustür war einen Spaltbreit geöffnet. Olaf ging darauf zu. Kiste trippelte hinter ihm her.

»Was hast du vor, Alter?«, raunte er. »Lass uns abhauen. Hier ist der Scheißwolf nicht. Wir kriegen nur Ärger.«

Olaf blieb stehen.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte er und blickte Kiste an.

»Was meinst du? Du machst mir Angst, Mann.« Er kicherte verlegen.

»Die Tür steht offen, mitten in der Nacht. Und drinnen brennt Licht, aber es ist niemand zu sehen«, sagte Olaf.

»Ja. Weil alle schlafen. Die Tür haben sie vergessen. Ist ja auch egal«, sagte Kiste hastig, »hierher verirrt sich sowieso kein Schwein. Ist ja der Arsch der Welt. Guck mal dahinten.« Kiste deutete auf die Zufahrt zum Hof. »Soll das ne Straße sein? Das ist ein verdammter Dschungel. Wer in dieser Bruchbude wohnt, will keinen Besuch. Lass uns abhauen.«

Karsten drehte sich, um in der Richtung zu verschwinden, aus der sie gekommen waren. Doch Olaf ging auf das Haus zu. Er fühlte sich wie magisch angezogen von der offenen Tür. Er sah auf sein Handy. Mitternacht.

Karsten folgte Olaf ganz dicht. »Was willst du da?«, jammerte er.

Olaf stieg die drei Stufen zum Wohnhaus hoch. Es war sicher noch dieselbe Tür wie vor mindestens hundert Jahren, als es gebaut worden war. Der grüne Lack blätterte ab, darunter kam blauer Lack zum Vorschein. Das Schloss war nicht so alt. Es war mit einem vertikalen Sperrriegel im Innern verbunden. Ein guter Einbruchschutz, soweit Olaf das beurteilen konnte. Wieso war die Tür dann nicht abgeschlossen?

Langsam schob er sie auf. Das Gewehr hatte er immer noch unter dem Arm und die ausgeschaltete Taschenlampe in der linken Hand.

Direkt hinter der ausgetretenen hölzernen Türschwelle begann ein schwarz-weiß-karierter Fliesenboden. Einige Fliesen waren zerbrochen. Olaf spähte in den dunklen Hausflur. An der Wand zog sich bis auf Brusthöhe eine schäbige Holzverkleidung hoch, die sich über den gesamten Flur zu erstrecken schien. Schemenhaft erkannte Olaf Möbel, einen Leuchter mit Wachskerzen anstelle von Glühbirnen unter der Decke, ein kleines Tischchen, darauf eine merkwürdige Skulptur mit einem bunten Elefantenkopf und ein Kerzenleuchter mit drei Kerzen. Im hinteren Bereich lag etwas auf dem Boden, von dem Olaf nicht wusste, was es war. Er schaltete die Taschenlampe ein. Dann stockte ihm der Atem.

»Scheiße, Kiste«, sagte Olaf, als er wieder Luft bekam. »Siehst du das? Da liegt einer. Und dahinter noch einer. Und Blut, überall Blut. Oh, Mann.«

Doch Kiste war längst weg. In großen Schritten war der sonst so behäbige Kerl über den Hof getürmt und steuerte den Zufahrtsweg an, den er vorher noch so geringschätzig bewertet hatte.

Olaf konnte seinen Blick nicht von den beiden Menschen wenden, die regungslos im Halbdunkel lagen. Sie waren offensichtlich tot. Fliegen schwirrten umher. Der vordere Tote war ein Mann mit hellem Vollbart und mittellangen blonden Haaren, die an Stroh erinnerten. Er war jünger als Olaf. 40 vielleicht. Er trug nur eine verwaschene Unterhose und ein rotes T-Shirt. Seine weit geöffneten Augen starrten zur Decke, von seinem Hinterkopf hatte sich eine große, inzwischen angetrocknete Blutlache über die Fliesen ergossen. Die Person dahinter lag auf der Seite und von Olaf abgewandt. Er konnte weder erkennen, wie alt sie war, noch ob Mann oder Frau. Intensiv nahm er den metallischen Geruch von Blut wahr. Kurz war Olaf versucht, zu den Körpern zu gehen, sie sich genauer anzusehen.

Doch Kiste rief über den Hof: »Olaf, komm, wir müssen weg hier. Die Bullen rufen. Schnell!«

Olaf zögerte noch einen Moment, lief dann aber hinter Kiste her in den Zufahrtsweg. Er sah auf sein Handy. »Scheiße, kein Empfang, wir können die Bullen nicht rufen«, stöhnte er, während sie den zugewachsenen Weg hinunterrannten, wobei sie sich durch dichte Mückenschwärme kämpften. Das Gewehr baumelte am Trageriemen um Olafs rechte Schulter und schlug ihm schmerzhaft gegen das Knie.

»Ich habe doch gesagt, dass da was nicht stimmt«, sagte Olaf, als sie auf einen schmalen, nicht asphaltierten Waldweg einbogen. Nun rannten sie nicht mehr. Nach Luft schnappend gingen sie, so schnell sie konnten. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Es war wieder stockdunkel. Beide schwitzten aufgrund der körperlichen Anstrengung, aber auch, weil es in dieser Sommernacht sicher noch 24 Grad hatte. Handyempfang hatten sie nach wie vor keinen.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Kiste. »Ich meine, unser Wagen steht irgendwo da hinten.« Er deutete unbestimmt in den Wald.

»Ja, glaub schon, das ist die richtige Richtung. Aber man kommt ja völlig durcheinander hier. Nur Bäume.« Olaf zog den Kompass aus der Tasche und sah ratlos darauf. Natürlich sagte ihm das Gerät nicht, wo sie den Golf geparkt hatten.

»Hast du den Standort des Autos nicht in deinem Handy markiert, auf Google Maps?«, fragte Kiste, der seine Panik nicht verbergen konnte.

»Nein, du Klugscheißer«, rief Olaf, »das wäre doch dein Job als Fahrer, oder?«

Kiste zuckte mit den Schultern. Eine Zeitlang gingen sie schweigend den dunklen Weg entlang durch den Wald. Kiste rauchte seine letzte Zigarette. Ein Handynetz hatten sie immer noch nicht.

»Ey, Olaf, meinst du, der Kerl, der das gemacht hat, ist hier noch irgendwo?«, fragte Kiste.

»Glaube ich nicht«, sagte Olaf. »Der ist weg. Das ist schon ein paar Stunden her.«

»Ach echt? Bist du jetzt ein verfickter Rechtsmediziner, oder was?«, sagte Kiste.

»Mal was anderes, Kiste«, sagte Olaf und bemühte sich, beim Sprechen die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. »Wenn wir die Bullen rufen, was erzählen wir denen denn, warum wir mitten in der Nacht auf diesem Hof waren? Mit einem Gewehr.«

»Äh, ja, wir waren auf der Jagd. Schwarzwild. Das hat Saison, glaube ich.«

Olaf blieb stehen und sah Kiste verwundert an: »Ach, bist du jetzt hier der Oberförster? Dann vergiss aber nicht, dass wir beide weder einen Jagdschein noch eine Besitzkarte für die Wumme haben.«

Sie gingen weiter die Straße entlang. Beide dachten nach. Es schien nun wichtiger, die richtige Geschichte zu finden als das Auto.

»Das Gewehr verstecken wir irgendwo«, sagte Kiste schließlich. »Und wir sagen einfach, dass wir spazieren waren. Schöne lauschige Sommernacht. Weißt schon.«

»Als schwules Pärchen, oder was? Du spinnst doch, Kiste.«

»Nein, wir haben uns verlaufen. Beim Wandern, als es dunkel wurde.«

»Vergiss es. Das glaubt uns niemand. Am besten, wir sehen zu, dass wir den nächsten Ort erreichen und rufen dort von einer Telefonzelle aus anonym die Polizei an.«

In einiger Entfernung kreuzte eine Landstraße. Das erkannten sie daran, dass schon zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren waren. Es war sicher nicht die Straße, an der ihr Golf stand. Aber vielleicht konnten sie von dort ein Stück trampen.

An der Landstraße angekommen, waren sie erneut ratlos. Links oder rechts? Sie entschieden sich für rechts, denn Olaf war sicher, dass es dort nach Gartow ging, einem Kaff, dessen Namen er auf dem Hinweg auf einem Schild gelesen hatte.

»Eine Telefonzelle«, murmelte Kiste vor sich hin, »wo gibt es denn im verfickten Handyzeitalter noch eine Telefonzelle?«

In diesem Moment näherte sich von hinten ein Fahrzeug. Ohne lange nachzudenken, streckte Olaf den Daumen raus. Als das Auto näher kam, erkannte er, dass es die Polizei war. Zu spät. Der Streifenwagen hielt an.

Kapitel 3

Sabine Langkafel war hundemüde. Stunden nach Feierabend war ein Notruf eingegangen, und weil sie die Einzige war, die in der Nähe der Polizeistation Gartow wohnte, musste sie raus. Genau genommen lebte auch ihr Vorgesetzter Jakob Metzger im Ort, sogar in der kleinen Wohnung über der Wache in dem hübschen Rotklinker-Fachwerkhaus, aber Metzger war an einem Freitagabend nach 24 Uhr nicht mehr fahrtüchtig. Eigentlich an keinem Abend der Woche.

Also hatte Sabine sich entgegen den Gepflogenheiten alleine aufgemacht. Ein richtiger Notruf war es sowieso nicht. In Trebel lief offenbar eine Gartenparty aus dem Ruder, und mehrere Nachbarn hatten die 110 gewählt und die Beamten beschimpft, die darauf hingewiesen hatten, dass das für solchen Kleinkram die falsche Nummer sei.

Die zehn Kilometer über die schnurgerade B493 durch den Wald bis Trebel legte Sabine mit dem Streifenwagen um diese Nachtzeit in weniger als zehn Minuten zurück. Als sie in die Straße einbog, die als Herd der Unruhe gemeldet worden war, drang der Partylärm durch das offene Fenster zu ihr. Überall am Straßenrand waren Autos geparkt. Kennzeichen aus der Gegend, aber auch aus Hamburg und Celle.

Vor einem großen, modernen Einfamilienhaus hielt sie an. Eine Handvoll junger Leute stand und saß im Vorgarten, Flaschen und Gläser in den Händen, einige tanzten. Durch die geöffnete Eingangstür und die beleuchteten Fenster sah Sabine noch mehr Menschen. Das Haus war regelrecht vollgestopft mit Partygästen. Und sie vermutete, dass es dahinter im Garten weiterging. Technomusik dröhnte zu ihr herüber, begleitet vom Lachen und Kreischen der Feiernden.

Sabine stieg aus dem Streifenwagen, verschloss ihn, setzte die Dienstmütze auf und ging auf das Gebäude zu. Es war immer noch sehr warm, deshalb trug sie nur Uniformhemd und -hose, keine Jacke. Zwei junge Kerle, 20 vielleicht, bemerkten sie und musterten sie von oben bis unten.

»Du hast dich aber originell verkleidet, Süße«, sagte einer von ihnen. Er war offensichtlich völlig betrunken. »Bist du die Stripperin, die Emil uns versprochen hat?«

»Ganz vorsichtig«, entgegnete Sabine und sah den Burschen böse an. »Sonst können Sie gleich im Wagen Platz nehmen.«

»Ist ja schon gut«, sagte er verschreckt.

»Wo finde ich denn den Veranstalter dieses exklusiven Events?«, fragte sie die beiden.

»Der Emil? Der ist sicher im Garten. Am Pool. Oder so.«

»Emil weiter?«

»Emil Möller«, sagte nun der andere Junge, der nicht ganz so betrunken schien wie sein Freund.

Sabine ging ums Haus und gelangte in einen großen Garten, der von einem offenen Swimmingpool beherrscht wurde. Neben dem Pool standen auf Stativen riesige Boxen. Bunte Scheinwerfer tauchten das Geschehen in eine discoartige Beleuchtung. In einer Feuerschale brannten dicke Holzscheite. Sabine schätzte, dass sich ungefähr 40 Leute im Garten aufhielten. Viele im Pool. Manche in voller Bekleidung, andere in Badesachen, ein Junge und ein Mädchen ganz nackt. Auf der Wiese lagen engumschlungene Paare, auf der Terrasse wurde getanzt. Niemand hier war über 25. Auf den zahlreichen Gartenmöbeln saßen die Menschen, lachten, tranken, rauchten und schliefen. Ein leichter Hauch von Marihuana wehte zu Sabine herüber.

Die meisten der Feiernden nahmen keine Notiz von der Polizistin, die da mitten unter ihnen stand und ganz offensichtlich keine Stripperin war, sondern echt und bewaffnet.

»Suchen Sie mich?«, fragte eine Stimme hinter ihr plötzlich. Sabine drehte sich um. Ein junger Mann lächelte sie herausfordernd an. Er war blond, groß, schlank, gutaussehend. Er trug eine kurze helle Leinenhose, sonst nichts. Sein trainierter Oberkörper war braungebrannt. Falls er so betrunken war wie seine Gäste, konnte er das gut verbergen.

»Wenn Sie Emil Möller sind, dann ja.«

»Haben sich meine Dorfdeppennachbarn wieder beschwert?«, fragte er und nahm einen Schluck aus der Bierflasche, die er lässig in der Hand hielt. Eine junge Frau kam aus dem Dunkel des Gartens. Sie rückte sich ihren kurzen Rock und das knappe Top zurecht und stellte sich dicht neben Emil.

»Man darf doch einmal im Jahr laut sein, oder, Emil?«, lallte sie und hielt sich an seiner Schulter fest. Sie sah Sabine aus glasigen Augen an.

»Nein, meine Liebe«, sagte Sabine betont kräftig. Man hatte ihr in der Ausbildung gesagt, dass sie dazu neige, mit Kleinmädchenstimme zu sprechen, besonders bei Leuten, die ihr sympathisch wären. Das schränke die Autorität ein, hatte es geheißen.

»Das ist ein Gerücht. Sie dürfen Ihre Mitmenschen nicht belästigen. Nie.« Und an Emil gewandt sagte sie: »Ich nehme an, das ist das Haus Ihrer Eltern.«

Emil nickte.

»Und sind die da oder kommen die demnächst?«

»Nee«, sagte Emil und grinste wieder frech, »die sind in Thailand.«

Sabine war einigermaßen verwundert darüber, dass die Party trotz eines Streifenwagens vor der Tür und einer Polizistin im Garten mit unverminderter Heftigkeit weiterging. Hatten diese Rich Kids keinerlei Respekt vor der Polizei? Es lag ihr nicht, den harten Bullen rauszukehren, aber sie durfte sich auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Wie würde es ablaufen, wenn ihr Chef Metzger hier erschiene? Er war fast doppelt so alt wie sie, dick, hatte eine brutale Visage, wenn er wollte, obwohl er eigentlich ein eher weicher Kerl war. Würden diese kleinen Angeber vor Jakob strammstehen?

Hatte Sabines Vater recht, der mal gesagt hatte, dass sie für eine Polizistin viel zu attraktiv sei, da die bösen Buben eine schöne Frau nicht ernst nahmen? Und zu jung für einen solchen Einsatz war sie vermutlich ebenfalls. Sie war ja nur wenige Jahre älter als die Feiernden.

Egal. Sie hatte das Recht auf ihrer Seite, und das musste durchgesetzt werden.

»Okay«, sagte sie und sah Emil, wie sie hoffte, entschlossen an, »wir können das nun auf zwei Arten machen. Entweder Sie schalten sofort die Musik aus und verziehen sich mit Ihren Gästen ins Haus, oder ich rufe ein paar Kollegen hinzu, wir stellen Ihnen den Strom ab und schauen mal, was wir hier sonst noch so finden. Vielleicht reicht es ja für mehr Ärger als nur wegen Ruhestörung.«

»Ups«, rutschte der jungen Frau raus und auch Emil schaute überrascht.

»Okay, okay«, sagte er und wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Wir sind jetzt leise, versprochen.«

Er nahm sein Handy aus der Hosentasche, rief eine App auf und berührte ein Symbol. Augenblicklich wurde es still. Einige Partygäste jammerten, maulten herum. Doch Emil gelang es, sie alle ins Haus zu scheuchen.

»Übrigens«, sagte Sabine, als sie sich von Emil begleitet auf den Weg zu ihrem Streifenwagen machte, »wenn Ihre besonders gut gelaunten Gäste heute noch Auto fahren wollen, sollten sie wissen, dass wir an der nächsten Ecke auf sie warten.«

»Ja, ist klar«, sagte Emil, »ich passe auf. Und Frau …«, er fixierte das Namensschild auf Sabines Uniformhemd, »Langkafel, ich würde mich freuen, wenn Sie zu meiner nächsten Party ganz privat kämen.« Er sah sie mit einem Hundeblick an, mit dem er bei Mädchen seines Alters sicher erfolgreich war.

»Übernimm dich nicht, Kleiner«, sagte Sabine und stieg in den Wagen.

Sie war mit sich zufrieden. Emil hatte verstanden und würde es für diese Nacht gut sein lassen. Die Bürgerkinder waren eben doch nur in gewissen Grenzen rebellisch. Sicher studierte der Junge in Hamburg oder Berlin irgendetwas Bedeutsames und würde es selbst mal zu einem hübschen Häuschen bringen. Bis dahin nutzte er die sturmfreie Bude, um etwas über die Stränge zu schlagen. Das war kein Kapitalverbrechen. Und für ein paar Gramm Gras würde Sabine kein SEK aus Lüneburg anfordern. Das Zeug hatten die doch längst im Klo runtergespült.

Ein halbes Jahr war Sabine nun auf ihrem Posten im Polizeirevier der Samtgemeinde Gartow, hinter dem großen Wald, am östlichen Rand des Landkreises Lüchow-Dannenberg. Sie hatte bei der Polizeidirektion in Lüneburg um die Versetzung in das 4.000-Seelen-Dorf im Wendland gebeten. »Du wirst dich zu Tode langweilen«, hatten die Kollegen sie gewarnt, und ihr Vorgesetzter hatte nach zwei Gläsern Sekt bei ihrer Abschiedsfeier auf sie eingeredet, dass sie ein großes kriminalistisches Talent sei, das er am Arsch der Welt nicht fördern könne.

Aber ihre Entscheidung war gut abgewogen und unumstößlich gewesen. Sie wollte bei ihrem Vater sein, dem einzigen Menschen auf der Welt, den sie nach dem zu frühen Tod ihrer Mutter vor drei Jahren noch hatte. Johannes Langkafel war im letzten Jahr 80 geworden. Sabine war seit frühester Kindheit daran gewöhnt, dass fremde Leute ihn für ihren Großvater hielten. Papa war auch Polizist gewesen. Er hatte in Sabine die Leidenschaft für diesen Beruf geweckt, Sabine wollte nie etwas anderes sein. Schon in der Grundschule, wo sie von zukünftigen Prinzessinnen und Filmstars umgeben war, beharrte sie auf dieser Wahl.

In der ersten Zeit nach Mamas Tod war Sabine alle paar Tage von Lüneburg aus zu Papa gefahren. Je nach Verkehr dauerte die Fahrt eineinhalb Stunden. Aber mit der Zeit wurde Papa immer tüdeliger. Weniger im Kopf, da war er nach wie vor ziemlich fit, eher in seinen Bewegungen. Mehrmals war er gefallen, einmal hatte er danach zwei Stunden im Haus gelegen, bis ihn jemand gefunden hatte. Das wollte Sabine nicht noch mal zulassen. Ein Umzug kam für Vater, der das kleine Häuschen in Gartow zusammen mit Kollegen fast vollständig selbst gebaut hatte, nicht infrage. Mein Vater wird nicht ewig leben, hatte sie zu ihrem Chef in Lüneburg gesagt. Karriere kann ich auch mit 35 oder 40 noch machen.

Sabine steuerte den blau-weißen Polizei-Passat aus Trebel hinaus auf die Bundesstraße Richtung Gartow. Sie war gut drauf. Zu Hause noch ein Bier mit Papa, der war um diese Zeit meistens noch wach. Morgen war Samstag, da hatte sie frei.

Es war nichts los auf der Bundesstraße, allerdings musste man um diese Jahreszeit immer mit Wild rechnen. Wildschweine, Rehe, der Wald war voller Gefahren für den Straßenverkehr. Im Radio lief ein Song von Billie Eilish, Sabine drehte lauter.

Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Da vorne, am Straßenrand, da war etwas. Sabine verringerte das Tempo und stellte das Radio aus. Es konnte passieren, dass eine Rotte Wildschweine erst unentschlossen im Graben kauerte, um genau in dem Moment loszurennen, wenn das Auto kam. Warum auch immer sie das taten, aber es waren eben nur Schweine.

Die beiden dunklen Gestalten, die da im Lichtkegel über den breiten Radweg tippelten, waren jedoch keine Wildschweine. Es waren zwei Männer. Sie trugen T-Shirts und kurze Hosen, der eine außerdem eine Weste mit Taschen. Nun winkte er. Sabine hielt den Wagen an.

Zwei Männer, mitten in der Nacht, weit weg vom nächsten Dorf, bewaffnet. Das hatte in diesem friedlichen Winkel der Welt nicht unbedingt Gefahr zu bedeuten, Vorsicht war trotzdem geboten. Mit einem Griff an den Gürtel versicherte sich Sabine, dass sie ihre Dienstwaffe dabeihatte. Dann fuhr sie das Beifahrerfenster ein Stück herunter.

»’n Abend die Herren«, sagte sie freundlich, »warum so spät in der Wildnis unterwegs? Gibt’s ein Problem?«

Einer der Männer beugte sich zu ihr herunter und sah durchs Fenster. Er war Anfang 50, fast kahlköpfig und glattrasiert. Sie hatte ihn noch nie gesehen, obwohl sie in Gartow und Umgebung fast jeden kannte. Sie war hier aufgewachsen und mit 14 aufs Internat nach Schleswig-Holstein gekommen. Der Fremde lächelte und entblößte ein lückenhaftes Gebiss. »Ja, danke, dass Sie anhalten. Wir haben uns verlaufen.«

»Verlaufen? Hier?«, sie lachte. »Das ist nicht leicht. Waren Sie auf der Jagd? Schwarzwild?«

»Ja, genau«, sagte der Mann, und Sabine wusste, wenn sie ihn nach einer Jagderlaubnis fragen würde, wäre er geliefert. Oder sie, denn noch hatte er die Waffe an der Schulter baumeln.

»Und was kann ich für Sie tun?«, fragte Sabine.

»Vielleicht können Sie uns in den nächsten Ort mitnehmen, das wäre wirklich nett.« Der andere Mann stand dicht hinter seinem Kollegen und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er schien ungewöhnlich nervös.

»Ist die Flinte geladen?«, fragte Sabine.

»Ja, äh«, stammelte der Kerl.

»Dann entladen Sie sie bitte«, sagte Sabine und legte zu ihrer eigenen Beruhigung die Hand auf ihre Pistole. Der Mann knickte den Lauf ab und nahm zwei Schrotpatronen aus den Läufen.

»Eine haben Sie abgefeuert, wie ich sehe«, sagte Sabine. »Und? Getroffen?«

»Nee, war zu schnell, die Sau«, sagte der Typ hinter dem Glatzkopf und kicherte gekünstelt.

»Haben Sie sonst noch Waffen dabei?«, fragte Sabine, ihr Misstrauen wuchs.

»Nein«, sagte der Glatzkopf. »Nur das Gewehr.«

»Kein Messer? Sie gehen ohne Jagdmesser auf Schwarzwild? Das ist nicht besonders waidmännisch.«

Der Mann begann wieder zu stammeln, er überlegte sich offensichtlich eine Lüge.

»Gut«, unterbrach ihn Sabine, und diesmal war sie sich sicher, dass es energisch klang. »Sie nehmen nun das Gewehr von der Schulter und legen es auf den Boden. Dann gehen Sie beide langsam vor mein Auto in den Lichtschein. Ich steige aus und Sie machen besser keine hektischen Bewegungen. Verstanden?«

Der Mann, der immer noch durchs Fenster glotzte, nickte. Er wirkte ängstlich. Der Glatzkopf folgte ihren Anweisungen und stolperte ohne Waffe vor den Streifenwagen. Sein Kollege folgte ihm auf Tuchfühlung. Nun sah Sabine die zwei Gestalten in voller Schönheit. Alte, verschossene Kleidung, blasse, kranke Gesichter. Wilderer, keine Frage. Aber keine Profis. Nicht von der Sorte, die die Beute unter der Hand an Restaurants verscheuerte, sondern arme Idioten, die sich einen Braten schießen wollten. Eher ungefährlich. Trotzdem blieb Wilderei eine Straftat. Sabine musste die beiden mitnehmen. Und zwar sie alleine. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis Kollegen aus der Umgebung hier wären. So lange wollte sie nicht warten.

Sabine stieg langsam aus und zog die Dienstwaffe, richtete sie jedoch nicht auf die Männer. Es reichte, wenn sie sie wahrnahmen.

»Ich werde Sie mitnehmen«, sagte sie, »und das funktioniert so: Ich lege Ihnen Handschellen an, oder besser, Sie legen sich gegenseitig Handschellen an. Dann steigen Sie hinten in den Streifenwagen und ich bringe Sie zur Wache. Dort klären wir, ob Sie Wilderer sind oder Jäger oder was auch immer. Klar so weit?«

Die Gestalten nickten, und Sabine reichte dem Glatzkopf das erste Paar Handschellen. Er legte sie seinem Kumpel an, wobei er sich ziemlich dämlich anstellte. Der Kumpel schien etwas jünger als der Glatzkopf zu sein, wirkte aber nicht weniger versoffen. Wenn diese Ganovengesichter in Gartow leben würden, wären sie Sabine sicher aufgefallen.

Nun gab sie dem Typen mit den langen grauen Haaren Handschellen. Der war damit weitaus geschickter, schien Erfahrung zu haben. Blitzschnell überprüfte Sabine den Sitz beider Handschellen und tastete die Verdächtigen nach weiteren Waffen ab. Die Kerle rochen muffig, ungeduscht, der eine nach Tabak. Sabine fand nur zwei Handys, einen Kompass und eine Taschenlampe.

»Haben Sie irgendwelche Papiere dabei?«, fragte Sabine, während die Männer auf der Rückbank Platz nahmen. Sie kannte die Antwort bereits.

»Nein, vergessen«, sagte der eine, der andere sagte nichts.

Damit war klar, dass sie die beiden über Nacht in ihrer kleinen Arrestzelle behalten würde, bis sie am nächsten Morgen mit Metzger die erkennungsdienstliche Erfassung und die Vernehmung durchführen würde. Tschüss, freier Samstag. Natürlich könnten die Kerle anschließend gehen, sie hatten offenbar nicht mal etwas geschossen. Erbärmlich, wie sie da nun auf der Rückbank saßen. Jede kriminelle Energie war verpufft.

»Dann sagen Sie mir wenigstens, wie Sie heißen.«

»Olaf Hohmann«, sagte der Glatzkopf.

»Karsten Koslowski«, sagte der Langhaarige.

»Woher?«

»Dannenberg.« Sabine war sicher, dass sie die Wahrheit sagten.

Sie startete den Wagen und fuhr langsam an. Im Rückspiegel beobachtete sie die Festgenommenen. Die Männer flüsterten. Der Langhaarige schien fast zu platzen vor Aufregung. Der Glatzkopf rang offenbar mit irgendeiner Entscheidung.

»Frau Wachtmeisterin«, stammelte er schließlich, »wir müssen da eine Aussage machen. Wir haben ein schreckliches Verbrechen entdeckt.«

Sabine schüttelte den Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein.

»Wirklich«, begann nun der Langhaarige, »da hinten, im Wald, da ist so ein entlegener Hof. Da haben wir zwei Leichen gefunden.«

Sabine fuhr rechts ran auf den Grasstreifen und stellte den Motor ab. Sie drehte sich zu den Gestalten um.

»Nur, dass wir uns richtig verstehen: Ich lass mich mitten in der Nacht nicht von zwei Schmalspurganoven wie euch verarschen. Was bezweckt ihr mit einer solchen Geschichte? Wollt ihr Zeit schinden? Wozu? Ich stecke euch in unser komfortables Doppelzimmer, und morgen könnt ihr gehen, wenn wir alles aufgeschrieben haben. Wenn ich gute Laune habe, bekommt ihr sogar noch ein Frühstück. Also?«

»Es stimmt«, sagte der Glatzkopf, er schien der Hellere der beiden zu sein, wenn ihn das auch nicht zu einem Hochbegabten machte. »Wir waren im Wald, wollten was schießen. Okay, das geben wir zu. Und dann haben wir da zufällig diesen Hof entdeckt. Da haben wir reingesehen.«

»Wieso?«, fragte Sabine, sie war gelangweilt von dem Quatsch.

»Es war irgendwie komisch«, sagte Karsten Koslowski, der Langhaarige, »die Tür stand offen, irgendwo brannte Licht.«

»Und was war daran komisch? Sie können doch nicht einfach in ein fremdes Haus gehen«, sagte Sabine.

»Ach, das ist doch jetzt egal«, sagte dieser Olaf ungeduldig, »wir sind auch gar nicht reingegangen. Wir haben nur reingeguckt, und da haben wir im Flur auf dem Boden diese zwei Leichen entdeckt – und ganz viel Blut.«

»Zwei Leichen?«, wiederholte Sabine ungläubig.

»Und ganz viel Blut«, ergänzte Koslowski.

Sabine startete den Wagen und drehte schwungvoll auf der Landstraße. Sie gab Gas. »Okay, Männer. Wir fahren da hin, und ich sehe mir das an. Wenn ihr mich verarscht, bringe ich euch wegen Wilderei und Behinderung von Vollstreckungsorganen für eine lange Zeit hinter Gitter, verlasst euch drauf.«

Natürlich war diese Drohung Bullshit, aber diese beiden verängstigten Vollpfosten glaubten im Moment sicher alles.

Koslowski und Hohmann dirigierten Sabine kurz hinter der Stelle, an der sie sie aufgegabelt hatte, links in den Wald hinein. Sie folgten eine Weile lang einem schmalen, unasphaltierten Weg, dann bogen sie noch mal ab. Vorher stritten sich die Männer noch, ob es schon dort war oder erst ein Stück weiter.

Sie waren richtig. Über eine unebene, überwucherte Zufahrt gelangten sie nach gut 500 Metern auf einen Hof. Sabine fuhr fast täglich in der Gegend herum zwischen Gartow, Prezelle, Trebel und wie die Käffer alle hießen. Dass sich in dieser Ecke ein Hof befand, hatte sie nicht auf dem Schirm gehabt. Der Hof war eher klein.

Wer lebte denn mitten im Wald? Papa würde das jetzt wissen. Aber der saß zu Hause vor dem Fernseher und trank sein Gute-Nacht-Bier alleine.

Sabine stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel. Sie stieg aus und sagte Richtung Rückbank: »Sie bleiben im Auto, und kommen Sie nicht auf dumme Ideen. Ich könnte sauer werden.« Der letzte Satz gefiel ihr, und er schien Eindruck zu machen. Olaf und Karsten kauerten stumm nebeneinander.

Mit gezogener Waffe in der einen Hand und der Taschenlampe in der anderen ging Sabine auf das Haus zu. Sie erwartete nicht wirklich, Leichen zu finden, und dachte darüber nach, wie sie es den beiden Vögeln in ihrem Streifenwagen heimzahlen würde. Sie wollte aber auch nicht die Dumme sein, wenn sich hinter dieser verwitterten Tür, die sie nun langsam aufschob, doch ein Verbrechen abgespielt hatte.

Was sie wenige Sekunden später sah, ließ sie erschaudern. Die Wilderer hatten nicht gelogen. Dort lagen zwei Menschen inmitten von Blut, viel Blut. Sie drehte um und rannte zum Auto.

»Na, wir haben recht gehabt, oder?«, fragte einer der Männer, doch Sabine antwortete nicht. Über Funk machte sie in der Leitstelle Meldung über ihren Fund. Dann näherte sie sich mit vorsichtigen Schritten wieder dem Haus, die Waffe im Anschlag.

Kapitel 4

Sahas war so schnell gelaufen, wie er konnte, nachdem er den fürchterlichen Knall gehört hatte. Das war sicher ein Schuss gewesen. Von einem Gewehr. Udgam hatte auch ein Gewehr, mit dem er manchmal Tiere im Wald schoss. Sahas durfte nicht mit, wenn er das tat. Zu Hause kochte Kala die Tiere dann. Sahas mochte dieses Essen nicht besonders gerne, aber er musste es essen, sonst wurde Udgam böse und sperrte Sahas ein.

Sahas war immer hinter dem Hund hergelaufen. Der Hund war schnell und der Junge konnte ihm in seinen Hausschuhen kaum folgen. Irgendwann hielt der Hund an und legte sich auf den Boden. Sahas tat es ihm nach. Es war nun kälter geworden und Sahas fror. Wie gerne wäre er jetzt in seinem Bett. Der Wald machte Geräusche, ganz leise, ungewohnte Geräusche. Manchmal huschte etwas über das trockene Laub. Irgendein Tier lief einen Baumstamm hoch. Es war alles fremd für Sahas, aber er hatte keine Angst. Sein Name bedeutete Mut, hatte Kamini ihm erklärt. Und darum war er besonders mutig.

Doch Sahas kannte auch Angst. Im dunklen Keller, wenn er mal wieder allein oder mit den anderen eingesperrt war. Er hatte Angst vor Udgams Wut und vor seinen Schlägen. Natürlich fürchtete er sich vor Om, der aber auch ihr aller Beschützer war. Und Sahas hatte Angst vor Fremden. Nie, nie im Leben würde er mit einem Fremden sprechen oder gar mit einem mitgehen, das hatten Kamini und Garima ihm eingeschärft. Er hatte auch Angst vor der Welt hinter dem Wald. Aber hier im Wald hatte er keine Angst.

Der Hund sah ihn an. Und plötzlich kam Sahas der Gedanke, dass dieses graue Tier dort gar kein Hund war. Es war ein Wolf. Kamini hatte ihm Geschichten mit Wölfen vorgelesen und ihm erklärt, dass Wölfe nicht wie Hunde bei Menschen leben, sondern alleine oder mit anderen Wölfen zusammen im Wald. Die Wölfe auf den Bildern zu den Geschichten waren schwarz und groß, und in den Geschichten waren sie böse. Sie fraßen Menschen. In einer Geschichte hatte ein Wolf eine ganze Frau verschluckt, ohne zu kauen. Hinterher, als der Wolf aufgeschnitten wurde, lebte die Frau noch. Sahas hielt das für Blödsinn und Kamini sagte, dass das ja nur eine Geschichte sei und da müsse nicht alles stimmen.

Aber vielleicht stimmte es ja, dass Wölfe Menschen fressen. Jetzt bekam Sahas doch schreckliche Angst. Würde dieser Wolf ihn fressen? Oder waren graue Wölfe nicht so gefährlich wie schwarze?

»Hey, Wolf«, rief er leise, »bist du mein Freund?« Der Wolf spitzte die Ohren und sah Sahas neugierig an. Er stand auf und es machte den Eindruck, als wolle er näher kommen, aber dann legte er sich wieder hin.

»Hab keine Angst, Wolf. Ich bin Sahas, ich bin dein Freund.« Doch der Wolf schien ihn nicht zu verstehen. Er legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Der Wolf ist müde, dachte Sahas, genau wie ich. Der Boden war weich, bald schlief der Junge ein, wobei er noch ein paarmal zuckte. Später, im Schlaf, vielleicht nur im Traum, spürte Sahas etwas Warmes, Weiches neben sich. Und in seiner Hand warme, feuchte Luft.

Sahas erwachte von schrecklichem Lärm. Sirenen, wie er sie aus den Filmen kannte, die Om ihm manchmal mitbrachte, tönten in der Ferne. War das ein Traum? Er hob den Kopf. Nein. Die Geräusche waren echt. Und auch der Wolf, der dicht neben ihm lag, war echt. Der Wolf hatte verstanden, dass Sahas sein Freund war. Auch der Wolf hatte den Kopf angehoben. Nun hörten sie direkt über sich einen fürchterlichen Lärm. Irgendetwas dröhnte am Himmel über den Bäumen. Lichtstreifen, wie von einer riesigen Taschenlampe, leuchteten von oben durch die Bäume auf den Boden. Der Lärm entfernte sich, die Lichtstreifen mit ihm.

Der Wolf sprang auf und lief los. Sahas folgte ihm.

Kapitel 5

Sabine hatte in der Leitstelle in Lüneburg richtig Druck gemacht und die Kollegen hatten verstanden, dass es nicht um Viehdiebstahl ging. Sie würden sich beeilen, aber sicher eine Dreiviertelstunde brauchen. Da Sabine in dieser Einöde keinen Handyempfang hatte, bat sie die Kollegen in der Leitstelle, zu versuchen, Jakob Metzger zu erreichen und auch den Anwärter Attila Yilmaz, der ein paar Wochen in Gartow Dienst schob und für diese Zeit in Gorleben bei einer Bekannten Metzgers ein Zimmer bewohnte. Sabine versprach sich allerdings nicht viel von diesem Hilferuf, denn Metzger lag sicher wie üblich im Koma und würde sein Telefon nicht hören und Attila hatte kein Auto.