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Mord und Dolce Vita in der Emilia-Romagna: der neue Fall des deutschen Ermittlers mit dem episodischen Gedächtnis und dem italienischen Namen. Den Abend hatte Paolo Ritter sich anders vorgestellt, als im zugegebenermaßen stimmungsvollen Teatro Amintore Galli in Rimini zu sitzen und einem gefeierten Heldentenor zu lauschen. Lucia, seine Geschäftspartnerin und eine begnadete Köchin, hat ihn mitgeschleppt. Dabei hasst er Oper, und gesellig ist der ehemalige LKA-Ermittler mit dem episodischen Gedächtnis auch nicht. Da er im nahen Cervia das kleine Hotel seines verstorbenen Bruders renoviert, ist Paolo mit unzuverlässigen Handwerkern und allzu charmanten Installateuren hinreichend beschäftigt – doch dann geschieht etwas, das seine ganzen Fähigkeiten als Ermittler erfordert: Das Konzert ist das letzte, das der Opernstar jemals in seinem Leben geben wird – am nächsten Tag wird er tot am Strand von Rimini aufgefunden. Und keine andere als Lucias beste Freundin Chiara, die als Letzte mit dem Toten zusammen war, steht unter Mordverdacht. Nach «Mord in Parma» führt uns der Autor an den weltbekannten Strand an der Adriaküste sowie an viele weitere zauberhafte Orte der traditionsreichen Badestadt.
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2022
Dani Scarpa
Paolo Ritter ermittelt
Der Zauber von Rimini – Mord inklusive
Den Abend hatte Paolo Ritter sich anders vorgestellt, als im zugegebenermaßen stimmungsvollen Teatro Amintore Galli in Rimini zu sitzen und einem gefeierten Heldentenor zu lauschen. Lucia, seine Geschäftspartnerin und eine begnadete Köchin, hat ihn mitgeschleppt. Dabei hasst er Oper, und gesellig ist der ehemalige LKA-Ermittler mit dem episodischen Gedächtnis auch nicht. Da er im nahen Cervia das kleine Hotel seines verstorbenen Bruders renoviert, ist Paolo mit unzuverlässigen Handwerkern und allzu charmanten Installateuren hinreichend beschäftigt – doch dann geschieht etwas, das all seine professionellen Fähigkeiten erfordert: Das Konzert ist das letzte, das der Opernstar jemals geben wird – am nächsten Tag wird er tot am Strand von Rimini aufgefunden. Und keine andere als Lucias beste Freundin Chiara steht unter Mordverdacht.
Der neue Fall für Paolo Ritter, den deutschen Ermittler in Italien.
«Absolut schlüssig, sehr spannend und total unterhaltsam.» B5 Kulturnachrichten über «Mord in Parma»
Dani Scarpa ist das Pseudonym eines deutschen Erfolgsautors, der früh seine Liebe zu Italien entdeckt hat. Ein Teil von Scarpas Familie lebt heute noch im Land der Zitronen, weshalb er alle Aspekte des deutsch-italienischen Zusammenlebens aus nächster Nähe kennt. Nach «Mord in Parma», dem ersten Kriminalroman um Paolo Ritter, den deutschen Ermittler, den es – zunächst – widerwillig in die Emilia-Romagna verschlägt, folgt nun Band 2 der Serie.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2022 by Dani Scarpa
Redaktion Carsten Polzin
Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-644-00826-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Nessun dorma! Nessun dorma!
Tu pure, o Principessa,
nella tua fredda stanza
guardi le stelle che tremano
d’amore e di speranza!
Ma il mio mistero è chiuso in me,
il nome mio nessun saprà!
Niemand schlafe, niemand!
Auch du nicht, Prinzessin,
in deinem kalten Gemach,
die du die Sterne erbeben siehst
vor Liebe und Hoffnung.
Doch mein Geheimnis ist in mir verschlossen,
meinen Namen wird keiner erfahren.
Aus TURANDOT von Giacomo Puccini
Rimini
Sonntag, 1. Mai 1977
Der Tenor hatte den Applaus noch im Ohr, als er durch die nächtlichen Straßen ging: das frenetische Rauschen klatschender Hände, die heiser gerufenen Ovationen. Er hatte noch die glücklichen Gesichter vor Augen, in die er geblickt hatte, nachdem das Bühnenlicht verblasst und die Beleuchtung auf der Piazza Cavour angesprungen war und das Publikum aus der Dunkelheit gerissen hatte.
Und er hatte den Text der Arie noch im Ohr.
Seiner Arie …
Nessun dorma! Nessun dorma!
Tu pure, o Principessa,
nella tua fredda stanza
guardi le stelle che tremano
d’amore e di speranza …
Der Klang der Musik hallte noch in ihm und ließ ihn ebenso erbeben wie die Sterne, von denen im Libretto die Rede war. Puccini hatte die Worte geschrieben und die Melodie erdacht, und Pavarottis berühmte Aufnahme hatte sie auf der ganzen Welt verbreitet, doch an diesem Abend hatte der Tenor sie sich ganz und gar zu eigen gemacht. In diesem magischen Augenblick auf der Piazza Cavour war er es gewesen, der dem Prinzen Calaf seine Stimme geliehen hatte, waren es seine Worte gewesen und seine Musik.
Auf der Bühne unter freiem Himmel hatte er sich frei gefühlt wie nie zuvor, hatte er den Eindruck gehabt, über den hölzernen Planken zu schweben, während er von der herzlosen Prinzessin Turandot sang. Einen wunderbaren Moment lang war er eins geworden mit der Musik, war er selbst zur reinen Kunst geworden – und genau das war es, worauf er in all den Jahren des Übens und Studierens hingearbeitet hatte: mit der Musik und dem Gesang zu verschmelzen, bis niemand im Publikum mehr zu sagen vermochte, wo das Kunstwerk endete und der Künstler begann. Diesen Moment würde er für immer in seinem Herzen bewahren, ihn einschließen wie ein wertvolles Geheimnis.
Ma il mio mistero è chiuso in me,
il nome mio nessun saprà!
Nicht nur das Premierenpublikum hatte frenetisch applaudiert, auch der Regisseur und der direttore del teatro hatten sich vor Begeisterung überschlagen, ebenso wie die Vertreter der Presse, die zu der Aufführung eingeladen worden waren. Und so mancher Kritiker, der ihn noch vor nicht allzu langer Zeit als einen Niemand aus der romanischen Provinz verspottet hatte, hatte nach der Vorstellung Abbitte leisten müssen und um ein baldiges Interview gebeten. Von allen Seiten hatte man ihn beglückwünscht, ihn dazu gedrängt, den Empfang zu besuchen, der im Foyer des Teatro Amintore Galli abgehalten wurde. Während das ehrwürdige Theater selbst seit dem Krieg in Trümmern lag, war die Vorhalle mit dem Foyer wieder neu errichtet worden und gewöhnlich den Sitzungen des Gemeinderats vorbehalten – dorthin eingeladen zu werden, galt folglich als große Ehre. Der Tenor hatte es dennoch vorgezogen, sich zurückzuziehen und den stillen Moment des Triumphs, auf den er sein Leben lang hingearbeitet hatte, allein zu genießen. Noch immer auf Wolken schwebend, schlug er den Weg zu den Bahngleisen ein, jenseits derer seine Wohnung lag.
Dilegua, o notte! Tramontate, stelle!
Tramontate, stelle! All’alba vincerò!
Die Vorstellungen für die Sommersaison würden innerhalb weniger Tage ausverkauft sein, und je schneller sich verbreitete, dass ein neuer Stern am Opernhimmel aufgegangen war und die Konkurrenz verblassen ließ, desto rascher würden die großen Häuser auf ihn aufmerksam werden und ein Ruf nach La Fenice an den Lido von Venedig erfolgen oder an das Teatro dell’Opera nach Rom … oder an die Scala von Mailand.
Die Zukunft, das konnte der Tenor in diesem Augenblick fühlen, lag vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch, dessen Zeilen er nur noch zu lesen brauchte. Die Geschichte war bereits geschrieben. Sie handelte von wahrer Kunst und unvergänglicher Schönheit, und er kannte sie, seit er als kleiner Junge zum ersten Mal auf der Bühne gestanden und bei einer Schulaufführung ebenjene Arie gesungen hatte, die ihm auch heute diesen unvergleichlichen Triumph beschert hatte.
Vincerò! Vincerò …
In all den Jahren der Übung, der harten Arbeit an Stimmbildung und Intonation, hatte er nie Unsicherheit gekannt, nie an seiner Unverwundbarkeit gezweifelt – die Zweifel kamen jäh, als ein Schatten aus dem dunklen Gebüsch am Wegrand trat.
«Dein Geld! Alles!»
Die Musik im Kopf des Tenors verstummte wie ein ferner Traum.
«Deine Brieftasche! Hörst du nicht?»
Obwohl der Mann, von dem er gegen das schmutzig gelbe Licht der Straßenlaterne nur die Silhouette sah, unmittelbar vor ihm stand, schien die Stimme aus weiter Ferne zu kommen. Sie war heiser und tonlos, von keuchenden Atemzügen begleitet.
Der Tenor war wie erstarrt, während er zu begreifen versuchte, was vor sich ging. Die Gegend um den Bahnhof galt als nicht ungefährlich, zumal bei Dunkelheit, doch war er noch nie zuvor in eine brenzlige Situation geraten …
«Hörst du schlecht?», zischte es. «Ich will deine beschissene Brieftasche, dein Geld! Und zwar schnell!»
Der Tenor stand noch immer unbewegt.
Etwas in ihm sträubte sich, nicht wegen der paar Tausend Lire, die er in seiner Geldbörse hatte. Sondern weil er einfach nicht glauben konnte, dass dies gerade wirklich passierte … an diesem, seinem Abend.
Statt Furcht zu empfinden, wie es der Lage wohl angemessen gewesen wäre, verspürte er nichts als Empörung, Zorn auf das widrige Schicksal. Entsprechend weigerte er sich, dem Räuber das Verlangte zu überlassen, und sog stattdessen scharf nach Luft, um in der milden Luft der frühen Mainacht einen wütenden, protestierenden Schrei auszustoßen.
Doch der Schrei verließ seine Kehle nie.
Denn anders als Prinz Calaf sah er nicht die Sterne über sich blitzen und beben, sondern eine blank polierte Klinge – die im nächsten Moment erbarmungslos zustach.
Cervia, Emilia-Romagna
September 2019
«Das hält erst mal.»
Paolo Ritter hob seine Stimme am Ende des Satzes, so als wäre es mehr eine Frage als eine Feststellung. Tatsächlich traute er weder dem Putz so recht noch den beiden Nägeln, die er mit viel Nachdruck, aber wenig Sachverstand hineingetrieben hatte. Dennoch tat das hölzerne Schild wie geheißen und blieb an der Mauer haften.
NUOVA APERTURA – NEUEROFFNUNG
HOTEL IL CAVALIERE
stand in großen gelben Lettern darauf geschrieben. Darunter, etwas kleiner und sowohl in italienischer als auch in deutscher Sprache:
BUCHUNGEN FÜR DIE SAISON 2020 AB SOFORT MOGLICH.
«Und das soll halten?» Lucia Camaro stand neben ihm, den Pinsel mit der gelben Farbe noch in der Hand. Ihr Blick verriet unverhohlenes Misstrauen.
«Soll das ein Witz sein?», fragte Paolo dagegen. «In meiner Wohnung in München habe ich früher viel selbst gemacht.»
Sie erwiderte etwas halblaut auf Italienisch, das er nicht verstand, und beide blickten sie an dem Hotelgebäude empor, vor dessen Gartenpforte sie standen und das die Morgensonne über Cervia in mildes Licht tauchte.
Es war drei Stockwerke hoch und von einem Garten umgeben, in dem weiße und rote Rosenstöcke blühten. Der forschen Behauptung auf dem Werbeschild zum Trotz sah es allerdings nicht wirklich so aus, als ob schon in der kommenden Saison Gäste darin einziehen könnten: Die Fassade auf der dem Garten zugewandten Seite war eingerüstet, der Putz komplett entfernt worden und unansehnliches Grau darunter zutage getreten; die Geländer an den kleinen Balkonen fehlten, ebenso wie die Fensterscheiben, statt derer nur dunkle Löcher auf den Betrachter starrten.
Vertrauenswürdig sah lediglich das Erdgeschoss des Gebäudes aus – dort befand sich das Ristorante, das Lucia schon zuvor betrieben hatte und dessen Party- und Lieferservice vorerst die einzige Einnahmequelle ihres gemeinsamen Unternehmens war. Den Löwenanteil der betrieblichen Aufwendungen bestritt Paolo aus eigener Tasche, er hatte dafür seine Bankguthaben in Deutschland aufgelöst und seine Aktien liquidiert, mit anderen Worten: seine gesamten Ersparnisse eingesetzt. Nur seine Wohnung in München war ihm noch geblieben, als letzte Rückversicherung, als Fuß in der Tür zur alten Heimat.
Hätte ihm jemand vor einem halben Jahr prophezeit, dass er Deutschland verlassen, seinen gut bezahlten Job beim Landeskriminalamt aufgeben und aus seinen vertrauten vier Wänden ausziehen würde, um sich mit einer Frau, die er kaum kannte, in ein finanzielles Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang zu stürzen, noch dazu in Italien, dem Land, gegen das er sein Leben lang tiefe Abneigung empfunden hatte … Paolo hätte ihn glatt für verrückt erklärt. Doch in diesem besagten halben Jahr war viel geschehen – die Mordfälle in Parma, in deren Aufklärung Paolo unwillentlich verstrickt worden war, seine gescheiterte Beziehung mit Julia Wagner, die seine Vorgesetzte beim LKA gewesen war, und schließlich die Sache mit Felix, seinem Bruder.
Paolo war nicht mehr derselbe, als der er vor ein paar Monaten aus dem Lieferwagen der Sicherheitsfirma gestiegen war. Er hatte sich verändert, hatte dazugelernt – zumindest war es das, was er gerne von sich dachte.
Eigentlich hatte er Lucia, die ihm bei der Aufklärung des Falles geholfen hatte, im Gegenzug das Hotel verkaufen wollen, das er von Felix geerbt hatte. Doch im buchstäblich allerletzten Augenblick – Paolo hatte im Büro des Notars bereits den Stift zur Unterschrift erhoben – hatte er es sich anders überlegt. Entgegen seinem strengen, stets auf Vernunft und Ordnung bedachten Wesen hatte er sich entschieden, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern in Italien zu bleiben, um das Hotel seines verstorbenen Bruders zu renovieren und neu zu eröffnen, mit Lucia als seiner Geschäftspartnerin. Während sie als ebenso leidenschaftliche wie geniale Köchin das Restaurant betreiben sollte, würde Paolo der neue patrono des Hotels werden.
So weit jedenfalls der Plan.
Zunächst war Lucia alles andere als begeistert gewesen. Völlig zu Recht hatte sie Paolo Wortbruch vorgeworfen und sich recht einsilbig gegeben – bis ihr aufgegangen war, was es bedeutete, ein Projekt dieser Größenordnung anzugehen. Und dass es nicht nur Nachteile hatte, wenn man einen zahlungskräftigen Financier aus Deutschland mit an Bord hatte – auch wenn dessen Reserven so langsam zur Neige gingen.
Unzählige Male hatte sich Paolo gefragt, was ihn geritten hatte, alles aufzugeben, um dem Traum seines verstorbenen Bruders nachzujagen. Felix und er hatten sich nicht besonders nahe gestanden, in den letzten Jahren vor seinem Tod hatten sie nicht einmal mehr Kontakt gehabt. Und was Italien betraf, so war es eher Hassliebe, die Paolo mit dem Land verband, in dem er als Junge stets seine Ferien verbracht hatte … Doch irgendetwas hatte Italien auch an sich, das ihn magisch anzog, und es hatte absolut nichts zu tun mit dem, was andere Deutsche hierzulande suchten, denn Hitze, Sand und Sonne konnte Paolo auf den Tod nicht leiden. Sondern mit den Erinnerungen, die für ihn, den Mann mit dem episodischen Gedächtnis, praktisch allgegenwärtig waren …
Lucia war noch immer nicht überzeugt.
In ihrem weißen Maleroverall mit den aufgekrempelten Ärmeln, das schulterlange blauschwarze Haar zum Pferdeschwanz gebunden, betrachtete sie das leicht schief hängende Schild voller Argwohn.
«Vielleicht sollten wir einem der Handwerker sagen, dass er sich darum kümmern soll», schlug sie vor.
Paolo schüttelte den Kopf. «Das Schild bleibt, wie es ist, und damit basta», sagte er mit einer Entschiedenheit, die ihm recht italienisch-männlich vorkam. Einen der Arbeiter, bei denen es sich ohne Ausnahme um ebenso breitschultrige wie sonnengebräunte Hünen handelte, um Hilfe zu bitten, wäre einer Bankrotterklärung gleichgekommen. Auch so hatte er schon den Eindruck, dass sich die Naturburschen in ihren kurzen Cargohosen und den schneeweißen, über Muskelbergen gespannten T-Shirts über ihn lustig machten, wann immer er ihnen den Rücken zuwandte.
«Come vuole.» Lucia zuckte mit den Schultern. «Der Geometer hat übrigens angerufen, er kommt morgen früh zur Besprechung und bringt noch jemanden mit.»
«Oje», sagte Paolo nur. Den Vermessungsingenieur hatten sie verpflichtet, weil der versichert hatte, alle notwendigen Befugnisse zu haben, jedoch sehr viel weniger zu kosten als ein Architekt. Gerade Letzteres betreffend hatte Paolo inzwischen erhebliche Zweifel. «Und wen wird er diesmal mitbringen? Seinen Stiefbruder? Den Cousin vierten Grades?»
«Seinen Lieblingsschwager», erwiderte Lucia prompt. «Er ist installatore und wird sich um die Wasserleitungen und die Bäder kümmern.»
«Verstehe», sagte Paolo mit einiger Resignation.
Wie sich gezeigt hatte, verfügte Signor Fernandi, so der Name des findigen Geometers, über eine weitverzweigte Verwandtschaft, die sämtlich in der Baubranche tätig zu sein schien und die er – zweifellos gegen eine gewisse Provision – bevorzugt vermittelte. Kostenvoranschläge oder gar Ausschreibungen nach deutschem Vorbild schienen auf italienischen Baustellen unüblich zu sein, man verpflichtete einfach denjenigen, der einem warm empfohlen wurde, und Fernandi hatte für so ziemlich jedes Gewerk eine warme, weil familiäre, Empfehlung: Neben einem Bruder, der eine kleine Baufirma betrieb, zählte er auch Maler, Verputzer, Dachdecker und Elektriker zu seiner Verwandtschaft, die alle auf den schönen Namen Fernandi hörten und den Geschäftssinn ihres landvermessenden Verwandten teilten …
«Cosa c’è adesso?» Lucia sah ihn kritisch von der Seite an. «Was ist das für ein Gesicht?»
«Ein besorgtes», erklärte Paolo. «Unsere Rücklagen schmelzen wie gelato in der Sonne.»
«Wollen Sie fließendes Wasser im Hotel oder nicht?»
«Natürlich.» Paolo nickte. Die alten Leitungen waren so marode gewesen, dass sie hatten entfernt werden müssen, insofern hatte es hier keine Alternative gegeben. «Aber wir können uns keinen Schnickschnack leisten», mahnte er an.
«Certo», bestätigte Lucia.
«Gut. Es wäre schön, wenn Sie das dem installatore vor der Besprechung erklären könnten.»
«Wieso ich?» Ihre großen dunklen Augen sahen ihn an.
«Nun, weil Sie dabei sein werden», erklärte Paolo rundheraus. «Ich brauche Sie zum Übersetzen.»
«No, Sie brauchen mich nicht.» Lucia schüttete den Kopf, dass der Pferdeschwanz nur so flog. «Ihr Italienisch ist viel besser geworden. Sie verstehen alles, was gesprochen wird.»
«Aber über geschäftliche Dinge zu verhandeln, ist etwas anderes», gab er zu bedenken.
«Ich habe eine große Bestellung zu kochen», wandte sie ein und hob eine gespreizte Hand. «Un menu con cinque portate!»
«Bitte», sagte er eindringlich und wusste dabei selbst nicht, warum er so unbedingt wollte, dass sie an der Besprechung teilnahm. Es stimmte nämlich, seine Italienischkenntnisse, die über die Jahre doch arg eingerostet waren, hatten sich im Lauf der letzten Monate deutlich verbessert, und das nicht zuletzt durch Lucias Unterstützung. War es also möglich, dass er sie aus einem anderen Grund dabeihaben wollte? Weil er sich einfach besser, sicherer fühlte in ihrer Gegenwart? Es war schließlich nicht nur die Sprache, Lucia war Italienerin und kannte auch die Gebräuche in diesem Land, wusste Mimik und Gesten der Menschen viel besser zu deuten. Es mochte ein Vorurteil sein, und er war gewiss nicht stolz darauf, aber wann immer er mit ihren italienischen Geschäftspartnern allein war, hatte Paolo das Gefühl, übers Ohr gehauen zu werden.
Lucia sah ihn forschend an. «Sie müssen mehr vertrauen», sagte sie und bewies damit einmal mehr, wie gut sie ihn inzwischen kannte.
Paolo nahm die Sonnenbrille ab und massierte sich die Nasenwurzel. «Vermutlich», gab er schließlich zu. «Es ist nur leider so, dass mir langsam das Geld ausgeht.»
«Das tut mir leid», versicherte Lucia. «Aber Sie wollten das unbedingt, sì? Dabei hatte ich Sie gewarnt …»
Paolo schnaubte – das stimmte leider. Und sie hatte ihn nicht nur davor gewarnt, sondern auch vor der Hitze und vor anderen Unannehmlichkeiten. Etwa Sand an seinen Füßen.
Sie sah ihn weiter forschend an. Und endlich nickte sie, ob aus Verständnis oder Mitleid, vermochte er nicht zu sagen. Und eigentlich war es ihm auch egal.
«Tutto bene», sagte sie, «ich bin dabei. Unter einer Bedingung.»
«Welcher?»
Statt etwas zu erwidern, griff sie in eine der Brusttaschen ihres Overalls und beförderte ein Briefkuvert zutage, das sie auf die Hälfte gefaltet hatte.
«Was ist das?», wollte Paolo wissen.
«Una lettera», erklärte sie, während sie das Kuvert entfaltete. «Von meiner Freundin Chiara.»
«Tatsächlich?» Paolo setzte die Brille wieder auf und gab sich neugierig, während ihn eine unheilvolle Ahnung beschlich. Chiara war Lucias beste Freundin – eine für Paolos Empfinden ziemlich schrille junge Frau, deren hervorstechendste Eigenschaft ein geradezu legendäres Pech mit Männern war. Das Beste an ihr war, dass sie nicht hier in Cervia wohnte …
Das Kuvert war bereits zuvor geöffnet worden, sodass Lucia nur hineinzugreifen brauchte, um die beiden Eintrittskarten hervorzuholen, die darin lagen.
«Sie werden mich begleiten», erklärte sie dazu.
«Kommenden Sonntag. Nach Rimini, ins Teatro Amintore Galli. Chiaras neuer Freund gibt dort ein großes Konzert. Er ist un cantante d’opera …»
«Ein Opernsänger?» Paolo schürzte erstaunt die Lippen – so viel Affinität zu Kunst und Kultur hatte er Lucias Freundin gar nicht zugetraut.
«Sì, und er gibt ein concerto di beneficenza zugunsten von armen Kindern», fügte Lucia hinzu. «Wir beide sind eingeladen.»
«Wir beide?» Paolo hob die Brauen.
«Allora, Chiara hat mir zwei Karten geschickt», erklärte Lucia ein wenig unwirsch. «Und da ich keine Lust habe, alleine hinzugehen …»
«Auf keinen Fall.» Paolo schüttelte kategorisch den Kopf. Wenn es etwas gab, das er noch mehr hasste als Sonne, Strand und Hitze, dann waren es Menschenmengen. Speziell bei Galakonzerten oder großspurigen Empfängen.
Zu viele Gesichter, zu viele Stimmen.
Und entschieden zu viele Bakterien …
«Come vuole.» Sie steckte die Karten wieder ins Kuvert zurück und war schon dabei, sich abzuwenden. «Dann sprechen Sie allein mit dem installatore. Buona fortuna!»
«Moment!», sagte Paolo, etwas zu schnell und heiser, um italienisch-männlich zu wirken. «Ich meine, das wird nicht nötig sein», fügte er deshalb etwas gelassener und mit leicht gesenktem Tonfall hinzu. «Gut … Ich bin dabei.»
«Wie schön.» Sie lächelte über ihr ganzes sonnengebräuntes Gesicht. «Dann haben wir das geklärt.»
«Sieht so aus», knurrte Paolo. Er kam sich wieder einmal überrumpelt vor und war darüber ein wenig angesäuert. «Aber ich erwarte, dass Sie Ihre Arbeit richtig machen. Lucia», fügte er deshalb hinzu. Schließlich war er immer noch der patrono.
«Come?» Sie reckte verständnislos den Kopf vor.
«Sie haben die Ö-Striche vergessen», erklärte Paolo, mit lässiger Geste auf die Werbetafel deutend.
«Die … cosa?»
«Die Ö-Striche», bekräftigte er und nahm ihr den Pinsel aus der Hand, um die noch fehlenden Umlautzeichen zu ergänzen. Er war kaum damit fertig, als ein verräterisches Knirschen erklang – im nächsten Moment brach der lose Putz von der Wand, und das Schild fiel und zerbarst beim Aufschlag am Boden.
«Sì», stellte Lucia fest und nickte Paolo anerkennend zu. «Jetzt ist es viel besser.»
Die gute Nachricht: Es war nicht weit bis Rimini.
Über die strada statale 16, die parallel zur Küste verlief, waren es nur rund 30 Kilometer. Und da am Wochenende kaum Lkw auf der Straße fuhren, dauerte die Fahrt nur eine knappe halbe Stunde, vorbei an Geschäftshäusern und Einkaufszentren, die auch sonntags geöffnet hatten, sowie am malerischen Hafen von Cesenatico, wo alte, mit bunten Segeln betakelte Fischerboote vor Anker lagen.
Auch was den Fahrkomfort betraf, hatten Paolo und Lucia sich deutlich gesteigert. Statt des geliehenen, sich in gemeingefährlichem Zustand befindenden Fiat Panda aus den 1980er-Jahren fuhren sie jetzt einen gut gepflegten Jahreswagen, einen perlweißen Fiat Talento, der auch als Firmenfahrzeug diente und die erste Anschaffung ihres gemeinsamen Unternehmens gewesen war. «Hotel Il Cavaliere, Cervia», stand in geschwungenen Lettern darauf geschrieben, dazu ein Wappen, das einen Ritterhelm (wegen des cavaliere) und eine Strandpalme (wegen Cervia) zeigte, ein Entwurf von Lucia. Da Paolo keinen Führerschein besaß, war es auch Lucia vorbehalten, den Lieferwagen zu steuern, was sie mit viel Temperament tat.
Auf dem großen Parkplatz an der Viale Ortigara stellten sie das Fahrzeug ab und gingen zu Fuß weiter. Da sie viel zu früh dran waren, schlug Lucia vor, einen Spaziergang an der berühmten Strandpromenade zu unternehmen und das zu tun, was Italiener zu jeder Tageszeit taten – in eine Kaffeebar zu gehen und einen Espresso zu nehmen. Oder nur schlicht caffè, wie die Einheimischen das tiefbraune, in einer winzigen Tasse servierte Getränk nannten.
Selbst Paolo, der früher überhaupt nichts mit Kaffee hatte anfangen können und dem es gegraut hatte, wann immer er den bitterheißen Geschmack am Gaumen verspürt hatte, genehmigte sich nun hin und wieder ein Tässchen. Nicht nur, weil ihm das würzige, je nach Röstart und Mischung mitunter nach Karamell oder Schokolade schmeckende Aroma inzwischen sehr zusagte, sondern auch, weil er das Ritual schätzen gelernt hatte: den Duft frisch zubereiteten Kaffees zu schnuppern, dabei zuzusehen, wie der weiße Zucker langsam in der dickflüssigen, goldfarbenen crema versank, das kleine Getränk dann zu genießen und seine belebende Wirkung zu spüren, gab ihm ein Gefühl von innerer Ruhe und Gelassenheit.
Die Bar, für die sie sich entschieden, war das Nettuno, ein schneeweißer, in den breiten Strand hineinragender Rundbau, dessen Ursprünge bis in die Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts reichten. Die geschwungenen Formen und betonten Waagrechten, die es ein wenig wie ein Schiff wirken ließen, verströmten in Paolos Augen noch immer einen Hauch von Stromlinien-Moderne und Art déco. Obwohl sich auf dem den Bau umlaufenden Balkon hübsche kleine Zweiertische reihten, bestand Lucia darauf, ihren Espresso im Stehen an der Bar einzunehmen. Dann spazierten sie die Promenade hinab, die glücklicherweise nicht zum Bersten gefüllt war wie Mitte August, wenn nicht nur ausländische Gäste, sondern vor allem auch Italiener in Rimini Urlaub machten und die Hotels, Pensionen und Ferienhäuser vor Gästen überquollen. In Cervia war es im Hochsommer nicht anders, Paolo war es deshalb nicht unrecht gewesen, sich auf die Baustelle des Hotels zurückziehen zu können, zumal sich das Cavaliere nicht in vorderster Reihe am Strand befand, sondern eine Häuserzeile zurückgesetzt in einer schattigen Allee.
Auch jetzt war er erleichtert darüber, die von Palmen gesäumte Uferpromenade Riminis entlanggehen zu können, ohne sich bei jedem Schritt durch eine Menschentraube zu drängeln oder über herumrennende Kinder zu stolpern. Die Sonne war nicht mehr heiß und stechend, sondern sandte goldene, angenehm wärmende Strahlen über die Dächer der Hotels, die sich entlang des lungomare reihten und deren Namen – Belvedere, Cobalto oder Levante – Grandezza und sommerliche Leichtigkeit verhießen. Gegenüber, auf der dem Meer zugewandten Seite, lagen die von Nord nach Süd säuberlich durchnummerierten bagni, die freilich sehr viel mehr waren als gewöhnliche Strandbäder und nicht nur mit den obligatorischen Liegestühlen und Sonnenschirmen lockten, sondern auch mit Bewirtung, Spielplätzen, Sportangeboten und Animation. Jetzt, Ende September, waren diese Aktivitäten weitgehend zum Erliegen gekommen, sodass auch hier wohltuende Ruhe eingekehrt war. Nur hier und dort wurde noch Strandvolleyball gespielt, waren Radfahrer oder Jogger unterwegs und ein paar Spaziergänger am Strand, zu denen sich kurz entschlossen auch Lucia gesellte. Während Paolo es vorzog, oben auf der gepflasterten Promenade zu bleiben, zog sie ihre hochhackigen Ledersandaletten aus und warf sie sich über die Schulter. Mit der anderen Hand raffte sie den Saum ihres Abendkleids und stieg die steinernen Stufen zum Strand hinab. Dabei kicherte sie wie ein Mädchen, aber es hatte nichts Aufgesetztes an sich. So war Lucia, und ihre bodenständige, offene Art war einer der Gründe, warum Paolo sie so schätzte.
Aus sicherem Abstand beobachtete er, wie sie barfuß durch den bereits im Schatten liegenden und daher kühlen Sand ging, hinter ihr das glitzernde Meer und der sich orangerot verfärbende Himmel. Ihr schwarzes Haar trug Lucia hochgesteckt, sodass ihr Profil gut zur Geltung kam, das fein geschnittene Gesicht mit den vollen Wangen und die kleine, vorwitzige Nase. Das Kleid, das sie trug, war ihrer Vorliebe für Blumenmuster gemäß im unteren Drittel mit rosafarbenen Blüten versehen, die daran emporzuwachsen schienen. Es hatte einen V-förmigen Ausschnitt und sich im Rücken kreuzende Träger.
Paolo hatte auf Abendgarderobe verzichtet. Nicht nur, weil sein Smoking noch immer im Schrank in seiner Münchener Wohnung hing, sondern auch, weil er sich vorgenommen hatte, in seinem neuen italienischen Leben weniger steif und förmlich zu sein, als er es früher gewesen war, eben weniger tedesco. Er trug daher den hellen Sommeranzug, den er gerne mochte, den zu tragen er in letzter Zeit allerdings nur wenig Gelegenheit gehabt hatte – statt Hemd und Krawatte waren auf der Baustelle die T-Shirts angezeigt, die Lucia im nahen Einkaufszentrum im preiswerten Dreierpack besorgt hatte. Zum Anzug passend trug Paolo den Borsalino, den er damals in Parma erstanden hatte und der ihm unter südlicher Sonne ein treuer Begleiter geworden war.
«Das ist herrlich!», rief Lucia und winkte zu ihm herauf, bis über beide Knöchel im Sand stehend. «Sind Sie sicher, dass Sie es nicht mal wieder versuchen wollen?»
«Ganz sicher», beteuerte Paolo.
Er hatte Sand an den Füßen nie gemocht, schon als Kind nicht. Inzwischen hatte er sogar eine regelrechte Aversion dagegen entwickelt, für die es vermutlich einen komplizierten lateinischen Ausdruck gab. Paolo hatte sich nie darum gekümmert, er hatte schließlich andere Baustellen zu versorgen, und das teils im wörtlichen Sinn …
«Siete un codardo», rief sie ausgelassen herauf, um sich gleich darauf selbst zu übersetzen: «Sie sind ein Feigling!»
«Sì», gab Paolo unumwunden zu. «Aber ein Feigling mit ganz sauberen Füßen, im Gegensatz zu Ihren.»
Es war zur netten Gewohnheit geworden, dass sie sich auf diese Weise neckten, und in solchen Fällen kam es ihm seltsam vor, dass sie sich noch immer siezten, obwohl sie doch Geschäftspartner und Kollegen waren und so ziemlich jeden Tag zusammen verbrachten. Aber nachdem Lucia nach dem geplatzten Verkauf des Hotels zunächst alles andere als gut auf Paolo zu sprechen gewesen war, hatten sie wohl irgendwie den geeigneten Zeitpunkt verpasst, um von der förmlichen zur vertrauteren Anrede überzugehen. So war Lucias Wut ihrem temperamentvollen, jedoch gutmütigen Wesen entsprechend inzwischen verflogen, eine gewisse Distanz jedoch geblieben.
Getrennt setzten sie ihren Spaziergang fort. Erst als sie sich dem Ruota Panoramica näherten, dem großen Riesenrad, das am Ende der Landzunge aufragte, verließ Lucia den Strand. Pragmatisch setzte sie sich auf das Mäuerchen, das Sand und Asphalt trennte, reinigte ihre nackten Füße und schlüpfte wieder in die Sandaletten, deren dünne Riemchen sie sorgfältig schloss.
«Pronto», vermeldete sie lächelnd. «Und jetzt fahren wir mit dem Radriesen.»
«Es heißt Riesenrad», verbesserte Paolo, dem schon beim Anblick des 60-Meter-Giganten schwindelig wurde, «und ich werde dieses Monstrum ganz sicher nicht betreten!»
«Nur mal gucken, sì?»
Sie nahm ihn am Arm und zog ihn mit. Das ruota, das bei geeignetem Wetter eine Fernsicht von zwanzig Kilometern versprach, erinnerte Paolo stets ein wenig an seine Zeit in den USA und an den Pier von Santa Monica, und vermutlich war diese Assoziation auch beabsichtigt. Was allerdings nicht bedeutete, dass er seinen Fuß in das Vehikel gesetzt hätte.
«Es muss großartig sein, damit zu fahren», meinte Lucia versonnen und war schon drauf und dran, sich in die Schlange derer einzureihen, die vor dem Kassenhäuschen warteten.
«Dann fahren Sie doch», forderte Paolo sie auf, «ich werde so lange hier warten.»
«Ihr Ernst?»
«Mein voller Ernst.»
«Perché?» Sie deutete an dem Riesenrad empor, dessen aus unzähligen Glühlampen bestehende Beleuchtung in diesem Moment ansprang und es weithin sichtbar machte. «Es ist kein Flugzeug, richtig?»
«Nein, ist es nicht», gab Paolo zu.
«Und es ist sicher», fügte sie hinzu, auf ein Schild deutend, auf dem tatsächlich stand, dass sich kein Geringerer als der TÜV München um die technische Abnahme des Riesenrads gekümmert hatte – vermutlich, um auch misstrauische deutsche Touristen zum Einsteigen zu bewegen. «Tutto tedesco, tutto sicuro», schüttelte Lucia kurzerhand ein neues Sprichwort aus dem Ärmel, aber auch das half nichts.
«Die Höhe», gestand Paolo schließlich ein, dabei lotrecht nach oben deutend. «Ich habe ein Problem mit Höhe.»
«Da quando?»
«Schon immer», gab er zu, seufzend und auch ein wenig widerwillig. Lucia gehörte ohnehin zu den wenigen Personen, denen er von seiner Vergangenheit, vom tragischen Tod seiner Eltern, vom Zerwürfnis mit Felix und auch von seiner speziellen Gabe erzählt hatte. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen noch seltsameren Kauz hielt, als er ohnehin schon war. Und er war ziemlich seltsam …
«Oh», machte Lucia, besann sich einen Augenblick und zuckte dann mit den Schultern. «Dann eben nicht», sagte sie leichthin.
«Sie brauchen meinetwegen nicht zu verzichten», versicherte Paolo schnell. «Ich warte einfach solange.»
«No grazie», sagte sie schlicht und ging weiter, ohne den sich jetzt munter drehenden Stahlkoloss noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie passierten die Marina, an der die Jachten der Schönen und Reichen vertäut lagen und jetzt, am Ende der Saison, von grauen Planen bedeckt ihrem Winterschlaf entgegendümpelten; anschließend folgten Paolo und Lucia dem Hafenkanal, ehe sie in die Viale Flavio Gioia abbog. Auf diese Weise gelangten sie in den Stadtpark, der nach dem wohl berühmtesten Sohn der Stadt benannt war, dem Filmregisseur Federico Fellini.
Im Hochsommer herrschte auch hier reges Treiben, jetzt gab es nur wenige Ruhesuchende, die auf den Bänken unter den alten Pinien und Kiefern saßen. Rings um die Fontana dei Quattro Cavalli, so benannt, weil das Becken des Springbrunnens von vier in Stein gemeißelten Pferden getragen wurde, hatten sich Straßenkünstler niedergelassen, vermutlich Studentinnen und Studenten der benachbarten Akademie der schönen Künste.
Paolo fühlte sich an die Tage seiner Kindheit erinnert und die Italienurlaube mit der Familie. Auch damals hatten Zeichner, Scherenschnittkünstler und Karikaturisten um die Aufmerksamkeit der Touristen gebuhlt, und ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Paolo und Felix bei einem der Maler Porträt saßen, als Weihnachtsgeschenk für die Großmütter. Und während Felix es geliebt hatte, auf dem kleinen Klappstuhl zu hocken und sich im Schein einer nackten Glühbirne, in dem sich Abertausende von Stechmücken tummelten, in Szene zu setzen, wäre Paolo vor Scham am liebsten im Boden versunken.
«Buonasera, signore», sprach prompt ein junger Mann, der vor einer ganzen Wand recht gelungener, mit Bleistift gezeichneter Porträtbilder saß, Paolo an. «Wer eine so schöne Frau hat, will sicher auch ein Bild von seiner Herzdame haben?»
Schalk blitzte aus den Augen und dem Lächeln des Studenten – denn welcher italienische Mann hätte so eine Frage, die ihm zugleich schmeichelte und ihn an der Ehre packte, ernstlich verneint?
Bei Paolo war er damit allerdings an den Falschen geraten. «Nein danke», schnaubte er auf Deutsch, von dem er ziemlich sicher war, dass der Student es verstand. «Erstens haben wir es eilig, und zweitens ist dies nicht meine regina di cuori.»
Der Student öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und schloss ihn dann etwas betrübt wieder.
Sie gingen wortlos weiter.
«Sie haben nicht nur ein Problem mit Höhe», stellte Lucia fest, nachdem sie den Park verlassen hatten.
«Wie bitte?»
«Mit den Augen auch.»
«Was?» Er sah sie von der Seite an, aber sie blickte unbeirrt geradeaus. «Nei-nein», erwiderte er ein wenig verwirrt, «mit den Augen habe ich kein Problem. Ich meine, gelegentlich benutze ich eine Lesebrille, aber …»
«Nonsenso», fiel sie ihm ins Wort. «Der Student sieht jedenfalls sehr viel besser als Sie.»
Paolo hatte keine Ahnung, was plötzlich in Lucia gefahren war, und er beschloss, dass er es auch nicht verstehen musste; als sie das Teatro Amintore Galli erreichten, war ihre seltsame Laune schon wieder verflogen.
Das Theater lag malerisch am oberen Ende der Piazza Cavour. Der länglich geformte Platz, einst das Zentrum des mittelalterlichen Rimini, wurde umrahmt von noch immer imposanten, altehrwürdigen Bauwerken: dem bis auf das Jahr 1204 zurückdatierenden Palazzo dell’Arengo und dem Palazzo del Podestà, die mit Bogen, Zinnen und Turm wie kleine Burgen wirkten, und dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Palazzo Garampi, der die Gemeindeverwaltung beherbergte. Auf der anderen Seite des Platzes, den palazzi gegenüber, befand sich eine aus Stein errichtete Markthalle, die Veccia Pescheria, in der einst fangfrischer Fisch zum Kauf feilgeboten worden war. Die steinernen Brunnen und Verkaufstische legten davon noch immer Zeugnis ab. Den vorderen Bereich des Platzes nahmen eine imposante Statue ein, die ihrer Aufschrift nach Papst Paul V. zeigte, sowie ein kreisförmiger Brunnen, der mit römisch anmutenden Fresken verziert war und von einem großen, aus Stein gehauenen Pinienzapfen gekrönt wurde.
«Das ist die Fontana della Pigna», erklärte Lucia. «Die Leute hier sind ganz besonders stolz auf diesen Brunnen.»
«Warum?», wollte Paolo wissen.
«Wegen Leonardo da Vinci.»
«Leonardo hat den Brunnen entworfen?»
«No – der Meister ist 1502 hier gewesen und fand ihn schön», entgegnete Lucia achselzuckend und deutete im Vorbeigehen auf die entsprechende Gedenktafel.
Paolo gönnte sich ein Schmunzeln – es würde das letzte sein für eine Weile, denn jenseits des Brunnens tummelten sich bereits die Ehrengäste und Honoratioren, die zum Konzert geladen waren, unter eigens errichteten, schneeweißen Baldachinen, die wie Segel aussahen.
Beim Anblick der Menschenmenge befiel Paolo sofort körperliches Unwohlsein, zumal er jetzt feststellen musste, dass er den Dresscode offenbar doch unterschätzt hatte: Die meisten der Geladenen trugen Abendgarderobe, und jene, die es nicht taten, gehörten jener Garde junger Freigeister an, die bei solchen Veranstaltungen immer anzutreffen waren und denen man eine gewisse Nonchalance zugestand. Ansonsten waren die Herren in elegante Smokings und Dinneranzüge gehüllt, die Damen in schimmernde und glitzernde Abendkleider in dunklen Farben.
«Da seid ihr ja!»
Eine junge Frau kam winkend auf Paolo und Lucia zu. In ihrem knallgelben Kleid und mit dem langen blonden Haar hob sie sich merklich von den anderen Gästen ab. «Wie schön, dass ihr gekommen seid!»
«Chiara!» Ehrliche Freude erhellte Lucias Züge, als sie die Freundin erblickte. Was folgte, war das herzliche Umarmen und Küssen, das in diesen Breiten unter Freunden obligatorisch war und an das Paolo sich noch immer nicht recht gewöhnt hatte. Auch in den Münchener Kreisen, in denen er sich mit Julia bewegt hatte, hatte das Bussi unter Freunden dazugehört, doch hatte Paolo es nördlich der Alpen stets unterbunden – hier ließ er es zu. Als alarmierend unhygienisch empfand er es zwar immer noch, aber auch als offen und freundschaftlich. Und auf Lucias eindringliches Anraten hin sah er inzwischen auch davon ab, unmittelbar im Anschluss das Desinfektionsmittel zu benutzen, das er stets in der Jackentasche hatte.
Nach der Begrüßung begannen die beiden Freundinnen draufloszuschnattern, so laut und schnell, dass Paolo nur die Hälfte verstand. Da sie zudem beide aus der Basilikata stammten, pflegten sie, wenn sie untereinander sprachen, auch einen eigentümlichen Dialekt, der es für Paolo noch schwerer machte, ihnen zu folgen. Stattdessen tat er, was er am besten konnte – er beobachtete. Und so entgingen ihm nicht die Blicke, mit denen andere Gäste – insgesamt mochten es um die fünfhundert sein – Lucias Freundin bedachten. Chiara wusste, wie man Aufmerksamkeit erregte, auch Paolo musste zugeben, dass die Frau, der er sonst nur wenig abgewinnen konnte, in ihrem Kleid ein ziemlicher Blickfang war.
Nicht nur der Farbe wegen, die an sonnengereifte Zitronen denken ließ, stach es aus der Menge hervor. Es war knöchellang und auf der linken Seite bis in atemberaubende Höhen geschlitzt. Auch hatte das Kleid keine Träger, sondern wurde lediglich von fünf raffiniert gesetzten Knöpfen an der Seite gehalten. Dazwischen schimmerte nahtlos gebräunte Haut durch und ließ erkennen, dass sie nicht allzu viel darunter trug. Chiaras Gesicht, hübsch und ebenmäßig, wenn auch nach Paolos Empfinden ein wenig schmal, war mit Unmengen von Make-up versehen. Langes Haar wallte über die nackten Schultern, das schon ob seiner blonden Farbe dazu angetan war, italienische Männer in confusione zu stürzen. Auch wenn die dunklen Haaransätze am Scheitel verrieten, dass Chiara hier ein wenig nachgeholfen hatte. Ebenso wie bei dem Duft, der sie umgab und für Paolos Geschmack entschieden zu blumig und mädchenhaft roch.
Chiara war einen guten Kopf größer als die etwas gedrungene Lucia, und ihre sportliche Figur verriet, dass sie öfter im Gym zu Gast war, allerdings sicherlich weniger Gesundheit und Fitness zuliebe, als um das männliche Geschlecht zu beeindrucken, was ihr zwar mit großem Erfolg, aber selten nachhaltig gelang. Männer und sie, das war eine wahre tragedia, und es kam immer wieder vor, dass nachts Lucias Handy klingelte und Chiaras von Tränen halb erstickte Stimme am anderen Ende der Verbindung war, weil wieder einer ihrer Liebhaber verflossen war.
Seit einigen Wochen allerdings hatte Chiara sich nicht mehr gemeldet. Der Grund dafür hieß Lysandro, wie selbst Paolo dem Gespräch entnehmen konnte, schon deshalb, weil der Name alle paar Sekunden fiel. Und wann immer Chiara ihn in den Mund nahm, leuchteten ihre Augen vor Begeisterung.
«Lysandro Caruso – der neue Superstar am Nachthimmel von Rimini», las Paolo jetzt von dem riesigen Plakat ab, das an der Front des Theaters hing und das Konterfei eines zugegebenermaßen unverschämt gut aussehenden jungen Mannes Ende zwanzig zeigte. Schwarz gelocktes Haar umrahmte klassische, maskuline Züge, aus denen dem Betrachter ein strahlend blaues, ebenso verletzlich wie geheimnisvoll wirkendes Augenpaar entgegenblickte. Wenn der Wunderknabe schon als Fotografie so zu beeindrucken wusste, wie mochte er dann erst auf der Bühne wirken? Was Lucia betraf, konnte Paolo es nicht sagen, dazu kannte er ihren Männergeschmack zu wenig. Auf Julia allerdings hätte dieser Typ Mann ziemlichen Eindruck gemacht. Und was Chiara betraf, so schien sie ihm rettungslos verfallen zu sein.
«Er ist der Beste!», behauptete sie und zog ihr Kleid zurecht. «Wartet ab, bis ihr seine Stimme hört, sie wird euch regelrecht verzaubern!»
«Wir können es kaum erwarten», versicherte Lucia lächelnd, die sich ehrlich für ihre Freundin freute, während Paolo mehr an praktischen Dingen interessiert war.
«‹Caruso› ist nicht sein richtiger Name, nehme ich an», sagte Paolo.
«Sie nehmen falsch an», antwortete eine heisere Stimme hinter ihm, und ein vielleicht siebzigjähriger Mann trat zu ihnen. Sein kurz geschnittenes Kraushaar und der gepflegte Kinnbart waren schlohweiß, der nachtblaue Anzug mit dem weißen Einstecktuch war schon ein wenig in die Jahre gekommen und glänzte an den Schultern. «Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Carlo Benini.»
«Signor Benini ist Lysandros erster Gesangslehrer hier in Rimini gewesen», fügte Chiara erklärend hinzu. «Er war derjenige, der sein Talent schon ganz früh entdeckt und gefördert hat.»
«In aller Bescheidenheit», schränkte Benini lächelnd ein. «Inzwischen ist Lysandro Caruso längst über mich hinausgewachsen.»
«Dann sind Sie als Lehrer erfolgreich gewesen», folgerte Paolo und überließ es Lucia, sich und ihn vorzustellen.
«Piacere», versicherte Benini und kam dann gleich wieder auf sein offenkundiges Lieblingsthema zu sprechen. «Lysandro ist wirklich ein außergewöhnlicher Tenor – nicht nur ich sage das, sondern auch viele Kritiker. Was seinen ehrwürdigen Nachnamen betrifft, so weiß zwar niemand so genau, ob tatsächlich das Blut des großen Enrico in seinen Adern fließt, aber Rimini darf stolz sein auf diesen Sohn der Stadt, der ohne Zweifel eine große Karriere vor sich hat!»
«Und er ist so herzensgut», ergänzte Chiara, «ganz besonders zu Kindern, deshalb veranstaltet er dieses Konzert. Er will übrigens auch selbst welche haben», fügte sie mehr an Lucia gewandt hinzu, aber auch Paolo und Signor Benini konnten es hören.
«Wie lange seid ihr denn schon zusammen?», fragte Paolo, um irgendetwas Unverfängliches zu sagen, obwohl er es ziemlich genau aus Lucias Erzählungen wusste.
«Sieben Wochen und zwei Tage!»
«Donnerwetter!», platzte Paolo heraus, ehe er sich selbst am Sprechen hindern konnte. Lucia versetzte ihm dafür einen Rippenstoß.
«Das ist ganz wunderbar», sagte sie dabei lächelnd in Chiaras Richtung. «Alle deine Träume werden endlich wahr.»
«Sì», bestätigte Chiara versonnen und strich sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht. «Als Lysandro und ich uns trafen, war es Liebe auf den ersten Blick. Er hat ein kleines Haus am Strand, da sind wir in der ersten Woche gar nicht mehr herausgekommen. Er hat einen wunderbar großen …»
«… Geländewagen», fühlte Paolo sich vorsichtshalber genötigt zu ergänzen. Vom Tablett eines Kellners angelte er zwei Gläser Prosecco und reichte sie den Damen in der Hoffnung, Chiaras Erzählfreude damit zumindest vorübergehend Einhalt zu gebieten. Auch sich selbst genehmigte er ein Gläschen und reichte Signor Benini ein weiteres.
«Auf Chiara und Lysandro!», sagte Lucia, und sie hoben die Gläser und tranken, und für einen kurzen Moment herrschte, von den sie umgebenden Stimmen einmal abgesehen, wohltuende Ruhe.
Allerdings nicht für lange …
«Lysandro ist so ein wunderbarer Mensch», fuhr Chiara erbarmungslos fort, kaum dass sie ihr Glas geleert hatte. «Ich kann es kaum erwarten, ihn euch nachher beim Essen vorzustellen!»
Paolo verschluckte sich fast am Schaumwein. Er wünsche sich inständig, etwas falsch verstanden zu haben, was bei seinen Italienischkenntnissen durchaus vorkam. Aber ausgerechnet dieses Mal leisteten sie ihm zuverlässige Dienste …
«Im Anschluss an das Konzert gehen wir alle zusammen essen, ja?», quasselte Chiara weiter, und es klang nicht wie eine Frage. «Signor Benini hat einen Tisch im Zio reserviert.»
«Zu schade», meinte Paolo und gab sich Mühe, dabei bekümmert auszusehen, «das werden wir leider nicht schaffen. Nicht wahr, Lucia?»
«Warum nicht?» Lucia sah ihn über den Rand ihres Glases hinweg an, wobei es in ihren Augen herausfordernd funkelte. «Haben Sie heute noch etwas vor?»
«Äh … nein», musste Paolo zugeben. «Aber das Hotel, die Renovierung, die Besprechung morgen früh …»
«Bitte erweisen Sie uns die Ehre», sagte Benini und legte ihm jovial eine Hand auf die Schulter. «Chiaras Freunde sind auch Lysandros und meine Freunde!»
«Aber ich …», unternahm Paolo noch einen letzten, verzweifelt wirkenden Versuch, sich der Einladung zu entziehen. So ein Konzert war an sich schon eine Zumutung – anschließend noch mit mehr oder weniger fremden Menschen in einem Restaurant um einen Tisch zu sitzen und Höflichkeiten auszutauschen, war einfach zu viel …
«Ich bestehe darauf», stellte Carusos alter Mentor klar, und sein Blick machte deutlich, dass er eine weitere Ablehnung als Ehrverletzung ansehen würde. Und selbst Paolo wusste inzwischen, dass es keine gute Idee war, dies einem Italiener anzutun. Von dem Blick, mit dem Lucia ihn schon seit einer Weile bedachte, ganz zu schweigen …
«Also schön», meinte er und rang sich ein gequältes Lächeln ab. «Vielleicht, auf einen kleinen Happen …»
«So ist es gut.» Benini lachte krächzend und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, und im nächsten Moment erklang auch schon das Signal, das die Gäste aufforderte, sich ins Innere des Theaters zu begeben.
Sofort formierten sich Schlangen, die durch die fünf geöffneten Pforten ins geräumige, von Säulen getragene Foyer drängten. Von Lucia hatte Paolo erfahren, dass das Theater, das nach dem Komponisten Amintore Galli benannt war, bei einem Bombenangriff im Jahr 1943 komplett zerstört worden war. Erst in den 1970er-Jahren hatte man mit dem Wiederaufbau und der Restaurierung begonnen, die abschnittweise erfolgt und erst im vergangenen Jahr endgültig abgeschlossen worden war. Mit einer Aufführung von Verdis «Simon Boccanegra» hatte das neue Teatro Galli nach beinahe fünfzig Jahren seinen Betrieb wieder aufgenommen, und soweit Paolo es beurteilen konnte, hatte sich der Aufwand wirklich gelohnt.
Der Theatersaal war im klassisch halbrunden Stil gehalten, mit übereinander angeordneten Logen, die in vier Stockwerken über dem Parkett thronten. Kunstvolle Ornamente aus Stuck, mit rotem Samt bezogene Zuschauersitze sowie von goldenen Greifen gehaltene Lampen beschworen den Glanz der großen Opernhäuser herauf – Paolo kam nicht umhin, beeindruckt zu sein. Die Sitzplätze, die man ihnen anwies, befanden sich in der vordersten Reihe des Parketts, unmittelbar vor dem Orchestergraben, sodass sie freie Sicht auf die Bühne hatten.
Lucia und Chiara nahmen nebeneinander Platz, wie es sich für beste Freundinnen gehörte, dann kam Signor Benini, zuletzt Paolo. Der Platz neben ihm war leer, und damit es auch so blieb, legte er kurzerhand seinen Borsalino darauf. Viel half das allerdings nicht. Denn noch während die Zuschauer in den Saal drängten und das Orchester im Graben die Instrumente stimmte, kam ein breitschultriger, hünenhaft anmutender Mann und ließ sich neben Paolo auf den Sitz fallen.
Und den Borsalino.
Paolo wollte wütend protestieren, als ihm jäh bewusst wurde, dass er den Hünen kannte. Der Mann war braun gebrannt, hatte blondes Haar und einen Vollbart, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Und anders als die übrigen Gäste trug er kurze Turnhosen, ein Ringershirt und ausgelatschte Turnschuhe und roch penetrant nach Schweiß.
Felix, dämmerte es Paolo.
Genau so, wie er ihn in Erinnerung hatte, einschließlich des strengen Geruchs …
«’ne Weile nicht gesehen, Bruderherz», begann der Besucher, während er die langen Beine bequem übereinanderschlug, so als wäre er gekommen, um zu bleiben.
«Dazu bestand auch kein Anlass», erwiderte Paolo schnaubend, wenn auch nur in seinen Gedanken. «Ich dachte, wir hätten uns verabschiedet.»
Aus seinen blauen Augen sandte Felix ihm einen Seitenblick. «Das habe ich auch gedacht, Kleiner. Aber so ist das Leben, nicht wahr? Unverhofft kommt oft. Offenbar brauchst du mich.»
«Ich?» Paolo hob die Brauen. «Wieso sollte ich dich brauchen?»
«Wie geht die Renovierung voran?», fragte Felix. «Wie geht es meinem Hotel?»
«Deinem Hotel? Soweit ich weiß, hast du es mir hinterlassen.»
«Zugegeben. Aber so ganz trennt sich ein Mann nie von seinem Grund und Boden. Und was ist mit Lucia?»
Paolo, der schon etwas Gepfeffertes hatte erwidern wollen, hielt resignierend inne. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Dies war seine Superkraft. Sein Segen, seine Gabe, sein Fluch. Ganz gleich, wie er es nannte, ob er dagegen ankämpfte oder sich damit arrangierte, sein hyperthymestisches Gedächtnis war sein ständiger Begleiter. Eine seltene Nischenbegabung, die dafür sorgte, dass er nichts vergaß. Im Gegenteil, von einem bestimmten Tag an – dem 11. August 1982, um genau zu sein – erinnerte er sich an alles, was er in seinem Leben gesehen, gerochen, gehört oder gesagt hatte, auch an die kleinste Kleinigkeit.
Zwar hatte ihn diese Fähigkeit zu einem der erfolgreichsten Fall-Analytiker gemacht, die je beim LKA München gearbeitet hatten, und ihm zudem geholfen, die dramatischen Vorkommnisse in Parma vor einem halben Jahr zu klären; aber sie hatte auch Schattenseiten, denn sie unterschied nicht zwischen guten und schlechten Erinnerungen. Die einen waren für Paolo so gegenwärtig wie die anderen, und alle spukten so lebendig in seinem Kopf herum, dass er bisweilen die Kontrolle über sie verlor. Dann pflegten sie seinem Unterbewusstsein fröhlich zu entsteigen und ihn spontan zu besuchen. So wie dieses Abbild von Felix, das im Augenblick neben ihm saß, so farbig und dreidimensional, als wäre sein verstorbener Bruder tatsächlich da.
Paolo warf einen Seitenblick zu Lucia, die nichts gemerkt hatte und sich weiter angeregt mit Chiara unterhielt. Er hatte zwar gelernt, seine Zwiegespräche mit der Vergangenheit zumindest einigermaßen zu verbergen, doch ihm war klar, dass er auf aufmerksame Beobachter bisweilen noch immer einen recht spleenigen Eindruck machte. Und er wollte Lucia nicht in Verlegenheit bringen …
«Was soll mit Lucia sein?», fragte Paolo ein wenig genervt dagegen, ohne den Mund zu öffnen. «Es ist alles in Ordnung.»
«So wie bei Julia.» Felix hatte jetzt plötzlich einen Beutel mit gerösteten Pistazien in der Hand, die er geräuschvoll futterte.
«Lass Julia aus dem Spiel, sie hat nichts damit zu tun», knurrte Paolo. «Lucia und ich sind schließlich nicht zusammen. Wir sind lediglich Geschäftspartner, genau wie ihr es damals gewesen seid.»
«Verstehe», sagte Felix und erwiderte sonst nichts darauf. Stattdessen stopfte er sich nur ein paar weitere Pistazienkerne in den Mund und spuckte anschließend die Schalen aus, wie er es früher immer getan hatte. Und auch da hatte es Paolo schon genervt.
«Mal einen Blick ins Konzertprogramm geworfen?», fragte er knuspernd, auf den Flyer deutend, den Paolo im Foyer mitgenommen hatte.
«Natürlich», erwiderte Paolo zähneknirschend, «sonst wüsstest du ja nichts davon.»
«Sie spielen auch was aus ‹Turandot›.»
«Ich hab’s gelesen.»
«Das war Mutters Lieblingsoper.»
«Ich weiß.» Paolo nickte. Er mochte es nicht, wenn Felix auf diese Dinge zu sprechen kam, denn das weckte nur weitere Erinnerungen … schmerzliche Erinnerungen an den Unfalltod ihrer Eltern bei einem Flugzeugabsturz.
«War es das, was du mir zu sagen hast?», fragte er deshalb energisch. Die Musiker hatten das Stimmen der Instrumente beendet, das Konzert würde jeden Moment beginnen.
Felix sah ihn an, das Blau seiner Augen leuchtete durch das Dämmerlicht im sich langsam verdunkelnden Theatersaal. «Mach nicht denselben Fehler wie ich.»
«Keine Sorge», schnarrte Paolo. «Ich meide das Sonnenlicht, wo ich nur kann.»
«Das meine ich nicht, du Trottel. Der Straßenmaler hatte recht, Lucia sieht heute wunderschön aus in ihrem Kleid und mit dem hochgesteckten Haar.»
«Und?»
«Warum hast du ihr das nicht gesagt?»
«Warum hätte ich das tun sollen?», fragte Paolo dagegen. «Wir sind Geschäftspartner, schon vergessen?»
«Ich kann nichts vergessen», konterte sein Bruder. «Was du weißt, weiß ich auch – und umgekehrt.»
«Danke, dass du mich daran erinnerst.» Bisweilen war es selbst für ihn ein wenig verwirrend.
«Du bist ein Holzkopf», beschied sein Bruder ihm und gab ihm eine Kopfnuss – dass Paolo den Schmerz tatsächlich spüren konnte, lag an den vielen Kopfnüssen, die sein großer Bruder ihm im Lauf der gemeinsamen Kindheit verpasst hatte. Im nächsten Moment war Felix’ eindrucksvolle Gestalt verschwunden, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Zurück blieb nur der Borsalino, der auf dem Sitz lag und – natürlich – unversehrt geblieben war.
In diesem Moment öffnete sich der gewaltige dunkelrote Vorhang. Von einem hellen Spot beleuchtet und umtost vom Applaus der Menge betrat ein junger Mann die Bühne.
Das war er also, der Mann, den Paolo schon auf dem Plakat gesehen hatte. Der bereits in jungen Jahren seinen Lehrer Signor Benini übertroffen hatte. Chiaras Traummann. Lysandro Carusos schwarz gelocktes Haar glitzerte im Scheinwerferlicht. Sein schwarzer Smoking war ihm auf den sportlichen Leib geschneidert, die große, ansonsten leere Bühne schien ganz allein ihm zu gehören.
Doch dieser optische Eindruck war nichts im Vergleich zu dem, was geschah, als der Applaus sich legte und es still wurde im Saal – und Lysandro Caruso zu singen begann.
Die Trattoria Dallo Zio war eines der traditionsreichsten Lokale der Stadt und dabei nur wenige Gehminuten von der Piazza Cavour und dem Theater entfernt.
Allerdings bekam Paolo kaum etwas mit von dem kurzen Spaziergang, den Benini, Lucia und er bei lauer Nachtluft unternahmen, bis sie das dunkelrot gestrichene, aus dem vorletzten Jahrhundert stammende Gebäude erreichten. Er registrierte nicht wirklich, wie der Wirt Giuliano sie in dem wunderbar altmodischen Gastraum begrüßte, noch wie er sie zu dem mit weißem Tuch und Stoffservietten eingedeckten Tisch führte. Zu frisch, zu lebendig und vor allem zu emotional waren die Erinnerungen an das Konzert.
Vom ersten Ton an hatte Lysandro Carusos Gesang ihn in Bann geschlagen: Seine Stimme, seine Phrasierung, die ganz eigene Art, wie er die Worte sang und ihnen Gewicht und Gefühl verlieh … Paolo war kein Experte in Sachen Stimmbildung, aber auch ihm war klar, dass dies mehr als außergewöhnlich war. Zumal Caruso, wie Paolo aus dem Flyer erfahren hatte, erst achtundzwanzig Lenze zählte. Man musste kein Fachmann sein, um ihm eine große, herausragende Karriere zu prophezeien.
Das Programm war so gewesen, wie man es für ein Benefizkonzert erwarten konnte – ein «Best of» der beliebtesten Arien, eine gefällige Mischung aus Bellini, Verdi und Puccini, sogar an Bizet und Mozart hatte Lysandro sich mit Bravour versucht und auch die französischen und deutschsprachigen Libretti mehr als respektabel gemeistert. Und schließlich, zum Abschluss des Konzerts, das unvermeidliche «Nessun Dorma».
Von dem Augenblick an, da er den Titel im Programmheft gelesen hatte, hatte sich Paolo vor dem Moment gefürchtet, wenn die ersten Takte erklangen. Nicht von ungefähr hatte Felix ihn davor gewarnt.
Die Arie aus dem dritten Akt von «Turandot» war das Lieblingsstück ihrer Mutter gewesen, bevorzugt in Pavarottis berühmter Interpretation. Die Platte war bei ihnen zu Hause rauf und runter gelaufen, bis sie irgendwann vor Knistern und Knacken nur noch nach Lagerfeuer geklungen und ihr Vater sich erbarmt und ihrer Mutter zum Weihnachtsfest 1985 einen CD-Player geschenkt hatte, zusammen mit einer Aufnahme von «Turandot». So grandios die Oper auch sein mochte, Paolo hatte sie so oft gehört, dass er sie irgendwann gründlich sattgehabt hatte. Vor allem aber weckte sie Erinnerungen, die schmerzvoll waren, entsprechend hatte er sich innerlich gewappnet. Was dann jedoch geschehen war, hatte ihn nicht nur überrascht, sondern geradezu überfahren.
Lysandro Caruso hatte die Arie auf eine so andere, neuartige Weise intoniert, dass es Paolo vorgekommen war, als hörte er sie zum allerersten Mal. Mit beinahe unwirklich voller Stimme hatte Lysandro von jener Nacht gesungen, in der niemand schlief, weil Prinzessin Turandot es so befohlen hatte, und von der Hoffnung des Prinzen Calaf, dass bis zum Anbruch des neuen Tages niemand sein Rätsel lösen und er siegreich bleiben werde, aller Dunkelheit zum Trotz.
Lysandros Interpretation mochte plump und plakativ sein, vermutlich sogar kitschig, aber sie traf Paolo mit voller Wucht.