Mord in Parma - Dani Scarpa - E-Book
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Mord in Parma E-Book

Dani Scarpa

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Beschreibung

Mord, Kunstfälschung und kulinarische Genüsse - ein spannender Krimi aus Bella Italia! Paolo Ritter, der beste Ermittler des bayerischen LKA, hasst seinen italienischen Vornamen und ist ein grüblerischer Mensch. Beides liegt an seinem episodischen Gedächtnis, das im Job hilfreich, privat aber eine Belastung ist. Als er in München aufgefundene NS-Raubkunst nach Parma überstellen soll, läuft die Übergabe des Correggio nach Plan. Danach sucht Paolo das mittlerweile geschlossene Hotel seines verstorbenen Bruders in Cervia auf. Im Ristorante im Erdgeschoss kocht immer noch die temperamentvolle Lucia, die nicht weiß, dass er der Erbe ist. Doch bevor Paolo entscheiden kann, was mit dem Haus werden soll, wird der Kurator in Parma tot aufgefunden. In Mord in Parma entführt uns Dani Scarpa in die malerische Emilia-Romagna, wo kulinarische Köstlichkeiten, Kunsthandel und Spannung aufeinandertreffen. Ein fesselnder Krimi, der Donna-Leon-Fans und alle Italien-Liebhaber begeistern wird. Tauchen Sie ein in die Welt des hyperthymestischen Syndroms und folgen Sie Commissario Ritter bei seinen Ermittlungen zwischen München, Parma und Cervia.

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dani Scarpa

Mord in Parma

Paolo Ritter ermittelt

 

 

 

Über dieses Buch

Mord und Dolce Vita unter der Sonne der Emilia-Romagna

 

Paolo Ritter hasst seinen italienischen Vornamen und ist überhaupt ein grüblerischer Mensch. Aber auch der beste Ermittler des bayerischen LKA. Beides liegt an seinem episodischen Gedächtnis. Sein Nicht-Vergessen ist im Job hilfreich, privat eine Belastung. Nun soll er in München aufgefundene NS-Raubkunst nach Parma überstellen. Die Übergabe des Correggio an den Kurator der Galleria Nazionale läuft nach Plan, und Paolo kann das mittlerweile geschlossene Hotel seines verstorbenen Bruders in Cervia aufsuchen. Im Ristorante im Erdgeschoss kocht immer noch die temperamentvolle Lucia, die nicht weiß, dass er der Erbe ist. Bevor er entscheiden kann, was mit dem Haus werden soll, wird der Kurator in Parma tot aufgefunden. Anders als die italienische Polizeibehörde zweifelt Paolo, dass es sich wirklich um einen natürlichen Tod handelt.

 

Paolo Ritter – ein deutscher Ermittler in Italien

Vita

Dani Scarpa ist das Pseudonym eines deutschen Erfolgsautors, der früh seine Liebe zu Italien entdeckt hat. Ein Teil von Scarpas Familie lebt heute noch im Land der Zitronen, weshalb er alle Aspekte des deutsch-italienischen Zusammenlebens aus nächster Nähe kennt. «Mord in Parma» ist sein erster Kriminalroman um Paolo Ritter, den deutschen Ermittler, den es – zunächst – widerwillig in die Emilia-Romagna verschlägt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2021 by Dani Scarpa

Redaktion Heiko Arntz

Karte vordere Umschlaginnenseite © Peter Palm, Berlin

Covergestaltung und -abbildung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-644-00555-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Prolog

Parma 8. September 1943

Wäre das laute Ticken nicht gewesen, mit dem die alte Standuhr das Verstreichen jeder einzelnen Sekunde kommentierte – Enzo Molinari hätte schwören können, dass die Zeit stehengeblieben war.

Es war Mittwoch.

Kurz nach zehn Uhr vormittags. Seit einer guten Stunde war kein Schuss mehr gefallen.

Die Verteidiger der Stadt – ohnehin nur ein paar versprengte Einheiten, die in aller Hast zusammengezogen worden waren – hatten den Widerstand aufgegeben. An der Via Caprera, wo sich eine ihrer Stellungen befunden hatte, kündete eine dunkle Rauchsäule vom Ende des Panzerfahrzeugs, das dort postiert worden war. Der Vormarsch der tedeschi war nicht mehr aufzuhalten. Sie waren bereits dabei, die umliegenden Gassen nach Widerstandskämpfern abzusuchen, die sich dort versteckt halten mochten. Der Jähzorn und die Grausamkeit der Deutschen waren berüchtigt.

Enzo murmelte leise Worte. Ob es ein Gebet war oder eine Verwünschung, wusste er selbst nicht. Annas Blick traf ihn. Furcht lag in ihren dunklen Augen, aber auch die Milde, derentwegen er sie liebte, seit so vielen Jahren. Mit beiden Händen hielt sie seine bebende Rechte.

Auch er hatte Angst, nicht weniger als sie, und sie kannten einander zu lange und zu gut, um sich gegenseitig etwas vorzumachen. «Vedrai che funzionerà», raunte er ihr dennoch zu.

Es würde schon klappen.

Sie durften die Hoffnung nicht aufgeben.

Von den Nachbarn hatten die meisten die Stadt verlassen, nachdem klar gewesen war, dass die Deutschen einrücken würden und die eigenen Truppen keinen Schutz darstellten. Aber Enzo konnte nicht fliehen. Er hatte ein Bein verloren, in dem anderen großen Krieg, den sein Land geführt hatte, damals gegen die austriaci. Alt, schwach und verkrüppelt, wie er war, wäre er nicht weit gekommen. Er hatte Anna deshalb angefleht, sich den Venturis anzuschließen, die noch in der Nacht in Richtung Berge aufgebrochen waren, aber sie hatte sich geweigert, den Karren zu besteigen.

Sie wollte bei ihm bleiben, hatte sie gesagt. Das hatten sie sich schließlich einst geschworen, vor Gott und den Menschen. Sie würden beisammenbleiben, bis der Tod sie schied.

Die milde Güte in ihren Augen beruhigte ihn. Ihr Haar mochte grau geworden sein, ihr Gesicht von Falten gezeichnet wie das seine, doch die Zuneigung in ihren Blicken war stets dieselbe geblieben in all den Jahren.

«Andrà tutto bene», flüsterte er ihr zu.

Alles würde gut werden.

Laut zu sprechen wagte er nicht mehr. Die Deutschen waren bereits zu nahe.

In diesem Moment, wie um seine Befürchtungen zu bestätigen, tauchte eine dunkle Gestalt vor dem Fenster auf. Die Vorhänge waren zugezogen, nur ein bedrohlicher Schatten war zu erkennen. Enzo spürte Annas Hände, die sich verkrampften. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Sie waren hier.

Der Mann vor dem Fenster rief etwas in der Sprache, die sich für italienische Ohren so kalt und roh anhörte. Im nächsten Moment flog die Tür der kleinen Parterrewohnung auf, und der deutsche Soldat stand auf der Schwelle. Er sah furchterregend aus in seiner schwarzen Uniform mit den weiten Überfallhosen. Auf den Kragenspiegeln seiner Jacke prangten Totenkopfsymbole. Noch bedrohlicher jedoch war die Maschinenpistole, die er in den Händen hielt und deren hässliche Mündung auf Anna und Enzo zielte.

Hätten sie die Möglichkeit gehabt, wären sie beide entsetzt zurückgewichen, doch sie saßen bereits mit dem Rücken zur Wand der kleinen Wohnkammer, auf der einfachen Holzbank, die Enzo einst selbst gezimmert hatte. Warum musste er gerade jetzt daran denken?

Die grauen Augen des Deutschen taxierten sie. Sein Gesicht war kantig und hart und verriet keine Regung, weshalb es unmöglich war zu sagen, was er dachte. Schließlich rief er etwas, brüllte einen Befehl, den sie nicht verstanden.

Langsam, um ihn nicht noch mehr aufzubringen und womöglich dazu zu veranlassen, den Abzug der Waffe zu drücken, schüttelte Enzo den Kopf und hob die schmalen Schultern.

Der Soldat wiederholte seine Worte. Dazu fuchtelte er mit der Waffe, als wäre er so besser zu verstehen. Sie wussten nicht, was er von ihnen wollte, klammerten sich nur noch fester aneinander.

Dann bemerkte der Deutsche, wie es um Enzos Beine bestellt war. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, und er sagte etwas, das nach einer Frage klang.

Da Enzo sie nicht verstand, wusste er auch nicht, was er erwidern sollte. Doch er hielt den Zeitpunkt für gekommen. Sanft, aber bestimmt löste er seine Hand aus Annas Griff. Dann wies er auf die Rolle, die auf dem kleinen Esstisch vor ihm lag. Sie war etwa armlang und mit einer Schnur zusammengebunden.

«È tutto ciò che abbiamo», sagte er, während er nach der Rolle aus Leinwand griff und sie dem Deutschen reichte. «Ci risparmi per favore.»

Der Soldat behielt den Finger am Abzug. Einen endlos scheinenden, quälenden Augenblick lang stand er unbewegt da, die Waffe weiter auf das alte Paar gerichtet. Dann trat er vor und riss Enzo die Rolle aus der Hand. Wieder schnauzte er eine Frage, aber Enzo konnte nichts anderes tun, als den Blick zu senken. Er nahm Annas Hände. Sie zitterten.

Der Deutsche warf ihnen einen Blick zu, der halb verblüfft, halb argwöhnisch war. Trotzdem sicherte der Eindringling seine Waffe und ließ sie lose am Riemen über der Schulter hängen. Dann zog er die Schnur auf und entrollte die Leinwand.

Nach einigen Sekunden huschte ein Grinsen über seine harten Gesichtszüge.

Rasch rollte er die Leinwand wieder zusammen, verschnürte sie und klemmte sie sich unter den Arm. Ohne ein weiteres Wort machte er auf dem Stiefelabsatz kehrt und wollte wieder hinaus.

«Grazie, signore», rief Anna ihm mit vor Furcht und Aufregung bebender Stimme hinterher.

Jäh blieb er auf der Schwelle stehen, so als wäre ihm etwas eingefallen, das er vergessen hatte.

Langsam wandte er sich um und stellte wiederum eine Frage, ruhiger diesmal und leiser als zuvor.

Enzo und Anna sahen sich fragend an.

Keiner von ihnen wusste, was der Deutsche meinte.

«Regalo, regalo», sagte Enzo nur, um klarzumachen, dass die Rolle ein Geschenk sei und von nun an ihm gehöre.

Der Mann nickte und schien einen Moment zu überlegen.

Dann griff er nach der Waffe an seiner Schulter, zog den Entsicherungshebel, zielte und feuerte.

Kapitel 1

«Hallo?»

Seine Stimme hallte von der Decke des Lagerhauses wider. Sie klang unsicher, beinahe ängstlich.

Am anderen Ende des Raums brannte Licht. Eine nackte Glühbirne hing an einem Kabel herab und verbreitete einen so grellen Schein, dass die Gestalt davor nur als schwarzer Umriss zu erkennen war. Der lange Mantel, den sie trug, verlieh ihr etwas Respektgebietendes.

Er blieb in respektvollem Abstand stehen. Er wusste nicht genug über jenen Mann dort hinten, um ihm zu vertrauen. Eigentlich, sagte er sich, wusste er überhaupt nichts über ihn. Noch über seine Hintermänner.

«Buonasera», kam es zurück. Der Mann war offenbar Italiener. Das verhieß nichts Gutes. Italien und dunkle Machenschaften, das konnte im Grunde nur eines bedeuten. Sein Unbehagen wuchs, aber er verdrängte es geflissentlich. Er war nicht den weiten Weg gegangen, um nun vor dem letzten Schritt zurückzuschrecken.

«Sie wirken überrascht», stellte der andere fest.

«Nein», beeilte er sich zu versichern. «Ich wusste nur nicht, dass …»

«Dass wir Landsmänner sind?» Der Mann lachte. Ein freundliches, onkelhaftes Lachen, das nicht recht zum Anlass dieses Treffens passen wollte. «Sie wissen vieles nicht, und dabei sollten Sie es bewenden lassen, signore …»

«Antonio», entgegnete er unwillkürlich und bereute es sogleich. Wieso tat er das? Es gab keinen Grund, sich der anderen Seite anzubiedern. Es war ein Geschäft, das sie hier zum Abschluss bringen würden, nicht mehr und nicht weniger. Andererseits brauchte er sich nur den Ort und die Uhrzeit dieses Zusammentreffens zu vergegenwärtigen, um daran erinnert zu werden, dass dies alles andere als ein gewöhnliches Geschäft war. Ein Grund mehr, die Transaktion schnell über die Bühne zu bringen.

«Antonio also», sagte der andere und lachte mit leisem Spott. «Genau wie der Meister. Wenn das kein bedeutsamer Zufall ist.»

«Haben Sie … es dabei?», erkundigte sich Antonio, und es ärgerte ihn, wie kraftlos und brüchig seine Stimme dabei klang.

«Natürlich.» Der Mann im Mantel griff hinter sich und hob etwas hoch, das wie ein Aktenkoffer aussah.

Antonio zögerte unschlüssig.

Sollte er den Mantelmann auffordern, den Koffer zu öffnen? Aber was wäre damit gewonnen? Wollte er die Geldscheine hier an Ort und Stelle zählen? Wohl kaum.

Der andere schien seine Gedanken zu erraten, ein weiteres Onkellachen war die Folge. «Seien Sie unbesorgt, Antonio. Sie haben Ihren Teil der Abmachung eingehalten, nun halte ich auch meinen ein.»

Antonio nickte nur, zu mehr war er nicht fähig. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn alles lief wie besprochen, enthielt dieser kleine Koffer mehr Geld, als er je in seinem ganzen Leben zusammengenommen besessen hatte. Schon die Anzahlung war großzügig bemessen gewesen. Es war ein gutes Geschäft, redete er sich ein. Beide Seiten hatten etwas davon. Und niemand, wirklich niemand, kam dabei zu Schaden.

Der Mantelträger bückte sich und legte den Koffer flach auf den Boden. Dann erhob er sich wieder und machte Anstalten zu gehen, als er noch einmal innehielt.

«Eines noch», sagte er. «Ich denke nicht, dass das nötig ist, dennoch möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie mit der Entgegennahme dieses Koffers und seines Inhalts eine lebenslange Schweigeverpflichtung eingehen.»

«Selbstverständlich», versicherte Antonio.

«Solange Sie sich daran halten, haben Sie nichts zu befürchten. Sollten Sie jedoch eines Tages aus irgendwelchen Gründen den inneren Drang verspüren, Ihr Schweigen zu brechen, so könnten wir dies nicht widerspruchslos hinnehmen und wären gezwungen, gewisse Maßnahmen zu ergreifen.»

«Maßnahmen», wiederholte Antonio mit belegter Stimme. Seine Handflächen waren schweißnass.

«Sie verstehen?»

«Natürlich», bestätigte Antonio, und weil er kaum einen Ton hervorbrachte, fügte er ein heftiges Nicken hinzu. Ihm war bewusst, dass er keine allzu gute Figur machte. Aber das war ihm jetzt auch schon egal. Es war ohnehin das erste und einzige Mal, dass er mit diesen Leuten Geschäfte machte.

«Denken Sie an meine Worte», sagte der andere abschließend. Er machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich.

Antonio starrte zu Boden, mit heftig pochendem Herzen und nur mühsam unterdrücktem Zittern. Auf seiner hohen Stirn hatte sich Schweiß gebildet, den er flüchtig wegwischte. Erst als er hörte, wie die rostige Brandschutztür auf der anderen Seite der Halle schwer ins Schloss fiel, und er sicher sein konnte, allein zu sein, setzte er sich in Bewegung.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zu dem Koffer trat. Verstohlen blickte er sich um, dann bückte er sich, öffnete ihn und warf einen Blick hinein.

Die angespannte Furcht, die er eben noch verspürt hatte, schlug in Erleichterung um.

Es war alles in Ordnung.

Da lag es, in schmalen Bündeln, fein säuberlich gestapelt.

Er verschloss den Koffer wieder, schlang seine Arme darum, als wollte er ihn niemals wieder loslassen, und verließ das Lagerhaus mit hastigen Schritten.

Das Geschäft war getätigt, der Handel abgeschlossen. Jeder hatte vom anderen bekommen, was er gewollt hatte, und ganz sicher würde Antonio nie mehr ein Sterbenswort darüber verlieren.

So dachte er.

Er sollte sich irren.

Kapitel 2

«O nein.»

Paolo Ritter war stehen geblieben. Unglücklich blickte er auf seine verdreckten wildledernen Slipper. Obwohl erst früher Vormittag war, schwitzte er bereits, er hatte Durst, und Sand scheuerte zwischen seinen Zehen. Dabei hatte er doch nur eine Abkürzung nehmen wollen.

Wie in jedem Frühjahr hatte akute Renovitis die Stadt befallen. Während andernorts die Bäume ausschlugen, schossen hier in München Dixi-Toiletten wie Pilze aus dem Boden, und man konnte sich kaum noch retten vor all den Löchern, die in den Gehsteigen klafften und so überraschend ausgehoben wurden, als bestünde ihr Daseinszweck allein darin, arglose Fußgänger zu verschlingen.

Paolo ging grundsätzlich zu Fuß zur Arbeit. Weil er keinen Führerschein hatte. Und weil öffentliche Verkehrsmittel nicht nur Tausende von Menschen, sondern auch Milliarden von Bakterien transportierten. Allerdings barg auch der Gang zu Fuß seine Risiken. Abgesehen von besagten Baustellen waren da auch noch die wilden Fahrradfahrer, die einen jederzeit über den Haufen fahren konnten. Beides war nicht ungefährlich, wenn man wie Paolo keine Umwege mochte und lieber auf direktem Weg von A nach B ging. Da konnte es schon mal vorkommen, dass man nur knapp einem Zweirad entkam oder jenseits der Absperrungen in etwas trat, das Treibsand gefährlich nahekam. Und wenn man auch nicht gleich bis zum Hals darin versank – die neuen Lederslipper waren in jedem Fall ruiniert.

«Da san S’ ja sauber neidred’n», kommentierte ein Bauarbeiter in schönstem Oberbayerisch, seinem orientalischen Äußeren zum Trotz. «Dia Schua san hie.»

«Danke für die Auskunft», erwiderte Paolo säuerlich, während er sich bückte und mit einem Papiertaschentuch zu retten versuchte, was noch zu retten war. «Von allein wär’ ich nicht darauf gekommen.»

Der Sand an den Schuhen war eine Sache – der in den Schuhen noch mal was anderes. Vor allem der zwischen den Zehen weckte lebhafte Erinnerungen. Und diese Erinnerungen waren verantwortlich dafür, dass plötzlich ein kleiner Junge neben ihm zu stehen schien, strohblond, sonnengebräunt und in einer knallroten Badehose, was angesichts der Jahreszeit und des kühlen Windes an diesem Morgen besonders unpassend erschien. Doch um Dinge wie Logik oder Vernunft hatten sich seine Erinnerungen und speziell dieser Junge noch nie gekümmert.

Paolo kannte ihn sehr gut, hatte sich an sein plötzliches Auftauchen gewöhnt, so wie andere sich an ihren Heuschnupfen gewöhnten oder an die Warteschlange morgens beim Bäcker. Es war Teil von Paolos ganz besonderer Eigenschaft, die man mit einiger Berechtigung auch seine Gabe nennen konnte. Oder, wie er selbst es gerne ausdrückte, seine ganz persönliche Superkraft.

Die «Spinne» aus den Comics seiner Kindheit mochte in der Lage gewesen sein, Netze zu schleudern und an senkrechten Wänden emporzukraxeln. Er hingegen hatte die Kraft der Erinnerung. Oder die Last, je nachdem, wie man es betrachtete. Aber das war bei Superkräften ja häufig so.

Der Junge in der roten Badehose legte den Kopf schief und schaute ihm bei seiner fruchtlosen Schuhputzaktion zu. «Du magst den Sand noch immer nicht», stellte er fest.

«Natürlich nicht», murrte Paolo. Er erhob sich missmutig und beeilte sich dann, die Baustelle zu verlassen und zurück auf den Bürgersteig zu kommen. Der Junge folgte ihm unbeirrt.

«Weißt du noch?», fragte er. «Du hast immer im Liegestuhl gesessen und gelesen, während ich mich von Kopf bis Fuß im Sand eingebuddelt habe!»

«Natürlich weiß ich das noch.» Paolo schnaubte, während er das verdreckte Taschentuch in einem städtischen Müllbehälter entsorgte. «So lange ist es nun auch wieder nicht her.»

«Achtunddreißig Jahre», rechnete der Knabe ihm vor. «Und du hast dich kaum verändert.»

«Und ob ich das habe.»

«Du hasst die Sonne immer noch.»

«Ich hasse die Sonne nicht», beeilte sich Paolo zu versichern. «Ich kann es nur nicht leiden zu schwitzen. Und ich mag keinen Sonnenbrand.»

«Meinetwegen?», fragte der Junge ihn mit großen Augen.

Paolo blieb eine Antwort schuldig. Er wechselte die Straßenseite und bog in die Maillingerstraße ein. Kurz darauf stand er vor dem nüchternen Bau des Landeskriminalamts.

«Du wolltest immer Polizist sein und die Welt retten», sagte der Junge in der Badehose. «Genau wie dein großer Held, der Fliegenmann.»

«Spinnenmann, wenn schon», verbesserte ihn Paolo, während er sich dem Eingang näherte. «Aber die Spinne war kein Polizist. Und ich bin auch keiner.»

«Was bist du dann?»

«Ein informeller Mitarbeiter, Sachgebiete Fallanalyse und Tathergangsrekonstruktion», erwiderte er in Gedanken, während er seinen Ausweis zückte, um ihn am Eingang vorzuzeigen. Der diensthabende Beamte prüfte ihn mit routiniertem Blick und händigte ihm seinen Besucherpass aus.

«Sie kennen den Weg», sagte er dazu.

Es war nicht klar, ob es eine Frage oder eine Feststellung war, aber Paolo kannte den Weg tatsächlich. Er stieg in den Fahrstuhl und drückte den Knopf zur zweiten Etage, und er war froh, dass der Junge in der Badehose ihm nicht bis hierher gefolgt war. Er hätte ihn nur abgelenkt. Das Gespräch, das vor ihm lag, erforderte seine ganze Aufmerksamkeit.

Noch im Fahrstuhl zog er das Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel aus der Tasche seines Cordsakkos und besprühte seine Hände damit. Allein der Gedanke, wie viele Menschen täglich diesen Aufzug benutzten und die Knöpfe betätigten, ließ ihn erschauern.

Er schüttelte die Hände, um sie zu trocknen. Julia mochte es nicht, wenn er das Desinfektionsmittel benutzte. Sie nannte es, aller Vernunft zum Trotz, sogar einen Spleen. Rasch steckte er das Fläschchen wieder weg, denn heute Morgen war ihm besonders wichtig, dass sie ihn für so normal wie möglich hielt.

Paolo trat aus dem Lift, ging den Flur hinab und blieb kurz vor der nüchternen Amtstür stehen, hinter der sich laut dem Schild an der Wand das Büro von «Wagner, Julia – Kriminaloberkommissarin» befand. Dann klopfte er an, öffnete die Tür und trat ein.

Vertrauter Geruch schlug ihm entgegen, eine Mischung aus Kaffee, warmer Festplatte und einem Hauch Annick Goutal. Julia saß hinter ihrem Schreibtisch und sah umwerfend aus in ihrer schneeweißen Bluse und mit dem streng zurückgekämmten, zum Pferdeschwanz gebundenen Haar. Hätte man Paolo aufgefordert, das Wort zu nennen, das Julia am treffendsten beschrieb, so wäre es «Klasse» gewesen. Sie hatte Klasse. Und diese, zusammen mit einigen anderen Dingen, war es wohl auch gewesen, die ihn dazu bewogen hatte, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen und das zu tun, was er vor zwei Tagen getan hatte, als er ihr die entscheidende Frage gestellt hatte …

«Guten Morgen», grüßte er.

«Guten Morgen.» Sie nickte ihm zu und lächelte. Ein zuvorkommendes Lächeln, aber unverbindlich.

«Du sagtest, es wäre dringend?»

«Allerdings», sagte sie und wies auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Paolo folgte der Aufforderung, wenn auch verhalten. Ihm war inzwischen klargeworden, dass es in diesem Gespräch nicht darum gehen würde, ob sie den Rest ihrer Tage gemeinsam verbringen wollten. Und das wiederum machte ihn unruhig.

Julia zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Aktenmappe, die sie vor ihm auf den Schreibtisch legte.

«Ist dir der Name Correggio ein Begriff?», fragte sie.

«Der neue Italiener in Schwabing?»

Sie reagierte mit einem genervten Augenaufschlag.

«Correggio», schob er deshalb nach, «bürgerlicher Name Antonio Allegri. Berühmter Maler der italienischen Renaissance aus der Gegend um Parma, nach seinem Geburtsort Correggio benannt. Bekannte Werke sind ‹Madonna mit Kind› und ‹Noli me tangere› sowie …»

«Schon gut, das genügt.» Julia winkte ab. «Ich hatte also recht.»

«In welcher Hinsicht?»

«Dass du der geeignete Mann für diesen Auftrag bist.»

Paolo seufzte. Julia verstand es wirklich großartig, Berufliches und Privates zu trennen.

«Da du dich offenbar so gut auskennst, wirst du auch wissen, dass die Zuordnung eines Gemäldes zu Correggios Werk nicht ganz einfach ist», fuhr Julia fort. «In der Vergangenheit sind immer wieder Werke von Schülern aufgetaucht, die ihm fälschlicherweise zugerechnet wurden, was später wieder revidiert werden musste. Beispielsweise die ‹Madonna von Albinea›, von der man heute weiß, dass das tatsächliche Original verschwunden ist und nur noch Kopien davon existieren.»

Paolo kniff die Lippen zusammen. Er wollte nicht ungeduldig erscheinen. Aber er fragte sich, was diese Sache mit ihm zu tun haben sollte.

«Umso verwunderlicher ist es, dass hier in München vor acht Tagen ein Gemälde aufgetaucht ist, von dem Geschichts- und Kunstsachverständige übereinstimmend der Ansicht sind, dass es sich um einen originalen Correggio handelt», kam Julia endlich auf den eigentlichen Punkt zu sprechen.

«Hier in München? Wo?»

«Im Keller eines Hauses in Maxvorstadt. Das Gebäude wurde unlängst an einen italienischen Restaurantbesitzer verkauft, der im Zuge von Umbauarbeiten auf das Bild stieß.»

Paolo hob die Brauen. «Und der wusste sofort, worum es sich handelt?»

«Ein glücklicher Zufall. Der Käufer des Hauses stammt aus Parma, wo Correggio lange gewirkt hat. Offensichtlich rennen in Parma jede Menge verhinderte Correggio-Experten herum. Einem anderen wäre das Gemälde womöglich nicht weiter aufgefallen, aber ihm stach es sofort ins Auge. Also hat er das Bild zu einem Antiquar gebracht, der seine Vermutung bestätigt hat. Der Finder informierte daraufhin die Polizei über seinen Fund, und so kam die ganze Sache ins Rollen.»

«Welche Sache denn?» Paolo ruckte auf dem Besucherstuhl hin und her. Er ahnte schon jetzt, dass ihm nicht gefallen würde, worauf dieses Gespräch hinauslief. Julia hatte eine bestimmte Art, die Dinge zu betonen und ihn anzusehen, wenn sie etwas von ihm wollte, das nicht nur angenehme Seiten hatte. Und beides, Miene und Tonfall, legte sie soeben an den Tag.

«Wundert es dich nicht, dass du über diesen Fund nichts in der Zeitung gelesen hast?», fragte sie.

«Durchaus.»

«Weil wir eine vorläufige Nachrichtensperre verhängt haben.» Paolo wollte etwas einwenden, doch Julia fuhr bereits fort. «Es gibt Grund zur der Annahme, dass es sich bei dem besagten Bild um Raubkunst handelt. Eine detaillierte Beschreibung des Gemäldes findet sich auf einer Liste, die die Italiener der amerikanischen Militärregierung Ende 1947 übergeben haben und die seit den frühen sechziger Jahren in der Oberfinanzdirektion München lagert. Darauf sind über eintausend gestohlene Werke verzeichnet, von denen tatsächlich viele aufgefunden und rücküberstellt wurden. Doch von dem Correggio fehlte bislang jede Spur. Obwohl die Nazis in dieser Hinsicht überaus akribisch waren, liegen keine Aufzeichnungen aus Kriegszeiten über dieses Gemälde vor. Was bedeutet, dass es entweder in den Wirren der Nachkriegsjahre verlorengegangen ist …»

«Oder dass es kein offiziell befohlener Diebstahl war», beendete Paolo ihren Satz. «Vielleicht hat ja auch irgendein Wehrmachtssoldat das Bild einfach mitgehen lassen, um es sich zu Hause an die Wand zu hängen.»

«Auch das wäre möglich», bestätigte Julia. «Die Frage, ob es sich um Raub- oder Beutekunst gehandelt hat, kann tatsächlich nicht mehr beantwortet werden.»

Paolo sah sie verwundert an. «Ich wusste gar nicht, dass es da einen Unterschied gibt.»

Julia nickte. «Ich habe mich auch erst schlaumachen müssen. Als Beutekunst werden ganz allgemein im Krieg entwendete Kulturgüter bezeichnet, während Raubkunst die gezielte Entwendung zur Zeit des NS-Regimes meint, einschließlich der Gewaltanwendung gegen deren Besitzer. Die Unterscheidung ist hier allerdings nicht relevant, denn die Staatsregierung besteht darauf, dass das Washingtoner Abkommen über die Restitution von Kunst in jedem Fall Anwendung finden soll. Kurzum – das Innenministerium hat uns wissenlassen, dass die Angelegenheit möglichst zügig abgewickelt werden soll.»

«Das Bild soll also zurückgegeben werden?», fragte Paolo.

«Und zwar rasch und geräuschlos.» Julia nickte. «Angesichts der politischen Stimmungslage in Italien möchte man es vermeiden, Öl ins Feuer zu gießen, indem man den Nationalisten eine Story auf dem Silbertablett serviert, in der es um von Deutschen geraubte Kunst geht.»

«Verstehe», sagte Paolo.

«Das freut mich. Denn da die Rückgabe rasch vonstattengehen soll, kann sie nicht auf offiziellem Weg durch einen Staatsbeamten erfolgen. Allein der Papierkram würde mit allen dafür notwendigen Anfragen und Bewilligungen mindestens zwei Wochen in Anspruch nehmen. Stattdessen hat mich der Leiter unseres Referats gebeten, einen unserer zivilen Mitarbeiter mit dieser delikaten Mission zu betrauen – und ich habe dabei an dich gedacht.»

«An mich?», stieß Paolo aus. Er sah Julia entsetzt an. «Warum gerade ich?»

«Weil du die beste Wahl bist», erklärte sie rundheraus. «Du kennst du dich mit Kunst aus, du sprichst Italienisch, kennst Land und Leute …»

«Ich kenne was?» Paolo reckte den Kopf vor, als hätte er sie nicht verstanden. «Ich bin zum letzten Mal als Jugendlicher in Italien gewesen, wie du weißt. Und das bisschen Italienisch, das ich mal konnte, ist mehr als eingerostet.»

«Dein Name ist italienisch», konterte sie.

«Na und? Mein Nachbar fährt einen Volvo. Würdest du ihn deshalb nach Schweden schicken?»

«Bitte, Paolo.» Ihre grünen Augen sahen ihn treuherzig an. Diesem Blick hatte er noch nie widerstehen können. Und natürlich wusste sie das ganz genau.

«Du hast mir erzählt, dass du früher viel in Italien gewesen bist», fuhr sie sanfter fort. «Und dass du eine gewisse Verbindung zu dem Land hast.»

Paolo nickte. Er nahm die Brille ab, schloss die Augen und massierte die Nasenwurzel. Tatsächlich erinnerte er sich dunkel, irgendwann einmal so etwas gesagt zu haben, als sie bei Wein und Gnocchi bei Mario gesessen hatten.

«Du hättest ihr die Wahrheit sagen sollen», raunte ihm jemand ins Ohr. «Jetzt ist es zu spät dafür. Zumal, wenn du das Mädchen wirklich heiraten willst.»

Paolo brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass der Junge in der roten Badehose wieder da war.

«Der wichtigste Grund jedoch» – Julia beugte sich vor, und an dem sanften Vibrato ihrer Stimme konnte er erkennen, dass sie zum Todesstoß ausholte – «ist der, dass ich dir uneingeschränkt vertraue. Mehr als jedem anderen, der hier arbeitet, ob verbeamtet oder nicht.»

Da war es, das schlagende Argument. Niemand sonst verstand es, seinen Widerstand auf solch effiziente Weise zu brechen. Sie brachte ihn dazu, etwas zu tun, das er eigentlich nicht tun wollte – doch vielleicht lag darin ja auch eine Chance.

Wie oft hatte Julia ihm gesagt, dass sie es schön fände, wenn er manchmal ein wenig unkomplizierter, zupackender, einfach ein bisschen männlicher wäre? Dieser Auftrag war eine Möglichkeit, ihr zu beweisen, dass er all das sein konnte!

Paolo holte tief Luft. Dann nickte er. «Einverstanden.»

«Danke, Paolo.» Julia wirkte tatsächlich erleichtert.

«Du weißt aber, dass ich nicht fliege?»

«Musst du auch nicht. Die Überstellung wird per Lieferwagen erfolgen, durch eine private Firma für Sicherheitstransporte. Du brauchst die Fahrer nur zu begleiten und sicherzustellen, dass das Bild an seinen Adressaten übergeben wird – die Galleria Nazionale in Parma.»

«Nur», echote er. Sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie mit diesem Italienbesuch von ihm verlangte. Denn er hatte ihr nie erzählt, wie es um sein Verhältnis zum Land der Zitronen tatsächlich bestellt war. Jetzt war es eindeutig zu spät dafür.

«Schon übermorgen bist du wieder zurück», versicherte sie.

«Und dann?», fragte er.

«Was meinst du?»

«Du weißt, was ich meine.»

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich widerspenstig aus dem Haarband gelöst hatte. «Ich hatte noch keine Zeit, um über alles nachzudenken. Entschuldige bitte», sagte sie. «Die Arbeit lässt mir im Augenblick kaum Luft zum Atmen.»

«Dann lass uns reden, wenn ich zurück bin», schlug er vor.

Julia nickte nur, schweigend wie ein Schulmädchen. Es passte nicht zu ihr, und es war auch kein gutes Zeichen, fand er.

«Nur eines noch», fügte er deshalb hinzu. «Falls es darum geht, was ich früher gesagt habe – dass ich mir nicht vorstellen könnte, Kinder zu haben …»

«Bitte, Paolo», fiel sie ihm ins Wort. «Nicht jetzt. Nicht hier.» Sie beugte sich erneut vor. Ihre Hände griffen über den Tisch und umfassten die seinen.

Sie waren eiskalt.

«Du solltest mitkommen nach Italien», sagte er und sah sie auffordernd an. «Dort ist es bereits warm um diese Jahreszeit.»

«Setz du dich in die Sonne und trink einen Espresso für mich mit», erwiderte sie und lächelte, was ihn gleich etwas optimistischer stimmte.

«Klar», erwiderte er und versuchte, das Lächeln zu erwidern, während er sich innerlich schüttelte.

«Entschuldige, du trinkst ja keinen Kaffee. Wo habe ich nur meinen Kopf?»

«Schon gut.» Er erhob sich.

«Thomas wird dir alles erklären, was du wissen musst», sagte Julia, als er schon bei der Tür stand. Ihr Ton war wieder ganz sachlich.

«Verstanden.» Thomas, das war Kriminalkommissar Thomas Greiner, Julias Partner im Dienst und ihre rechte Hand.

«Und … Paolo?»

Er drehte er sich noch einmal um. Für einen Augenblick, der sich nach Ewigkeit anfühlte, sah sie ihn an, und er hatte den Eindruck, als wollte sie ihm etwas sagen.

«Ja?», fragte er, hoffnungsvoll wie ein verliebter Pennäler.

«Danke», sagte sie nur.

Kapitel 3

Es war heiß am Strand.

Noch heißer als im vergangenen Jahr, und ganz sicher auch heißer, als es gut für ihn war. Das Denken fiel ihm dann schwer, die Zeit verging langsam und klebte wie Honig. Vor allem aber konnte er es nicht leiden, wenn er Sand zwischen den Zehen hatte. Schon acht Jahre war er jetzt auf der Welt, aber daran hatte er sich noch immer nicht gewöhnt.

Entsprechend zog er es vor, im Schatten zu bleiben. In seinen Bademantel gehüllt und mit hochgeschlagener Kapuze kauerte er im Liegestuhl. Die Sonnenbrille seiner Mutter hatte er auf der Nase und das Gesicht mit derart viel Sonnencreme eingeschmiert, dass es weißlich leuchtete. Er versuchte sich auf das Comicheft zu konzentrieren, das er in den Händen hielt. Wie immer klebte das Papier an den Fingern, trotzdem war er gefesselt von der Geschichte. Er genoss den Geruch der Druckerschwärze, die von den bunten Bildern aufstieg. Er lenkte ihn ab vom süßlichen Duft der Sonnencreme und vom Salzgeruch, der vom Meer herüberdrang.

«Wird das jetzt noch was, du Langweiler?»

Der Mund, der die Beleidigung sprach, gehörte Felix, seinem zwei Jahre älteren Bruder, der in so ziemlich jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm war: die Haare nicht dunkel, sondern hell, der Körper nicht untersetzt, sondern schlank, die Haut nicht bleich und empfindlich, sondern sonnengebräunt.

Es war wirklich kurios. Dem älteren Sohn, der keinerlei Probleme mit der Hitze hatte, der die Leidenschaft der Italiener für Fußball teilte und es liebte, sich am Strand einbuddeln zu lassen, hatten die Eltern den unverfänglichen, zumindest deutsch klingenden Namen Felix gegeben. Bei der Namenswahl ihres zweiten Sohnes hingegen hatten sie ihrer Italienliebe Ausdruck verliehen und ihn lupenrein italiano «Paolo» genannt.

«Nun komm endlich spielen!», rief sein Bruder, dessen knallrote Badehose Paolo an Mogli aus Disneys Dschungelbuch erinnerte. «Zuerst panieren wir uns ordentlich, und dann bauen wir eine Sandburg. Die größte am ganzen Strand!»

«Muss das sein?» Schon der Gedanke, sich halbnackt in klebrigem, rauem Sand zu wälzen, bereitete Paolo Unbehagen – ganz zu schweigen davon, abends auf dem Hotelzimmer unter der Dusche feste abgeschrubbt zu werden.

«Zuerst muss ich das hier noch zu Ende lesen», sagte er und deutete auf das Heft auf seinen Knien. «Ich will wissen, wie die Geschichte ausgeht.»

«Wie soll sie schon ausgehen? Die Fliege rettet am Ende die Welt, wie immer. Ist doch Quatsch.»

«Er heißt nicht Fliege, sondern ‹Die Spinne›», verteidigte Paolo empört seinen Helden. «Und das ist auch kein Quatsch.»

«Da sagt Mama aber was ganz anderes.»

Paolo schnaufte – das stimmte leider. Seine Eltern waren gar nicht begeistert, wenn er sein Taschengeld für etwas ausgab, das sie «Schundliteratur» nannten. Dabei hätte er ihnen und Felix viel Spannendes erzählen können über seinen maskierten Lieblingshelden, der Superkräfte hatte und in der Lage war, an Hauswänden emporzuklettern. Aber außer ihm interessierte sich niemand in der Familie für die aufregenden Abenteuer und den Mut der Spinne.

Paolo kaufte seine Comics trotzdem. Im tabacchi-Laden um die Ecke gab es eine große Auswahl, auch auf Deutsch. Und sogar billiger als zu Hause, wenn man die Lire in D-Mark umrechnete. Und rechnen konnte Paolo ziemlich gut.

«Nun komm endlich!»

Ohne sich von der Stelle zu rühren, beobachtete Paolo seinen Bruder dabei, wie er sich tropfnass im Sand wälzte und dabei wie irre lachte. Von seiner roten Badehose abgesehen, die beharrlich weiter leuchtete, erinnerte Felix jetzt an die calamari fritti, die es oben an der Strandpromenade in der Rosticceria gab.

«Wozu in aller Welt soll das gut sein?», fragte Paolo verständnislos.

«Na ja … weil’s Spaß macht», erklärte Felix schulterzuckend.

Paolo schüttelte den Kopf und schloss resignierend die Augen. Als er sie wieder aufschlug, fand er sich nicht am Strand von Cervia wieder, sondern auf der Rückbank eines Kleintransporters auf dem Weg nach Parma.

Ganz offenbar war er eingeschlafen und hatte geträumt – ausgerechnet von jenem 11. August 1982, der sein Leben für immer verändert hatte. Und es war kein Sand, den er an seinen Füßen spürte, sondern die Folgen unzureichender Durchblutung.

Dass es keine Vergnügungsreise werden würde, war Paolo von vornherein klar gewesen. Seit gut zwei Stunden saß er auf der schmalen Rückbank eines zum Werttransporter umgerüsteten Sprinters. Seine Knie stießen an den Fahrersitz. Der Platz rechts neben ihm wurde von seinem Reisekoffer eingenommen.

«Wo sind wir?», fragte er die beiden blau uniformierten Fahrer, die kein Hehl daraus machten, dass sie über ihren Fahrgast nicht begeistert waren.

«Brenner durch», sagte der Beifahrer lakonisch.

Paolo versuchte seine Beine zu bewegen, er spürte sie kaum noch. «Wie wär’s mit einer Pause?»

Eine Antwort bekam er nicht. Dass die beiden an der übernächsten Raststätte tatsächlich einen kurzen Halt einlegten, lag wohl eher daran, dass ein beinahe leerer Benzintank und der Drang nach Nikotin sie dazu nötigten.

Auch Paolo stieg aus und stellte mit Erleichterung fest, dass doch noch Leben in seinen Gliedmaßen war. Und noch etwas fiel ihm auf, als er sich auf dem Rastplatz südlich von Brixen aus dem Wagen quälte und sich staksenden Schrittes die Beine vertrat: die Luft.

Sie war anders als in München.

Wärmer, milder, von einer Leichtigkeit durchdrungen, die es in Deutschland nicht gab. Und sie weckte Erinnerungen.

«Weißt du noch?» Der Junge in der roten Badehose war plötzlich wieder da, so als wäre er direkt aus seinem Traum gesprungen. «Wir haben es immer die ‹Italienluft› genannt. Und Papa hat dann immer angefangen, ‹Azurro› zu singen.»

Paolo schüttelte den Kopf. Natürlich erinnerte er sich, wie an so vieles andere. Aber er wollte sich nicht erinnern, nicht daran. Er vertrieb den Gedanken wie ein lästiges Insekt, und mit ihm auch die Erinnerung an Felix.

Die Fahrer wechselten, und sie setzten ihre Fahrt fort.

Paolo sah aus dem Fenster, betrachtete die Landschaft. Halbhohe Berge säumten die Autobahn zu beiden Seiten. Ein netter Anblick, aber nicht sehr abwechslungsreich. Paolo schlief wieder ein.

Als er das nächste Mal erwachte, hatten sie Mantua erreicht und nur noch gut eine Stunde zu fahren, was die beiden Fahrer nicht davon abhielt, ihr kulinarisches Heil noch bei McDonald’s zu suchen.

Das Essen wurde ihnen durchs offene Fenster hereingereicht, und mit ihm auch der Geruch von Zwiebeln, Salzgurken und Frittierfett. Paolo hätte am liebsten die Flucht ergriffen, doch er hatte ja einen Auftrag zu erfüllen. Außerdem spürte er schon wieder seine Beine nicht, und es war fraglich, ob sie ihm überhaupt gehorcht hätten.

Mit dem Schicksal hadernd saß er auf seiner Rückbank. Warum in aller Welt hatte er diesen Auftrag angenommen? Wieso hatte er sich von Julia überreden lassen?

Die Antwort war so offenkundig wie deprimierend: weil er ihr gefallen wollte, ihr imponieren – wie ein Halbwüchsiger, der sich auf dem Schulhof in eine Zehntklässlerin verguckt hatte. Er war ja kein Trottel.

Paolo wusste nur zu gut, dass viele Menschen ihn für seltsam hielten, mit seiner Eigenbrötelei und seinen Spleens. Auch mit seiner «Gabe» stieß er immer wieder auf Befremden. Für gewöhnlich machte ihm das nichts aus. Im Gegenteil. Seine Gabe war unter anderem der Grund dafür, dass er beim LKA als Spezialist für besonders knifflige Fälle galt und man häufig und gerne auf seine Dienste zurückgriff.

Aber dieses eine Mal wollte und durfte er nicht so sein. Er wollte beweisen, dass er auch anders sein konnte, dass er zupackend und effektiv agieren konnte – und jeder Herausforderung gewachsen war, die sich ihm auf dieser Reise in den Weg stellen mochte …

Ein dumpfes Geräusch knatterte aus dem Sitz seines Vordermanns. Für einen Moment hoffte Paolo, es möge das Fahrgestell des Wagens sein, doch der dem Geräusch folgende Geruch belehrte ihn eines Besseren.

«Hallo?», fragte er nach vorn.

«Muss am Burger liegen», erwiderte der Fahrer achselzuckend und ungeniert. Es war das erste Mal, dass Paolo ihn mehr als drei Wörter am Stück sagen hörte. Und eigentlich auch die erste Unterhaltung, die sie seit ihrer Abfahrt führten. «Da waren wohl Zwiebeln drin. Die vertrag ich nicht.»

«Natürlich sind da Zwiebeln drin!» Paolo schüttelte verständnislos den Kopf. «Was glauben Sie denn, woraus ein Cheeseburger gemacht wird?»

«Aus Käse?» Der Fahrer lachte über seinen eigenen Witz, und sein Kumpan fiel in das Gelächter ein.

Paolo sackte in sich zusammen. Zupackend und effektiv, hallten seine eigenen Worte in ihm nach. Und jeder Herausforderung gewachsen.

Manchmal war es ein Fluch, sich an alles erinnern zu können. An jeden Menschen, an jedes Ereignis.

Und leider auch an jede Dummheit.

Kapitel 4

Hinter Mantua verließen sie die Autobahn und fuhren auf der strada provinciale nach Südwesten.

Die Landschaft war hier so flach wie ein Topfboden. Rübenfelder wechselten sich ab mit Äckern, auf denen Mais oder Weizen angebaut wurde, und immer wieder durchquerte die Straße Ortschaften mit Wohnhäusern, Werkstätten und kleinen Fabriken. Der Anblick dieser Häuser, deren Fenster schmaler und deren Dächer ganz anders waren als zu Hause in Deutschland – viel flacher und mit Ziegeln in verschiedenen Rot- und Brauntönen gedeckt –, hatte früher schon genügt, um seinen Bruder zu Begeisterungsstürmen über Italien hinzureißen, wo alles viel schöner, besser und abenteuerlicher sei. Und ihre Mutter hatte dann angefangen, vom warmen Licht zu schwärmen und vom Sinn der Italiener für alles Farbenfrohe und Freundliche.

Als Junge hatte Paolo nie verstanden, was sie damit gemeint hatte. Aber jetzt, wo die Sonne langsam zu sinken begann, konnte er tatsächlich beobachten, wie sich das Licht veränderte. Die Sonne brannte nicht mehr grell vom Himmel, sondern tauchte alles in einen weichen, bernsteinfarbenen Schein. Es brachte das Grün der Felder und der vorbeiziehenden Bäume zum Leuchten und hob aus alten Hauswänden Strukturen und Farben hervor, die vorhin noch nicht zu sehen gewesen waren.

Und auch damals nicht, sagte er sich in einem Anflug von beinahe kindlichem Trotz.

Gegen sechzehn Uhr trafen sie in Parma ein. Es war Freitag, Hauptstoßzeit, entsprechend dicht war der Verkehr auf der Viale Paolo Toschi. Entlang des Flusses, dem die Stadt ihren Namen verdankte, arbeitete sich die Blechlawine ins Zentrum vor.

Anders als im klimatisierten Laderaum mit einer Temperatur von 19,4 Grad und 57 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit war die Luft im Transporter schwül und zum Schneiden dick. Den beiden Fahrern schien das wenig auszumachen, Paolo hingegen musste an die Zeiten denken, als er als kleiner Junge bei solchen Fahrten auf der Rückbank der Familienkutsche gesessen und es vor Hitze kaum ausgehalten hatte, während sein Bruder lauthals «Made in Italy» von Ricchi e Poveri gesungen hatte, stimmlich von ihrem Vater unterstützt.

Eines hatte sich im Vergleich zu damals allerdings verändert: Wo waren all die dreirädrigen Ape-Lieferwagen und dunkelblauen Fiats geblieben, die sich hektisch auf der Straße drängten und einander wilde Hupduelle lieferten? In den vergangenen Jahrzehnten hatte eindeutig auch hier der motorisierte Wohlstand Einzug gehalten.

Wohin Paolo auch blickte, sah er dicke SUVs und stolze Mittelklasse aus vorwiegend deutscher Fertigung. Und mit der deutschen Wertarbeit hatte man offenbar auch die ebenso deutsche Eigenheit übernommen, das eigene Gefährt wie ein rohes Ei zu behandeln. So zivilisiert, wie er sich gegenwärtig präsentierte, hatte Paolo den italienischen Straßenverkehr jedenfalls nicht in Erinnerung. Eifrig wurden Blinker gesetzt, und rote Ampeln schienen inzwischen nicht mehr nur als gutgemeinte Empfehlungen verstanden zu werden. Sollte sich dieses Land derart verändert haben? Paolo war beinahe erleichtert, als ein Bus ohne Vorwarnung von rechts einscherte und den Fahrer des Transporters zu einem abrupten Ausweichmanöver zwang.

«Mist, verdammter!», fluchte der Fahrer.

Die Galleria Nazionale, in der Paolo das Gemälde übergeben sollte, befand sich im Palazzo della Pilotta, einem burgartig aufragenden, aus sandfarbenen Ziegeln errichteten Gebäudekomplex im Herzen der Stadt. Andere im sechzehnten Jahrhundert errichtete Paläste hatten in erster Linie dazu gedient, Königen und Herzogen eine Unterkunft zu bieten. Der Palazzo della Pilotta hingegen war nicht für gekrönte Häupter, sondern nur für die zahlreichen Hof- und Staatsbediensteten errichtet worden, und zwar jene der mächtigen Familie Farnese, die zur Zeit der Renaissance die Stadt beherrscht hatte. Der Fahrer lenkte den Transporter auf dem Vorplatz und an der alten Visconti-Zitadelle vorbei durch das linke der drei Tore, die den Palast nach Westen öffneten.

Unter dem gewaltigen Gewölbe des Innenhofs brachte er den Sprinter zum Stehen. So dankbar Paolo dafür war, der drückenden Enge des Lieferwagens endlich zu entkommen – die feuchte Schwüle, die ihn jenseits der Schiebetür empfing, besserte sein Wohlbefinden nicht wesentlich. Seine Brille beschlug, sodass er sie abnehmen und reinigen musste, und sein Hemd hatte unter der langen Reise sichtbar gelitten. Ganz abgesehen davon, dass seine Beine ihm auch diesmal nicht recht gehorchen wollten. Sich mit den Handflächen gegen den Kastenwagen stemmend, ging er in den Ausfallschritt und machte Stretching-Übungen, was die Fahrer mit breitem Grinsen quittierten. Sollten sie doch.

«Sie beide bleiben hier und warten», wies er sie an, nachdem er ein letztes Mal das Kreuz durchgestreckt hatte. «Ich werde den Kurator informieren, dass der Transport eingetroffen ist. Dann wird er seine Leute schicken, und wir können die Ladung an die Italiener übergeben.»

Noch immer ein wenig humpelnd ging Paolo zu einer kolossalen Treppe, die durch ein gläsernes Portal ins Innere des Palazzo führte. Außer der Nationalgalerie beherbergte der Komplex auch noch die archäologische Sammlung, die Nationalbibliothek sowie ein restauriertes Theater der Renaissancezeit. In den Sommermonaten würde hier gewiss alles voller Touristen sein, doch jetzt, Anfang Mai, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Auf dem breiten Aufgang zu den oberen Etagen kam sich Paolo entsprechend verloren vor. Zudem stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase, eine eigenartige Mischung, die verriet, dass sich hier jemand viel Mühe gab, den stechenden Odem überdauerter Jahrhunderte mit frischem Zitronenduft zu übertünchen.

Auf dem Treppenabsatz, von dem aus man in die archäologische Sammlung gelangte, befand sich ein Kassenhäuschen. Eine Dame mittleren Alters saß dort, mit blondem Haar und einer Lesebrille, die ganz vorn auf ihrer Nase saß, von einer goldenen Halskette gesichert. Ein Smartphone, das sie mit dunkelrot lackierten Fingernägeln bediente, schien ihre ganze Aufmerksamkeit einzufordern.

«Buongiorno. Parla tedesco?», fragte Paolo.

Keine Reaktion.

«Inglese?»

Keine Reaktion.

Paolo seufzte. Dann also anders.

«Mi scusi.» Paolo musste sich konzentrieren. Es war wirklich lange her. «Cerco …»

Nun gab es einen strafenden Blick über den Brillenrand. Ob für die Störung oder das unbeholfene Italienisch, war nicht festzustellen.

«What-e do you want-e?», fragte ein sonorer Alt nun doch auf Englisch, das allerdings recht italienisch klang.

Paolo wechselte ebenfalls ins Englische. «Ich suche einen Signor Tantaro. Umberto Tantaro von der Galleria Nazionale.»

«Sie haben einen Termin?»

«Er erwartet mich», entgegnete Paolo. «Könnten Sie ihn bitte informieren, dass ich hier bin?»

Die Frau musterte ihn, als hätte er ein unsittliches Ansinnen vorgetragen. Dennoch griff sie nach dem Diensttelefon, das auf ihrem schmalen Tischchen stand, hob den Hörer ab, betätigte eine Taste und sprach einige leise Worte hinein.

«Die Treppe ganz nach oben, a sinistra», verkündete sie dann polyglott, um sich sofort wieder ihrem Smartphone zuzuwenden.

Paolo bedankte sich und folgte der Beschreibung. Am Eingang zur Nationalgalerie traf er auf einen grau uniformierten Wächter, der ihn ebenso misstrauisch beäugte wie die Kassiererin, ihn jedoch passieren ließ, als Paolo den Namen des Kurators nannte.

Durch eine schmale Glastür gelangte er in die eigentliche Galerie und fand sich in einem hallenartigen Gang wieder, inmitten der Porträts zahlloser, einst sicher wichtiger, inzwischen jedoch längst verblichener Herrschaften. Unter ihren gravitätischen, beinahe vorwurfsvollen Blicken ging er den Gang entlang, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte.

«Signor Ritter?»

Paolo wandte sich um. Eine junge Italienerin im dunkelblauen Faltenrock stand vor ihm. Dem Emblem auf ihrer Strickjacke nach war sie eine Studentin der örtlichen Universität, die sich vermutlich im Museum etwas dazuverdiente. Ihr glattes schwarzes Haar umrahmte ein auffallend blasses Gesicht, das wohl mehr Zeit in Bibliotheken und Hörsälen verbrachte als unter freiem Himmel. Durch die Gläser ihrer Hornbrille taxierte sie den Besucher und wirkte dabei ein wenig amüsiert. Paolo musste wirklich einen befremdlichen Anblick bieten in seinem zerknitterten Hemd und dem zerknautschten grauen Anzug.

«Der bin ich», bestätigte er.

«Signor Tantaro ist gleich bei Ihnen», erklärte die Studentin in beinahe perfektem Deutsch. «Wenn Sie möchten, können Sie sich solange gerne die Galerie ansehen.»

«Danke.» Paolo nickte und schritt tapfer die Galerie der Verblichenen ab. Am Ende erweiterte sich der Gang zu einem kreisrunden, von einer Kuppel gekrönten Raum, den eine überlebensgroße Statue beherrschte: der antike Held Herakles, nackt, wie seine Mutter Alkmene ihn einst geboren hatte. So kunstvoll die Figur aus dem Stein gearbeitet worden war und so formvollendet sie einst gewesen sein mochte – die Arme waren im Lauf der Jahrhunderte verlorengegangen, und auch das beste Stück des Halbgottes hatte die Wirren der Zeit nicht überstanden. Oder vielleicht, mutmaßte Paolo, hatte jemand irgendwann aus reinem Penisneid zum Meißel gegriffen …

«Signor Ritter! Wie es mich freut, Sie kennenzulernen!»

Ein untersetzter Mann kam auf ihn zu, die Hände bereits ausgestreckt, um Paolos Rechte zu ergreifen und sie beherzt zu schütteln. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein rosafarbenes Hemd. Ein grauer Kranz um seinen Hinterkopf war alles, was von seiner Haarpracht geblieben war. Die Augen strahlten in einer Leutseligkeit, der Paolo sich nur schwer entziehen konnte.

«Signor Tantaro?»

«So ist es, mein Lieber! So ist es!» Der andere schüttelte seine Hand noch immer. Auch er sprach fließend Deutsch, nur sein Akzent war stärker als der der Studentin. «Aber nennen Sie mich doch Umberto, sì?»

Paolo rang sich ein Lächeln ab. Eigentlich sprach er wildfremde Menschen nicht gern mit dem Vornamen an und wurde auch selbst nicht gern so angesprochen. Aber er dachte an Julia und daran, dass er diesen Auftrag souverän über die Bühne bringen wollte. «Paolo», fügte er ein bisschen säuerlich hinzu.

«Un nome italiano! Wie schön», sagte der Kurator und lächelte mit dem Stolz eines Lehrers, der einen strebsamen Schüler lobte. «Noch mehr freue ich mich jedoch über das, was Sie uns mitgebracht haben. Als ich von der Neuigkeit hörte, war ich – come si dice? – ganz außer Haus?»

«Aus dem Häuschen», verbesserte Paolo. «Das kann ich gut verstehen. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass ein alter Meister in seine Heimat zurückkehrt.»

Tantaros Augen blitzten listig. Wie ein Junge, der im Rücken des Besuchers ein Geschenk vermutete, versuchte er, an Paolo vorbeizuspähen. «Und? Wo ist es?»

«Um zu gewährleisten, dass das Gemälde keinen Schaden nimmt, haben wir uns für einen klimatisierten Sicherheitstransport im Auto und nicht im Flugzeug entschieden», erklärte Paolo. «Das Fahrzeug steht unten im Innenhof. Die Übergabe kann ohne weitere Formalitäten stattfinden, Sie brauchen nur den Empfang zu quittieren.»

«Das ist großartig, großartig!» Tantaros Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. «Wissen Sie, Correggio ist für Parma, was Leonardo für Firenze ist oder Michelangelo für Roma. Er war kein Sohn dieser Stadt, aber er wirkte hier viele Jahre und schuf hier einige seiner größten Werke. Haben Sie sein Fresko in der Kuppel des Duomo gesehen? Oder in San Giovanni Evangelista?»

«Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen», musste Paolo zugeben.

«Kommen Sie», sagte Tantaro und zog ihn kurzerhand mit sich – von einem Ausstellungsraum in den nächsten, vorbei an ikonographischen Heiligenbildern und riesigen Schlachtengemälden in jenen Bereich der Galerie, der dem Lokalmatador und seinen Schülern vorbehalten war.

«Dies», erklärte Tantaro, «sind keine Kirchenfresken, aber es ist die bedeutendste Sammlung an Correggio-Originalen weltweit. Sehen Sie sich diese Farben an, diese Dramatik und die passione, wie sagt man …»

«Leidenschaft», übersetzte Paolo.

«… mit der Correggio gearbeitet hat», fuhr der Kurator mit dankbarem Nicken fort. «Und dabei spreche ich nicht von der Führung der Linien, der ungewöhnlichen Perspektive oder dem Faltenwurf der Gewänder. Ich spreche von dem, was man nicht sieht, Paolo, sondern nur mit dem Herzen fühlt.» Er trat vor ein Gemälde, das die Kreuzabnahme Jesu Christi zeigte. «Sehen Sie sich die Gesichter an», forderte er Paolo auf. «Die Gefühle, die sich dahinter verbergen, den Schmerz, der sich in ihnen spiegelt … Man kann sich dem nicht entziehen. Correggio war un vero artista.»