Mord mit verteilten Rollen - Agatha Christie - E-Book

Mord mit verteilten Rollen E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

 Eigentlich liegt ein Gesellschaftsspiel dieser Art unter Hercule Poirots Würde. Nur von seiner besten Freundin Ariadne Oliver lässt er sich auf den prächtigen Landsitz bitten. Die chaotische Schriftstellerin soll dort bei einem Gartenfest einen Mord inszenieren. Und Mrs Olivers Intuition erweist sich schnell als richtig: Das erste Opfer stirbt einen ganz realen Tod. Aus dem Spiel wird blutiger Ernst. Während sich alle Gäste immer merkwürdiger benehmen, beginnt Hercule Poirot, der eigentlich nur die Preise übergeben sollte, zu ermitteln. 

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Seitenzahl: 288

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Agatha Christie

Mord mit verteilten Rollen

Ein Fall für Poirot

Roman

Aus dem Englischen von Michael Mundhenk

Atlantik

Für Peggy und Humphrey Trevelyan

Vorwort von Mathew Prichard anlässlich der britischen Neuausgabe 2014

Entgegen ihrer Gewohnheit siedelte Agatha Christie Mord mit verteilten Rollen (Originaltitel Dead Man’s Folly) an einem realen Ort an, nämlich auf Greenway House am River Dart im Süden der Grafschaft Devon. Praktisch seit dem Kauf des Landsitzes 1938 bis zu ihrem Tod 1976 verbrachte Nima, wie ich meine Großmutter immer nannte, dort ihre Sommer. So erscheint es angebracht, diesen Umstand 2014 mit einer Neuausgabe zu feiern, zumal Greenway vor nunmehr genau fünfzehn Jahren vom National Trust erworben und in der Folge der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Letztes Jahr ging auf Greenway allerdings noch etwas viel Bedeutsameres über die Bühne. Der britische Fernsehsender ITV schloss dort die Dreharbeiten für Agatha Christie’s Poirot mit David Suchet in der Hauptrolle ab, sodass die Serie, die 1989 mit The Adventure of the Clapham Cook (dt. Köchin gesucht) begonnen hatte, mit Glanz und Gloria auf Greenway selbst vollendet wurde. Weder Nima noch meine damals bereits verstorbene Mutter Rosalind, die eine Menge dazu beigetragen hatte, diese Fernsehserie überhaupt in die Wege zu leiten, hätten sich etwas Schöneres wünschen können. Es fühlte sich an, als wäre Hercule Poirot heimgekehrt.

Das Glück wollte es, dass wir mit herrlichem Sommerwetter gesegnet waren, und so war der letzte Drehtag vor dem Haus – eine Szene, die dramaturgisch gesehen nicht allzu stark ins Gewicht fiel – besonders ergreifend, da David Suchet noch einmal in voller Poirot-Montur auf seine unnachahmliche Art die Stufen zum Haus hinaufstolzierte und an die Tür klopfte. Nachdem die Aufnahme dreimal wiederholt worden war und wir zu guter Letzt das klassische »Alles im Kasten« gehört hatten, blieb im Haus kein Auge trocken – genauer gesagt, auf dem Rasen davor, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hatte, um den Abschluss einer der weltweit populärsten TV-Serien sowie einen unserer namhaftesten Charakterdarsteller, David Suchet, für seine Verkörperung einer unserer beliebtesten literarischen Figuren zu feiern: Hercule Poirot. Wenn jemand Nima, die David Suchet leider nie persönlich kennenlernen durfte, prophezeit hätte, dass solch eine große renommierte Serie über fünfundzwanzig Jahre hinweg gedreht würde, hätte sie es sicher nicht für möglich gehalten.

Meine besondere Vorliebe für Mord mit verteilten Rollen reicht allerdings noch viel weiter zurück als bis zum Beginn der Dreharbeiten für die Fernsehserie. Der Roman erschien 1956 – ich war damals dreizehn, eine Zeit, in der ich begann, in Nimas Büchern zu schmökern und meine Sommerferien mit der Familie und natürlich auch Nima auf Greenway zu verbringen. Ich kann zwar nicht behaupten, dass mir irgendein großes Gartenfest im Gedächtnis geblieben ist, aber ich erinnere mich auf jeden Fall noch an kleinere Gesellschaften, denn seinerzeit kam ein zunehmend größerer Freundeskreis aus der Welt der Literatur und des Theaters nach Greenway zu Besuch (es war die Blütezeit von Nimas Karriere als West-End-Bühnenautorin) und obendrein auch noch viele Freunde meines Stiefgroßvaters Max Mallowan aus der Welt der Archäologie. Nima stützte sich bei der Charakterzeichnung ihrer Figuren nie vollständig auf reale Vorbilder, aber ich würde lügen, wenn ich behauptete, Dialogfetzen von Sir George, Lady Stubbs und insbesondere Mrs Folliat nicht ganz konkreten Personen aus ihrem Umkreis zuordnen zu können. Und auch, dass in Mord mit verteilten Rollen Anhalter auftreten, hat mich nicht überrascht, denn gelegentlich begegneten wir in jenen Tagen Trampern aus der nahe gelegenen Jugendherberge Maypool.

Letztendlich ruft der Roman jedoch zwei besonders bewegende Jugenderinnerungen in mir wach: eine an einen Menschen und eine an einen Ort. Bei dem Menschen handelt es sich um Ariadne Oliver, die zwar um einiges exzentrischer ist, als Nima es jemals gewesen wäre, aber gleichzeitig doch etwas von ihrem Enthusiasmus hat und auch von ihrer Vorliebe für Äpfel und die Neugier einer Schriftstellerin besitzt, die mich sehr stark an Nima selbst erinnert. Sie tritt in sieben Romanen auf, sechsmal davon gemeinsam mit Poirot, und wird in den Filmen ganz hervorragend von Zoë Wanamaker gespielt. Der Ort ist das Bootshaus von Greenway, in dem das arme Mordopfer gefunden wird. Oft gingen Nima und ich nachmittags gemeinsam zum Bootshaus hinunter und sahen zu, wie die Ausflugsdampfer vorbeifuhren – die Kiloran, die Pride of Paignton, die Brixham Belle sowie all die wunderbaren Raddampfer, von denen einer zu meiner großen Freude noch immer funktionstüchtig ist. Die Fremdenführer auf diesen Schiffen nannten Greenway zumeist irrtümlich Agatha Christies Wohnsitz (statt, genauer gesagt, ihren Sommersitz), und obwohl wir ihre Stimmen hören konnten, kann ich mich nicht daran entsinnen, dass irgendjemand Nima im Vorbeifahren jemals erkannt hätte, wie sie mit ihrem Enkel unauffällig im Bootshaus saß!

Während ich den Roman jetzt noch einmal lese, glaube ich mich daran zu erinnern, wie ich ihn als junger Teenager gleich nach der Veröffentlichung las und vielleicht zum ersten Mal etwas mehr von der Konstruktion einer Detektivgeschichte im Verhältnis zu realen Menschen und Orten begriff, da mir einige der Figuren und Lokalitäten in diesem Buch vertraut waren. Genau diese Authentizität ist natürlich einer der Gründe, weshalb Nimas Werke noch heute so realistisch und überzeugend sind. Damals waren die Bücher, die sich um Archäologie drehten und im Nahen Osten spielten, für mich reine Fiktion, obwohl Nima darin genau dieselbe Technik angewendet hatte, nämlich dass sie der Geschichte, so wie in Mord mit verteilten Rollen, charakteristische Merkmale realer Personen und Örtlichkeiten zugrunde legte und eine fiktionale Dimension hinzufügte. Ich hoffe, irgendwann einmal Nimrud, die ägyptischen Pyramiden oder einige andere Gegenden, die Nima inspiriert haben, besuchen zu können, damit ich sie so sehen kann, wie sie sie gesehen hat. Kürzlich war ich auf den Kanarischen Inseln und sah mir einen Ort auf Teneriffa an, der sie besonders stark inspiriert hatte, nämlich den Schauplatz einer Harley-Quin-Story mit dem Titel The Man from the Sea (dt. Der Mann im Meer) aus dem Band The Mysterious Mr Quin (dt. Der seltsame Mister Quin) – eine großartige Kurzgeschichte, die mir jetzt, wo ich dort war, noch viel besser gefällt.

Eine andere Familienerinnerung in Sachen Mord mit verteilten Rollen betrifft die literarischen Quellen. Der Roman ist die erweiterte Fassung einer Novelle mit dem Titel The Greenshore Folly. Ursprünglich hatte Nima die Tantiemen für diese Geschichte der Diözese von Exeter versprochen, weil sie zur Finanzierung von neuen Bleiglasfenstern in ihrer Gemeindekirche in Churston in der Nähe von Greenway beitragen wollte. Da die Novelle jedoch länger als ihre anderen Kurzgeschichten war, gelang es ihrem Agenten bedauerlicherweise nicht, sie in einer der gewohnten Zeitschriften zu platzieren, was dazu führte, dass man in Exeter, wo der Kauf der Fenster bereits beschlossene Sache war, ungeduldig wurde! Schließlich schrieb Nima für die Diözese eine Kurzgeschichte mit dem Titel Greenshaw’s Folly (mit Miss Marple statt Poirot; dt. Greenshaws Folly im Großen Miss-Marple-Buch) und beschloss, The Greenshore Folly zu einem Roman, dem späteren Dead Man’s Folly (dt. Mord mit verteilten Rollen), auszuarbeiten. So bekamen letztendlich alle das, was sie sich wünschten. Sollten Sie Greenway besuchen, müssen Sie sich unbedingt auch die Churston Church ansehen, denn die Fenster sind wirklich herrlich. (Und falls Sie sich für die ursprüngliche Novelle von 1954 interessieren, sie wurde 60 Jahre später, 2014, unter dem Titel Hercule Poirot and the Greenshore Folly veröffentlicht; dt. Das Geheimnis von Greenshore Garden. Ein Fall für Poirot.)

Wie Sie wahrscheinlich wissen, übereignete meine Familie Greenway 1999 dem National Trust, weshalb der Landsitz nun fast das ganze Jahr über der Öffentlichkeit zugänglich ist. Man kann jetzt das Bootshaus besichtigen, in dem der Mord stattfand, sich in einem Liegestuhl ganz in der Nähe der Stelle entspannen, wo Hattie Stubbs saß, oder den Wanderern, die das Anwesen jetzt betreten dürfen, einen Gruß zurufen! Außerdem findet man im Laden des National Trust die beste Auswahl an Agatha-Christie-Titeln in ganz Westengland. Obwohl die Tatsache, dass Mord mit verteilten Rollen so eindeutig an einem realen Schauplatz spielt, den Roman durchaus ungewöhnlich macht, ist es nicht das einzige Buch Agatha Christies, das an Greenway erinnert. Gefällt es Ihnen, so sollten Sie auf jeden Fall auch Five Little Pigs (dt. Das unvollendete Bildnis) lesen, wo ein Mord auf dem Kanonenplatz von Greenway geschieht!

Zu guter Letzt noch kurz zu dem Wort »einladend«, mit dem ich Agatha Christies Bücher und Filme oft beschrieben habe – ich finde, Robyn Brown und Gary Calland, die beiden seit 1999 für Greenway verantwortlichen Geschäftsführer des Trusts, sowie all ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich selbst übertroffen bei ihren Bemühungen, auf Greenway eine genauso einladende Atmosphäre zu schaffen, wie Nima es in meiner Jugendzeit getan hat. Ich hoffe, wenn Sie Mord mit verteilten Rollen gelesen und vielleicht sogar den Film mit David Suchet gesehen haben, finden Sie auch noch eine Gelegenheit, den Originalschauplatz zu besuchen. Dort erwartet Sie nämlich etwas ganz Besonderes!

Kapitel 1

I

Es war Miss Lemon, Poirots effiziente Sekretärin, die den Anruf entgegennahm.

Den Stenoblock beiseitelegend, hob sie den Hörer ab und sagte tonlos: »Trafalgar 8137.«

Hercule Poirot lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Leise trommelte er mit den Fingern einen meditativen Rhythmus auf die Tischkante. In Gedanken fuhr er fort, die geschliffenen Sätze des Briefes zu formulieren, den er eben zu diktieren begonnen hatte.

Mit einer Hand die Sprechmuschel zuhaltend, fragte Miss Lemon ihn mit gesenkter Stimme: »Möchten Sie ein persönliches Gespräch aus Nassecombe, Devon, entgegennehmen?«

Poirot runzelte die Stirn. Der Ort sagte ihm nichts.

»Der Name des Anrufers?«, fragte er vorsichtig.

Miss Lemon erkundigte sich.

»Aria Akne?«, fragte sie ungläubig nach. »Ah ja, und der Nachname lautet noch einmal?«

Erneut wandte sie sich an Hercule Poirot.

»Mrs Ariadne Oliver.«

Hercule Poirots Augenbrauen schossen in die Höhe. Eine Erinnerung wurde in ihm wach: windzerzaustes graues Haar, das Profil eines Adlers …

Er erhob sich und löste Miss Lemon am Telefon ab.

»Hier spricht Hercule Poirot«, verkündete er großspurig.

»Spricht dort Mr Hercules Porrot persönlich?«, fragte die misstrauische Stimme der Telefonistin.

Poirot versicherte ihr, dass dem so sei.

»Sie sind mit Mr Porrot verbunden«, sagte die Stimme.

Ihr dünnes Näseln machte einer grandios dröhnenden Altstimme Platz, die Poirot dazu veranlasste, den Hörer schnellstens einige Zentimeter vom Ohr wegzuhalten.

»Monsieur Poirot, sind Sie es wirklich?«, erkundigte sich Mrs Oliver.

»Höchstpersönlich, Madame.«

»Hier spricht Mrs Oliver. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern …«

»Aber natürlich erinnere ich mich an Sie, Madame. Wer könnte Sie je vergessen?«

»Nun, es gibt Menschen, die bringen es fertig. Und gar nicht einmal so wenige. Ich glaube nicht, dass ich eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit habe. Vielleicht liegt es allerdings auch daran, dass ich ständig etwas anderes mit meinen Haaren mache. Aber das ist alles völlig ohne Belang. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei irgendetwas fürchterlich Wichtigem?«

»Nein, nein, Sie derangieren mich nicht im Geringsten.«

»Ach du liebe Güte, ich möchte Ihnen sicher nicht den Verstand rauben. Es ist nämlich so: Ich brauche Sie.«

»Sie brauchen mich?«

»Ja, auf der Stelle. Können Sie sich in ein Flugzeug setzen?«

»Ich setze mich nicht in Flugzeuge. Da wird mir schlecht.«

»Mir auch. Egal, es würde wohl auch kaum schneller gehen als mit der Bahn, denn der nächste Flughafen ist in Exeter, und das ist meilenweit entfernt von hier. Kommen Sie also mit dem Zug. Um zwölf Uhr mittags von Paddington direkt nach Nassecombe. Den können Sie leicht schaffen. Sie haben eine Dreiviertelstunde, wenn meine Uhr richtig geht, was sie allerdings meistens nicht tut.«

»Aber wo sind Sie denn, Madame? Worum geht es überhaupt?«

»Nasse House, Nassecombe. Am Bahnhof in Nassecombe wartet ein Wagen oder ein Taxi auf Sie.«

»Aber warum brauchen Sie mich denn? Worum geht es überhaupt?«, wiederholte Poirot erregt.

»Telefone stehen an so ungünstigen Stellen«, erwiderte Mrs Oliver. »Meins hier zum Beispiel in der Eingangshalle … Ständig kommen Leute vorbei, die sich unterhalten … Ich kann Sie kaum hören. Aber ich erwarte Sie. Alle werden ganz begeistert sein. Auf Wiedersehen.«

Mit einem scharfen Knacken wurde aufgelegt. In der Leitung summte es leise.

Verblüfft und verwirrt legte Poirot jetzt seinerseits den Hörer auf die Gabel und murmelte leise vor sich hin. Miss Lemon saß, den Bleistift gezückt, da und machte ein desinteressiertes Gesicht. Mit gedämpfter Stimme wiederholte sie die letzten Worte, die Poirot ihr vor der Unterbrechung diktiert hatte.

»… gestatten Sie mir, Ihnen zu versichern, mein Verehrtester, dass die von Ihnen unterbreitete Hypothese …«

Mit einer Handbewegung tat Poirot die Unterbreitung der Hypothese ab.

»Das war Mrs Oliver«, sagte er. »Ariadne Oliver, die Autorin von Detektivgeschichten. Vielleicht kennen Sie …« Er hielt inne, denn ihm fiel ein, dass Miss Lemon lediglich Erbauungsliteratur las und für Frivolitäten wie Kriminalromane nur Geringschätzung übrighatte. »Sie will, dass ich nach Devonshire hinunterfahre, heute, sofort, in« – er blickte auf die Uhr – »fünfunddreißig Minuten.«

Miss Lemon hob missbilligend die Augenbrauen.

»Das dürfte ziemlich knapp werden«, sagte sie. »Und weshalb?«

»Sie haben gut fragen! Das hat sie mir nicht gesagt.«

»Höchst seltsam. Und warum nicht?«

»Weil«, sagte Hercule Poirot nachdenklich, »sie Angst hatte, dass jemand lange Ohren machen könnte. Ja, das gab sie mir sehr deutlich zu verstehen.«

»Also wirklich«, empörte sich Miss Lemon und nahm ihren Arbeitgeber in Schutz. »Was die Leute alles erwarten! Als wenn Sie einfach Hals über Kopf losstürzen und irgendeinem Phantom nachjagen könnten! Ein wichtiger Mann wie Sie! Mir ist schon immer aufgefallen, dass diese Künstler und Schriftsteller äußerst unausgeglichen sind, ohne jedes Augenmaß. Soll ich ein Telegramm durchgeben: ›Bedauerlicherweise in London unabkömmlich‹?«

Sie griff nach dem Hörer. Poirots Stimme ließ sie in ihrer Bewegung innehalten.

»Du tout!«, sagte er. »Im Gegenteil. Seien Sie so freundlich und bestellen Sie umgehend ein Taxi.« Er erhob die Stimme. »Georges! Die notwendigsten Toilettenartikel in meinen kleinen Handkoffer. Und bitte flott, sehr flott, ich darf den Zug nicht verpassen.«

II

Der Zug, der rund zweihundertneunzig der dreihundertvierzig Kilometer langen Fahrt mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen war, schnaufte die letzten fünfzig Kilometer langsam und fast schon kleinlaut dahin und fuhr schließlich in den Bahnhof von Nassecombe ein. Nur ein einziger Passagier stieg aus: Hercule Poirot. Vorsichtig überwand er den klaffenden Spalt zwischen der Waggonstufe und dem Bahnsteig und sah sich um. Am anderen Zugende machte sich ein Träger im Gepäckabteil zu schaffen. Poirot nahm seinen Handkoffer und schritt den Bahnsteig entlang zum Ausgang. Er gab die Fahrkarte ab und ging durchs Schalterbüro hinaus ins Freie.

Vor dem Bahnhof parkte eine große Humber-Limousine, und ein Chauffeur in Uniform trat auf ihn zu.

»Mr Hercule Poirot?«, fragte er ehrerbietig.

Er nahm Poirot den Koffer ab und öffnete die Wagentür. Sie fuhren über die Überführung und bogen in eine schmale Landstraße ab, die sich zwischen hohen Hecken dahinschlängelte. Schon bald fiel rechts das Gelände ab und gab einen wunderschönen Blick auf einen Fluss und dunstig blaue Hügel in der Ferne frei. Der Chauffeur fuhr dicht an die Hecke und hielt an.

»Der River Helm, Sir«, sagte er. »Und dahinter dann Dartmoor.«

Es lag auf der Hand, dass Bewunderung angezeigt war. Poirot reagierte entsprechend und murmelte mehrmals: »Magnifique!« Eigentlich hatte er nicht viel übrig für die Natur. Ein gut sortierter und ordentlich angelegter Küchengarten würde Poirot sehr viel eher ein bewunderndes Murmeln entlocken. Zwei junge Frauen gingen an der Limousine vorbei und schleppten sich mühsam den Hügel hinauf. Sie hatten schwere Rucksäcke umgeschnallt und trugen Shorts sowie leuchtend bunte Kopftücher.

»Auf unserem Nachbargrundstück steht eine Jugendherberge, Sir«, erklärte der Chauffeur, der sich eindeutig bemüßigt fühlte, Poirot als Fremdenführer für Devon zu dienen. »Hoodown Park. Gehörte früher Mr Fletcher. Dann hat es der Jugendherbergsverband gekauft, und im Sommer ist es dort jetzt meistens proppenvoll. Über hundert Leute können da schlafen. Sie dürfen aber höchstens zwei Nächte bleiben, dann müssen sie weiterziehen. Jungen und Mädchen, hauptsächlich aus dem Ausland.«

Poirot nickte abwesend. Er überlegte, und das nicht zum ersten Mal, dass Shorts, aus rückwärtiger Perspektive betrachtet, nur sehr wenigen weiblichen Wesen wirklich gut standen. Gequält schloss er die Augen. Warum, warum nur mussten junge Frauen sich derart herausstaffieren? Diese scharlachroten Schenkel waren alles andere als attraktiv!

»Sie scheinen schwer beladen«, murmelte er.

»Ja, Sir, und es ist ein langer Weg vom Bahnhof oder von der Bushaltestelle. Gut drei Kilometer bis Hoodown Park.« Er zögerte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, könnten wir sie vielleicht mitnehmen?«

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, erwiderte Poirot wohlwollend. Er saß hier in einem fast leeren Luxuswagen, während sich diese beiden jungen Frauen, gebeugt unter der Last ihrer schweren Rucksäcke, keuchend und schwitzend voranschleppten und nicht die leiseste Ahnung hatten, wie man sich anziehen musste, um auf das andere Geschlecht attraktiv zu wirken. Der Chauffeur ließ den Motor an, fuhr einige Meter und brachte den Wagen mit einem Schnurren neben den jungen Frauen zum Stehen. Hoffnungsvoll hoben sie die geröteten, erhitzten Gesichter.

Poirot öffnete die Tür, und die beiden stiegen ein.

»Das ist sehr freundlich, danke«, sagte eine von ihnen, ein blondes Mädchen mit einem ausländischen Akzent. »Es ist weiter, als ich dachte, ja.«

Die andere, deren Gesicht sonnenverbrannt und puterrot war und deren kastanienbraune Locken unter dem Kopftuch hervorsahen, nickte nur mehrmals, ließ die Zähne aufblitzen und murmelte: »Grazie.«

Das blonde Mädchen redete lebhaft weiter: »Ich bin nach England gekomme für zwei Wochen Ferien. Ich komme aus Holland. England gefällt mir sehr gut. Ich war in Stratford Avon, Shakespeare Theatre und Warwick Castle. Dann war ich in Clovelly, habe Exeter Cathedral und Torquay gesien – sehr schön –, jetzt bin ich in berühmte schöne Landschaft hier und fahre morgen über der Fluss und dann nach Plymouth und Plymouth Hoe, von wo aus Entdecking von die Neue Welt gemacht wurde.«

»Und Sie, Signorina?« Poirot wandte sich an die andere junge Frau, die jedoch nur lächelte und ihren Lockenkopf schüttelte.

»Sie spricht nicht viel Englisch«, sagte die Holländerin umgänglich. »Wir beide spreche ein bisschen Französisch – so wir haben geredet in der Zug. Sie kommt aus die Nähe von Mailand und hat eine Verwandte in England, verheiratet mit ein Gentleman, der hat große Laden mit viele Lebensmittel. Sie ist gestern mit eine Freundin gekomme nach Exeter, aber Freundin hat gegesse verdorbene Kalbfleisch-und-Schinken-Pastete aus der Laden in Exeter und muss krank dableiben. Ist nicht gut bei warme Wetter, die Kalbfleisch-und-Schinken-Pastete.«

Jetzt kamen sie an eine Straßengabelung, und der Chauffeur hielt an. Die Mädchen stiegen aus, bedankten sich in zwei Sprachen und nahmen den linken Abzweig. Einen Moment lang legte der Fahrer seine olympische Reserviertheit ab und sagte gefühlsbetont zu Poirot: »Es ist ja nicht nur die Kalbfleisch-Schinken-Pastete, mit Cornish Pastys sollte man genauso vorsichtig sein. In der Ferienzeit tun die da sonst was rein.«

Er ließ den Motor wieder an und nahm den rechten Abzweig, der schon bald in einen dichten Wald führte. Jetzt gab er sein abschließendes Urteil über die Gäste der benachbarten Jugendherberge zum Besten: »Ganz nette junge Frauen, manche von denen, da oben in der Herberge, aber es ist nicht leicht, ihnen klarzumachen, dass sie nicht einfach fremde Grundstücke betreten dürfen. Absolut schockierend, dass sie’s immer wieder tun. Scheinen nicht zu kapieren, dass ein Anwesen hierzulande Privateigentum ist. Ständig kommen sie durch unsere Wälder und tun so, als würden sie nicht verstehen, was man ihnen sagt.« Finster schüttelte er den Kopf.

Sie fuhren weiter durch Wald, einen steilen Hügel hinunter, dann durch ein großes schmiedeeisernes Tor und eine Auffahrt entlang, bis sie schließlich vor einem großen georgianischen Herrenhaus mit Blick auf den Fluss hielten.

Als der Chauffeur die Wagentür öffnete, trat ein hochgewachsener schwarzhaariger Butler auf die Stufen heraus.

»Mr Hercule Poirot?«, murmelte Letzterer.

»Ja.«

»Mrs Oliver erwartet Sie, Sir. Sie finden sie unten auf dem kleinen Kanonenplatz. Erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.«

Er brachte Poirot zu einem gewundenen Pfad, der am Waldrand entlangführte und gelegentlich den Blick auf den tiefer liegenden Fluss freigab. Nach einem sanften Abstieg mündete der Pfad schließlich in einer freien Fläche, einem runden Platz mit einer niedrigen Brustwehr. Auf einer der Zinnen saß Mrs Oliver.

Als sie sich erhob, um Poirot zu begrüßen, fielen ihr etliche Äpfel vom Schoß und rollten nach allen Seiten. Äpfel schienen zu jeder Begegnung mit Mrs Oliver zwangsläufig dazuzugehören.

»Ich weiß nicht, warum ich ständig alles fallen lasse«, sagte sie ein wenig undeutlich, da sie gerade an einem Stück Apfel kaute. »Wie geht es Ihnen, Monsieur Poirot?«

»Très bien, chère Madame«, erwiderte Poirot höflich. »Und Ihnen?«

Mrs Oliver sah ein wenig anders aus als bei ihrer letzten Begegnung, und der Grund dafür lag, wie sie es bereits am Telefon hatte durchblicken lassen, darin, dass sie erneut mit ihrer coiffure experimentiert hatte. Als Poirot sie zuletzt gesehen hatte, da hatte sie sich für eine windgepeitschte Optik entschieden. Heute türmte sich ihr intensiv gebläutes Haar in unzähligen recht künstlich anmutenden kleinen Locken in einem Pseudo-Marquise-Stil auf ihrem Kopf auf. Diese Eleganz endete in ihrem Nacken; der Rest ihrer Erscheinung hätte durchaus unter die Rubrik »ländlich-rustikal« fallen können: Sie trug ein dottergelbes grobes Tweedkostüm sowie einen gallig senffarbenen Pullover.

»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte Mrs Oliver fröhlich.

»Das hätten Sie unmöglich wissen können«, erwiderte Poirot streng.

»O doch, ich wusste es.«

»Ich frage mich selbst immer noch, weshalb ich hier bin.«

»Nun, ich weiß die Antwort. Neugier.«

Poirot sah sie mit einem kleinen Augenzwinkern an. »Ihre berühmte weibliche Intuition«, sagte er, »hat Sie vielleicht dieses eine Mal nicht allzu sehr in die Irre geführt.«

»Also, machen Sie sich bitte nicht über meine weibliche Intuition lustig. Habe ich nicht immer sofort gewusst, wer der Mörder war?«

Poirot schwieg galant. Sonst hätte er womöglich geantwortet: »Vielleicht beim fünften Versuch, und auch dann nicht immer!«

Stattdessen sagte er, sich umblickend: »Wirklich ein herrliches Anwesen, das Sie hier haben.«

»Das hier? Aber das gehört doch nicht mir, Monsieur Poirot. Haben Sie das tatsächlich geglaubt? O nein, es gehört irgendwelchen Leuten namens Stubbs.«

»Wer ist das?«

»Ach, niemand weiter«, antwortete Mrs Oliver vage. »Bloß ein paar Reiche. Nein, ich bin beruflich hier, ich habe hier zu tun.«

»Aha, Sie sind auf der Suche nach etwas Lokalkolorit für eines Ihrer chefs-d’œuvre?«

»Nicht doch! Wie ich schon sagte: Ich habe hier zu tun. Man hat mich gebeten, einen Mord zu inszenieren.«

Poirot starrte sie an.

»Nein, nein, keinen echten«, sagte Mrs Oliver beschwichtigend. »Morgen findet hier ein großes Gartenfest statt, und als eine Art Novum wird es eine Mörderjagd geben. Von mir inszeniert. Verstehen Sie, wie eine Schatzsuche, nur gab es hier schon so viele Schatzsuchen, dass man etwas Neues wollte. Weshalb man mir ein beträchtliches Honorar dafür angeboten hat, dass ich herkomme und mir etwas ausdenke. Macht eigentlich ziemlichen Spaß – mal eine Abwechslung von der üblichen düsteren Routine.«

»Und wie soll das Ganze ablaufen?«

»Nun, es wird natürlich ein Opfer geben. Und Hinweise. Und Verdächtige. Alles ziemlich stereotyp – Sie wissen schon, der Vamp, der Erpresser, das junge Liebespaar, der finstere Butler und so weiter. Zweieinhalb Shilling Startgeld, und man bekommt den ersten Hinweis zu sehen und muss das Opfer finden und die Tatwaffe und sagen, wer es gewesen ist und was das Motiv war. Und Preise gibt es natürlich auch.«

»Bemerkenswert!«, sagte Hercule Poirot.

»Eigentlich«, klagte Mrs Oliver, »ist das alles viel schwerer zu inszenieren, als man denken sollte. Denn schließlich muss man einkalkulieren, dass richtige Menschen ziemlich intelligent sein können, was die Leute in meinen Büchern nicht unbedingt sein müssen.«

»Und mich haben Sie kommen lassen, damit ich Ihnen bei dieser Inszenierung assistiere?«

Poirot gab sich keine große Mühe, seine Empörung und Verärgerung zu verbergen.

»Aber nein«, sagte Mrs Oliver. »Natürlich nicht! Das ist bereits erledigt. Für morgen ist alles gerichtet. Nein, Sie wollte ich aus einem ganz anderen Grund hier haben.«

»Der da wäre?«

Mrs Olivers Hände zuckten zum Kopf. Gerade wollte sie sich mit einer alten vertrauten Bewegung hektisch durch die Haare fahren, als ihr einfiel, wie aufwendig ihre neue Frisur war. Und so baute sie ihre Anspannung stattdessen dadurch ab, dass sie sich an den Ohrläppchen zupfte.

»Es klingt wahrscheinlich verrückt«, sagte sie. »Aber ich glaube, irgendetwas stimmt hier nicht.«

Kapitel 2

Einen Augenblick starrte Poirot sie schweigend an. Dann fragte er scharf: »Irgendetwas stimmt hier nicht? Inwiefern?«

»Ich weiß es nicht … Das sollen Sie ja herausfinden. Aber ich habe – mehr und mehr – das Gefühl, dass ich, na ja, manipuliert werde, gesteuert … Nennen Sie mich meinetwegen verrückt, aber ich kann nur sagen, dass ich nicht überrascht wäre, wenn hier morgen nicht ein gespielter, sondern ein echter Mord geschieht!«

Erneut starrte Poirot sie an, und sie blickte herausfordernd zurück.

»Höchst interessant«, sagte er.

»Vermutlich halten Sie mich für absolut verrückt«, sagte Mrs Oliver, die sich in die Defensive gedrängt fühlte.

»Ich habe Sie noch nie für verrückt gehalten«, gab Poirot zurück.

»Und ich weiß auch, was Sie immer über die Intuition sagen und was für ein Gesicht Sie dabei machen.«

»Man kann den Dingen eben verschiedene Namen geben«, erklärte Poirot. »Ich bin gern bereit zu glauben, dass Sie etwas bemerkt oder gehört haben, was Sie eindeutig in Unruhe versetzt hat. Möglicherweise wissen Sie selbst nicht, was genau Sie gesehen oder bemerkt oder gehört haben. Sie sind sich nur des Resultats bewusst. Wenn ich es einmal so sagen darf: Sie wissen nicht, was Sie tatsächlich wissen. Das können Sie natürlich, wenn Sie wollen, ›Intuition‹ nennen.«

»Man kommt sich völlig verrückt vor«, lamentierte Mrs Oliver, »wenn man nichts mit Bestimmtheit sagen kann.«

»Wir schaffen das schon«, sagte Poirot ermutigend. »Sie sagen, Sie hätten das Gefühl – wie haben Sie sich ausgedrückt? –, manipuliert zu werden? Können Sie etwas deutlicher erklären, was Sie damit meinen?«

»Nun, es ist ziemlich schwierig … Sehen Sie, das ist sozusagen mein Mord. Ich habe ihn mir ausgedacht, ich habe ihn geplant, und alles passt zusammen – nahtlos. Und wenn Sie auch nur das Geringste über Schriftsteller wissen, dann wissen Sie, dass sie für Vorschläge anderer Leute nichts übrighaben. Dinge wie: ›Ausgezeichnet, aber wäre es nicht besser, wenn Soundso das und das machen würde?‹ oder ›Wäre es nicht eine wunderbare Idee, wenn A statt B das Opfer wäre? Oder wenn sich D statt E als der Mörder entpuppen würde?‹ Ich meine, da möchte man doch einfach nur sagen: ›Na gut, wenn Ihnen das besser gefällt, dann schreiben Sie es doch selbst!‹«

Poirot nickte.

»Und so ist es hier abgelaufen?«

»Nicht ganz … Solche albernen Vorschläge wurden tatsächlich gemacht, doch dann bin ich an die Decke gegangen, und die Leute haben klein beigegeben, aber sie haben trotzdem noch ein paar relativ unwesentliche, triviale Vorschläge einfließen lassen, und da ich mich den anderen widersetzt hatte, habe ich die trivialen Dinge akzeptiert, ohne es groß zu bemerken.«

»Verstehe«, sagte Poirot. »Ja, sie funktioniert, diese Methode … Man schlägt etwas absolut Krudes und Absurdes vor, um das es aber eigentlich gar nicht geht. Das eigentliche Ziel ist die kleine unwesentliche Änderung. Meinen Sie das?«

»Genau das meine ich«, sagte Mrs Oliver. »Es kann natürlich sein, dass ich mir alles nur einbilde, aber das glaube ich nicht – andererseits scheinen die Kleinigkeiten auch keine Rolle zu spielen. Aber das Ganze beunruhigt mich, das und eine gewisse, na ja, Atmosphäre.«

»Wer hat Ihnen denn diese Änderungen vorgeschlagen?«

»Verschiedene Leute. Wenn es nur eine Person gewesen wäre, dann wäre ich mir meiner Sache sicherer. Aber es kommt nicht nur von einer Seite, obwohl ich glaube, dass letztendlich doch nur eine Person dahintersteckt. Ich meine, es ist eine Person, die sich einer Reihe von anderen nichts ahnenden Menschen bedient.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wer diese eine Person sein könnte?«

Mrs Oliver schüttelte den Kopf.

»Jemand, der äußerst clever und vorsichtig ist«, sagte sie. »Es könnte jeder hier sein.«

»Und wer ist hier?«, fragte Poirot. »Das Figurenpersonal muss doch recht übersichtlich sein?«

»Also«, begann Mrs Oliver. »Da wäre einmal Sir George Stubbs, dem das Anwesen gehört. Reich, plebejisch und, vom Geschäftlichen einmal abgesehen, fürchterlich beschränkt, würde ich sagen, aber als Geschäftsmann wahrscheinlich absolut gewieft. Außerdem Lady Stubbs – Hattie –, rund zwanzig Jahre jünger als er, ziemlich schön, aber dumm wie Bohnenstroh, meines Erachtens sogar definitiv geistig zurückgeblieben. Hat ihn natürlich des Geldes wegen geheiratet und denkt an nichts anderes als an Kleider und Schmuck. Dann ist da noch Michael Weyman, ein Architekt, ziemlich jung und, nach Künstlerart, auf eine herbe, kantige Weise gut aussehend. Er entwirft gerade einen Tennispavillon für Sir George und restauriert das Folly.«

»Folly? Was ist das, ein Varieté?«

»Nein, etwas Architektonisches. So ein kleines Tempeldings, weiß, mit Säulen. Wahrscheinlich haben Sie in den Kew Gardens welche gesehen. Dann wäre da noch Miss Brewis, eine Art Sekretärin und Haushälterin in einem, die alles am Laufen hält und Briefe schreibt – sehr verbissen und effizient. Des Weiteren die Leute aus der Gegend, die herkommen und aushelfen. Ein junges Ehepaar, Alec Legge und seine Frau Sally, die sich unten am Fluss ein Cottage gemietet haben. Und Captain Warburton, der persönliche Referent der Mastertons. Dann natürlich die Mastertons selbst sowie die alte Mrs Folliat, die im ehemaligen Pförtnerhaus wohnt. Ursprünglich hatte Nasse der Familie ihres Mannes gehört. Die ist jedoch ausgestorben oder wurde in den Kriegen dezimiert, woraufhin endlose Erbschaftssteuern fällig wurden, sodass der letzte Erbe das Anwesen verkauft hat.«

Poirot ließ sich die Liste der Personen durch den Kopf gehen, doch im Augenblick waren es für ihn nichts als Namen. Er kam auf das zentrale Thema zurück.

»Wessen Idee war die Mörderjagd?«

»Mrs Mastertons, glaube ich. Sie ist die Frau des örtlichen Unterhausabgeordneten und verfügt über ein ausgezeichnetes Organisationstalent. Sie war es, die Sir George dazu überredet hat, das Gartenfest zu veranstalten. Sehen Sie, das Anwesen stand sehr viele Jahre leer, und sie glaubt, die Leute werden gern Eintritt bezahlen und es sich ansehen.«

»Das klingt alles äußerst plausibel«, sagte Poirot.

»Es klingt plausibel«, sagte Mrs Oliver störrisch, »ist es aber nicht. Ich sage Ihnen, Monsieur Poirot, irgendetwas stimmt hier nicht.«

Poirot sah Mrs Oliver an, die seinen Blick erwiderte.

»Wie haben Sie denn meine Anwesenheit hier erklärt? Dass Sie mich herbestellt haben?«, fragte Poirot.

»Das war einfach«, sagte Mrs Oliver. »Sie werden nach der Mörderjagd die Preise aushändigen. Die Leute sind hellauf begeistert. Ich habe Ihnen erzählt, dass ich Sie kenne und Sie wahrscheinlich überreden könnte herzukommen und mir sicher sei, dass Ihr Name eine ungeheure Anziehungskraft ausüben würde – und das wird er natürlich auch«, fügte sie taktvoll hinzu.

»Und der Vorschlag wurde angenommen, ohne jeden Widerspruch?«

»Ich sage Ihnen, alle waren begeistert.«

Mrs Oliver erachtete es nicht für notwendig zu erwähnen, dass aus der jüngeren Generation ein oder zwei gefragt hatten: »Wer ist denn Hercule Poirot?«

»Alle? Niemand sprach sich dagegen aus?«

Mrs Oliver schüttelte den Kopf.

»Schade«, sagte Hercule Poirot.

»Sie meinen, das hätte uns einen Hinweis gegeben?«

»Von einem potenziellen Mörder wäre wohl kaum zu erwarten, dass er meine Anwesenheit hier begrüßen würde.«

»Vermutlich denken Sie, dass ich mir das alles aus den Fingern gesogen habe«, beklagte sich Mrs Oliver. »Ich muss gestehen, bis zu unserem Gespräch gerade eben war mir überhaupt nicht klar, wie wenig echte Anhaltspunkte ich eigentlich habe.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Poirot freundlich. »Sie haben meine Neugier und mein Interesse geweckt. Wo fangen wir an?«

Mrs Oliver blickte auf die Uhr.

»Es ist gerade Teezeit. Lassen Sie uns zum Haus zurückgehen, dann können Sie alle kennenlernen.«

Sie schlug nicht den Weg ein, auf dem Poirot gekommen war, sondern einen Pfad, der in die entgegengesetzte Richtung zu führen schien.

»Hier entlang kommen wir am Bootshaus vorbei«, erklärte sie.

Noch während sie sprach, kam es bereits in Sicht. Das Bootshaus kragte zum Fluss hin aus, ein malerischer strohgedeckter Bau.

»Dort wird die Leiche liegen«, sagte Mrs Oliver. »Bei der Mörderjagd, meine ich.«

»Und wer wird umgebracht?«

»Ach, eine junge Anhalterin, die in Wirklichkeit die jugoslawische erste Frau eines jungen Atomphysikers ist«, erwiderte Mrs Oliver leichthin.

Poirot blinzelte verständnislos.

»Selbstverständlich«, fuhr Mrs Oliver fort, »sieht es so aus, als hätte der Atomphysiker sie umgebracht, aber ganz so einfach ist es natürlich nicht.«

»Natürlich nicht, wo es doch Ihre Inszenierung ist …«

Mrs Oliver quittierte das Kompliment mit einer kurzen Handbewegung.

»In Wirklichkeit«, sagte sie, »wird sie vom Gutsherrn umgebracht, und das Motiv ist ziemlich genial – ich glaube nicht, dass viele darauf kommen werden, obwohl man beim fünften Hinweis einen eindeutigen Fingerzeig bekommt.«

Um sich nicht noch eingehender mit den Feinheiten von Mrs Olivers komplexen Handlungsabläufen befassen zu müssen, stellte Poirot ihr eine praktische Frage: »Wo organisieren Sie sich eigentlich eine geeignete Leiche?«

»Bei den Pfadfinderinnen. Eigentlich wollte es Sally Legge machen, aber jetzt soll sie sich einen Turban aufsetzen und die Wahrsagerin spielen. Also macht es eine Pfadfinderin namens Marlene Tucker. Etwas dümmlich, und schniefen tut sie auch ständig. Aber es ist ja ziemlich einfach: Sie braucht nur ein Kopftuch und einen Rucksack und muss sich lediglich auf den Boden legen, wenn sie jemanden kommen hört, und sich eine Schlinge um den Hals drapieren. Ziemlich langweilig für die Ärmste, immer nur im Bootshaus zu hocken, bis sie gefunden wird, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie einen hübschen Stapel Witzblätter bekommt – auf eins ist sogar ein Hinweis auf den Mörder gekritzelt. Es passt also alles.«

»Ihr Einfallsreichtum ist betörend! An was Sie alles denken!«

»An etwas zu denken, ist nie schwer«, erwiderte Mrs Oliver. »Das Problem ist, dass man sich zu viel ausdenkt, und dann wird alles hochkompliziert, und man muss einiges streichen, und das ist dann eine Tortur. Wir müssen jetzt hier hoch.«

Sie gingen einen steilen Serpentinenweg hinauf, der weiter oben parallel zum Fluss verlief. An einer Biegung traten sie durch die Bäume hinaus auf eine Lichtung, die von einem kleinen weißen, von Pilastern getragenen Tempel dominiert wurde. Davor stand stirnrunzelnd ein junger Mann in abgetragenen Flanellhosen und einem giftgrünen Hemd. Er fuhr herum.

»Mr Michael Weyman – Monsieur Hercule Poirot«, sagte Mrs Oliver.

Der junge Mann reagierte mit einem gleichgültigen Kopfnicken.