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Klangvolle Namen schmücken hübsche Menükarten, verführerische Gerüche schweben über dem Dorfplatz – ein Kochwettbewerb in Himmelsricht versetzt das kleine Örtchen in helle Aufruhr. Ganz besonders natürlich Emma Ferrari, die mit ihrem Feinkostladen mittendrin ist und alle mit besten italienischen Zutaten versorgt. Ihre Freundin, die adelige Konstanze von Hohenfels, steht tatsächlich im Finale, und ausgerechnet deren egozentrische Mutter, die 92-jährige Isadora, ist Teil der Jury. Doch kaum sind die ersten Portionen serviert, kippt Isadora vornüber in ihren Risottoteller – mausetot! Himmelsricht steht unter Schock. Die Dame war zwar alt, aber doch noch fit und rüstig. Natürlich stellt Emma sofort erste Nachforschungen an, und Kommissar Gieseking lässt auch nicht lange auf sich warten. Bald ist klar: Isadora wurde vergiftet. Wie sich herausstellt, hat sie in letzter Zeit keineswegs gemütlich im Sessel gesessen, wie es sich für eine alte Dame gehört, sondern Unmut aus allen Richtungen auf sich gezogen. Und je tiefer Emma gräbt, desto pikanter scheinen die Motive all derer, die die Adelige lieber tot sehen wollten …
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sabine Steck
Der zweite Fall für Emma Ferrari
Kriminalroman
Ein exquisites Menü, eine adelige Köchin und ein Verbrechen à la carte …
Klangvolle Namen schmücken hübsche Menükarten, verführerische Gerüche schweben über dem Dorf – ein Kochwettbewerb in Himmelsricht versetzt das kleine Örtchen in hellen Aufruhr. Ganz besonders natürlich Emma Ferrari, die mit ihrem Feinkostladen mittendrin ist und alle mit besten italienischen Zutaten versorgt.
Ihre Freundin, die adelige Konstanze von Hohenfels, steht tatsächlich im Finale, und ausgerechnet deren egozentrische Mutter, die 92-jährige Isadora, ist Teil der Jury. Doch kaum sind die ersten Portionen serviert, liegt Isadora vornüber in ihrem Kürbisrisotto – tot! Himmelsricht steht unter Schock. Die Dame war zwar alt, aber doch noch fit und rüstig.
Natürlich stellt Emma sofort erste Nachforschungen an, und Kommissar Gieseking lässt auch nicht lange auf sich warten. Bald ist klar: Isadora wurde vergiftet. Wie sich herausstellt, hat sie in letzter Zeit keineswegs gemütlich im Sessel gesessen, wie es sich für eine alte Dame gehört, sondern Unmut aus allen Richtungen auf sich gezogen. Und je tiefer Emma gräbt, desto pikanter scheinen die Motive all derer, die die Adelige lieber tot sehen wollten …
Sabine Steck ist in Deutschland geboren und hatte als Unternehmerin zunächst einen ganz anderen Weg eingeschlagen, bevor sie entschied, ihrer Leidenschaft zu folgen und sich hauptberuflich dem Schreiben zu widmen. Heute ist sie Autorin und lebt in Norditalien, wo sie in ihrem Schreibretreat einen Rückzugsort für andere Autor:innen schafft, die sie berät und unterstützt. In ihre Krimis um Emma Ferrari lässt sie ihre Liebe zu ihrer Wahlheimat und zur italienischen Kulinarik einfließen – die unter Umständen auch in einem Örtchen in Bayern zu finden ist.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2025 by Sabine Steck
Redaktion Kaja Sturmfels
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Motivs von Midjourney
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01860-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Die mutigste Handlung ist immer noch, selbst zu denken. Laut.»
Coco Chanel
«Die Amarettini sind doch hoffentlich eingetroffen!»
Konstanze von Hohenfels klang, als hinge ihr Leben von den kleinen italienischen Keksen ab.
Emma sah schmunzelnd von dem Karton auf, der vor ihr auf einem Stapel Holzkisten stand. Sie gingen gerade gemeinsam Konstanzes lange Einkaufsliste durch und hakten ab, was Emma bereits eingepackt hatte. An den süßen Miniplätzchen würde es auf keinen Fall scheitern.
«Ma certamente! Machen Sie sich keine Sorgen, Konstanze, auch die sind rechtzeitig angekommen. Hier sind sie.» Emma wies auf die beiden prall mit Amarettini gefüllten Folienbeutel.
«Oh, Gott sei Dank!» Konstanze fuhr mit dem Finger ihre Einkaufsliste entlang und sah prüfend auf. «Und sie werden bestimmt für alles reichen?»
«Assolutamente sì. Und für den Fall der Fälle habe ich sogar für eine kleine Reserve gesorgt.»
«Das ist gut.» Konstanze von Hohenfels nickte fahrig. «Ja, das ist sehr gut. Und natürlich Ihre besten, nicht wahr?»
«Absolut.» Emma hatte zwar nur eine Sorte Amarettini im Sortiment, aber diese hatte sie sorgfältig ausgewählt, und sie fand, das zählte. «Möchten Sie noch mal davon kosten?»
«Hm … ich weiß nicht …» Konstanze sah zum Schaufenster.
Emma folgte ihrem Blick. Direkt vor dem Laden stand der alte Benz der Familie. Darin wartete Konstanzes Mutter, die Freifrau Isadora von Hohenfels, auf die Rückkehr ihrer Tochter.
«Alles in Ordnung, Konstanze?»
«Bitte?» Konstanze riss sich vom Fenster los. «Ja, es ist alles in Ordnung. Ich habe die Bestellung dreimal kontrolliert, es kann nichts fehlen.»
«Was gibt es denn heute noch zu tun?», erkundigte sich Emma, verschloss den Karton und wandte sich Richtung Kaffeemaschine.
«Ach … verschiedene Dinge …»
«Und trotzdem lade ich Sie vorher auf einen Cappuccino ein, va bene?»
Resolut machte sich Emma daran, den caffè zuzubereiten, und ließ ihrer Kundin keine Möglichkeit zum Widerspruch. Was auch immer Konstanze sonst fürs Wochenende vorzubereiten hatte, es würde nichts ausmachen, wenn sie sich ein paar Minuten entspannte.
Anna war an der Käsetheke fertig, und die wahrscheinlich letzten Kunden vor der Mittagspause verließen das kleine Alimentari del Sole. Das Glöckchen über der Ladentür bimmelte, als sie hinausgingen, und der vertraute Klang ließ Emmas Herz weit werden, immer noch, nach fast einem Jahr, in dem sie bereits die stolze Besitzerin nicht nur des Ladens, sondern des gesamten Hauses war. Emma hoffte, dass sie sich dieses Gefühl, diese Mischung aus Dankbarkeit und Glück, möglichst lange würde bewahren können.
«Kann ich euch bei irgendwas helfen?», fragte Anna, während sie sich die Hände an ihrer bunt bedruckten Schürze abwischte. «Oder habt ihr alles beisammen? Was ist mit den Basilikumstöckchen für die Tischdekora…?»
Emma schlug sich die Hand an die Stirn. «Der Mozzarella fehlt!» Entschuldigend sah sie ihre Freundin an. Es war sonst gar nicht ihre Art, jemanden mitten im Wort zu unterbrechen.
Anna lächelte nachsichtig. «Alles gut, ich kümmere mich darum.»
«Danke dir. Ach, wenn du sowieso ins Lager gehst, bring doch bitte gleich Ricotta mit.»
«Mache ich.»
Emma wandte sich an Konstanze. «Caspita! Ohne das Stichwort Basilikum hätte ich den Mozzarella für Ihre Mutter in dem ganzen Trubel beinahe vergessen!» Da es sich um die wöchentliche Ration der Freifrau handelte, hatte er natürlich nicht auf Konstanzes Bestellliste gestanden. Beim Gedanken daran, dass Isadora ihren Laden zwar nicht mehr betrat, auf ihren geliebten Mozzarella aber dennoch nicht verzichten wollte, schmunzelte Emma in sich hinein.
«Kein Wunder.» Konstanze sah Anna seufzend hinterher. «Ich mache ja die halbe Welt verrückt mit dieser Sache.»
Diese Sache – das war ihre Teilnahme an einem Kochwettbewerb namens «Auftischt is’», den das Bayerische Tagblatt veranstaltete. Seit Wochen berichtete die Zeitung über die Qualifizierungsrunden, diesen Sonntag fand in Himmelsricht das Finale statt. Dann würden unter den letzten vier Anwärtern das originellste Gericht, die beste Zubereitungsart und am Ende die Königin – oder der König? – am Herd ermittelt.
Parallel zum Wettbewerb würde es ein kleines Volksfest geben, das einen enormen Zulauf versprach. So war das beschauliche Dorf seit Tagen im absoluten Ausnahmezustand und Emmas Alimentari das inoffizielle Versorgungszentrum geworden. Viele der Besucher und Zuschauer, die von überallher angereist waren, hatten sich bei ihr mit Verpflegung für den Aufenthalt eingedeckt, denn die meisten von ihnen verbrachten die Zeit in Wohnwagen oder Campern.
An diesem späten Freitagvormittag war es endlich ein wenig ruhiger geworden. Zum Glück, denn so hatte Emma genügend Zeit für Konstanze von Hohenfels und ihre wichtige Bestellung gehabt.
Inzwischen hatte sie den Cappuccino fertig und platzierte ihn vor Konstanze auf einem der beiden Bistrotische bei der Kaffeemaschine. Dazu öffnete sie eine kleine Tüte der Amarettini, die sie zusätzlich zu denen für Konstanzes Menü besorgt hatte, und gab ein paar davon auf eine Untertasse. Nebenbei warf sie einen prüfenden Blick durchs Fenster zum Auto. Im Fond des Wagens zog sich die alte Freifrau den Lippenstift nach.
«Sie weigert sich standhaft, Ihren Laden zu betreten.» Konstanze, die ihren Blick bemerkt hatte, zog die Tasse zu sich heran und zuckte die Schultern. «Dann muss sie eben draußen warten, da kann ich ihr nicht helfen. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wo ich einzukaufen habe und wo nicht.»
«Ich schätze Ihre Treue sehr, Konstanze», sagte Emma mit einem warmen Lächeln.
«Das ist doch selbstverständlich. Ich lasse mir von ihr ja viel gefallen, aber alles hat eine Grenze.» Sie rührte ihren Milchschaum etwas unter, dann probierte sie eines der Amarettini. «Mmh … sind die lecker!»
Emma zog es vor, darauf zu schweigen. Bis vor einem Jahr wäre es undenkbar gewesen, solche Worte aus Konstanzes Mund zu hören. Die elegante Dame war stets bemüht gewesen, nach außen den Schein der guten Familienbeziehung zu wahren. Doch nach den Ereignissen um den Mord an Emmas Vermieter hatte sich ihre Freundschaft vertieft, und Konstanze hatte Vertrauen zu Emma gefasst. So nahm sie inzwischen kaum ein Blatt vor den Mund, wenn es um das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter ging.
«Ich freue mich sehr über Ihre Entscheidung, an ‹Auftischt is’› teilzunehmen», bekannte Emma. «Es war sicher nicht leicht, das der Freifrau beizubringen.» Tatsächlich hatte Konstanze das so lange wie möglich aufgeschoben und ihrer Mutter die Teilnahme an den Vorrunden glatt verschwiegen.
Sie verzog den Mund und hob die Brauen, was ihr ein verschmitztes Aussehen gab, und gönnte sich einen weiteren Keks. «Anfangs nicht, nein. Es war ein zähes Ringen. Sprüche wie ‹Das gehört sich nicht in unseren Kreisen› oder ‹So etwas tut man nicht, was sollen die Leute denken?› waren noch das Harmloseste, was ich mir anhören durfte. Aber am Ende konnte sie der Verlockung dann selbst nicht widerstehen, beim großen Finale als», sie malte Anführungszeichen in die Luft, «‹Dorfälteste› der Ehrengast der Veranstaltung zu sein.»
Emma schüttelte mit widerwilliger Bewunderung den Kopf. «Ja, Ihre Mutter ist wirklich umtriebig, das muss man ihr lassen. Und das in ihrem Alter.»
Konstanze zuckte die Schultern. «Wenn meine Gene genauso gut sind, habe ich noch viele aktive Jahre vor mir.»
Emma lachte. «Das wünsche ich Ihnen von Herzen. Jeder schätzt Sie mindestens zehn Jahre jünger als achtundsechzig.»
«Danke. Dafür lade ich Sie auf den nächsten Cappuccino ein.» Konstanze schmunzelte.
«Ich trinke immer gern einen mit, aber diese Cappuccini gehen aufs Haus.»
Konstanze wollte schon widersprechen, da öffnete sich mit einem Bimmeln die Tür.
«Buongiorno», grüßte eine männliche Stimme.
Emma wandte sich mit einem Lächeln zu dem Neuankömmling um. «Buongiorno. Meine Kollegin kommt gleich wieder und kümmert sich um Sie. Sehen Sie sich in der Zwischenzeit gern etwas um – oder wissen Sie schon, was Sie möchten?»
«Äh … nein danke, ich wollte nur mit …» Er sprach mit unverkennbarem Schweizer Akzent und wies mit einer verlegenen Geste in Richtung Konstanze. «Frau von Hohenfels …»
«Doktor Hunziker, was führt Sie denn hierher? – Emma, darf ich Ihnen unseren Gast vorstellen? Das ist Doktor Filipp Hunziker. Er behandelt meine Mutter.»
Behandelt? Emma runzelte die Stirn. Isadoras ‹Behandlungen› waren seit Langem ein heißes Thema auf Gut Hohenfels. Bei ihren Ermittlungen im Vorjahr war sie einmal in eine überkochende Diskussion zwischen Konstanze und ihrer Mutter geraten und hatte sich fast verbrüht.
«Emma Ferrari», stellte sie sich daher nur vor.
Der Doktor deutete eine Verbeugung an. «Freut mich. Filipp Hunziker», antwortete er mit einem feinen Lächeln. Er war etwas kleiner als Emma, schlank und trug das dunkle Haar kurz geschnitten. Seine tief liegenden Augen waren dunkelbraun.
«Möchten Sie vielleicht auch einen Cappuccino, dottore?»
«No grazie.» Seine Stimme war sanft und passte zu der zurückhaltenden Erscheinung. «Ich wollte nur gern die Zustimmung von Frau von Hohenfels einholen, ihre Mutter zu einem kleinen Spaziergang mitzunehmen. Die Freifrau hat sich heute nicht genug bewegt und sollte ein paar Schritte tun. Ich bringe sie bald zurück.»
Konstanze nickte. «Ja, natürlich. Dann kann ich in Ruhe austrinken. Es ist ja gut, wenn sie nicht nur herumsitzt. – Seit ihr alter Jagdhund nicht mehr ist, mag sie kaum noch spazieren gehen», erklärte sie an Emma gewandt.
Hunziker lächelte. «Vielen Dank. Wir sehen uns dann heute Nachmittag zum Tee.»
Zum Tee? Was hatte Emma verpasst?
Das Bimmeln der Ladenglocke geleitete den Doktor hinaus, und Emma sah Konstanze fragend an. Die machte eine ratlose Handbewegung.
«Das wollen Sie gar nicht wissen.»
«Invece sì! Und ob ich das wissen will.»
Anna kam aus dem Lager zurück, in der einen Hand den erbetenen Frischkäse, in der anderen die kleine Kühlbox, mit der die Hohenfelser Damen wöchentlich mit Mozzarella versorgt wurden. Und sie war nicht allein.
«Hi zusammen.» Ihr Teenagersohn Dennis hob lässig die Hand.
Seine Mutter sah kurz zu Konstanze von Hohenfels und stöhnte. «Hab ich dir keine Manieren beigebracht?»
«Was denn? Ich hab doch gegrüßt.»
Emma musste sich ein Grinsen verkneifen. Der Junge erinnerte sie an ihre Tochter Raffaella, die in dem Alter genauso gewesen war.
«Kommst du deine mamma abholen zum Mittagessen?» Sie streckte die Hand aus und wuschelte dem Jungen durchs Haar. Der zog unbehaglich den Kopf weg.
«Du bist die Einzige, die das darf», stellte Anna fest und platzierte die Kühlbox neben dem bereits fertig gepackten Karton. «Ist das alles, Frau von Hohenfels?»
«Ich denke, das ist es.» Konstanze sah Emma fragend an.
«Certo», antwortete Emma und wandte sich an Dennis. «Bist du so lieb und bringst die Sachen ins Auto raus? Mein Rücken … das Alter, weißt du?» Sie grinste ihn schief an.
«Alt? Du bist doch nicht alt, Emma. So kriegst du mich nicht, da musst du schon mit einem anderen Argument kommen.» Trotzdem bückte er sich und nahm den Karton und die Kühlbox hoch. «Macht mir dann vielleicht wer die Tür auf?»
«Ma certo, tesoro.» Mit einer übertriebenen Verbeugung öffnete Emma ihm die Ladentür und anschließend den Kofferraum des Wagens. Als alles verstaut war, winkte sie Dennis zurück ins Alimentari, griff in eins der Regale und nahm ein Fläschchen alkoholfreien Aperitif heraus. «Ecco, caro. Als kleines Dankeschön.»
«Hey, das ist ja cool.» Dennis begutachtete die dunkelrote Farbe. «Den mag ich. Da wird mich Tanja drum beneiden.»
«Der wird geteilt, hörst du?», meldete sich seine Mutter zu Wort.
«Das bisschen? Da bleibt ja nix mehr für mich!»
«Hier ist einer für Tanja.» Emma gab ihm eine zweite Flasche. «Aber betrinkt euch nicht sinnlos», fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu.
«Geht mit dem doch gar nicht.» Dennis grinste.
«Besser ist es», bemerkte Anna. «Und wie heißt das?»
«Nice.»
«Das andere?»
«Danke.»
«Genau. Und jetzt ab nach Hause.» Sie schob ihn in Richtung Vordertür und winkte über die Schulter. «Ihnen einen schönen Nachmittag, Frau von Hohenfels. Emma, wir sehen uns später.»
«Danke und a dopo, Anna.»
Die beiden verließen den Laden, und Emma schloss hinter ihnen ab.
«Nun ist Ihr Cappuccino kalt geworden», stellte Konstanze fest.
«Und Ihrer leer. Möchten Sie noch einen?»
«Nein danke, einer am Tag ist genug.»
«Hm … wenn ich mich nur auch auf einen einzigen Cappuccino am Tag beschränken könnte. Aber wenn man direkt an der Quelle sitzt …» Emma hob ergeben die Schultern.
«Da haben Sie recht.» Konstanze betrachtete den letzten Keks in ihrer Hand, ehe sie ihn genüsslich verspeiste. «Die sind wirklich hervorragend.»
«Ja, das sind sie. Aber jetzt erzählen Sie mal. Was hat es mit dem Tee und dem Schweizer Doktor auf sich? Da kommt er doch her, oder?»
«Ja, genauer gesagt, aus Winterthur. Meine Mutter hat vor ein paar Jahren in einer Zeitschrift eine Annonce für eine Klinik entdeckt, die mit neuartigen Methoden zur Erhaltung der Jugend wirbt, und da sie ja bekanntlich sehr auf Gesundheit und Jugendlichkeit fixiert ist, ist sie sofort darauf angesprungen.» Sie schnaubte gänzlich undamenhaft und schüttelte den Kopf.
«Vor ein paar Jahren?» Emma sah nach draußen, wo jedoch weder von Hunziker noch seiner Patientin etwas zu entdecken war. «So lange behandelt er sie bereits?» Letztes Jahr hatte sie Isadora einmal beim Friseur mit einem Arzt telefonieren gehört, und da war ein anderer Name gefallen.
«Damals war es Doktor Liebeskind», erklärte Konstanze. «Hunziker ist der Nachfolger. Ein äußerst engagierter junger Mann.»
«Und sehr … educato … wohlerzogen, scheint mir.» Nach Emmas Geschmack etwas zu sehr.
«Oh ja. Er hat perfekte Umgangsformen …»
«… was der Freifrau sicher gefallen haben dürfte.»
«Worauf Sie wetten können, Emma.» Konstanzes Mund umspielte etwas wie ein verschmitztes Lächeln, dann wurde sie wieder ernst. «So groß die Differenzen zwischen uns auch sein mögen … sie ist immer noch meine Mutter. Auch wenn ich mir manchmal wirklich wünschte …», sie räusperte sich, ehe sie leise fortfuhr, «… mir wünschte, es wäre einfacher mit ihr.»
«Das kann ich mir gut vorstellen.» Emma hatte Mitgefühl mit Konstanze, die trotz hohen gesellschaftlichen Ansehens und eines inzwischen leider weitgehend vergangenen Wohlstands mit dieser Mutter sicher nicht immer ein einfaches Leben gehabt hatte. Ein schönes vielleicht auch nicht.
«Nun, wie auch immer …» Konstanze straffte sich und schob die Tasse auf dem Tisch hin und her. «Aus mir unbekannten Gründen bat sie den Arzt ihres», sie malte Anführungszeichen in die Luft, «Vertrauens, hierherzukommen und sie zu betreuen. Doch anstatt Liebeskind persönlich, wie sie selbstverständlich vorausgesetzt hatte, kam ein Grünschnabel, wie sie ihn nannte. Sie hätten sie hören sollen.» Konstanze runzelte verärgert die Stirn. «Alle Heiligen holte sie vom Himmel. Aber der junge Mann ließ sich nicht beirren, und voilà … seine Hartnäckigkeit wurde belohnt. Einmal im Monat kommt er seitdem für ein paar Tage her und versorgt sie mit seinen Kuren und Essenzen und seinem Wissen und keine Ahnung, mit was allem.»
«Davon wusste ich ja gar nichts.»
«Nun …» Konstanze wirkte verlegen. «Es lag weder meiner Mutter noch mir daran, diese regelmäßigen Besuche an die große Glocke zu hängen. Sie ahnen, warum. Auf der einen Seite tun wir uns schwer, unsere Rechnungen zu bezahlen, und auf der anderen Seite gibt meine extravagante Mutter Unsummen dafür aus, sich das Leben zu verlängern.»
Oh ja, Emma wusste, dass Konstanze davon nicht erbaut war.
«Für sie ist der Gedanke, dass man sie für schwach oder gar kränklich halten könnte, unerträglich. Hunziker ist gestern Abend eingetroffen, und heute lässt sie sich zum ersten Mal offiziell zusammen mit ihm blicken. Sie ist wohl der Meinung, dass es bei so vielen fremden Menschen im Dorf nicht auffällt, mit wem sie sich unterhält. Das sehe ich persönlich anders, aber soll sie nur machen.»
Auch Emma hatte ihre Zweifel, dass Isadoras neuer Begleiter unbemerkt bleiben würde. «Na, in jedem Fall kann sie am Sonntag als Ehrengast allen zeigen, wie fit sie ist.»
«Ja.» Konstanze lachte ironisch. «Niemals hätte ich gedacht, dass sie sich dafür hergeben würde.» Sie gab ihre aufrechte Stehposition auf, stützte einen Ellenbogen auf den Bistrotisch und sah aus dem Fenster.
«Immerhin wurde sie vom Bürgermeister persönlich eingeladen.»
«Ach, das macht also auch die Runde. Das wird meiner Mutter gefallen. Die Freifrau legt großen Wert darauf, dass jeder von dieser Ehre, die ihr selbstverständlich zusteht, auch Kenntnis hat.»
«Natürlich.» Emma schmunzelte. «Aber ist es nicht schön, dass sie so aktiv sein kann, weil ihr die Verjüngungskuren helfen? Das tun sie ja offensichtlich, oder?»
Konstanze zögerte. «Nun ja. Meiner Mutter geht es zwar für ihr Alter hervorragend, aber diese ganzen Kuren und Pülverchen und Injektionen kosten natürlich eine Menge Geld. Das sind alles Dinge, die keine Krankenkasse bezahlt, auch nicht unsere private Versicherung. Keines dieser Mittel ist offiziell zugelassen, und schließlich dienen sie ja auch nur», wieder Gänsefüßchen, «der ‹Verlangsamung des Alterungsprozesses› und keiner tatsächlichen Krankheitstherapie. Aber wollen Sie sich von Ihrer eigenen Mutter vorwerfen lassen, dass Sie ihr die medizinische Versorgung versagen wollen?»
«Ma veramente no! Auf gar keinen Fall!»
«Sehen Sie – ich auch nicht. Aber sie macht es so dramatisch, als müsste sie ohne die Behandlung durch Doktor Hunziker morgen den Löffel abgeben. Ich sehe keinen Ausweg mehr, Emma.» Konstanze beugte sich zu ihr und senkte die Stimme, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. «Wenn dieses Wochenende vorüber ist, werde ich mit ihr und Doktor Hunziker das entscheidende Gespräch führen. Gestern Abend habe ich ihn darauf vorbereitet, dass das aufhören muss. Ich habe keine andere Wahl. So geht es nicht weiter. So leid es mir tut und so sympathisch und kompetent er auch ist, ich muss seine regelmäßigen Besuche unterbinden, bevor uns das finanziell vollkommen ruiniert.»
Die Freifrau kämpfte seit Langem ums wirtschaftliche Überleben, hatte Grundstücke verkauft, um über die Runden zu kommen. Das große Anwesen verschlang Unsummen im Unterhalt, und die Pachteinnahmen aus den landwirtschaftlichen Flächen konnten nicht immer alles decken. Das hatte Konstanze Emma einmal anvertraut.
«Das klingt tatsächlich nach einer prekären Situation.» Spontan legte Emma ihrer Freundin eine Hand auf den Arm. Konstanze schenkte ihr ein schmales Lächeln. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.»
«Danke für Ihr Ohr, Emma. Das tut gerade sehr gut. Manchmal braucht man einfach nur jemanden, der zuhört.»
«Sehr gern, Konstanze, das wissen Sie. Und wenn dieses Spektakel vorüber ist, machen wir uns mal einen schönen Frauenabend auf meinem Balkon. Wir haben es sowieso nicht geschafft, den einzuweihen, seit ich hier wohne.» Das würde zwar keine Probleme lösen, Konstanze aber immerhin für ein paar Stunden auf andere Gedanken bringen.
Diese seufzte. «Oh ja, sehr gern. – Ah.» Sie richtete sich auf. «Da kommen sie über den Dorfplatz zurück.»
«Lassen Sie Ihre Mutter nicht warten», riet Emma mit einem verschmitzten Zwinkern. Konstanze wandte sich zur Tür, Emma folgte ihr. «Wenn Sie sonst etwas brauchen, rufen Sie mich an, egal um welche Uhrzeit.»
«Sie sind zu entgegenkommend, Emma.»
«Ich will nur unbedingt, dass Sie diesen Wettbewerb gewinnen! Wir alle stehen hinter Ihnen und drücken die Daumen. Incrociamo le dita, wie wir in Italien sagen. Immerhin sind Sie die Favoritin.»
Emma drehte den Schlüssel im Schloss und hielt Konstanze unter dem Klingeln der Glocke die Tür auf. Die Piazza, wie Emma das Zentrum von Himmelsricht in Gedanken gern nannte, war belebter als sonst. Menschen flanierten vorbei und blieben vor ihrem Schaufenster stehen, aus dem Biergarten der Straubs klangen Stimmengewirr und Gelächter herüber, vor Brigittes Eisdiele waren alle Tische besetzt. Im Schatten unter der Linde gegenüber auf der hölzernen Bank saß Therese Obermüller, die Großmutter von Emmas Freundin Helene, den Rollator neben sich, und genoss das Treiben.
Als Konstanze vor den Laden trat, kamen Doktor Hunziker und Isadora von Hohenfels soeben beim Auto an.
«Nun, Doktor Hunziker?», wandte Konstanze sich an den jungen Arzt. «Haben Sie beide den Spaziergang genossen?»
«Natürlich haben wir das», antwortete die Freifrau, ehe Hunziker den Mund öffnen konnte.
«Buongiorno, gnädige Frau.» Emma ließ es sich nicht nehmen, Konstanzes Mutter genauso zu grüßen, wie sie es seit Jahren tat, auch wenn sie seit letztem Sommer eisern geschnitten wurde. Da hatte Emma es gewagt, die alte Dame in einem Mordfall als Verdächtige in Betracht zu ziehen, damit hatte sie deren Sympathien unwiderruflich verspielt, wie es schien.
Isadora von Hohenfels ignorierte den Gruß auch dieses Mal, drehte sich demonstrativ von Emma weg und tat so, als wäre das neu dekorierte Schaufenster das Interessanteste, was sie je gesehen hatte. Dass sie dabei neben einem wildfremden Passanten zum Stehen kam, schien ihr das kleinere Übel zu sein.
Emma, die das nahezu kindische Verhalten der alten Dame inzwischen kaltließ, wandte sich dem Arzt zu. Der sah betreten drein – offensichtlich war ihm das Verhalten seiner Klientin unangenehm –, doch Emma zuckte nur die Schultern.
«Ich hoffe, ihre Abneigung mir gegenüber wird die gnädige Frau nicht vorzeitig altern lassen», meinte sie mit einem Lächeln. «Ich würde ungern in Ihre Kur pfuschen.»
«Das wird sicher nicht der Fall sein, Signora.»
«Ach, wie nett!», rief Emma. «Ich höre diesen Dialekt so gern. Bitte sagen Sie doch noch etwas!»
«Ja, was soll ich denn sagen? … Da fällt mir so auf Kommando gleich gar nichts ein», gestand er, und seine glatt rasierten Wangen färbten sich leicht rot.
«Vielleicht haben wir ja in den nächsten Tagen Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten.» Das Wochenende würde, wenn Konstanzes Eingreifen Erfolg hatte, wohl auch die einzige Gelegenheit dafür sein.
«Aber sicher, sehr gern …»
«Es tut mir ja sehr leid, Sie zu unterbrechen», mischte sich Konstanze ein. «Aber ich sehe gerade auf die Uhr. Ich habe jede Menge zu erledigen, und wir haben Sie auch lange genug aufgehalten, Emma. Lassen Sie uns fahren, Doktor. – Mutter, kommst du?»
Emma trat vom Auto weg in Richtung ihres Ladens und bemerkte, dass Isadora von Hohenfels leise, aber aufgebracht auf den fremden Passanten einredete, der neben ihr vor dem Schaufenster stand. Sie wirkte richtiggehend wütend. Dann wandte sie sich abrupt ab und ging auf den Wagen zu, ohne irgendjemanden eines Blickes zu würdigen. Hunziker hielt ihr galant die Tür auf – kein Wunder, dass er bei ihr einen Stein im Brett hatte.
«Wir sehen uns morgen, Emma.» Konstanze winkte und stieg ein.
Auch Hunziker verabschiedete sich und ging über den Platz davon.
Als der Wagen losgefahren war, nahm Emma den Passanten vor ihrem Laden in Augenschein. Was mochte Isadora an ihm gestört haben? Es handelte sich um einen älteren Mann, sicher jenseits der siebzig. Er wirkte unscheinbar, sein Anzug war etwas zu groß, das Hemd bereits seit Jahren aus der Mode, und seine Lederslipper hatten stumpfe Kuppen vom vielen Tragen. Als er sich zu ihr umdrehte, schaute sie in ein vom Leben gezeichnetes Gesicht. Ein dichter Faltenkranz umgab seine Augen, die Emma jedoch freundlich entgegenblickten.
«Ein schönes Sortiment haben Sie», sagte er anerkennend.
«Danke. Ich bin ziemlich stolz darauf.»
«Das dürfen Sie auch sein.» Er nickte zum Fenster rechts der Tür, in dem Anna passend zum Wettbewerb eine Miniaturküche mit viel nettem Schnickschnack inszeniert hatte. «Man bekommt richtig Appetit auf die ganzen leckeren Sachen.»
«Das ist schön zu hören. Dann haben wir ja alles richtig gemacht.»
«Oh ja, das haben Sie.» Er lächelte schüchtern.
Etwas an ihm berührte Emma, und sie bedauerte, nicht mehr Zeit zu haben, denn jeden Moment würde Helene sie zu ihrem Spaziergang auf den Burgberg abholen.
«Wir haben leider gerade geschlossen, aber wenn Sie am Nachmittag wiederkommen möchten …», begann sie.
«Oh … ja, vielleicht.» Er blickte über den Dorfplatz, die Häuserfassaden entlang, die Straße hinauf und wieder herunter, als versuchte er, sich zu orientieren. «Mal sehen. Ich bin heute erst angekommen und weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde.»
«Da haben Sie genau das richtige Wochenende erwischt. Es wird einiges los sein.»
«Ich habe die Plakate gesehen», sagte er mit einem Schmunzeln. «Das klingt sehr interessant.» Er tippte sich zum Gruß an die Stirn, als trüge er einen Hut. «Dann vielleicht bis später.»
«Ja, bis später.»
Emma sah ihm hinterher, wie er Richtung Strauberwirt ging, doch bevor er das Wirtshaus erreichte, zog das Geräusch von klimpernden Fußkettchen ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie drehte sich um.
«Leni, da bist du ja.»
«Ciao, Emma!» Helene Straub, die junge Physiotherapeutin von nebenan, hatte wie immer für den Spaziergang ihre grüne Arbeitskleidung gegen sportliche Hosen und ein bequemes Shirt getauscht. «Du hast ja noch deine Ladenpantoffeln an!»
«Ich bin spät dran heute. Komm rein. Hast du schon was gegessen?»
«Eigentlich hatte ich auf eine Hartwurstsemmel gehofft.» Helene warf ihren dicken blonden Zopf nach hinten.
«Na, dann komm, ich mach dir ein Panino con Salame.» Emma schob sie grinsend vor sich her in den Laden, doch als sie die Tür hinter sich schließen wollte, hielt eine Stimme sie auf.
«Wartet auf mich, ich bin nicht so schnell.»
Sie drehte sich um. Helenes Großmutter Therese kam mit ihrem Rollator herangeschoben.
«Resi! Wie schön, dass du herüberkommst. Ich habe dich unter deiner Linde sitzen sehen.» Emma begrüßte die alte Dame mit einem liebevollen Händedruck.
«Ja, ich hab mir gedacht, ich schau schnell vorbei, bevor du mit der Leni deinen Spaziergang machst.»
«Das freut mich. Dann rein mit dir, damit ich zusperren kann.»
Emma wartete, bis Therese ihren Rollator in den Laden geschoben hatte, und schloss hinter ihr ab.
«Hallo, Omi! Geht’s dir gut?» Helene drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange.
«Ja, ’s geht mir gut. Schlechten Leuten geht’s immer gut, sag ich immer. Hier riecht’s aber fein, Emma! Nach Bittermandeln und Marzipan.»
Wieder mal war Emma beeindruckt von dem feinen Geruchssinn ihrer alten Freundin. «Das sind Amarettini, Resi. Die habe ich für Konstanze bestellt, und gerade, als sie da war, haben wir sie gekostet. Hier, probier mal.» Sie drückte Therese die geöffnete Packung in die Hand und machte sich an das Panino für Helene.
«Rettinis? Was ist denn das?» Therese warf einen Blick hinein. «Ach, Plätzchen, da schau her!»
«Nimm, so viele du willst, Resi. Und du probier auch gern, Leni. Oder heb sie dir für unterwegs als Nachspeise auf. – Resi, magst du ein Tassoni?» Emma kannte die Vorliebe der alten Dame für das italienische Zitrusgetränk und sorgte dafür, dass sie immer genügend davon im Laden hatte.
«Nein, ich hab grad keinen Durst. Aber deine kleinen Rettinis hier schmecken mir! Sind da Mandeln drin?»
«Auch, ja. Und Aprikosenkerne und Amaretto.»
«Die sind ja wirklich gut. Zum Sterben gut, sag ich immer.»
«Das wird ein heißes Wochenende.» Helene sah mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel hoch, doch Emma wusste, dass sie nicht nur das Wetter meinte.
Die beiden hatten mit etwas Verspätung ihren gewohnt strammen Spaziergang auf den Burgberg begonnen und unterhielten sich dabei über Gott und die Welt – diesmal insbesondere über Konstanze von Hohenfels.
«Das wird es. Und Konstanze wird gewinnen», behauptete Emma vollmundig und nahm den letzten Anstieg den Hügel hinauf. Auch wenn ihr klar war, dass Konstanze starke Konkurrenz hatte, war es für sie ausgemachte Sache, dass ihre gemeinsame Freundin die absolute Favoritin des Wettbewerbs war. «Sie hat schließlich in der Vorentscheidung das gesamte Feld ausgestochen», fügte sie etwas atemlos hinzu, als sie oben angekommen waren.
Es war ein fantastischer Frühsommertag. Die Sonne strahlte von einem so klassisch weiß-blauen Himmel, dass es blankes Klischee war. Leichter Wind strich durch die Zweige der Bäume und ließ die Blätter zittern. Bienen summten in einem blühenden Strauch, und das Zwitschern der Vögel war in der Stille hier oben nahezu ohrenbetäubend.
«Ja, das stimmt.» Helene schloss auf.
«Das ist wirklich verrückt, oder? Ich wusste ja seit meiner Party letztes Jahr, dass sie ein Händchen für Fingerfood hat, aber dass sie so gut kochen kann … Und die Freifrau ist natürlich aus allen Wolken gefallen wegen ihrer Teilnahme an diesem Wettbewerb. Das hat Konstanze ihr nämlich bis kurz davor verheimlicht.»
«Wie hat sie das denn geschafft?»
Emma zuckte die Schultern. «Die Qualifikationen wurden ja nur im Bayerischen Tagblatt verfolgt, ohne großes öffentliches Getue. Das liest Isadora nicht. Und wie oft siehst du sie mit jemandem aus dem Dorf sprechen? Also hat sie es erst zur Endrunde erfahren.»
«Na, dafür ist sie jetzt als Ehrengast am Sonntag immerhin die Hauptperson», meinte Helene bitter.
«Konstanze sagte mir, ihre Mutter wäre wohl viel lieber in der Jury gewesen, aber das konnte der Bürgermeister verhindern. Dann hätte sie nämlich nicht mehr teilnehmen können.»
«Ja klar!» Helene nickte. «Das hätte ungut ausgesehen, wenn sie kocht und ihre Mutter bewertet.»
«Dabei bin ich überzeugt, Isadora hätte absichtlich gegen Konstanze gestimmt, nur um ihr eins auszuwischen, weil sie heimlich bei dem Wettbewerb mitgemacht hat.»
«Gott, die Frau ist über neunzig! Was will die eigentlich? Könnte sie nicht endlich mal abtreten und aufhören, ihrer Tochter dauernd das Leben schwer zu machen?»
«Leni! Du kannst doch nicht ernsthaft jemandem den Tod wünschen!»
Helene holte Luft, als wollte sie etwas hinterherschießen, zügelte sich dann aber. «Tu ich ja auch nicht. Aber es macht mich wahnsinnig, wenn ich so was sehe.»
«Ich verstehe dich ja. Aber irgendwann nimmt das ohnehin seinen natürlichen Lauf. Isadora wird nicht ewig leben, egal, was wir uns wünschen.»
«Na hoffentlich. Konstanze hätte es verdient, endlich nicht mehr unter der Fuchtel dieser Frau zu stehen.»
Emma sah Helene an. «Du magst sie gern, was?»
Inzwischen waren sie an der Burgruine angekommen und betraten die von einer brusthohen Mauer umschlossene Aussichtsplattform, die wohl einmal Teil des Innenhofes der trutzigen Anlage gewesen war. Von hier aus hatten sie einen fantastischen Blick über Himmelsricht und die Ausläufer des Hügellandes hinaus ins Donautal, heute sogar bis in die Alpen hinein, die als gezacktes dunkelblaues Band am südlichen Horizont erschienen.
Helene lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer, schloss die Augen und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. «Weißt du, ich werde ihren Auftritt damals bei uns im Wirtshaus nie vergessen. Als du unter Mordverdacht gestanden hast und sie diese Show abgezogen hat, um dir ihre Solidarität zu bekunden. Dafür hat sie bei mir für immer einen Stein im Brett.»
«Ja», sagte Emma versonnen. «Das war wirklich filmreif. Und es kam so unerwartet. Ich meine … wir hatten vorher nie ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Umso großartiger war diese Sache. Aber ehrlich gesagt … irgendwie mochte ich sie immer.»
Helene blinzelte, drehte sich um und stützte die Unterarme auf die Mauer. «Mir war sie früher ein bisschen unheimlich. Als ich noch in der Schule war, haben wir mal eine Führung auf ihrem Gut gemacht und durften uns das Herrenhaus von innen ansehen. Heimatkundeunterricht und so. Da hat ihr Vater noch gelebt, glaube ich. Die haben uns dort bewirtet, also es gab Saft und belegte Brote und solche Sachen. Und sie war so steif und unnahbar. Aber anders als ihre Mutter, die sowieso ständig irgendwie … wie soll ich sagen … wie aus einer anderen Welt gewirkt hat. Die hat sich an dem Nachmittag gar nicht blicken lassen, wenn ich mich recht erinnere.»
«Das sähe ihr ähnlich.» Emma schnaubte. «Wie auch immer, als Ehrengast beim Wettbewerb kann sie nicht verhindern, dass Konstanze gewinnt.»
«Na, aber ganz sicher nicht», bestätigte Helene.
Unter das Gezwitscher der Vögel hatten sich inzwischen andere Geräusche gemischt. Die Mittagsruhe schien vorbei zu sein, das Leben hatte wieder begonnen. Aus dem Dorf drang Gehupe herauf, irgendwo unter ihnen knatterte ein Motorrad vorbei, und jemand lachte laut. Etwas links von ihnen, am Rande des Dorfes, wo der Fußballplatz lag, wurde gehämmert und gesägt.
«Ist das Zelt denn immer noch nicht fertig?» Emma kniff verwundert die Augen zusammen und spähte hinunter. Von hier oben sah das Festzelt tadellos aus, das helle Beige strahlte in der Sonne.
«Wenn du mich fragst, werden die die ganze Nacht daran arbeiten. Mein Paps hat erzählt, dass irgendwas gefehlt hat, was sie brauchten, um den Holzboden zu verlegen, und so hat sich alles verzögert. – Hach, das wird das Spektakel des Jahres.» Helene klang schwärmerisch.
«So etwas hat es nicht gegeben, seit ich hier lebe.»
«Das wird’s so schnell auch nicht mehr geben, glaub mir.»
«Und was die für einen Aufwand betreiben! Für jeden Einzelnen bauen sie eine eigene Kochstelle auf.»
«Vier.»
«Und für jeden Einzelnen bauen sie eine eigene Kochstelle auf.»
«Na ja, die müssen ja alle dieselben Bedingungen haben, damit es gerecht zugeht. Obwohl … wer sich nicht bei dir eingedeckt hat, kämpft ja sowieso auf verlorenem Posten.»
«Ruffiana! Du bist eine kleine Schmeichlerin.» Emma schüttelte den Kopf, freute sich aber natürlich über die Wertschätzung.
«Das Bayerische Tagblatt lässt sich den Auftrieb ganz schön was kosten», fuhr Helene fort, ohne auf Emmas Bemerkung einzugehen.
«Und sie haben wieder Benedikt Kramer geschickt.» Emma warf ihrer Freundin einen verschmitzten Seitenblick zu.
Helene lächelte geheimnisvoll. «Ich weiß.»
«Was soll dieser Unterton bedeuten?»
«Diesmal war er beim Paps im Wirtshaus, um die Notizen für seinen Artikel zu sichten. Er schreibt zwar fürchterlich schmalzig, aber …»
«Aber?»
Helene zuckte die Schultern. «Aber ich glaub, er ist ein ganz Netter.»
«Sieh an. Und du darfst ruhig grinsen, ich sehe, dass du es dir kaum verbeißen kannst.»
Sofort strahlte Helene.
«Er hat mich gefragt, ob ich mal mit ihm ein Eis essen gehe.»
«Bei Bärbel? Dann weiß es morgen das ganze Dorf.»
Helene winkte ab. «Ach … sollen sie doch.»
Emma stellte sich dicht neben sie an die Mauer und stieß ihre Freundin mit der Schulter an. «E allora? Was hast du gesagt?»
«Ich überleg’s mir.»
«Hast du hoffentlich nicht!»
Helene lachte auf. «Nein, natürlich nicht. Ich habe gesagt: Danke für die Einladung, sehr gern.»
«Mi prendi in giro», beschwerte sich Emma. «Oder wie heißt das hier? Du ver…?»
«Nein, ich verscheißer dich nicht. Er hat sehr höflich gefragt, und ich habe sehr höflich geantwortet. Meine Eltern haben mir schließlich Manieren beigebracht.»
«Ja, das haben sie», bestätigte Emma voller Überzeugung. Sie mochte ihre junge Freundin aus tiefstem Herzen und wünschte ihr so sehr, dass sie endlich ihren Traummann fand. Auch wenn Helene mit ihrer flapsigen Art oft so tat, als wäre sie überzeugter Single, wusste Emma aus ein paar eingestreuten Bemerkungen, dass sie sich insgeheim nach einer erfüllenden Beziehung sehnte. «Na, dann drück ich dir mal die Daumen. Ich finde den jungen Mann sehr sympathisch.»
«Mag sein», sagte Helene leichthin. «Der Neue an Isadoras Seite ist aber auch nicht zu verachten.»
«Der Neue an …» Emma prustete los. «Du hast vielleicht Ideen! Woher weißt du von ihm? Der ist doch eben erst im Dorf aufgetaucht.»
«Ich hab ihn und Isadora über den Dorfplatz spazieren sehen. Der ist echt schnucklig.»
«Findest du?»
«Irgendwie schon. Du nicht?»
Emma hob unschlüssig die Schultern. «Abgesehen davon, dass er mir viel zu jung wäre? Hm … er hat was Charmantes, das stimmt. Und er hat einen wirklich schönen Akzent.»
«Ein Schweizer halt. – Apropos Akzent … hast du mal wieder was von Grünauge gehört?»
Nun war es Emma, die breit grinste.
«Also, ja.» Helene hob vielsagend die Brauen. Den Spitznamen hatte sie dem Kommissar verpasst, der im vergangenen Jahr mit tatkräftiger Hilfe von Emma und ihren Freundinnen den Mord an Emmas Vermieter aufgeklärt hatte. Gieseking arbeitete bei der Mordkommission Regensburg und war nach der Ermittlung aus Himmelsricht verschwunden und zu seinen üblichen Tätigkeiten in der Stadt zurückgekehrt.
«Wir telefonieren hin und wieder», gab Emma zu.
«Hin und wieder?»
«Ma certo. Es gibt ja keinen Grund, sich zu treffen, aber …»
«Ach nein? Du gefällst ihm, das hab ich dir schon damals gesagt!»
«Leni, jetzt lass mal gut sein. Wir sind uns sympathisch, und er hält mich über das Verfahren auf dem Laufenden. Und am Sonntag kommt er nach Himmelsricht.»
«Was?» Helenes Aufschrei schreckte einen Schwarm Vögel aus dem nahe liegenden Gebüsch auf, der unter protestierendem Gezwitscher auseinanderstob. «Und das sagst du mir jetzt erst?»
«Ich weiß es selbst noch nicht lange. Er macht mit seinem Fahrradclub eine Wochenendtour durch den Bayerischen Wald. Übermorgen sind sie ganz hier in der Nähe, da seilt er sich mittags ab und kommt für den Nachmittag vorbei.»
«Jetzt erzähl mir aber nicht, dass er sich für den Kochwettbewerb interessiert.»
«Als ich ihm von dem Spektakel und den Rollen der beiden Hohenfelser Damen dabei erzählt habe, war er Feuer und Flamme.»
«Isadora wird ihn genauso schneiden wie dich.»
«Sì, das steht zu befürchten.» Emma seufzte. Auch der Kommissar hatte die Sympathien der Freifrau verspielt. Aus demselben Grund wie sie. «Ich hoffe, das wird ihm nicht das Herz brechen.»
Helene schmunzelte. «Du kannst es ihm sicher wieder kitten.»
«Wenn nicht ich, dann Konstanzes Siegermenü», meinte Emma trocken. «Das wird der Knaller. Ihr Antipasto ist ein Gedicht, und sie macht ein Primo vom Feinsten. Das Hauptgericht ist exquisit und das Dessert … mmh.» Sie schloss einen Moment genießerisch die Augen und meinte, das Aroma auf der Zunge zu spüren. «Für die Zutaten habe ich alle meine Lieferantenkontakte spielen lassen und nur das Beste vom Besten bestellt.»
«Netter Versuch.»
Emma lachte leise. «Mannaggia. Du bist wie ein Jagdhund, der immer auf der Fährte bleibt.»
«Solange du mich nicht als Trüffelschweinderl bezeichnest, ist alles gut. Also, erzähl mal. Ihr habt euch seitdem wirklich nicht mehr gesehen?»
Seitdem – das war vor beinahe einem Jahr gewesen. Zu Beginn der Ermittlungen um Emmas Vermieter war Gieseking von Helene als ihr Verehrer auserkoren worden. Dass bis heute nichts daraus geworden war, wurmte Emmas Freundin. Nun witterte sie anscheinend Morgenluft.
«Nein, haben wir nicht. Hab ich doch gerade gesagt. Wozu auch?»
«Um den Kontakt aufrechtzuerhalten? Um was Neues auszuprobieren? Um nicht mehr Single zu sein? Korbinian ist jetzt mit Petra zusammen. Was dein Ex-Mann kann, kannst du auch!»
Emma stöhnte. «Ach, Leni. Manchmal bist du ganz schön anstrengend.»
«Ich kümmere mich um dein seelisches Wohl, sonst nichts.»
Emma strich ihrer Freundin lachend über den Rücken. «Sì, das tust du. Aber lass mal gut sein, ich fühle mich sehr wohl so, wie es ist. Ich liebe meine kleine Wohnung über dem Laden, ich liebe mein Alimentari, und ich liebe meine Freiheit. Va bene? Du musst mich nicht verkuppeln. Mit meinem seelischen Wohl ist alles in Ordnung. Ich werde bald fünfzig, habe eine erwachsene Tochter und entwickle die ersten Schrullen. Kein Platz für Romantik.»
Helene verdrehte die Augen. «Na, wenn du meinst … Hast du morgen eigentlich auch offen?»
«Natürlich. Nur am Sonntag nicht, obwohl in der Gemeinde darüber debattiert wurde, einen verkaufsoffenen Sonntag einzuschieben, damit die vielen Touristen mehr Zeit haben, ihr Geld in Himmelsricht auszugeben. Die Mehrheit hat sich dagegen ausgesprochen, und das finde ich gut so. Ich möchte ein bisschen Wettkampfluft schnuppern und Konstanze anfeuern.»
«Grünauge nicht zu vergessen. Irgendjemand muss ihm schließlich beim Essen Gesellschaft leisten, und mir ist er zu alt.»
Emma lachte. «Du gibst wohl nie auf.» Sie sah auf die Uhr. «So spät! Ich muss zurück, wir erwarten für den Nachmittag einen ziemlichen Ansturm.»
Gemeinsam verließen sie den Aussichtspunkt und machten sich auf den Rückweg. Wie üblich nahmen sie nicht denselben Weg den Berg hinunter, den sie gekommen waren, sondern gingen auf der anderen Seite talwärts, sodass sie einen Kreis schließen und gegenüber von Emmas Alimentari ankommen würden.
«Hast du viele Termine heute?», fragte Emma nach einer Weile.
«Bis abends habe ich laufend Klienten. Sind auch welche dabei, die normalerweise samstags kommen, aber morgen habe ich zu, weil ich meinem Paps und der Mama im Gasthaus helfen muss. Die sind ausgebucht und brauchen jede Hand.»
«Hoffentlich findest du Zeit für ein Date mit deinem Reporter, Leni», stichelte Emma, während sie in die Gasse einbogen, durch die sie in der Nähe der Linde auf den Dorfplatz gelangten. «Er wird sonst sicher ziemlich enttäuscht sein.»
Helene grinste. «Die Zeit nehm ich mir irgendwie. Keine Sorge.»
Wenig später traten Emma und Helene auf den Dorfplatz. Es herrschte reges Treiben. Am größten war der Andrang vor dem Gasthaus von Helenes Eltern. Die verschiedenen Stimmen, die von dort zu ihnen herüberwehten, waren laut, eine Frau klang aufgebracht.
Emma und Helene sahen sich an.
«Was ist denn da los?», fragte Helene.
«Komm, das finden wir heraus», meinte Emma. «So viel Zeit habe ich, schließlich ist Anna im Laden.»
Zusammen liefen sie über den Platz. Vor dem Eingang zum Strauberwirt stritten sich ein Mann in blauen Shorts und eine Frau in einem rot gepunkteten Sommerkleid. Die Frau gestikulierte hektisch in Richtung Eingangstür und redete auf den Mann ein. Etwas abseits sah ein Teenagermädchen mit verkniffenem Gesicht zwischen den beiden hin und her. Neben ihm standen zwei Koffer und einige Reisetaschen.
«Das wird dem Paps nicht gefallen, dass die Klimpels so einen Aufstand vor unserer Tür machen», raunte Helene Emma zu.
«Kennst du die etwa?»
«Sie sind vor ein paar Tagen angekommen und haben die beiden letzten freien Zimmer gebucht, aber wegen der Reservierungen fürs Wochenende müssen sie heute auschecken.»
«Und wo sollen wir jetzt hin?» Kopfschüttelnd wandte die Frau sich ab und machte ein paar Schritte von dem Mann weg. Ihr Gesicht war beinahe so rot wie die Punkte auf ihrem Kleid und stand in kräftigem Kontrast zum Schwarz ihrer Haare.
«Ich wollte uns ja rechtzeitig etwas anderes suchen», sagte ihr Ehemann mit ratlos erhobenen Händen. «Aber du meintest …»
«Die kriegen eine richtig schlechte Bewertung von mir, da kannst du dir sicher sein», fauchte sie.
Das Mädchen rollte mit den Augen. «Aber wir haben das gewusst, Mama», fing sie an, wurde jedoch mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.
«Misch du dich da nicht ein.»
«Janina hat recht, wir wussten, dass wir heute rausmüssen», versuchte es der Vater. «Da kannst du nicht …»
«Dann muss sie uns eben bei sich wohnen lassen, das ist sie dir schuldig», unterbrach ihn seine Frau ungeduldig und holte Luft, um weiterzureden, da ging Helene dazwischen.
«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»
Die Rotgepunktete drehte sich brüsk zu ihr um. «Wenn wir Hilfe brauchen, melden wir uns, danke. – Ach, Sie sind das.»
«Ja, Frau Klimpel, ich bin das», antwortete Helene zuckersüß. «Was kann ich denn für Sie tun?»
«Na ja, was soll das denn sein? Wir sind ja keine Gäste mehr. Ihre Mutter hat uns vor die Tür gesetzt.»
Helene kniff die Augen zusammen, und Emma holte überrascht Luft. Es war eine Frechheit, die gutmütige Wirtin so hinzustellen!
«Wenn ich das mal geraderücken darf», Helene stemmte die Hände in die Hüften, «dann ist es wohl eher so, dass Sie ohne Reservierung gekommen sind und beim Einchecken erfahren haben, dass Sie nur bis heute früh bleiben können. Sie waren damit einverstanden und wollten die Zimmer trotzdem haben. Von vor die Tür setzen kann also keine Rede sein.»
Das leise Murmeln um Emma herum verebbte, und sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass einige Passanten, die neugierig stehen geblieben waren, sich nun zerstreuten.
«Hätte mich auch gewundert», sagte jemand hinter ihr.
«Das hat meine Frau auch nicht so gemeint, nicht wahr, Schatz?», beschwichtigte Herr Klimpel hastig. «Es ist nur so, dass wir es sehr bedauern, ausziehen zu müssen, weil wir gern geblieben wären. Uns gefällt es hier.»
Seine Frau gab keine Antwort, und Emma hatte den Eindruck, dass ihr der eigene Auftritt nun auch ein bisschen peinlich war.
«Warum versuchen Sie es nicht im Hotel Höllblick bei Fabian Lackner?», schlug Emma vor. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auch ausgebucht ist.» Sie ignorierte Helenes zweifelnden Blick und zog ihr Handy heraus. «Ich kann ihn anrufen, wenn Sie möchten.»
«Nein … nein danke.» Herr Klimpel schüttelte den Kopf. «Wir werden eine Lösung finden.»
«Das will ich dir auch geraten haben», zischte seine Frau. «Du weißt, worauf ich hinauswill.»
«Ja, ja.»
Janina schien geradewegs im Erdboden versinken zu wollen. «Mann, ihr seid so peinlich. Da müssen wir in meinen Ferien wegen Opa extra in diese doofe Gegend, und dann gibt’s nur Stress. Hätten wir nicht lieber in den Europa-Park fahren können? Ich will nach Hause.»
«Wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten, Sie finden mich dort.» Emma wies mit dem Finger über den Platz zu ihrem Alimentari, wo Anna gerade in diesem Augenblick die Vordertür aufschloss und zu ihr herüberwinkte. Sie winkte zurück und wandte sich wieder an die kleine Gruppe. «Ich muss dann leider wieder … Helene, wir hören uns.»
«Na klar. Ciao, Emma.»
«Auf Wiedersehen.» Sie nickte der Familie zu und überquerte den Platz. Welch ein Glück, dass sie mit ihrem Lädchen nicht solche Probleme hatte wie die Straubs mit ihren Zimmern. Ja, auch sie hatte mal eine nörgelige Kundin, und ja, das war manchmal anstrengend, aber im Großen und Ganzen lief es seit einiger Zeit so glatt, wie sie es sich nur wünschen konnte.
«Incrociamo le dita», murmelte sich vor sich hin, als ihr ihre eigenen Gedanken bewusst wurden. Anna hätte jetzt abergläubisch auf Holz geklopft, um das Schicksal nicht herauszufordern.
Sie ließ eine Gruppe Radfahrer passieren, und als die bunt gekleidete Truppe vorüber war und den Blick auf die Front ihres Ladens wieder freigab, saß der Fremde von heute Mittag an einem der beiden Gartentische.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, hier vor dem Laden eine Sitzgelegenheit zu schaffen, und Emma nahm sich vor, zwei weitere Tische und die Stühle dazu zu besorgen. Die Möglichkeit, im Freien einen Cappuccino oder Milchkaffee mit Blick auf die alte Linde und den Dorfbrunnen zu genießen und ein Panino oder einen Toast im Sitzen zu essen, wurde besser angenommen, als sie erwartet hatte. Außerdem würde sie Lisa fragen, ob diese sie mit Kuchen beliefern wollte. Sie selbst hatte nicht vor, der guten Bekannten schräg gegenüber Konkurrenz zu machen. Genauso wenig wie sie Bärbel von der Eisdiele damit brüskieren wollte, Gelati anzubieten.
Mit einem Lächeln gab sie dem Gast zu verstehen, dass sie ihn wiedererkannte. «Ich komme gleich zu Ihnen», sagte sie im Vorbeigehen.
«Ich habe keine Eile», antwortete er freundlich. «Lassen Sie sich nur Zeit.»
Anna bediente bereits die erste Kundschaft und war voll in ihrem Element. Sie wurde immer mehr zur Wurst- und Käsespezialistin und kannte sich mit den verschiedenen Käsereien bald besser aus als Emma selbst.
Emma lächelte. Sie würde ihre Freundin, sobald dieses turbulente Wochenende vorüber war, mal wieder auf einen richtig schönen Plauderabend einladen. Dabei probierten sie meist neue Delikatessen aus und überlegten, ob sie sie ins Sortiment aufnehmen sollten oder nicht, und wenn ja, ob etwas anderes stattdessen weichen musste, denn die räumlichen Möglichkeiten waren begrenzt. Anna war von Anfang an die Vernünftigere von ihnen beiden gewesen und sorgte stets dafür, dass Emma in ihrer Begeisterung für neue Produkte nicht mehr bestellte, als im Laden und im Lager Platz hatte. Emma war heilfroh über die Umsicht und das Planungstalent ihrer Freundin.
Sie tauschte ihre Laufschuhe gegen die Ladenpantoffeln und wurde sofort von einem Schwung Kunden in Beschlag genommen, sodass sie kaum zum Verschnaufen kam. Erst nach einer halben Stunde wurde es ruhiger, und der Mann vor dem Laden fiel ihr wieder ein.
«Mannaggia, den hab ich ganz vergessen», murmelte sie zerknirscht und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
«Wen meinst du?»
«Da saß ein Gast draußen, ich wollte ihn eigentlich fragen, was er möchte. Madonna, wie unprofessionell!»
«Ich kann mich darum kümmern», bot Anna an.
«Nein, lass mal, ich gehe selbst, das hab ich schließlich verbockt. Wenn er überhaupt noch da ist. Wahrscheinlich ist er längst weg.»
Doch der Fremde saß da und las konzentriert in einem Reiseführer der Gegend.
«Mi scusi», rief sie ihm entgegen und trat an den Tisch. «Tut mir so schrecklich leid. Aber …»
Er sah auf und lächelte sie an. «Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe die Prozessionen ja gesehen, die in den Laden geströmt sind. Ich bin im Urlaub, nicht auf der Flucht, habe also Zeit zu warten. Gar kein Problem.»
«Grazie, das ist sehr freundlich von Ihnen.» Emma war erleichtert. Es hätte ihr leidgetan, ihn vergrault zu haben, gleichzeitig hätte sie gut verstanden, wenn er gegangen wäre. «Darf ich Ihnen als Entschädigung ein Gläschen aufs Haus anbieten? Einen Prosecco vielleicht? Oder eine schöne Zitronenlimonade?»
«Ich würde einen Cappuccino nehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»
«Sehr gern. Kommt sofort. Diesmal hält mich nichts davon ab, versprochen.»
Er schmunzelte und widmete sich wieder seinem Reiseführer, während Emma hineinging und den versprochenen Cappuccino zubereitete.
«Anna, möchtest du auch einen, wenn ich gerade dabei bin?»
Anna lehnte ab, aber da Emma bereits das Zweiersieb mit Kaffeepulver befüllt hatte und gerade niemand im Laden war, brühte sie trotzdem zwei Cappuccini und nahm die zweite Tasse kurzerhand für sich selbst mit hinaus.
«Stört es Sie, wenn ich Ihnen ein bisschen Gesellschaft leiste?», fragte sie vorsichtshalber, als sie sein Getränk vor ihm abstellte. Nicht jeder schätzte es, wenn man sich aufdrängte, aber sie hatte das Bedürfnis, sich ein bisschen mit ihm zu unterhalten. Er wirkte so … verloren.
«Oh, aber nicht im Geringsten. Im Gegenteil, ich fühle mich geehrt. Bitte.» Er erhob sich halb, deutete eine Verbeugung an und wies mit der Hand auf den zweiten Stuhl am Tisch.
Emma nahm Platz. «Gefällt es Ihnen hier bei uns?», erkundigte sie sich neugierig.
«Ja, es ist ein sehr hübscher Ort. Und ich habe auch großes Glück mit dem Wetter.»
«Das haben Sie tatsächlich. Und mit dem Wochenende überhaupt!»
«Wenn man es so lebhaft mag.» Er wiegte den Kopf. «Eigentlich bevorzuge ich es ruhiger, aber andererseits ist es auch schön, wenn etwas mehr los ist. Was ist das denn für ein Ereignis, das hier stattfindet? Ich habe zwar die Plakate gesehen, als ich heute Morgen ankam, konnte mir aber keinen rechten Reim darauf machen.»
Während sie schluckweise ihre Tassen leerten, erklärte Emma ihm die Hintergründe des Wettbewerbs und dass die Himmelsrichter in zweifacher Hinsicht auf das Wochenende hinfieberten.
«Nicht nur, dass Himmelsricht als Austragungsort des Finales ausgewählt wurde, es geht auch eine von uns als Favoritin ins Rennen», erzählte sie nicht ohne Stolz in der Stimme. «Wir drücken Frau von Hohenfels natürlich alle die Daumen, dass sie gewinnt.»
«Frau von …?»
«Hohenfels. Unsere dorfeigene Adelsfamilie sozusagen.»
«Aha … interessant.»
«Oh ja.» Emma lachte. «Die Damen sind wirklich beeindruckend, alle beide.»
«Eine Familie, die nur aus Damen besteht … wie traurig.» Er griff zu seiner Reiselektüre. «Aber bitte sagen Sie, Frau …»
«Ferrari. Emma Ferrari.»
«Wie unhöflich von mir, mich nicht zuerst vorzustellen.» Er ließ das Buch auf den Tisch sinken und erhob sich. Wieder deutete er eine Verbeugung an. «Gestatten, Stiller. Lennart Stiller ist mein Name.»
«Piacere, Herr Stiller. Wie lange bleiben Sie denn hier bei uns in Himmelsricht?»
«Oh, ich wollte mir ein paar Tage nehmen, um die Umgebung zu erkunden», erzählte er und setzte sich wieder. «Ich finde diese hügeligen Ausläufer sehr charmant und dachte mir, ein paar Spaziergänge wären etwas Schönes.»
«Das sind sie auf jeden Fall. Aber Sie wollten mich etwas fragen?»
«Ah ja, das wollte ich. Gibt es hier etwas, das Sie mir besonders empfehlen können?»
«Machen Sie unbedingt einen Spaziergang durch die Hölle.» Emma wartete auf die Irritation in seinem Gesicht, aber anscheinend war er mit der Lektüre seines Reiseführers bereits so weit gekommen. «Dort ist es ganz besonders schön.»
«Stimmt, vom Himmel in die Hölle zu kommen, ist hier ja in kürzester Zeit möglich», sagte er versonnen.
«Und wieder zurück», bestätigte Emma und lächelte. «Das ist tatsächlich eine unserer größten Attraktionen, wenn man es so nennen will. Ich mache diese Wanderung gern, wenn ich etwas Abstand von der Zivilisation brauche und für mich sein möchte.»
«Eine andere Besonderheit ist sicher Ihr Geschäft.» Er wandte sich zum Schaufenster um und musterte die ausgestellten Waren. «Sehr schön gemacht.»
«Die Deko verdanke ich meiner Mitarbeiterin. Sie hat das absolute Händchen dafür.»
Als hätte Emma sie gerufen, erschien Anna in der Tür. «Entschuldigt die Unterbrechung, aber dein Telefon klingelt, Emma.»
«Danke, Anna. – Ich komme gleich wieder», sagte sie an Stiller gewandt, der gelassen nickte und seinen Reiseführer wieder aufschlug.
Emma erledigte ihr Telefonat – ein Lieferant hatte ein Angebot für sie und wollte ihr verschiedene Varianten seiner biologischen Brotaufstriche und Pestos schmackhaft machen –, und als sie wieder nach draußen kam, war der Platz, an dem ihr Gast gesessen hatte, leer.
Anna kam mit einem Tablett, um die leeren Tassen abzuräumen. «Wer war das denn? Ihr habt euch so gut unterhalten. Kanntest du ihn?»
«Ein Tourist. Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen, aber irgendwie …» Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Isadora von Hohenfels’ Unhöflichkeit wiedergutmachen wollen, doch Anna das zu erklären, würde jetzt zu weit führen. «Warum fragst du?»
«Nur so. Er sah ein bisschen so aus, als käme er von einem Filmset. Und irgendwie erinnert er mich an jemanden.»
«Einen Schauspieler?»
«Vermutlich. Jedenfalls an niemanden von hier. Niemand, den ich kenne, und trotzdem kam er mir so bekannt vor.»
Emma rückte die Stühle zurecht und folgte Anna nach drinnen. «Hast du eigentlich Hugo heute schon gesehen?»
Seit sie an der hinteren Eingangstür eine Katzenklappe hatte installieren lassen, verbrachte der große rote Kater viel mehr Zeit im Haus als vorher. Anscheinend genoss er den Luxus, dass er sich hier in Ruhe von seinen nächtlichen Jagdstreifzügen erholen und trotzdem jederzeit hinaus in die Freiheit konnte, wenn er wollte. So lag er oft den ganzen Vormittag in seinem Korb nahe der Treppe, die von Emmas Wohnung im ersten Stock hinunter zum Laden führte, und schlief.
«Ist er denn nicht oben?»
«Nein, zumindest war er vorhin nicht da, als ich die Pantoffeln angezogen habe.»
«Vielleicht wandelt er auf Freiersfüßen.»
«Er ist doch kastriert.»
«Flirten kann er ja trotzdem.» Anna zuckte die Schultern. «Aber vielleicht ist ihm auch nur zu viel los momentan.»
«Kann sein.»
Während sie gemeinsam die Käsetheke auf Vordermann brachten, die eingelegten Oliven nachfüllten und die verschiedenen Kräutertöpfchen neu arrangierten, berichtete Emma von den Ereignissen vor dem Gasthaus und Helenes beherztem Eingreifen.
«Was es nicht alles gibt …», befand Anna. «Schließlich wussten sie, dass sie nicht bleiben können.»
«Tja … manche Leute sind einfach wunderlich.»
Der Samstagvormittag brachte Himmelsricht und Emmas Alimentari den erwarteten – und von manchen auch befürchteten – großen Andrang. Sie und Anna hatten alle Hände voll zu tun, den Ansturm an Kunden zu bewältigen. In weiser Voraussicht hatte Anna ihre Zwillinge zum Mithelfen verdonnert, und die beiden, denen das Jobben in Emmas Laden nicht nur wegen der großzügigen Aufbesserung ihres Taschengeldes Spaß machte, stellten sich wirklich geschickt an.
Tanja war von ihrer Mutter darin fit gemacht worden, die Einkäufe für den Transport oder, wenn gewünscht, als Geschenke zu verpacken. Außerdem war sie für das Spülen des Kaffeegeschirrs zuständig und durfte auch selbstständig Gemüse abwiegen. Dennis gefiel sich in der Rolle des Lagerleiters. Er sorgte mit Elan dafür, dass die Regale nicht leer wurden. Außerdem legte er für einen Teenager erstaunlich sorgfältige Listen an, was Emma nachbestellen musste.
«Du machst das super. Wenn ich mal in Rente gehe, kannst du den Laden übernehmen», sagte sie scherzhaft zu ihm, als er ihr wieder einen Zettel mit Artikeln vorlegte, die ausverkauft waren.
Dennis schnaubte. «Nee, das wär mir viel zu anstrengend. Jetzt so nebenbei geht das klar, aber ein Leben lang? Never.»
«Ja, ja, dann werd halt Beamter», stichelte seine Schwester und schob ihn mit der Schulter beiseite, um eine Tasse und ein Glas in die Teeküche zu tragen. «Jetzt mach Platz und steh nicht bloß rum.»
«Pffft … Du wieder», maulte er, ließ sie aber durch und verschwand selbst wieder im Lager.
«Wie gut, dass ich vorhabe, dieses anstrengende Leben noch eine Weile selbst zu führen», meinte Emma lachend zu Anna.
Die rollte mit den Augen. «Dabei schwärmt er so davon, wie toll das hier ist und wie gut alles riecht und so weiter. Aber wehe, man spricht ihn drauf an.»
«Teenager halt. Kenne ich von Raffaella auch, aber das Gute ist, es geht vorbei.»
Emma sah auf, als die Türklingel bimmelte. Kurz froren ihr die Gesichtszüge ein, als sie die Familie erkannte, die hereinkam.
Es waren die Klimpels.
«Buongiorno», sagte sie dennoch freundlich. «Wie geht es Ihnen? Haben Sie eine Unterkunft gefunden?»