Mord oder Absicht? - Lothar Schöne - E-Book

Mord oder Absicht? E-Book

Lothar Schöne

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein Mann namens Frederick Reinhardt wird ermordet. Er war eine Leitfigur der Aufgewachten, einer Gruppierung also, die sich politisch und moralisch gern über die von ihnen sogenannten Schlafschafe erhebt. Warum wird eine so noble Gestalt in den ewigen Schlaf geschickt? Musste er einen brutalen Tod erleiden, weil er edle Absichten hatte? Oder gibt es noch andere Gründe? Julia Wunder und ihr Assistent Vlassi versuchen eben das herauszufinden und befinden sich bald in einem Morast aus Verdächtigen. Nur gut, dass der Mainzer Kollege Lustig sich einen sprechenden Hund angeschafft hat. Dieser Columbo scheint mehr zu wissen …

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Seitenzahl: 416

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Für Jutta und Martin

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen haben ihre Zustimmung erteilt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8412-2

Lothar SchöneMordoderAbsicht?Ein Rhein-Main-Krimi

Das ist ja die verkehrte Welt,Wir gehen auf den Köpfen!Die Jäger werden dutzendweisErschossen von den Schnepfen.(Aus „Verkehrte Welt“ von Heinrich Heine)

1 Herr Tod, ich bin enttäuscht!

„Ich bin nicht normal“, murmelte er und lehnte sich erschöpft an ein Bäumchen im Kurpark, „ich bin überhaupt nicht normal.“ Er streckte sich zu voller Länge, umgriff den Stamm mit beiden Händen und flehte das Bäumchen an: „Sag du mir, ob ich noch normal bin!“

Der Mann war umhergeirrt, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Jetzt stieß er sich von dem Stamm ab, und das sah gerade so aus, als wolle er einen lästigen Zeugen, der die Antwort verweigerte, abschütteln. Der groß gewachsene Mittdreißiger sah nach oben in den Himmel, der nachtschwarz über ihm lastete. Nur ein trüber Halbmond gab etwas Licht.

„Ich muss krank sein“, kam es dann leise über seine Lippen, und er lauschte, doch der Himmel schwieg, und noch nicht einmal ein Sternlein blinkte auf.

Er machte einige tapsende Schritte in Richtung zum nahe gelegenen Weiher, und ihm ging durch den Kopf, dass er nicht krank, sondern schwer krank, ja tödlich krank sein müsse. Oder war er schon tot? Tappte er im Jenseits herum und hatte es nicht gemerkt? Hätte ihm der Baum vielleicht sagen sollen, dass er unter den Toten wandelte?, überlegte er weiter. Doch es handelte sich offenbar um einen vornehmen, einen feinsinnigen Baum, der deshalb nicht zu mir sprach, weil ich vermutlich nicht als Toter, sondern als Untoter über die Erde krauche. Gewissermaßen ein vampirisches Leben führen muss …

Solche Überlegungen hielten den Burschen nicht davon ab, sich zum Weiher zu bücken, um sich mit der rechten Hand Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Wasser ist schließlich ein Lebenselement, aber zählte auch das Wasser dieses Weihers dazu? Selbst in der Düsternis der Nacht, nur streifenhaft erhellt durch die Laternen der nahe gelegenen Wilhelmstraße, konnte man den Kot der Enten im Weiher entdecken.

Unser unnormaler Nachtgänger schreckte zurück. Vermutlich hatte er sich mit seinen Wasserspritzern den endgültigen Todesstoß versetzt, einen erbarmungslosen Stoß ins Reich der Toten oder vielmehr Untoten.

Sogleich hielt er inne, und ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn. Vielleicht war er betrunken – das war gut möglich. Denn normalerweise düngte er seine inneren Organe lediglich mit gesunden Tees. Ein Schluck Alkohol konnte Verheerendes bewirken. Er musste Alkoholisches zu sich genommen haben. Aber wo? Und mit wem? Schließlich war er kein Alleintrinker, kein einsamer Zecher, der sich in Kaschemmen herumtrieb, um sich auf Teufel komm raus Hochprozentiges in den Schlund zu schütten.

Der Mann erhob sich, verabschiedete sich mit einer Verbeugung vom Weiher, dessen Wasser zwar nicht das gesündeste Getränk, aber immerhin doch ein Labsal war, und ging stockend in Richtung der großen Straße. Stockend? Einmal taumelte er sogar, und als er schließlich auf dem Fußweg der Wilhelmstraße angelangt war, überlegte er, wie er heimfinden würde. Oder sollte er zu Carola? Carola – ja, die gab es, er erinnerte sich an sie. Gleich verwarf er den Gedanken wieder. Seine Freundin würde sein Leiden vermutlich verschlimmern, ihn zum Nachtdienst einer Klinik schaffen, wo man vermutlich seinen baldigen Tod feststellen würde. Wenn er nicht in der Klinik selbst verendete, an Apparaturen festgezurrt, und im Hinübergleiten in die jenseitige Welt würde er noch die geflüsterte Diagnose des Arztes hören: Nichts mehr zu machen, dieser Mann war nicht zu retten.

Aber warum, warum nur bin ich dem Tod geweiht?, ächzte der Unbekannte auf, ich bin doch erst sechsunddreißig, das ist doch kein Alter für den Tod! Da hat er doch gar keine Freude. Und im letzten Fall habe ich den Tod schließlich persönlich kennengelernt. Nicht nur kennen-, gewissermaßen auch schätzen gelernt. Als Regisseur hatte der was drauf. Gar kein unangenehmer Geselle. Wenn er es auf mich abgesehen hätte, könnte er doch auch jetzt erscheinen. Damals hat er mir als Hase aufgelauert, jetzt könnte er mich als Ente im Kurpark überraschen. Schließlich ist der Tod erfindungsreich, dem sind keine Varianten fremd, und seien sie auch noch so tierisch.

Kommissar Vlassopolous Spyridakis, denn um keinen anderen handelte es sich, schaute in den Park zurück. War da eine Ente, die sich auffällig benahm und sich als der Herr Tod entpuppen würde? Er machte ein paar Schritte in den Kurpark. Doch er sah nur schlafendes Federvieh, sodass er schließlich ausrief: „Herr Tod, ich bin enttäuscht! Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht da. Immer kommen Sie zur unrechten Zeit. Jetzt, wo ich einen Rat vertragen könnte, haben Sie sich offenbar aufs Ohr gelegt!“

Keine der schlummernden Enten am Weiher fühlte sich durch seine Rede genötigt aufzuwachen. Es blieb alles ruhig. So drehte sich Vlassi um und ging zurück zur Straße. Heim musste er, nichts als heim, überlegte er. Aber wo wohnte er noch mal? War ihm seine Behausung etwa auch abhandengekommen? Mein Gedächtnis hat gelitten, kam es ihm in den Sinn. Todkrank bin ich, vielleicht schon tot, und obendrein ohne Gedächtnis. Wenn ich endgültig ins Jenseits schwebe, werde ich es nicht einmal bemerken. Aber was mach’ ich mir Sorgen, im Grunde ist es gar nicht so übel, den eigenen Tod nicht mitzukriegen.

Dann kam ihm in den Sinn, dass etwas Fürchterliches passiert sein musste. Ein Verbrechen? Ihm flatterten die Vokabeln Mord oder Absicht durchs Hirn. Blödsinn, dachte er im selben Moment, das passt doch gar nicht zusammen, das ist doch gaga. Mord ohne Absicht, das ginge, aber Mord oder Absicht … Bald sehe ich mich wahrscheinlich doppelt, und auf meinen Köpfen wachsen Glühbirnen, die leider nicht glühen.

Vermutlich leide ich nur an vorzeitiger Vergreisung, beruhigte er sich. Mich hat die Demenz überfallen, das kann ja in jedem Alter passieren. Die fehlende Erinnerung wird bei mir ergänzt durch sinnlose Vokabeln, Mord oder Absicht ... grotesk. Er machte ein paar Schritte, es war weit nach Mitternacht, und auf der Wilhelmstraße fuhr ein Taxi langsam an ihm vorbei, stoppte aber plötzlich, der Fahrer ließ das Fenster herunter und fragte: „Brauchen Sie ein Taxi?“ Der Chauffeur hatte offenbar erkannt, dass Vlassopolous Spyridakis einen fahrbaren Untersatz nötig hatte.

Vlassi nickte und erwiderte stockend: „Brauchen schon, aber ich … also … ich könnte Ihnen nicht sagen, wo wir hinmüssen.“

„Verstehe“, erwiderte der Fahrer lächelnd, der einen Mann vor sich wähnte, der zu tief ins Glas geschaut hatte, und gab dann einen Rat, der Vlassi einleuchtete: „Denken Sie scharf nach, dann fällt’s Ihnen bestimmt ein. Ich komm noch mal vorbei.“

Nachdenken, das muss ich tun, sagte sich Vlassi, als das Taxi entschwunden war. Aber scharf nachdenken – bin ich dazu in der Lage? Wenn man das Gedächtnis verloren hat und die Demenz einsetzt – dann fehlt neben dem Denken auch jede Schärfe und das Hirn verludert zu einem Unsinnskasten.

Wo bin ich eigentlich?, fragte er sich im nächsten Augenblick. Er lehnte sich an den Zaun eines Gartens und schaute auf. Ah, das Literaturhaus, das Wiesbadener Literaturhaus. War das nicht ein guter Ausgangspunkt, um irgendwohin zu finden – und sei es zum eigenen Zuhause.

2 Ein totes Problem auf zwei Beinen

Anderntags ging es schon auf halb elf zu, und Hauptkommissarin Julia Wunder hatte bereits zweimal auf die Uhr geschaut. Wollte Kommissar Spyridakis heute nicht zum Dienst erscheinen?

Sie hörte auf dem Gang draußen schlurfende Schritte. Das hörte sich keinesfalls nach Spyridakis an. Doch im nächsten Moment ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihm besaß. Allerdings war da nichts von jugendlicher Frische zu erkennen, Vlassi schleppte sich voran, und sein Gesicht sah grau und eingefallen aus. Er ließ sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch fallen, es hatte geradezu den Anschein, als sei er froh, es bis dahin geschafft zu haben. Die ihm gegenübersitzende Julia musterte ihn.

„Guten Morgen, Herr Spyridakis“, sagte sie schließlich.

Vlassi warf einen müden Blick zu ihr: „Ich glaube nicht, dass er gut ist, der Morgen.“

„Na, Sie haben es, wenn auch mit Verspätung, in unser Dienstzimmer geschafft. Das ist doch schon ein Anfang.“

Vlassi nickte ergeben, blieb aber stumm.

„Darf man fragen, was Ihnen geschehen ist? Sie kommen mir etwas eingefallen vor“, fragte seine Chefin.

Vlassi richtete sich auf und antwortete mit klarer Stimme: „Ich bin nicht eingefallen. Ich bin tot.“

„Aha. Sehr interessant“, erwiderte Julia, „aber gehört zum Tot-Sein nicht auch ein Leichenschein? Wenn Sie den nicht vorweisen können, sollten wir schleunigst Frau Doktor Hauswaldt aufsuchen.“

Vlassi nickte, erwiderte jedoch: „Die Hauswaldt können wir uns sparen. Mein Zustand übersteigt ihre Fähigkeiten.“

„Aber unsere Rechtsmedizinerin kennt sich mit Leichen aus“, teilte Julia mit.

„Mit mir nicht“, widersprach Vlassi, „ich bin eine besondere Leiche.“

„Könnte man sagen, Sie sind eine lebende Leiche“, fasste Julia zusammen, „und es fehlt Ihnen nur das Grab?“

Vlassi stimmte müde zu: „Ja, das Grab fehlt mir noch, dann wäre es endgültig.“

„Also endgültig ist Ihr Leichen-Dasein noch nicht?“, wollte Julia wissen.

„Ich bin noch nicht lange tot“, erläuterte Vlassi.

„Verstehe“, nickte Julia, „auf jeden Fall kann ich Ihnen jetzt schon versichern, dass ich Ihr Grab besuchen werde. Und vielleicht könnte ich sogar Kriminalrat Feuer zu einem gemeinsamen Kondolenzbesuch überreden.“

„Kommen Sie mir nicht mit Feuer, dem ist mein Zustand so fremd wie der Hauswaldt.“ Vlassi stöhnte auf: „Sie wissen nicht, was passiert ist.“

„Aber doch“, widersprach Julia, „es ist etwas passiert, das Ihren Tod verursacht hat.“

Sie hielt einen Moment inne: „Nur müssen Sie mir sagen, was genau passiert ist.“

Vlassi schüttelte den Kopf: „Tote können nicht reden.“

„Im Allgemeinen stimmt das, aber Sie sind eine Ausnahmeerscheinung, gewissermaßen ein Ausnahme-Toter, und außerdem noch halb im Leben.“

Vlassi gefiel das Kompliment von ihr. Er war eine Ausnahmeerscheinung, ja, ja – allerdings eine ziemlich unlebendige, der nur das Grab fehlte.

Er blickte zu ihr: „Wenn ich doch reden könnte … alles, alles würde ich Ihnen erzählen … aber zu meinem Tot-Sein kommt noch Gedächtnisverlust hinzu. Ich bin ein Toter ohne Erinnerung.“

„Sie entpuppen sich als schwieriger Fall“, murmelte Julia.

Vlassi stimmte zu: „Normalerweise liebe ich schwierige Fälle, wie Sie wissen. Aber diesmal bin ich selbst einer.“

„Und jetzt reden Sie sogar vernünftig, was gar nicht zu Ihnen passt“, teilte Julia mit, „es scheint also wirklich problematisch um Sie zu stehen.“

„Sage ich doch“, bestätigte Vlassi, „ich bin ein totes Problem auf zwei Beinen, und nicht mal die Enten im Kurpark konnten mir helfen.“

„Sie waren im Kurpark, daran erinnern Sie sich?“, fragte Julia.

„Letzte Nacht, ja, und ich habe gehofft, dass mir eine Ente Bescheid sagt. Wissen Sie, der Tod ist ein guter Ratgeber und verkleidet sich mitunter als Ente … “

„Als Ente, ah ja“, nickte Julia und dachte, dass es ihren Vlassi doch heftiger als gedacht getroffen hatte.

„Immerhin wissen Sie noch, dass Sie im Kurpark mit den Enten gesprochen haben.“

„Die haben aber keine Antwort gegeben, die Biester. Ich war sehr enttäuscht.“

„Nun ja“, meinte Julia, „wir sollten nicht zu sehr enttäuscht sein, wenn Enten sich nicht auf ein Gespräch mit uns einlassen.“

Vlassi wollte etwas entgegnen, kam aber nicht dazu, denn die Tür wurde aufgerissen, und Kriminalrat Robert Feuer stürzte herein.

„Guten Morgen, die Herrschaften, ich grüße Sie aufs Allerherzlichste!“

Julia Wunder erwiderte seinen Gruß, fragte aber misstrauisch: „Sie haben offenbar einen neuen Fall für uns?“

„Keineswegs, es gibt nur läppische Dinge, mit denen wir uns nicht beschäftigen müssen. Ich komme gerade von der Lektüre eines Artikels im Wiesbadener Kurier …“

Feuer hielt inne, denn sein Blick war auf Vlassi gefallen, der stumm dasaß und nach wie vor derangiert aussah.

„Was ist denn mit Ihnen los, Herr Spyridakis?“

Vlassi hob den Kopf: „Ich bin tot.“

„Hat man Sie erschossen oder vergiftet?“

Kriminalrat Feuer lachte bärig los, um dann weiterzusprechen: „Na, so wie ich Sie kenne, wird man Sie ertränkt haben. Vermutlich haben Sie sich selbst ertränkt. In einer Badewanne, der es an Wasser mangelte.“

„Ach, das wäre schön“, murmelte Vlassi.

Julia griff ein und teilte mit: „Herr Spyridakis weiß nicht mehr, wie er ums Leben gekommen ist.“

Jetzt machte Feuer auf fürsorglich: „Aber so etwas kann man doch herausfinden. Vor allem, wenn man noch am Leben ist.“

Vlassi schaute zu ihm: „Meinen Sie?“

„Ja sicher meine ich das. So kleine Lücken hat doch jeder mal. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob ich vorgestern Morgen zum Frühstück ein Ei gegessen habe …“

„Bei mir geht es doch nicht um ein Ei“, stöhnte Vlassi auf.

„Es geht immer ums Ei, Herr Kollege“, teilte Feuer energisch mit, „Sie haben offenbar nur vergessen, ob es sich um ein Hühner- oder Straußenei handelt.“

„Was Großes war’s schon“, stimmte Vlassi leise zu.

„Na sehen Sie, das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt“, erklärte Kriminalrat Feuer, als habe er das Tot-Sein Vlassis auf den Punkt gebracht.

Julia fragte nüchtern: „Aber wie hilft ihm sein Straußenei?“

„Ein Anhaltspunkt, wie ich schon sagte“, stellte Feuer fest, „von hier muss man weiterforschen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ein so fähiger, wenn auch verquerer Beamter wie Kommissar Spyridakis bald herausfindet, wie das Straußenei zu seinem Gedächtnisschwund führte.“

Vlassi sah ihn verdattert an, während Julia nickte und mit Ironie in der Stimme anmerkte: „Ja, ja, er wird bestimmt schnell entdecken, wie ein Ei seine Erinnerung blockiert.“

Feuer warf einen missmutigen Blick zu ihr, doch da er heute offenbar mit guter Laune in den Tag gestartet war, sagte er generös in Richtung Vlassi: „Wissen Sie, Herr Spyridakis, nehmen Sie sich den Tag frei, gehen Sie in den Kurpark spazieren, da kommen Sie auf andere Gedanken, und alles fällt Ihnen wieder ein.“

Er ging zur Tür, öffnete sie, drehte sich noch einmal herum und teilte Vlassi jovial mit: „Morgen sind Sie ein neuer Mensch.“

Kaum war er draußen, wandte sich Vlassi an Julia: „Morgen bin ich vielleicht doppelt tot.“

„Das ist gut möglich“, erwiderte sie, „aber Herr Feuer hat mich auf eine Idee gebracht, er ist, ohne es zu wissen, mitunter ganz hilfreich.“

„Eine Idee …“, murmelte Vlassi.

Julia gab keine Auskunft, griff stattdessen zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.

Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich auf der Gegenseite eine männliche Stimme, Vlassi konnte nicht hören, welche es war, erkannte aber rasch, um wen es sich handelte.

Seine Chefin sprach mit ihrem Vater Wolfgang Hillberger, teilte ihm in kurzen Worten mit, dass sie einen schwierigen Fall vor sich habe, worauf Hillberger sie unterbrach: „Das kann nur der Spyridakis sein! Der ist doch die Schwierigkeit in Person.“

Julia bejahte seine Feststellung nicht, wollte stattdessen wissen, ob ihr Vater einen Psychiater kenne, der mit Gedächtnisschwund umgehen könne.

„Das kann jeder, das ist ihr Beruf!“, schnarrte Hillberger, während Vlassi auf der anderen Seite des Schreibtischs aufstöhnte: „Zum Nervenarzt soll ich? Ich bin doch nur tot und nicht plemplem.“

Wolfgang Hillberger hatte Vlassis Stöhnrede nicht gehört, stellte aber ebenfalls fest: „Ist der Spyridakis jetzt vollständig abgedreht, ganz von der Rolle?“

Julia antwortete: „Das ist sein Wesen, Papa. Damit muss man klarkommen.“

„Mein Wesen“, griff Vlassi wieder ein, „mein Wesen ist das Tot-Sein. Erklären Sie das Ihrem Vater mal. Damit muss ich klarkommen.“

„Und vor allem ich“, teilte Julia ihm über den Schreibtisch hinweg mit.

Hillberger erklärte seiner Tochter: „Also einen Psychiater braucht er. Es gibt ja bei der Polizei auch welche. Von denen rate ich ab. Ein alter Studienfreund von mir praktiziert nach wie vor. Ein sehr einfühlsamer Mann ist das. Der ist was ganz Besonderes, er ist nämlich psychologischer Psychotherapeut. Er wohnt in Geisenheim, da müsste der Spyridakis hin.“

„Wie heißt er denn, und weißt du zufällig auch die Straße, wo er praktiziert?“, fragte Julia.

„Niebergall heißt er, Doktor Niebergall. Ich will ihn zu meinem neuen Kaffeebruder machen, nachdem der alte ja einen mörderischen Abflug gemacht hat …“

„Du sprichst von Konrad Neumann und unserem letzten Fall“, schob Julia ein.

„Ja, natürlich. Der Niebergall wäre ein prima Ersatz für den Neumann, der es ja nicht ins Eis geschafft hat.“ Wolfgang Hillberger machte eine kleine Pause: „Also der Niebergall hat seine Praxis in Geisenheim in der Haasenstraße, die schreibt sich mit zwei a. Ich glaube, die Nummer ist 24. Das muss der Spyridakis recherchieren.“

„Danke, Papa“, murmelte Julia und legte auf.

Vlassi hatte versucht, möglichst viel von ihrem Telefonat mitzukriegen, jetzt schaute er seine Chefin von seiner Schreibtischseite streng an: „Ich soll wohl zu einem Seelenklempner, den noch dazu Ihr Vater empfiehlt?“

„Mein Vater empfiehlt nur Wertvolles, das sollten Sie längst wissen. Und da Sie ohne Gedächtnis hier nur wertlos herumsitzen, sollten wir seine Empfehlung annehmen.“

Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ich muss protestieren! Sogar als erinnerungsloser Toter besitze ich einen gewissen Wert.“

„Aber natürlich, Herr Spyridakis“, stimmte Julia zu und fuhr mit warmer Stimme fort: „Aber den Wert können wir steigern, wir wollen doch wieder einen vollwertigen Kommissar Spyridakis in unserer Mitte haben.“

„Ich weiß nicht“, murrte Vlassi, „ob der Ratschlag von Kriminalrat Feuer meinem toten Wesen nicht angenehmer ist. Lieber einen Tag freinehmen und spazieren gehen.“

„Auf keinen Fall“, entgegnete Julia, „gerade Tote ohne Erinnerung lieben es, verarztet zu werden, noch dazu von einem Mann mit einem so klangvollen Namen wie Niebergall und so einer wunderbaren Berufsbezeichnung wie psychologischer Psychotherapeut.“

3 Sind Sie außer Gefahr?

Vlassi saß in seinem opulenten Dienstwagen, dem Opel Corsa, und fuhr eben durch Eltville. Da er kein Navi besaß, hatte er sich vorher auf der Karte kundig gemacht, wo er hinsollte. Irgendwie, überlegte er, während er an der MM-Sektmanufaktur vorbeifuhr, hatte Julia Wunder vielleicht doch recht. Er musste seine Gedächtnisschwäche überwinden, und sei es mit Hilfe eines Seelenklempners.

Er fuhr am Rhein entlang, kam nach Erbach und Hattenheim, ließ Oestrich-Winkel hinter sich, und jetzt musste Geisenheim doch bald auftauchen. Tatsächlich sah er ein Hinweisschild, der Ort lag nicht direkt am Rhein, entbehrte also gewissermaßen der Schifffahrt und frischen Brise des Flusses – aber das sollte ihn nicht stören.

Vlassi parkte seinen Corsa am Eingang des Ortes, anderes war auch nicht möglich, da Geisenheim offenbar Durchgangsverkehr verschmähte. Zu Fuß machte er sich auf zur Haasenstraße und war überrascht. Nämlich von der Schönheit des Ortes. Einen wunderbaren Marktplatz besaß Geisenheim und sogar einen Dom, wie er feststellte. Und die vielen Cafés und Restaurants hatte er auch nicht erwartet. Hier herrschte ja geradezu griechische Atmosphäre. Aber das Beste, stellte er fest, war wohl eine Buchhandlung namens Untiedt. Die war opulenter als jene, die er so gern aufsuchte, nämlich die von Andreas Dieterle in Schierstein. Es ist nicht verkehrt, ging es ihm durch den Kopf, dass ich diesem Niebergall einen Besuch abstatte, vermutlich wäre ich sonst nie in diesem Geisenheim gelandet, das ist ja ein wahres Kleinod des Rheingaus. Eigentlich bin ich ja ein Wiesbaden-Fan, aber hier könnte ich auch Mördern nachjagen. Und ein weiterer edler Gedanke strich ihm durchs Hirn: Sollte ich nicht mal mit Carola nach Geisenheim fahren und sie eventuell zum Essen einladen?

Er überlegte, ob er der Buchhandlung Untiedt einen Besuch abstatten und vielleicht sogar in ein Café einkehren sollte, es war für die Jahreszeit warm, sogar die Sonne zeigte sich, er könnte draußen einen Gartenplatz finden, den Nachmittag genießen und über sein erinnerungsloses Dasein grübeln.

Vlassi riss sich am Riemen. Nein, nein, nein! Dieser Niebergall ging vor. Nicht, weil er seiner Chefin einen Gefallen tun wollte, er musste sich selbst diesen Gefallen tun. Sollte er denn ewig ohne Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Carola eventuell beichten, dass er nicht mehr ganz unter den Lebenden weilte? Er musste sein Tot-Sein überwinden, und dieser Dr. Niebergall war vermutlich die richtige Adresse dafür.

Die Haasenstraße hatte er bald gefunden. Allerdings praktizierte Dr. Niebergall nicht in der Nummer 24, sondern 27. Schon nach dem ersten Klingeln öffnete ihm ein kleiner glatzköpfiger Mann die Tür. Er war korpulent, aber nicht dick und wirkte wie ein ehemaliger Preisringer. Auf die siebzig musste er zugehen, schätzte Vlassi, was ihm gefiel. Junge Ärzte konnte er seit dem Pharma-Fall, wo er mit Vergiftungssymptomen in eine Mainzer Klinik eingeliefert wurde, nicht ausstehen. Dieser Niebergall schien Erfahrung zu besitzen.

„Sie sind Herr Spyridakis?“, begrüßte ihn der korpu­lente Herr.

„In Person“, bejahte Vlassi.

„Kommen Sie herein, ich bin Doktor Niebergall, und Ihr Besuch wurde mir von meinem alten Freund Hillberger angekündigt.“

„Er hat Sie mir dringend empfohlen“, teilte Vlassi mit.

Dr. Niebergall führte ihn in sein Behandlungszimmer, einen Raum mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein opulenter Ledersessel stand, einer Bücherwand bis zur Decke und einem Besuchersessel. Nun ja, vielleicht sollte man eher von einem Sesselchen sprechen.

„Nehmen Sie Platz“, forderte ihn der Psychotherapeut auf.

Vlassi setzte sich zögernd, das Sesselchen wippte auf und nieder und schien nicht sehr stabil zu sein.

„Fühlen Sie sich wohl?“, eröffnete Dr. Niebergall das Gespräch.

„Ja … eigentlich schon.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Niebergall und sah ihn ernst an.

„Warum denn?“, wollte Vlassi wissen.

„Sie sagen nicht die Wahrheit“, teilte der Psychiater mit und ließ sich in seinen schweren Sessel fallen.

„Sollte ich mich bei Ihnen eher elend fühlen?“, fragte Vlassi.

„Sie sollen sich bei mir wohl und wohler fühlen. Aber das tun Sie doch im Moment gar nicht.“

Vlassi sah den Mann an, der im Sitzen viel größer wirkte. Seine Glatze schimmerte auf einmal rosa, und seine Knollennase schien jedes Geruchsmolekül einzusaugen. Roch Dr. Niebergall etwa Angst bei ihm?

„Ich habe keine Angst“, erklärte Vlassi.

„Das rieche ich, und das meinte ich auch nicht“, teilte ihm der Psychiater mit.

„Was meinten Sie denn?“, wagte sich Vlassi vor.

„Sind Sie außer Gefahr?“

„Bin ich außer Gefahr?“, wiederholte der Kommissar.

Sein Gegenüber nickte und wiederholte drängend: „Sind Sie außer Gefahr?“

Vlassi griff wegen seines schwankenden Sesselchens zur Schreibtischkante: „Also … ich weiß nicht … ich führe ja generell ein gefahrvolles Leben, im letzten Fall wäre mir beinahe eine Theatertruppe zum Verhängnis …“

Dr. Niebergall unterbrach ihn: „Schon gut, schon gut. Sind Sie im Moment außer Gefahr?“

„Ich glaube schon … oder sind Sie die Gefahr?“

Der Psychotherapeut beugte sich vor: „Glauben Sie, ich wollte Sie umbringen?“

„Ich hoffe doch nicht, Sie wirken nicht wie ein Umbringer. Ich verspreche mir stattdessen etwas von Ihnen, also ich will sagen, ich glaube ans Heil von Ihnen.“

Dr. Niebergall lehnte sich wieder zurück und sagte enttäuscht: „Heil ist ein theologischer Begriff. Den können Sie bei mir weglassen.“ Er machte eine kurze Pause: „Natürlich sind Sie in Gefahr! Haben Sie das nicht gemerkt?“

„Ehrlich gesagt: nein“, teilte Vlassi mit unschuldigem Augenaufschlag mit, „könnten Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?“

Dr. Niebergall wippte wieder nach vorn und sagte mit unheilvoller Stimme: „Ihnen droht Gefahr von dem kleinen Sessel, auf dem Sie sitzen.“

„Von dem?“, erwiderte Vlassi und erhob sich sofort, „ist der vergiftet und dringt das Gift schon in mein Zeugungsorgan und meinen ganzen Unterleib? Wird es mich dahinraffen?“

Auf dem Gesicht des Psychiaters zeigte sich kein noch so winziges Schmunzeln. Mit ernstem Gesicht teilte er mit: „Sie denken viel zu verquer. Von Gift kann keine Rede sein. Aber der Sessel, auf dem Sie sitzen, ist doch wahrlich nicht bequem, Sie müssen sich doch schon am Schreibtisch festhalten.“

Vlassi ächzte beruhigt auf und ließ sich wieder nieder: „Da haben Sie recht, es ist eine unbequeme Sitzgelegenheit, die einen zu Fall bringen könnte.“

„Sie sagen es. Zu Fall bringen! Wer sich auf so einen Stuhl setzt, ist auch generell gefährdet.“ Der psychologische Psychotherapeut sah unseren Kommissar von oben an: „Es ist mein Testsessel. Er sagt mir viel über meine Patienten.“

Vlassi gab ein leises Stöhnen von sich. Es handelte sich natürlich um ein theatralisches Stöhnen, schließlich hatte ihn der letzte Fall gelehrt, dass man mit schauspielerischen Fähigkeiten weit kommen konnte. Dann sagte er mit trostloser Stimme: „Also bin ich generell gefährdet?“

„Der Sessel, auf dem Sie sitzen, sagt es mir.“ Dr. Niebergall stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und legte seine Hände aufs Gesicht, sodass nur noch die Knollennase hervorlugte. Schließlich sprach er: „Darf ich Ihnen noch etwas mitteilen?“

„Unbedingt. Ich bin offen für alles.“

„Dann muss ich Ihnen sagen, Herr Spyridakis, Sie sind etwas begriffsstutzig.“

„Tatsächlich?“, fragte Vlassi neugierig.

Niebergall nahm die Hände von seinem Gesicht: „Wie lange Sie gebraucht haben, die Funktion des Sessels unter Ihnen zu erkennen!“

Vlassi stimmte dem Psychiater zu dessen Erstaunen zu: „Da haben Sie irgendwie recht. Ich würde allerdings nicht von begriffsstutzig sprechen, sondern von intuitiver Vorsicht. Ich wollte Sie zuerst kommen lassen.“

Der Doktor sah ihn verdutzt an. Jetzt lächelte er. Offenbar gefiel ihm die Reprise seines Patienten.

„Ich merke“, sagte er anerkennend, „dass Ihre Fähigkeiten versteckt gehalten werden …“

„Ja, ja“, nickte Vlassi, „und wissen Sie auch, von wem?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern gab dem Psychiater sogleich Aufklärung: „Von meinem unterirdischen Ich! Da werden sie unter Verschluss gehalten bis zu ihrem Ausbruch.“

„Aha, intuitive Vorsicht.“, beugte sich Dr. Niebergall vor.

Vlassi lehnte sich auf seinem schwankenden Sesselchen zurück und bewegte sein Haupt bejahend von oben nach unten.

Der Psychotherapeut schmunzelte, legte seine Hände auf die Brust und wollte mit entspannter Stimme wissen: „Was ist denn nun der Grund Ihres Besuchs?“

„Ja also … ich bin tot, ich fühle mich mausetot …“

Dr. Niebergall fiel ihm ins Wort: „Das Leben besteht aus Momentaufnahmen. Klick – und schon vorbei. Noch ein Klick, und wir sind tot. Im Grunde sind wir alle tot, wissen es nur nicht.“

Vlassi ließ sich nicht beirren: „Außerdem habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich bin ein Toter ohne Gedächtnis …“

„Ohne Gedächtnis sind Sie“, unterbrach ihn Niebergall.

„Ja, furchtbar“, stimmte Vlassi zu.

Der Therapeut lehnte sich zurück und erklärte dann dozierend: „Gedächtnisschwund kann die Folge einer frühkindlichen Konstellation sein.“

„Frühkindlich?“, fragte Vlassi erstaunt, „das wäre ja dann schon lange her.“

Niebergall legte den rechten Zeigefinger auf sein Kinn: „Die Zeit spielt keine Rolle für die Psyche. Auch nach vielen Jahren kann eine frühkindliche traumatische Situation wieder aufbrechen. Gewissermaßen sich aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein schieben.“

„Tatsächlich? Das wusste ich nicht“, murmelte Vlassi.

„Man kann nicht alles wissen, deshalb gibt es mich ja“, belehrte ihn der Psychiater.

„Aber wieso schiebt sich das jetzt vor, dieser Schwund meines Gedächtnisses?“

„Darauf kann ich Ihnen eine eindeutige Antwort geben. Schuld an dem frühkindlichen Trauma sind durchweg die Eltern.“ Dr. Niebergall hob seine Hände in Kopfhöhe und spreizte die Finger. Es sah aus, als wolle er sich mit ihnen gleich auf Vlassi stürzen, um ihn mit seinen Fingerklauen erwürgen.

Der erwiderte gelassen: „Da müsste ich ja direkt in meine Kindheit zurück und meine Eltern knallhart befragen. Was habt ihr mir angetan, dass ich jetzt als Toter ohne Gedächtnis herumlaufe?“

Der Psychotherapeut ließ die Hände sinken: „Nicht befragen, schon gar nicht knallhart. Die Eltern wissen ja nichts von ihrem Fehlverhalten, von ihrer Fehlbildung, möchte ich sagen …“

„Aber doofe Eltern habe ich nicht“, fiel ihm Vlassi ins Wort, „vielleicht nur ein wenig ungebildete.“

Dr. Niebergall ging auf seinen Einwand nicht ein, sondern tremolierte: „Plötzlich weiß man nicht mehr, wer man ist. Plötzlich glaubt man, tot zu sein. Plötzlich ist alles sinnlos. Das sind Symptome …“

Wieder fiel ihm Vlassi ins Wort: „Sie meinen, ich bin … geistesgestört.“

„Lieber Herr Spyridakis“, sagte der psychologische Psychotherapeut, „Geistesgestörtheit ist ein Rechtsbegriff, mit dem arbeitet unsereiner nicht.“

„Vielleicht habe ich auch etwas Böses getan?“, murmelte Vlassi.

„Böse und gut sind wiederum theologische Begriffe, damit kommen wir auch nicht weiter.“

„Aber ich komme häufig damit weiter“, widersprach Vlassi zaghaft.

„In Ihrem Beruf vielleicht“, brummte Dr. Niebergall, „womit beschäftigen Sie sich gleich noch mal?“

„Ich bin Kommissar bei der Kriminalpolizei.“

„Kommissar sind Sie, und Sie haben etwas Böses getan?“

„Ich weiß es eben nicht.“

„Das Gedächtnis, richtig, es ist Ihnen abhandengekommen“, stellte der Therapeut fest. Er machte eine kleine Pause, sah einen Moment an die Decke und teilte dann mit: „Das Einzige, was für unsereinen zählt, ist die Verhaltensweise. Können Sie mir ein Beispiel sagen, das Sie an Ihrer Vernunft zweifeln lässt?“

Oh, da könnte ich mit vielen Beispielen aufwarten, ging es Vlassi durch den Kopf. Von den Enten im Kurpark, die mir keine Antwort gaben, darf ich überhaupt nichts erzählen, da ruft dieser Niebergall gleich den Notdienst an.

Der Psychotherapeut warf einen lauernden Blick zu ihm: „Sagen Sie, nehmen Sie Drogen?“

„Auf keinen Fall!“, rief Vlassi aus, „Drogen halte ich von mir fern.“

„Und Alkohol?“, wollte Dr. Niebergall wissen.

„Ich bin abstinent, ich trinke nur Moringa-Tee.“

„Was ist denn das?“, fragte Dr. Niebergall, wartete aber nicht die Antwort ab, da er sich gleich dachte, dass es sich um ein Gesundheitsgebräu handeln musste.

Er wollte stattdessen wissen: „Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal diesen Tee getrunken haben?“

Vlassi legte den Kopf nach hinten, um schließlich mitzuteilen: „Das ist mir auch entfallen. Ich weiß aber, dass ich mit Herrn Hillberger in Eltville einen Kaffee getrunken habe.“

„Wann war das?“

„Vielleicht vor Jahren …“, sinnierte Vlassi.

Nun wurde es dem Therapeuten zu bunt: „Was? Vor Jahren? Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?“

Vlassi räusperte sich: „Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber Sie haben wohl recht.“

Dr. Niebergall erhob sich mit einem Ruck von seinem Sessel: „Hinaus mit Ihnen!“

Vlassi ergriff wieder die Kante des Schreibtischs, da der kleine Sessel unter ihm die Aufforderung des Arztes wohl auf sich bezogen hatte und so bedenklich schwankte, als wolle er höchstselbst forteilen.

„Aber warum denn?“, fragte er den aufgebrachten Dr. Niebergall.

Der legte die Hände auf seinen Schreibtisch und teilte mit: „Es gibt keinen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht.“

„Bei mir vielleicht doch“, widersprach Kommissar Spyridakis. „Ich bin vermutlich eine medizinische Ausnahme, gewissermaßen ein Fall für die Lehrbücher.“

„Sie wollen mich wohl vergackeiern! Scheren Sie sich zum Teufel.“

Vlassi erhob sich von seinem wackeligen Sitz: „Ja, meinen Sie denn, der könnte mir helfen?“

„Ich hoffe es!“, rief der Psychiater und wies mit der Hand zur Tür, „bei dem sind Sie in den besten Händen, der wird Sie kurieren.“

4 Die Hölle schmeckt nicht übel

Vlassi fuhr die Rheinuferstraße entlang. Er war auf dem Rückweg in Richtung Wiesbaden. Nach dem Rauswurf bei Dr. Niebergall war er zum Geisenheimer Dom geschlendert und hatte überlegt, ob ein Besuch desselben ihn aufmuntern könnte.

War das etwa ein Anfall von Gläubigkeit? Konnte man in einer Kirche aufgemuntert werden? Lieber Gott, ich könnte eine Aufmunterung vertragen … nein, nein, so ein Ansinnen ist ja unmöglich … ich habe es mit einem menschlichen Problem zu tun, mit einem Vlassi-Problem, damit kann ich nicht den Höchsten belästigen, was soll der von mir denken.

Aber einen Kaffee könnte ich mir gönnen, überlegte Kommissar Spyridakis. Hier in diesem wunderbaren Geisenheim werde ich eine wohlverdiente Tasse Kaffee zu mir nehmen, das habe ich mir nach diesem quälenden Besuch bei Dr. Niebergall verdient.

Schon saß er im Garten eines nahe dem Dom gelegenen Cafés bei Kaffee und Kuchen. Der erste Schluck des heißen Getränks tat ihm gut, sodass er dachte, ich sollte vielleicht vollends zu Kaffee übergehen und den gesunden Moringa-Tee ganz beiseitelassen. Moringa könnte mir in meiner verqueren Lage jetzt auch nicht helfen, er würde mich einlullen und mir vorgaukeln, dass ich gesund bin und immer gesünder werde. Wo doch das Gegenteil der Fall ist! Ich bin nicht nur tot, ich bin ein totes Wrack – so fühle ich mich jedenfalls. Obwohl eigentlich alles an mir noch dran ist. Alles? Die Erinnerung fehlt halt.

Vlassi lehnte sich zurück. Das Gespräch mit dem psychologischen Psychotherapeuten ging ihm durch den Kopf. Schon die Berufsbezeichnung ist doch irgendwie übertrieben, eigentlich doppelt gemoppelt. Dieser Niebergall, überlegte er weiter, war zwar rabiat, doch dämlich kam er mir nicht vor.

Wir sind alle tot, sagte er, wissen es nur nicht. Das schien Vlassi auf einmal ein sehr wahres Wort zu sein. Die meisten wissen nicht, dass sie als tote Typen durch die Gegend irren, ich dagegen schon. Tot ist doch mal was anderes. Wer will denn schon immer leben. Jene Leute, die gerade dem Dom zustreben – sie glauben doch nur, dass sie lebendig sind, in Wirklichkeit werden sie lediglich durch ein Inneres aus Holzwolle aufrecht gehalten. Die sind vermutlich völlig unlebendig, haben aber keine Ahnung von ihrem desolaten Zustand. Aber was hilft es mir, dass ich es weiß …

Ihm fiel ein, dass Dr. Niebergall seine Eltern als Schuldige ausgemacht hatte, sie seien verantwortlich für seine jetzige Situation. Ach ja, immer die Altvorderen, das ist wohl ein bewährtes Rezept von solchen Niebergallen. Wenn ihnen sonst nichts einfällt, müssen die Eltern herhalten. Seinen Eltern, dachte Vlassi, konnte er überhaupt keinen Vorwurf machen.

Sie hatten ihn ins Leben gebracht und nicht in den Tod gestoßen, in dem er sich jetzt wähnte. Sie hatten getan, was sie tun konnten, hatten nicht nur seinen Plan, aufs Gymnasium zu gehen, gefördert, sondern auch seine Polizei-Ambitionen unterstützt. Ein Grieche in der deutschen Polizei! Das war ziemlich ungewöhnlich, aber bald schon Realität.

Vlassi kam in den Sinn, dass der Psychotherapeut an einer gewissen Stelle ihres Gesprächs ausgerastet war. Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?, hatte er ausgerufen. Und danach kam der Hinauswurf. Einen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht, gäbe es nicht.

Vlassopolous Spyridakis griff nachdenklich zu seiner Tasse Kaffee. Vielleicht war der Besuch bei Dr. Niebergall doch nicht ganz umsonst gewesen. Vielleicht war Vlassis naseweiser Hinweis, dass er ein Fall für die medizinischen Lehrbücher sei, ganz daneben. Vielleicht lag der Arzt richtig mit seinem Zorn.

Es musste einen Vorfall geben, der ihm den Tod beschert und das Gedächtnis geraubt hatte – einen Vorfall, der nicht Jahre zurücklag, sondern in der jüngsten Vergangenheit siedelte. Die jüngste Vergangenheit? Gerade die war ihm abhandengekommen. Er konnte im Grunde froh sein, dass er noch seinen Namen kannte und wusste, was er beruflich trieb. Hätte er nicht auch der Vorstellung anhängen können, dass er bei der Müllabfuhr seine Brötchen verdiente? Am Bahnhof Klos reinigte? Oder beim Standesamt Heiratswilligen die Ringe ansteckte? Nein, er wusste, dass er bei der Polizei arbeitete, er wusste, dass Julia Wunder seine Chefin war, er wusste, dass er mit Carola befreundet war, er wusste sogar, dass Kriminalrat Feuer ein besserwisserischer Vorgesetzter war und seit Jahren nach Höherem strebte.

„Herr Doktor Niebergall“, murmelte Vlassi, „ich muss Abbitte leisten, Sie hatten recht, es handelt sich bei mir nicht um einen jahrelangen Gedächtnisschwund. Sie sind ein wahrer psychologischer Psychotherapeut.“

Er hielt inne und dachte: Und deshalb werde ich auch nicht den Teufel aufsuchen. Wie sollte der mir helfen, wahrscheinlich wäre er unzufrieden mit mir und würde mir sogar einen Aufenthalt in der Hölle verweigern. Obwohl ich einen Besuch dort ganz interessant fände, es muss ja nicht lang dauern, mehr so ein Hineinschnuppern könnte es sein …

Im selben Moment kam Vlassi der Gedanke, dass er sich eigentlich schon in der Hölle befand. Hölle! Hölle! Das ist doch nur das Pseudonym für eine ausweglose Situation! Wer sich nicht an die jüngste Vergangenheit erinnerte, wer als erinnerungsloser Toter durch die Gegend schlappte – war der nicht bereits in der Hölle angelangt? Er nahm mit der Gabel ein Stück von seinem Kuchen, einer Teigware aus Pflaumen und Streuseln, und trank einen Schluck Kaffee. Beides genoss er. Seltsam, dachte er, dass mir die Hölle schmeckt – sie schmeckt überhaupt nicht übel.

Keine zehn Minuten später stieg er in seinen Dienstwagen und trat die Heimfahrt an. Sein Blick schweifte von der Straße zum Rhein, und er überlegte, wohin sein Weg ihn führen sollte. Ins Büro zu Julia Wunder? Aber der könnte er nur von seinem Misserfolg bei Dr. Niebergall berichten. Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihm gegeben – konnte er sie da enttäuschen?

*

Hauptkommissarin Wunder machte sich zur gleichen Zeit tatsächlich Gedanken um ihren Assistenten. Sie saß im Büro an ihrem Schreibtisch, stand gerade auf und ging zum Fenster. Und wenn man genau hinschaute, konnte man eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn entdecken.

Den Fensterblick liebte sie, sie hatte das Gefühl, dass der Blick in die Ferne, hinauf zum Neroberg, ihre Gedanken freier machte. Sie fragte sich, ob die Empfehlung ihres Vaters dem Kollegen Spyridakis geholfen hatte? Ihr Nachdenken fand ein jähes Ende, denn die Tür hinter ihr wurde aufgerissen, und Kriminalrat Feuer enterte das Zimmer.

„Guten Tag, Frau Wunder!“, rief er.

Sie drehte sich herum und erwiderte seinen Gruß.

„Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter“, rief Robert Feuer gutgelaunt.

„Ich habe nur nachgedacht“, erklärte Julia.

„Nachdenken ist immer gut. Wer nachdenkt, wird klüger. Haben Sie heute schon den Wiesbadener Kurier gelesen?“

„Noch nicht.“

„Ich möchte Ihnen eine Lektüre empfehlen, einen Artikel für Zeitgenossen, die wir ja alle sind.“

„Ah ja“, murmelte Julia, und das wirkte ziemlich uninteressiert.

„Sie sollten sich ihn zur Brust nehmen“, teilte Feuer mit, um sich gleich zu korrigieren, „ich meine natürlich, Sie sollten sich ihn vor Augen führen …“

„Worum geht es denn?“

„Es geht um die Aufgewachten, haben Sie von denen schon gehört?“

Julia Wunder ging zu ihrem Schreibtisch. Während sie sich setzte, teilte sie mit: „Ich muss gestehen, nein.“

„Oh“, sagte Feuer und nahm ihr gegenüber auf Vlassis Stuhl Platz, um gleich fortzufahren: „Da ist Ihnen was entgangen. Das sollten Sie nachholen.“

„Handelt es sich um Kriminelle?“, wollte Julia wissen.

„Nein, nein“, wehrte Feuer ab, „wir haben mit denen nichts zu tun. Fernab von unserer Welt sind die. Aber Lesen bildet. Man sollte sich auch für Dinge interessieren, die etwas außerhalb der beruflichen Tätigkeit liegen.“

Julia nickte: „Werd’ ich machen.“ Und sie fügte mit leichtem Grinsen hinzu: „Sie wissen doch, dass mir Ihr Wunsch Befehl ist.“

Feuer fiel plötzlich etwas ein: „Sagen Sie mal, wo ist eigentlich Spyridakis, dieser unselige Kollege? Geht er immer noch spazieren, wie ich es ihm empfohlen habe?“

Jetzt war Julia etwas in der Klemme. Sollte sie Feuer etwa erzählen, dass sie ihn nach Geisenheim zu einem Psychiater geschickt hatte?

„Das Spazierengehen muss auch mal ein Ende haben“, murrte Feuer, „jetzt sitze ich schon auf seinem Platz, bin ich etwa sein Stellvertreter?“

Julia erwiderte: „Niemals könnten Sie sein Stellvertreter sein.“ Sich räuspernd, fuhr sie fort: „Ich meine es natürlich umgekehrt. Übrigens ist Kommissar Spyridakis auf einer Recherche. Ich habe ihn zu einem Mann ent­sandt …“

Sie kam nicht weiter, Robert Feuer beugte sich vor: „Etwas Kriminelles, von dem ich nichts weiß?“

Julia nahm den zugespielten Ball sofort auf: „Ja, das könnte möglich sein. Ich wollte Sie nicht damit belästigen, wir sind noch in den Vorarbeiten, in den allerersten. Wie gesagt, Recherche.“

„Wie heißt denn der Mann, zu dem Sie Spyridakis geschickt haben?“

„Niebergall“, antwortete Julia.

„Niebergall … Niebergall … der Name kommt mir irgendwie bekannt vor … woher kenne ich den?“, murmelte Feuer.

„Es gibt sicher eine Menge Niebergalls …“

Wieder fiel ihr Robert Feuer ins Wort: „Ist es ein Name aus Verbrecherkreisen? Er klingt ganz danach.“ Feuer hielt inne und murmelte: „Aber woher kenne ich ihn?“

Julia wollte ihm auf keinen Fall helfen: „Es wird Ihnen sicher noch einfallen.“

Der Kriminalrat erhob sich: „Nun gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden was diesen Niebergall anlangt. Und ich will auch wissen, was Spyridakis bei ihm ermittelt hat.“

„Aber natürlich, Herr Feuer, ich erstatte Bericht, wenn ich mehr weiß.“

Robert Feuer ging zur Tür, während er den Namen Niebergall vor sich hinmurmelte. Kaum war er draußen, griff Julia zum Telefon. Sie wollte Vlassopolous Spyridakis anrufen, nicht allein Wissbegier trieb sie, es war auch pure Neugier – sie wollte unbedingt erfahren, ob Dr. Niebergall ihren Vlassi in Sachen Gedächtnisverlust geheilt hatte.

*

Vlassi fuhr inzwischen in den Wiesbadener Vorort Schierstein ein. Als er am Drogeriemarkt Rossmann vorbeikam, überlegte er, ob er nicht den Parkplatz im Hof aufsuchen sollte. Er könnte in der Drogerie nach einem Gesundheits­tee fahnden. Nein, kein Moringa sollte es sein, sondern ein Tee, der seinem malträtierten Gedächtnis aufhalf.

Gedacht, getan. Kaum befand er sich im Laden, steuerte er die Tee-Abteilung an. Und war überrascht. Was gab es hier nicht alles, was einen maladen Körper und Geist wieder in Form bringen konnte. Er sollte auf jeden Fall den Nerven- und Schlaftee nehmen, auch den Leber- und Galle-Tee nicht verschmähen – vermutlich war seine Leber auch angeschlagen, eventuell sogar die Ursache für seinen Zustand. Und einen Verdauungstee konnte man immer gebrauchen, wahrscheinlich verdaute er schlecht und litt deshalb unter Gedächtnisschwund. Zur Unterstützung würde er gleich auch den Magen-und-Darm-Tee einpacken.

Und was sah er da? Kopf-Entspannungstee! Der war ja für ihn ausgesprochen wichtig. Sein Kopf, sein Geist musste sich enorm entspannen, dann konnte die Erinnerung wieder einströmen. Vielleicht würde auch der Brennnesseltee ihm weiterhelfen. Wofür war der eigentlich gut? Zur Durchspülung der Harnwege, stand auf der Packung. Meine Harnwege, ging es Vlassi durch den Kopf, sollten auf jeden Fall durchspült werden. Wer weiß, was da alles abtransportiert wird.

Eine junge Verkäuferin näherte sich ihm: „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Vlassi drehte sich zu ihr: „Ja … also, haben Sie etwas … fürs Gedächtnis?“

Die Frau nickte: „Nehmen Sie doch einen Ingwertee. Den trinke ich sehr gern.“

„Ah“, sagte Vlassi, „daran habe ich noch gar nicht gedacht, etwas Spezielles wohl?“

Die Verkäuferin nickte und lächelte.

Vermutlich ein guter Tipp, dachte Vlassi, offenbar hat die Dame auch Gedächtnisschwierigkeiten. Er bedankte sich und griff zu einer Packung Ingwertee. Die junge Frau erkannte, dass Vlassi einen Einkaufskorb brauchte. Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu und brachte ihm einen solchen Korb.

Ach, überlegte Vlassi, als er zur Kasse strebte, hier werde ich öfter herkommen, hier wird mein Leiden intuitiv erkannt, noch dazu von einer Frau in meinem Alter, hier hilft man mir auf die Beine. Beim Bezahlen merkte er, dass er eine Tasche für seine vielen Tees brauchte, aber das war für die Dame an der Kasse ein leicht zu lösendes Problem. Sie reichte ihm einen Papierbeutel: „Da gehen all Ihre Tees hinein.“

Draußen auf der Straße wollte Vlassi zu seinem Auto im Hof der Drogerie eilen, als eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihm zurief: „Wen sehe ich denn da! Das ist doch Kommissar Spyridakis.“

Vlassi hatte den Burschen nicht gesehen und fragte sich sofort, ob sich sein Gedächtnisschwund jetzt schon auf seine Sehkraft legte. Hätte er vielleicht noch einen Augen-Tee mitnehmen sollen? Er warf einen suchenden Blick nach drüben, und jetzt erkannte er, wer ihn da angerufen hatte. Es war Volker Born, der mit einem anderen Mann dastand.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, rief Born, „mit Ihrem Riesenbeutel müssen Sie nicht über die Straße kommen.“

Er wartete ab, bis alle Autos vorüber waren, dann schlenderte er hinüber zu Vlassi. Der Bekannte von ihm kam mit.

„Freut mich, Sie zu sehen“, begrüßte Volker Born den Kommissar, „Sie wollten wahrscheinlich in die Buchhandlung zu Andreas Dieterle. Aber ich fange Sie vorher ab.“

Vlassi warf einen neugierigen Blick auf seinen Begleiter.

„Das ist ein guter Bekannter von mir, darf ich vorstellen, Karl-Friedrich Oberembt.“

Er wandte sich zu dem Genannten: „Herr Oberembt, Sie machen die Bekanntschaft von Vlassopolous Spyridakis, einer Spürnase von hohen Graden.“

Karl-Friedrich Oberembt war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit klaren, gutgeschnittenen Gesichtszügen. Er musste Ende vierzig oder Anfang fünfzig sein, sein volles dunkelbraunes Haar ergraute bereits an den Seiten, dennoch wirkte er recht jugendlich. Sympathischer Typ, dachte Vlassi.

Zu Born sagte er grinsend: „Wenn ich eine Spürnase bin, sind Sie ein Anfänger.“

Ihm war es gar nicht unrecht, den Theologen Born zu treffen. Wie oft hatte der ihm schon bei kniffligen Problemen geholfen. Und zwar ohne es zu merken, was das Beste war. Beim letzten Fall hatte er den Tod als Verjüngungskur gedeutet – vielleicht etwas ungewöhnlich, aber doch sehr hilfreich bei den Ermittlungen. Und wer hatte den Mörder schließlich aufgetan? Niemand anderer als er, Vlassopolous Spyridakis.

„Jetzt, wo ich Sie abgefangen habe“, teilte Born mit, „könnten wir eigentlich mal wieder einen Kaffee trinken gehen.“

„Ich bin dabei“, stimmte Vlassi zu und dachte: Eigentlich bin ich ja auf dem Tee-Trip, auf dem Gesundheits­tee-Trip, aber man muss auch mal fünfe gerade sein lassen.

„Vielleicht kommen Sie mit, Herr Oberembt?“, fragte Born.

„Würde ich gerne, aber ich hab’ noch so viel zu tun. Ein andermal gern.“

Oberembt nickte Vlassi zu, der nickte zurück, und der sympathische Bekannte von Born ging in Richtung Buchhandlung davon.

„Ist das ein Kollege von Ihnen?“, fragte Vlassi.

„Kann man so sagen“, erwiderte Born und kam gleich auf ein anderes Thema: „Was schleppen Sie eigentlich in dieser riesenhaften Tüte mit sich herum?“

„Oh, das sind Tees, spezielle Tees.“

Born sah ihn streng an: „Spezielle Tees? Sie meinen sicher Gesundheitstees. Herr Spyridakis, ich habe Ihnen doch schon bei unserem letzten Treffen erklärt, dass Spezialisten herausgefunden haben, dass kein anderer Stoff als Kaffee die Gesundheit am besten fördert.“

Vlassi legte den Kopf leicht in den Nacken: „Stimmt. Jetzt fällt es mir auch ein. Das haben Sie gesagt.“ Er lachte laut und wie befreit auf, was sein Gegenüber irritierte.

„Warum lachen Sie so grell?“, fragte Born.

Vlassi war deshalb in ein so unnatürliches Lachen ausgebrochen, weil ihm gerade bewusst geworden war, dass sein Gedächtnis funktionierte. Es war schließlich eine Weile her, dass er mit Born einen Kaffee getrunken hatte. Und er wusste es noch. Verloren war er also nicht, die Verlorenheit, in der er sich nach dem Besuch bei Dr. Niebergall wähnte, konnte er abstreifen, er konnte gewissermaßen aus der Verlorenheit heraussteigen. Ja, er war sich jetzt sicher, dass die Vokabel Verlorenheit überhaupt nicht zu ihm passte.

5 Schwarzer Humor springt aus dem Sarg

Wenige Minuten später saßen die beiden Männer im Café Rondo am Schiersteiner Hafen. Auf dem Weg dorthin wollte Volker Born wissen, woran Vlassi gerade arbeite: „Sie wissen doch, ich interessiere mich stark für grauenhafte Morde. Und möglichst blutig sollten sie sein.“

Vlassi erwiderte ausweichend: „Sie haben mich beim letzten Fall schon sehr inspiriert …“

„Nicht nur beim letzten“, fiel ihm Born ins Wort, „denken Sie nur daran, was ich Ihnen für wertvolle Infos beim Kunstfall gegeben habe, jene Mona-Lisa-Angelegenheit. Sie erinnern sich doch?“

Vlassi überlegte angestrengt, hier handelte es sich gewissermaßen um eine Nagelprobe für sein Gedächtnis. Doch auf einmal fiel ihm die Szene ein, wo er Born als Kunstjünger bezeichnet hatte – und er lachte befreit vor sich hin.

„Sie befinden sich in einer Lachphase“, stellte Born stirnrunzelnd fest.

Vlassi merkte, dass er es mit seinem Erinnerungslachen nicht übertreiben durfte, und sagte: „Mir ist gerade eingefallen, dass ich Sie als Dadaist bezeichnet habe.“

„Was gibt es da zu lachen? Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sind Ihnen etwa jetzt Zweifel gekommen, und lachen Sie deshalb?“

„Auf keinen Fall“, stellte Vlassi klar, „Sie sind nach wie vor ein geborener Dadaist …“

„Das will ich hoffen“, nahm ihm Born das Wort ab, „so wie die Dadaisten schwimme auch ich gern gegen den Strom.“

„Und mir fällt auch noch ein“, ergänzte Vlassi, der glücklich über seine Erinnerungsleistung war, „dass Sie nichts dagegen hatten, Polizeipräsident zu werden.“

„Stimmt. Nach wie vor hätte ich gar nichts dagegen, gäbe mich aber auch mit dem Posten eines Kriminalrats zufrieden.“

„Richtig!“, jauchzte Vlassi auf, „Kriminalrat kam auch infrage.“

Die beiden waren inzwischen am Rheinufer angekommen und steuerten den Außenbereich des Cafés an. Nachdem sie einen freien Tisch gefunden hatten und sich gerade setzten, fragte Volker Born: „Warum sind Sie eigentlich auf den letzten Fall gekommen? Warum reden wir über die Vergangenheit?“

Wieder befand sich Vlassi in einer gewissen Erklärungsnot, wusste sich aber Rat: „Ich wollte Ihren Humor mal wieder hervorkitzeln. Ihr Humor ist zwar schräg, aber mitunter doch ganz hilfreich.“

Born rümpfte die Nase: „Mitunter? Ich möchte doch hoffen, dass er unentwegt hilfreich ist.“ Er machte eine kleine Pause: „Wissen Sie, was Humor ist?“

„Ja, also …“, setzte Vlassi an.

„Ich sage es Ihnen“, erklärte Born, „Humor ist die beste Überlebensstrategie. Erfordert allerdings das Talent, lachen zu können. Am besten über sich selbst.“

Vlassi nickte: „Besser hätte ich es auch nicht sagen können.“

„Das habe ich mir gedacht“, lächelte Born, „und wissen Sie auch, was eine humorfreie Zone ist?“

„Das ist eine Zone, die des Humors entbehrt.“

„Nicht schlecht formuliert“, teilte Born mit, „aber man muss klarer werden. Die humorfreie Zone ist eine schauerlich unfruchtbare Gegend, die sehnsüchtig auf Düngung wartet.“

„Ah ja“, nickte Vlassi und retournierte, indem er Borns Worte wiederholte: „Das habe ich mir gedacht. Aber die Frage ist doch: wie kann man diese Gegend düngen?“

„Sie meinen, womit? Das ist doch ganz einfach. Man muss diese unfruchtbare Gegend mit Humor düngen.“

„Richtig“, bestätigte Vlassi, „Sie haben ja so recht. Mit Humor düngen, damit alles fruchtbar wird.“

Eine Kellnerin kam, die beiden orderten je einen Kaffee, und kaum war die Bedienung fortgeeilt, fragte Vlassi: „Aber wissen Sie auch, was schwarzer Humor ist?“

„Schwarzer Humor ist mein Lieblingshumor“, teilte Born mit ernstem Gesicht mit.

„Das habe ich mir schon gedacht“, grinste Vlassi, „und ich kann Ihnen sogar Ihren Lieblingshumor erklären.“

Volker Born streckte seinen Kopf vor: „Legen Sie los.“

„Schwarzer Humor ist, wenn man aus dem Sarg heraus einen Witz über das Jenseits macht.“

Born sah Vlassi einen Moment an, dann lachte er: „Sehr gut. Gefällt mir.“ Er machte eine kleine Pause: „Ich wusste schon immer, dass Sie ein sprachtüfteliger Kommissar sind.“

In dem Moment fiel Vlassi sein ureigenes Problem ein: „Man könnte auch sagen: Schwarzer Humor ist, wenn man aus der Erinnerungslosigkeit einen Witz über das Diesseits macht.“

„Nein, nein“, widersprach Born, „Sie verderben ja die Pointe. Bleiben Sie bei der ersten Fassung, die ist druckreif.“

Die Kellnerin kam und brachte ihre Kaffees. Born nahm einen Schluck, um dann sein Gegenüber zu fragen: „Erinnerungslosigkeit, wie kommen Sie denn darauf?“

„Ich bin doch sprachtüftelig. Da fällt einem so was ein.“

Born setzte seine Tasse ab: „Trinken Sie einen Schluck Kaffee. Der macht Sie weniger sprachtüftelig. Zu viel Sprachtüftelei ist ungesund.“

Vlassi schaute auf seinen Kaffee, nahm schließlich die Tasse in die Hand, ohne sie an den Mund zu führen.

„Trinken Sie nicht? Warten Sie auf eine Eingebung von oben?“, fragte der Theologe Born.

Jetzt setzte Vlassi die Tasse an seine Lippen und trank, allerdings etwas zögerlich. Dann setzte er sie ab und sagte zu Born: „Wissen Sie, ich frage mich manchmal, weshalb wir eine Erinnerung haben. Wenn wir keine hätten, wäre doch alles jeden Tag neu. Wir könnten uns in dieselbe Frau verlieben, würden es nicht wissen, und alles wäre wie beim ersten Mal.“