Mord unter Freunden - Maria Ernestam - E-Book

Mord unter Freunden E-Book

Maria Ernestam

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Bei Anruf: Mord – psychologische Hochspannung aus Schweden

Als ihr Chef sie aus der Firma schmeißt, hat Mari die rettende Idee: Zusammen mit ihren Freunden Anna und Fredrik gründet sie eine Agentur mit dem klingenden Namen „Kleopatras Kamm“. Das Konzept ihres Unternehmens: Die Lösung der unterschiedlichsten Probleme ihrer Kunden, wie etwa Hilfe bei Testamentsfragen oder Beziehungsproblemen. Die Geschäfte laufen gut. Bis sich eines Tages Elsa, eine ältere Dame an sie wendet, mit der Bitte, ihren Mann zu ermorden. Schockiert lehnen sie ab. Doch bald darauf ist der Mann tatsächlich tot und die drei beginnen, sich gegenseitig zu verdächtigen …

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Seitenzahl: 522

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
 
Copyright
Aus Freude am Lesen
BUCH: Drei Freunde eröffnen eine Agentur namens »Kleopatras Kamm«. Ihre originelle Geschäftsidee: die Probleme anderer Menschen zu lösen. Mari, Anna und Fredrik kennen sich seit langer Zeit, und jeder der drei Freunde ist an einem Wendepunkt in seinem Leben angekommen. Mari versucht gerade, eine unglückliche Liebesgeschichte auf Irland zu vergessen. Anna hat ihr unruhiges Leben und ihre zahlreichen Liebhaber satt. Fredrik kämpft gegen Dämonen aus seiner Kindheit und sucht nach seiner Identität in eleganten Nachtclubs. Kleopatras Kamm wird schnell zu einem großen Erfolg. Die unterschiedlichen Fähigkeiten der drei Gründer machen ein breites Angebot möglich: von Inneneinrichtung über Gartenarbeit bis zur Lösung von Beziehungsproblemen. Alles läuft bestens bis zu dem Tag, an dem eine ältere Dame im Büro erscheint. Sie möchte, dass die Agentur ihren Ehemann ermordet, und ist bereit, dafür eine ansehnliche Summe Geld zu bezahlen. Die drei lehnen schockiert ab, doch bald darauf ist der Mann tatsächlich tot …
AUTORIN: Maria Ernestam, geboren 1959, begann ihre Laufbahn als Journalistin. Sie hat lange Jahre als Auslandskorrespondentin für schwedische Zeitungen in Deutschland gelebt, daneben eine Ausbildung als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin absolviert. In Schweden sind mittlerweile vier hochgelobte Romane von ihr erschienen. Maria Ernestam lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stockholm. Weitere Informationen: www.mariaernestam.com
 
MARIA ERNESTAM BEI BTB: Die Röte der Jungfrau. Roman (73854) · Caipirinha mit dem Tod. Roman (73915)
Für Anna
KAPITEL 1
Die Idee zu Kleopatras Kamm kam ihr, als ihr Chef verkündete, er bedürfe ihrer Dienste nicht mehr. Genau so drückte er sich aus, er bedürfe ihrer Dienste nicht mehr. Bereits während er sprach, wusste Mari, dass es dies sein würde, was ihr von dieser Unterhaltung in Erinnerung bleiben würde. Dass der Mann, mit dem sie drei Jahre lang zusammengearbeitet hatte, sie nicht mehr brauchte. Dass er die Absicht hatte, sie loszuwerden, genau so, wie man beschloss, einen Wischlappen auszutauschen.
Merkwürdig, dachte sie. Da hat man einen Lappen mehrere Wochen lang tagaus, tagein benutzt, vielleicht sogar monatelang. Ihn unter den Wasserhahn gehalten, ausgewrungen, die Spüle damit abgewischt und ihn über den Wasserhahn gehängt. Eines Tages betrachtet man ihn eingehender, merkt, dass er schlecht riecht, und wirft ihn weg. Dass der Geruch nur das Ergebnis langer und treuer Dienste ist, ist irrelevant. Jedenfalls, was Lappen angeht. Es ist offenbar auch irrelevant, was mich angeht.
Der Gedanke an den Wischlappen führte dazu, dass ihr ein paar Minuten lang die Konzentration abhandenkam. Sie merkte, dass ihr nicht ganz klar war, was ihr Chef eigentlich sagen wollte. Chef traf es nicht ganz. Sie hatte ihn nie als ihren Chef betrachtet und ihn noch viel weniger so angesprochen. Schließlich kümmerte sie sich um das Meiste. Johan hatte andere Qualitäten, beispielsweise die Ergebnisse der Arbeit anderer einnehmend und überzeugend zu präsentieren.
Trotzdem hatte sie gerne mit Johan zusammengearbeitet. Sie war gerne seine Assistentin gewesen in dem Buchführungsunternehmen, das sie gemeinsam einige Jahre zuvor gegründet hatten, weil sie befürchten mussten, zusammen mit einigen Kollegen von der großen Firma, für die sie tätig waren, aus Einsparungsgründen wegrationalisiert zu werden. Es ließ sich nicht leugnen, dass es eine anstrengende Zeit gewesen war. Sie hatten sich nur das Nötigste an Lohn ausgezahlt, und zu Dumpingpreisen gearbeitet, um die ersten Kunden an sich zu binden. Nach den ersten Gewinnen hatten sie mit Champagner gefeiert.
Aber obwohl sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, fehlte ihr etwas. Bei der Arbeit sehnte sie sich weg. Sie träumte davon, dass David sie, wenn sie nach einem langen Tag nach Hause kam, mit einem Lachen empfangen würde, das »fuck them all« bedeutete. Eigentlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass ihr David mitten in der Nacht Eier mit Speck briet, wie er das früher getan hatte. Dann hatte er sie immer gefragt, ob das jetzt ein spätes Abendessen oder ein frühes Frühstück sei. Sie hätte ihn gern wieder so nah gehabt wie damals, als er ihr Muscheln mit Safran und Koriander kochte, während der Pie schon im Ofen stand.
Johan war inzwischen dazu übergegangen, ihr einen uninspirierten Vortrag darüber zu halten, warum ihr Unternehmen langfristig von der Fusion profitieren würde. Mari fragte sich, wieso er ihr das alles erzählte. Für sie waren das keine Neuigkeiten. Sie war bei den Verhandlungen mit dem kleinen, ekligen Konkurrenzunternehmen, mit dem sie jetzt fusionieren würden, selbst dabei gewesen. Eigentlich hatten sie den Deal gemeinsam eingefädelt. Sie wusste es, und Johan wusste es, und beide wussten, dass beide es wussten. Ihr hatte das nichts ausgemacht, und es war ihr vollkommen gleichgültig gewesen, ob sie eine führende oder nur eine zuarbeitende Stellung innehatte. Sie machte ihre Arbeit, und der Lohn war ausreichend.
Johan schien sich dem Ende seiner Rede zu nähern. Er beugte sich über den Schreibtisch und unternahm jetzt tatsächlich den Versuch, ihre Hände zu ergreifen. Mari beobachtete, wie sich seine Hände plötzlich in schleimige Fangarme verwandelten, und wusste, dass sie eine Berührung nie und nimmer ertragen würde. Auf dem Schreibtisch lag eine Schere, und ihr kam der wahnsinnige Gedanke, einfach Johans Arme wie Schlangen in der Mitte durchzuschneiden, um sie so unschädlich zu machen.
Als würde die Tatsache, dass er sie anfassen wollte, überhaupt einen Unterschied machen. Ihr war eine körperliche Beziehung zu Johan immer undenkbar vorgekommen, und ihr Körperkontakt hatte sich daher auch auf eine Umarmung zu Weihnachten beschränkt. Sie waren ungefähr gleich alt, sie war 42 und er ein paar Jahre älter. Anzüglichkeiten waren ihr jedoch erspart geblieben. Zu blond, zu rund, zu natürlich, zu in sich gekehrt, zu normal, zu nett, ja, verdammt nochmal, nicht auch zu schlapp? Jedenfalls war Johan auf dem Betriebsausflug, auf dem er sie gefragt hatte, warum der Träger ihres BHs immer rutsche, schon ziemlich betrunken gewesen. Sie hatte diesen Kommentar als »alltägliche Kränkung« klassifiziert.
»Ja, so sieht’s aus«, sagte Johan und holte sie damit in die Wirklichkeit zurück. »Sie wollen mich als Geschäftsführer. Das war zwar ursprünglich nicht so vorgesehen, denn deren Eigentümer hatte sich auf einen ihrer Leute versteift, und jetzt mussten wir also einen Kompromiss finden. Natürlich habe ich für dich gekämpft, aber es ist eben ein Geben und Nehmen. Leider. Ich glaube jedoch nicht, dass du Probleme haben wirst, eine andere Arbeit zu finden. Ich verspreche, dir ein gutes Zeugnis auszustellen. Falls du dich nicht gleich selbständig machen willst. Es wäre für dich ja auch kein Problem, freiberuflich zu arbeiten, schließlich musst du für sonst niemanden aufkommen. Du könntest dir doch auch ein halbes Jahr freinehmen und ein wenig auf Reisen gehen?«
»Es ist rührend, wie viele gute Ideen du für meine Zukunft hast.«
Das hätte sie nicht sagen sollen. Sie wusste sofort, wie er reagieren würde. Seine Augen verloren unversehens ihren mitleidigen Schimmer, als ihm ihr Tonfall auffiel.
»Was willst du damit sagen, Mari?«
Früher hatte sie bei diesem aggressiven Ton immer verängstigt nachgegeben. Aber als sie hochblickte und Johans verärgerten Gesichtsausdruck bemerkte, zerbrach etwas in ihr, und sie stand auf. Sie sah die Haare, die aus seinen Nasenlöchern hervorschauten, sein Hemd mit dem schmutzigen Kragen und sein sich an den Schläfen lichtendes Haar. Früher war es einmal dunkel gewesen. Seine Schlangenarme. Sie packte seinen Schreibtisch mit beiden Händen, um ihre Wut und damit auch ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. Es half nicht.
»Du verdammter Heuchler.«
Johans Gesichtsausdruck. Unbezahlbar. Warum hatte sie das noch nie zu ihm gesagt?
»Hier sitzt du. Fett und eklig. Selbstgerecht. Glaubst du wirklich, dass du jemand bist, bloß weil du auf diesem Stuhl sitzt und behauptest, Geschäftsführer geworden zu sein? Du tust so bescheiden, aber bist im Grunde … verdammt zufrieden mit dir selbst! Du findest, dass du bekommen hast, was dir zusteht, und ich bin dir vollkommen egal! Obwohl du weißt, dass du mir alles zu verdanken hast! Abstoßend, Johan. Männer wie du sind dafür verantwortlich, dass die Welt so aussieht, wie sie aussieht. Selbstgerechte, unintelligente und selbstsüchtige Nullen, Männer die nie an andere denken. Die tüchtige Frauen ausbeuten. Und du hast den Nerv, den Verständnisvollen zu spielen. ›Du kannst vielleicht ein wenig auf Reisen gehen?‹ Wie pathetisch, Johan. So furchtbar …«
»Aber meine liebe Mari. Wir müssten uns doch auf eine zivilisiertere Art und Weise trennen können. Nach all den Jahren …«
Johan erhob sich ebenfalls. Sein Gesicht war rot angelaufen, und Mari bemerkte einen Kaffeefleck auf seiner Hose. Es freute sie, dass er sich genau auf der Bügelfalte befand. Die Hose würde nach der Reinigung nie wieder in ihre Fasson zurückfinden. Wunderbar.
»Nach all den Jahren? Klar. Wir haben wirklich einige Jahre hier gearbeitet. In all diesen Jahren habe ich dich immer wieder aus Verlegenheiten gerettet. Ich habe deine Kostenvoranschläge und deine Vorträge geschrieben … habe mich um deine Tabellen gekümmert und auch noch um deine verdammten Eintrittskarten für Fußballspiele …«
»Aber Mari, meine Liebe …«
»Das hast du bereits gesagt. Liebe Mari. Eben erst. Alle hier im Büro wissen, dass du keine sonderliche rhetorische Begabung besitzt, Johan, aber etwas mehr müsste doch noch drin sein? Ja, ich bin lieb. Ich war immer zu lieb. Kannst du dich darum kümmern, Mari … kannst du das erledigen, Mari … du weißt schon, die Gattin, Kinder vom Kindergarten abholen, Empfänge, Besprechungen … und die liebe Mari kümmert sich und erledigt alles. Wunderbar, eine liebe Mari zu haben, die einem alle Probleme löst. Aber dass ich auch einmal Hilfe bei irgendwelchen Problemen brauchen könnte … ist dir dieser Gedanke überhaupt je gekommen?«
Johan öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Wäre Mari nicht so wütend gewesen, hätte sie aufgelacht, so lächerlich sah er aus.
»Hast du Probleme, Mari? Denn …«
»Probleme? Ob ich Probleme habe? Nein, überhaupt nicht. Ich bin nur gerade aus der Firma entlassen worden, die ich zu einem großen Teil selbst aufgebaut habe. Ich! Nicht du! Denn du bist jetzt ja Geschäftsführer. Du wirst die Aufgabe nicht bewältigen, Johan. Jedenfalls nicht, wenn du nicht eine Assistentin findest, die ebenso lieb und tüchtig ist wie ich. Aber ich hoffe, dass dir das nicht gelingt. Und rate mal, wer sich dann kaputtlacht, wenn du scheiterst! Ein heiseres, gemeines Lachen …«
Johan atmete jetzt rascher.
»Du bist doch nicht mehr ganz bei Trost«, sagte er mit unterdrückter Wut, und etwas Spucke traf Mari auf der Wange. Sie wischte sie rasch ab und spürte, dass es in ihrer Gemütsverfassung keinen Platz mehr für Gefühle gab, weder positive noch negative. Die ganze Zeit sah sie Johan an. Sie wusste, was er dachte. Hier haben wir wieder so ein hysterisches Frauenzimmer. Die Sache jetzt bloß ruhig angehen lassen. Schließlich verfügt sie über etliche nützliche Kontakte.
»Du bekommst, was du verdient hast. Ein gutes Zeugnis. Wenn ich es mir nach dem, was du gerade gesagt hast, nicht anders überlege. Fett. Dazu könnte ich auch einiges sagen, weißt du … tüchtige Frauen ausbeuten … und du glaubst, dass du intelligenter bist als ich? Lustig, dass ich aber auf dieser Seite des Schreibtisches stehe und du auf der anderen.«
»Und lustig, dass ich jetzt die Schere erhebe und du gleich nach einem Verband brüllen wirst.«
Sie merkte kaum, dass sie das gesagt hatte, wusste nur, dass ihre Gedanken eine Abkürzung genommen haben mussten. Ihre Lippen bewegten sich, und die Worte stoben auf Johan zu. Gleichzeitig verschwanden sie am Gaumen vorbei in den Rachen, durchquerten pulsierende Schleimhäute und wurden dann vom Blut direkt in den linken Arm und die linke Hand transportiert. Die linke Hand ergriff darauf gehorsam die Schere, hob sie hoch in die Luft und ließ sie auf Johans leicht behaarte Hände herabsausen, mit denen er sich auf dem Schreibtisch abstützte. Links oder rechts? Rechts. Ich bin Linkshänderin, und er ist Rechtshänder.
Als Johan zu schreien begann, erkannte sie, was sie getan hatte. Die Schere lag plötzlich blutbefleckt auf dem Schreibtisch. Sie hatte in Johans rechter Hand eine tiefe Kerbe hinterlassen. Erst starrte er auf die Verletzung. Dann auf die Schere, dann auf sie, wieder auf die Hand. Dann kam der Schrei.
»Was hast du gemacht? Du … du bist verrückt, Mari! Du bist ja vollkommen übergeschnappt! Du hast mich verletzt! Du hast …«
Mari sah, wie die Farbe aus Johans Gesicht wich, während er sich langsam auf seinen Stuhl sinken ließ. Klar, daran hätte sie denken sollen. Er konnte kein Blut sehen. Deswegen hatte er auch bei den Entbindungen seiner Frau nicht dabei sein können. Deswegen konnte einem Johan auch leidtun. Alle im Büro hatten ihn deswegen getröstet. Sie hörte Schritte auf dem Gang, wusste, dass die anderen gleich in der Tür stehen würden, und beschloss, das Weite zu suchen. Ihre wenigen Habseligkeiten konnte sie später aus ihrem Büro holen oder zurücklassen. Die Arbeitsjacke, die an der Garderobe hing, war verschlissen, und die Schuhe für drinnen unter ihrem Schreibtisch besaßen nicht den geringsten Charme. Sie hatte sie einmal gekauft, nachdem sie einen Absatz verloren hatte. Sie war einfach in das erstbeste Schuhgeschäft gegangen und hatte das erstbeste Paar Schuhe gekauft. David hätte sie verabscheut, wenn er sie je zu sehen bekommen hätte. Aber Davids Ansichten waren auch nicht mehr ausreichend artikuliert.
Johan war bleich. Es schien ihm schwerzufallen, die Fassung zu bewahren. Iris und Pupille drohten nach hinten wegzukippen. Mari beugte sich zu ihm vor und blickte geradewegs in seine verschwommenen Augen, die er immer für schön gehalten hatte.
»Deine Zähne sind ziemlich gelb, Johan. Verfärbt. Falls du jetzt wirklich Geschäftsführer einer etwas größeren Firma wirst, dann würde ich dir dringend empfehlen, entweder weniger Kaffee zu trinken oder etwas Geld in das Bleichen deiner Zähne zu investieren. Außerdem glaube ich, dass du Probleme mit deinen Mundwinkeln hast. Sie rutschen dauernd nach unten.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern kehrte ihm den Rücken zu und verließ das Zimmer. Auf dem Bürgersteig holte sie tief Luft und entdeckte, dass tatsächlich die Sonne schien. Dann rief sie Anna an.
KAPITEL 2
Es war lange nach Feierabend, und Mari saß mit Anna in Annas Café und erfand phantasievolle Verwünschungen, die alle mit »Johan« begannen. Sie hatte Anna angerufen und ihr erzählt, dass sie ihrem Chef eine Schere in die Hand gerammt hatte. Das müsse mit einer Flasche Rotwein gefeiert werden, hatte Anna erwidert, Johan sei ohnehin nichts anderes als das Fallobst der Evolution. Vermutlich war es die unbewusste Gewissheit, dass Anna so reagieren würde, die Mari dazu veranlasst hatte, sie anzurufen. Die Luft vor dem Büro war irgendwie dünn gewesen, sie hatte tief eingeatmet, um den Druck auf ihrer Brust in den Griff zu bekommen. Ich ertrinke, hatte sie gedacht. Aber Anna wird das Böse schon mit ihrer guten Laune vertreiben.
Anna. Mari pflegte ihre Freundschaft mit einem mathematischen Wunder zu vergleichen, da sie bewies, dass sich zwei parallele Linien kreuzen konnten. Gelegentlich dachte sie auch, sie sei minus und Anna plus, und dass deswegen überhaupt keine Notwendigkeit bestand, miteinander zu konkurrieren, da es nichts gab, worum sie konkurrieren konnten.
Anna und sie hatten noch zu Schulzeiten in einem von Stockholms Sommercafés gearbeitet und rasch gelernt, dass sie zusammenhalten mussten, wenn sie den Cafébesitzer überleben wollten, über den Anna auf die Wand in der Toilette des Cafés geschrieben hatte: »Hitler is alive and running a café in Stockholm.« Mari war dieser Vergleich unangenehm gewesen, aber Anna hatte gemeint, dass sie deutlich gemacht hätte, was alle dachten und dass man so überhaupt am besten durchkäme im Leben. Ehrlich und unkonventionell.
Anna strotzte nur so vor Weiblichkeit. Barfuß in Sandalen schritt sie durch die Welt, und um sie herum schienen die Blumen aufzublühen. Ihr braunes, meist verfilztes Haar funkelte. Es gab kein männliches Wesen, das von dieser weiblichen Brunst nicht vollkommen überwältigt wurde. Anna konsumierte Männer mit einem Appetit und einer Schonungslosigkeit, die zugleich Abscheu und Neid erweckten. Mari hatte Anna etliche Male am Telefon erklären hören, dass Liebe vor einer Woche nicht bedeuten müsse, dass man heute immer noch verliebt sei.
Anna hatte im Ausland in Bars und Restaurants gejobbt, hatte in Berlin einen Laden besessen, hatte in Frankreich als Model gearbeitet, war nebenberuflich Konditorin gewesen, hatte jahrelang in Amsterdam auf einem Hausboot gewohnt und zwar zusammen mit dem Mann, einem Australier, den sie in einem Kibbuz in Israel kennengelernt hatte. Ihre Tochter Fanditha oder Fanny, wie sie selber genannt werden wollte, wohnte zurzeit in Stockholm und studierte BWL, ging abends früh zu Bett und trug Faltenröcke und Zweiteiler. Anna hatte sich oft darüber beklagt, dass sie nicht wisse, was sie bei ihrer Erziehung falsch gemacht habe.
Um zu verhindern, dass Fanditha ganz hinter den undurchdringlichen Mauern der Konformität verschwand, hatte Anna den Australier verlassen, war nach Stockholm zurückgekehrt und hatte ein eigenes Café eröffnet. Fristaden war ein nettes Lokal auf Södermalm, das Anna in ihrem ganz eigenen Stil eingerichtet hatte. Hier wurden Suppe, Quiche und Backwaren zu den vielleicht günstigsten Preisen in ganz Stockholm angeboten. Folglich hatte das Café eine treue Stammkundschaft, die stundenlang auf den Sesseln vom Trödler saß, vorsichtig Annas Suppe schlürfte und manchmal auch einen Schnaps, zu dem die Inhaberin einlud. Anna war eine fantastische Köchin, vielleicht deshalb, weil sie es mit den Zutaten nicht allzu genau nahm. Es hielt sich das hartnäckige Gerücht, jemand habe einmal einen Spitzenschlüpfer in seiner Suppe gefunden. Doch Anna meinte dazu nur, das sei nichts anderes als Wunschdenken.
Als Mari das Fristaden betrat, hatte Anna bereits Licht gemacht, um die Vorboten des Oktoberabends, fallendes Laub, Dunkelheit und Kälte, zu vertreiben. Mari bemerkte, dass Anna bereits ohne sie angefangen hatte zu feiern, und dachte bei sich, dass das Einzige, was Anna einmal unterkriegen könnte, der Alkohol sei. Annas Schwäche für Wein hatte mehr als einmal dazu geführt, dass Mari ihre Freundin nach Hause und ins Bett hatte bringen müssen. Vor zwanzig Jahren konnte Anna das nicht daran hindern, morgens aufzustehen und - frisch geduscht - trotz der nächtlichen Eskapaden wie neugeboren auszusehen. Heutzutage verhielt sich das anders. Anna war zwar immer noch eine ungewöhnlich attraktive Frau, doch manchmal trug sie jetzt schwarze Ringe unter ihren müden Augen. Dennoch würde das Alter Anna nicht daran hindern, weiterhin das Leben zu führen, das sie immer gelebt hatte.
»Eher verzichte ich darauf, morgens in den Spiegel zu schauen«, hatte sie einmal erklärt. »In vielerlei Hinsicht sehe ich jetzt besser aus als je zuvor.«
Das mochte stimmen. Ihre durchsichtige Bluse gab den Blick auf zwei immer noch feste Brüste frei, und ihr Schmuck, das schwarz-weiße »Ying und Yang«-Zeichen hing tief in ihr Dekolleté. Die Polarität, die eine Einheit schafft. Jetzt schaute sie auf, und Mari sah sich selbst mit Annas Augen. Eine blonde Frau mit Rundungen, die sich schon immer an den falschen Stellen befunden hatten. In schwarzen oder grauen Jacken und Hosen, die dort eng saßen, wo sie nicht zu eng anliegen sollten. In bequemen Schuhen. Sie wusste, sie hätte mehr aus sich machen können, hätte sie nur gewollt. Sie hatte schöne blonde Haare, ihre Augen besaßen eine ungewöhnliche, fast lila Färbung, und man lobte sie gelegentlich für ihre Haut, die ihren Wangen immer noch eine babyweiche Unschuld verlieh. Aber was würde Veränderung schon für eine Rolle spielen? Verrottetes Holz anzustreichen erforderte literweise Farbe und wiederholte Behandlungen. Da war es schon besser, den Verfall mit dem Äußeren harmonieren zu lassen.
Anna hob ihr Glas und stieß mit Mari an. »Weißt du, dass ich gehofft habe, du würdest einmal zur Schere oder Ähnlichem greifen? Wie lange hast du jetzt eigentlich deine und Johans Arbeit erledigt und außerdem noch große Teile seines Privatlebens organisiert, während dein eigenes brachlag? Wenn du wenigstens irgendwie davon profitiert hättest … aber ich kann verstehen, dass du nie eine Affäre mit ihm hattest. Sex mit einem Mann wie Johan kann man nur als erniedrigende Aufgabe bezeichnen.«
»Anna!«
»Ich sage nur, wie es ist. Und weißt du … das könnte die Chance deines Lebens sein. Was Johan darüber gesagt hat, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, war in der Tat gar nicht so dumm. Er ist ja vielleicht ein Idiot, aber in dieser Hinsicht hat er recht. Die Idee muss nur einfach genug sein. Die meisten Unternehmen bieten Produkte oder Dienstleistungen an, die viel zu kompliziert sind. Die Leute arbeiten, waschen sich, haben Sex und schlafen, richten ihr Nest ein, lachen ein wenig, weinen umso mehr, und dann sterben sie. Das ist im Grunde alles, worum es geht. Finde Dinge, die damit zu tun haben. Löse die Probleme der Leute. Bis dir etwas einfällt, kannst du übrigens bei mir arbeiten. Ich fühle mich in letzter Zeit so rastlos. Ich würde mich gerne wieder der Innenarchitektur widmen. Irgendwas machen, was mehr abwirft.«
Mari spürte, wie ihr der Wein zu Kopf stieg. Sie entspannte sich und dachte, dass das, was sie getan hatte, unbegreiflich und gleichzeitig vollkommen logisch war. Sie hatte eine Schere genommen, sie hochgehoben und Johan in die Hand gerammt. Und das war ein gutes Gefühl gewesen. Als hätte sie Kontrolle über die Welt und damit über sich selbst.
»Ich glaube fast, ich hätte ihn umbringen können«, sagte sie.
In diesem Augenblick trat Fredrik ein. Er zog die Tür hinter sich zu, schloss ab und strich den Teppich glatt.
»Sprichst du von mir?«, fragte er. »Ich kann auch wieder gehen, wenn du willst? Oder ich kann ihn auch umbringen, wer auch immer er sein mag. Ich bin in der richtigen Stimmung. Als ich meinen Fahrschein für die U-Bahn vorzeigen wollte, sagte der Mann an der Sperre zu mir, ich solle die Streifenkarte auseinanderfalten, damit er sie stempeln kann. Ich hatte in beiden Händen Tüten und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass es eine große Hilfe wäre, wenn er es über sich bringen könnte, mir diesen kleinen Dienst zu erweisen. Wisst ihr, was er geantwortet hat? ›Es ist nicht meine Aufgabe, die Streifenkarte aufzufalten.‹ Ich hätte ihn wirklich umbringen können.«
Mari registrierte, dass Fredrik wie immer eine gute Figur machte. Solche Hüften hätte sie auch gerne gehabt, und die Lederjacke hatte ihn mehr gekostet, als ihm sein Einkommen eigentlich erlaubte. Er hatte dunkles, gepflegtes Haar, bernsteinfarbene Augen, obwohl es das eigentlich nicht gab, und schön geschwungene Lippen. Er war attraktiv. Wieder einmal dachte sie, dass sie damals den Fehler ihres Lebens begangen hatte, als sie nicht gewagt hatte, seinen Kuss zu erwidern.
Sie lernten sich auf einer Reise kennen, die entsetzlich lange zurücklag. Anna und sie hatten sich ein paar Wochen frei genommen, waren nach Italien gefahren, hatten in Museen und bei Stadtrundgängen geschwitzt und, was Anna anging, auch in den Armen italienischer Männer. An einem dieser Abende, als Anna mal wieder zu einem Drink an die Bar eingeladen wurde und Mari nur zum Heulen zumute war, entschuldigte sie sich kurz und ging nach draußen, um ihre Enttäuschung herunterzuschlucken. In der Dunkelheit lief sie die schmalen Gassen entlang und betrat schließlich ein Café, das die ganze Nacht geöffnet hatte. Dort trank sie einen Espresso und aß ein mit Buttercreme gefülltes Gebäckstück, ohne an den Umfang ihrer Hüften zu denken oder daran, dass es damit noch schwieriger werden würde, jemals zu einem Drink eingeladen zu werden. Sie hatte den Kellner angesehen und gedacht, dass sie sofort ihm gehörte, wenn er etwas Nettes zu ihr sagen würde, und sei es nur: »Ciao bella.«
Der Mann am Nachbartisch hatte sie betrachtet, als wüsste er Bescheid. Dann fragte er, ob sie Schwedin sei. Sie nickte, und er stand auf und setzte sich zu ihr an den Tisch. Dort saßen sie dann stundenlang, bis sich Mari an Anna erinnerte und Fredrik mit in die kleine Pension nahm, in der sie wohnten.
Anna hieß Fredrik ganz selbstverständlich willkommen, und sie saßen bis zum Morgen da und tranken den restlichen Wein, erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben, lachten und vergossen gelegentlich auch ein paar Tränen und wurden so zu Freunden.
Den Rest der Woche waren sie unzertrennlich. Einmal, spätabends, als Anna noch in einem obskuren Nachtclub bleiben wollte, versuchte Fredrik vorsichtig, Mari zu küssen. Doch sie winkte ab, weil sie annehmen musste, sie sei nur der Trostpreis, weil Anna nein gesagt hatte. Anschließend bereute sie es. Nach einer Weile erkannte sie aber, dass sie Fredrik so gern hatte, dass sie auf keinen Fall riskieren wollte, ihn zu verlieren, nur weil eine eventuelle Beziehung ein Ende nahm. Fredrik unternahm nie wieder einen Annäherungsversuch, und sie wusste bis zu diesem Tag nicht, ob sie sich damals klug verhalten hatte. Aber ihre Freundschaft hielt.
Jetzt saßen sie zusammen im Café, während es draußen immer dunkler wurde, und die Straßenlaternen Schatten an die grün gestrichenen Wände warfen. Mutig, hatte Fredrik geurteilt, als Anna die Farbe präsentiert hatte, dann aber wie so viele andere zugeben müssen, dass Annas Sinn für Nuancen sie auch dieses Mal nicht getrogen hatte. Fredrik saß in dem großen Ohrensessel, einem Erbstück von Annas Großvater, und Mari hatte sich den Schaukelstuhl ausgesucht, auch dieser alt. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, betrachtete Fredrik und Anna und dachte, dass es schon seltsam war, dass es ihnen trotz chaotischer Lebensführung über alle Jahre gelungen war, den Kontakt zu halten. Aufgrund Annas Reisen kreuz und quer durch die Welt, hatten sie sich lange Zeit nur mit kurzen Besuchen und im Übrigen mit Briefen, Telefongesprächen und Mails begnügt. Dazu kamen Maris Jahre in Irland. Fredrik war zwar in Stockholm geblieben, unternahm aber immer wieder monatelange Reisen, wenn er genug Geld zusammengespart hatte. Allein. Immer und immer noch allein. Wie sie mittlerweile alle drei. Über vierzig und allein, wenn man einmal von den Männern absah, die den Versuch unternahmen, bei Annas Tempo mitzuhalten.
Noch einmal musste sie erzählen, was sich im Büro zugetragen hatte. Fredrik schien das mit der Schere nicht weiter bemerkenswert zu finden, sondern stellte stattdessen fest, dass es nicht so ungewöhnlich sei, dass aufgestaute Aggressionen zu unüberlegten Taten führten.
»Vermutlich wolltest du schon recht lange mit der Schere auf Johan losgehen. Oder ihn mal so richtig anschreien. Unterbewusst natürlich. Aber du hast immer den Mund gehalten und warst frustriert. Jetzt bot sich die Gelegenheit. Ich glaube, dass es so ist. Man lässt Demütigungen über sich ergehen, und plötzlich bricht es aus einem heraus. Wenn man dann überreagiert, genügt eine Kleinigkeit. Und niemand versteht, warum man sich wegen einer Lappalie so aufgeregt hat.«
»Du meinst die Kündigung?«
»Nein, natürlich nicht. Das ist wirklich eine Sauerei, Mari. Aber eigentlich tust du mir auch nicht leid, denn ich hatte schon lange das Gefühl, dass du dich dort nicht wohlfühlst. Wir sollten eine Flasche Champagner aufmachen und den Anfang deines neuen Lebens feiern.«
»Feiern, dass ich mit der Schere auf jemanden losgegangen bin und das Gefühl hatte, ihn umbringen zu wollen? Man könnte fast Angst vor sich selbst bekommen … Vielleicht zeigt er mich ja bei der Polizei an, und ich muss Schmerzensgeld bezahlen.«
»Das glaube ich nicht. Dein alter Chef wird schließlich so etwas wie Selbstachtung haben. Das Ganze klingt doch ziemlich bescheuert: ›Sie hat mir mit einer Schere in die Hand gestochen. ‹ Klar hat das wehgetan. Und dass du das Gefühl hattest, ihn umbringen zu wollen, ist, glaube ich, auch ziemlich normal. Das kennen die meisten Leute. Ich sage nur, der Typ an der U-Bahn-Sperre. Hat vermutlich mit dem Gerechtigkeitssinn oder unserem Selbsterhaltungstrieb zu tun.«
Anna stellte einen großen Topf auf den Tisch und verteilte Suppe in tiefe Teller. Mari nahm ihren Teller mit beiden Händen entgegen. Lamm, Tomate, Bohnen. Sie musste Acht geben, dass sie nichts verschüttete. Trotzdem landeten ein paar Tropfen auf ihrer Hose. Der Fleck erinnerte sie an Johans Fleck auf seinem Hosenbein. Sie zuckte zusammen, als sie die Hitze auf der Haut spürte, und dachte an David und seinen Wunsch zu überleben. Mit Kunst.
Etwas ganz besonderes. Etwas, was die wankelmütige Menge nie vergessen wird.
»Ich weiß nicht, ob es da um Selbsterhaltung ging. Ich glaube, die unterdrückten Aggressionen treffen es schon eher. Weißt du, dass ich manchmal Angst vor meiner eigenen Wut bekomme?«
Fredrik tätschelte ihr den Arm.
»Wenn es dich beruhigt, dann musst du dir statistisch gesehen keine Sorgen machen, denn 90 Prozent aller Morde werden von Männern begangen. So war es immer und zwar überall. Schau mich nicht so an, darauf bin ich nicht stolz. Sag mir nur eine einzige Kultur, in der es möglich ist, dass Frauen eine Armee aufstellen, in den Krieg ziehen, alle Frauen der Gegenseite ermorden und alle zeugungsfähigen Männer in das eigene Land verschleppen. Männer haben das jedoch zu allen Zeiten getan.«
Anna schlürfte den letzten Rest Suppe direkt aus dem Teller und wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund. Mari fand, dass sie im Kerzenlicht nicht älter aussah als damals, als sie auf den wackligen Pensionsbetten in Italien gesessen hatten. Als trüge sie wie eine russische Puppe alle früheren Jahre in sich. Jetzt hatte jemand die Puppe auseinandergenommen und die äußeren Schalen entfernt.
»Was für ein wunderbarer Gedanke. Stell dir vor, Anna und ich drehen irgendwann durch, ermorden andere Frauen und schleifen die attraktivsten Männer an den Haaren nach Hause. Im Augenblick bin ich mir nicht ganz sicher, ob es ein Zeichen von Intelligenz oder Dummheit ist, dass wir das nie getan haben. Aber vielleicht ist es dafür ja noch nicht zu spät. Die Evolution ist schließlich ein Prozess ohne Anfang oder Ende.«
Fredrik lehnte seinen Kopf zurück und lachte laut. Ein Mann. Deswegen auch ein potentieller Mörder? Wäre Fredrik fähig, in blinder Raserei seine Feinde oder auch seine Frau zu zerstören? Das konnte man sich kaum vorstellen, obwohl Mari wusste, dass der Schein manchmal trog. Aber es gelang ihr nicht, sich vorzustellen, wie ein Feind Fredriks aussehen sollte. Er war zwar ein Mann, der etwas von James Bond und einsamem Cowboy im Sonnenuntergang hatte, aber seine Ablehnung von Gewalt war trotzdem … deutlich.
Fredrik erzählte nie von alten Freunden und nur selten von aktuellen oder beendeten Beziehungen. Familie? Sein Vater war tot, und seine Mutter wohnte allein irgendwo oben in Norrland. Das wusste sie, und das ließ sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen. Mehr hatte er nicht erzählt, und nach mehr hatte sie auch nicht gefragt.
Fredrik, dachte Mari. Was weiß ich eigentlich von dir, obwohl wir uns jetzt schon so lange kennen und so oft über das Leben unterhalten haben? Ich weiß, warum ich allein bin, aber warum ist nie etwas aus den Beziehungen, die du mit verschiedenen Frauen gehabt hast, geworden? Frauen, die sich mit einer monotonen Regelmäßigkeit abgelöst haben, alle Lisas, Ylvas, Karins und Anettes, ohne wirklich zu ihm durchzudringen und sein Leben nachhaltig zu verändern.
Ich bin selbst so allein, dachte sie dann. Ich habe Anna und Fredrik und einen David, der nicht der ist, der er einmal war. Der Kontakt zu meiner Familie ist lausig, und meine ehemaligen Kollegen werden mich in ein paar Monaten nicht mehr wiedererkennen. Macht mir das Angst? Vielleicht ein wenig, vielleicht sogar mehr als nur ein wenig. Ich habe vermutlich Angst davor, nichts zu bedeuten, davor, vergessen zu werden. Das, wovon David gesprochen hat. Was tue ich dagegen?
Sie dachte daran, was Anna ihr geraten hatte. Löse die Probleme anderer Leute. Die Idee muss nur einfach genug sein. Aber mussten die Probleme genauer beschrieben werden? Nicht unbedingt. Es sollte doch möglich sein, ein Unternehmen zu gründen, das Lösungen anbot, ohne die Lösung bereits durch die Definition der Fragestellung zu begrenzen. Ein Unternehmen, das einem in der Konsequenz die Angst nahm. Es gab so viele verängstigte Menschen. Viel zu viele.
»Ich frage mich«, meinte sie vorsichtig, »ob die Tatsache, dass ich mit der Schere auf meinen Chef losgegangen und etwas von meiner Wut losgeworden bin, dazu führen könnte, dass wir gemeinsam ein Unternehmen gründen?«
Als Anna und Fredrik sie ansahen, wusste sie, dass sie das einzig Mögliche ausgesprochen hatte. Merkwürdig, dachte sie, dass es so lange dauern kann, bis einem einfällt, was eigentlich hätte selbstverständlich sein sollen.
»Wie viele Jahre verbringen wir jetzt eigentlich schon in einer, wenn man es genau betrachtet, doch ziemlich perfekten Dreisamkeit? Wie viele Jahre hast du, Anna, damit zugebracht, in allen Ecken der Welt, nach dem Sinn des Lebens zu suchen, während du, Fredrik, eigentlich immer nur mit uns alleine sein wolltest? Anna, du hast doch vorgeschlagen, wir sollten herausfinden, was die Leute brauchen. Warum können sie nicht einfach zu uns kommen und uns sagen, wie ihre Bedürfnisse oder, noch lieber, wie ihre Probleme aussehen? Wir lösen sie. Unsere vereinte Kompetenz ist in der Tat recht imponierend. Ich besitze umfangreiche Kenntnisse in der Buchhaltung, habe ein Restaurant in Irland betrieben und bin es gewohnt, faulen Menschen den Rücken freizuhalten und mich für sie mit sämtlichen Behörden herumzustreiten. Und es gibt kaum etwas, Anna, womit du dich nicht schon beschäftigt hättest. Fredrik hat bereits an fast allen Schulen der Stadt sämtliche Fächer unterrichtet, kann außerdem mit Grundkenntnissen in Jura aufwarten und ist geschickt mit den Händen. Wir decken ein breites Spektrum ab. Und über geeignete Räumlichkeiten verfügen wir auch bereits. Ich kann mir gut vorstellen, hier jeden Morgen zu erscheinen und den Duft frischgebackenen Brotes einzuatmen, statt mir vorstellen zu müssen, wie der Geruch von Johans Rasierwasser langsam die Computerkabel zersetzt. Vielleicht finden wir ja noch jemanden, der sich um die praktische Arbeit hier im Café kümmert. Dann richten wir uns das kleine Zimmer hinter der Küche ein. Das ist eine phantastische Idee. Ehrenwort.«
Wie genial die Idee war, begriff sie erst, als sie über sie zu reden begann. Sie war in der Tat bestechend. Unvermeidlich. Vorherbestimmt.
»Fredrik, du jobbst nach wie vor mal hier, mal da. Mich hat man gefeuert, ich habe jede Freiheit der Welt, zu tun, was ich will, und du, Anna … hast du nicht gesagt, dass du dich wieder mehr der Inneneinrichtung widmen willst? Ich bin sicher, dass dir das alle Möglichkeiten bietet. Und ich weiß vielleicht sogar schon, wer im Café mitarbeiten könnte. Ich habe eine nette Nachbarin, die ich immer für ziemlich glücklich gehalten habe, weil sie drei gesunde Kinder hat und einen Mann, der gelegentlich auch mal einkaufen geht. Aber vor ein paar Wochen hat sie mir quer über die Straße zugerufen, wenn sie nicht bald mal außer Haus käme und ein paar normale Erwachsene träfe, dann würde sie sich demnächst zwecks Recycling in einen stabilen Müllsack verkriechen. Sie würde sich schon darauf freuen, sich in eine Parkbank aus grünem Plastik zu verwandeln. Genau das hat sie gesagt. Dann sah sie plötzlich so aus, als hätte sie sich verplappert, und meinte nur noch, sie hoffe, es gehe mir gut. Bereits da habe ich mir überlegt, ob ich ihr nicht eine Arbeit bei uns im Büro anbieten könnte. Dieses Café ist aber eine sehr brauchbare Alternative.«
Erst sagte niemand etwas. Dann erhob sich Anna und ging in die Küche. Mari wollte erneut losreden, aber Fredrik kam ihr zuvor.
»Warum nicht?«, meinte er. »Ein Unternehmen, das die Probleme anderer Leute löst. Klingt einfach, aber gleichzeitig auch genial. Es gibt sicherlich ein Dutzend Bereiche, in denen wir gemeinsam über die nötige Kompetenz verfügen. Wir sind Alleskönner. Wir haben überlebt. Wir brauchen keine regelmäßigen Arbeitszeiten. Und wir kommen gut miteinander aus.«
Anna kam aus der Küche zurück. Sie trug ein Tablett mit drei Gläsern. Als sie es auf den Tisch stellte, sah Mari, dass sie Irish Coffee zubereitet hatte. Wie passend, dachte sie. Vielleicht will sie mir damit ja eine Freude machen, aber sie weiß schließlich nichts davon. Davids Song. I’ve been a wild rover for many a year, and I’ve spent all my money on whiskey and beer. Sie nahm ihre Tasse, trank einen Schluck Kaffee und schloss die Augen. Er war gut. Natürlich. Und Fredrik sah glücklich aus.
»Vielleicht bedeutet dieses Unternehmen ja die Lösung aller unserer Probleme«, sagte er nach einer Weile. »Ich bin dabei. Nichts hindert mich, und ich kann alles geben. Was haltet ihr davon, wenn wir eine Weisheit aus der Bibel als Slogan verwenden: Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Oder wir. Amen. Anna?«
»Gute Idee. Deswegen serviere ich das hier ja auch. Damit ihr in die Tassen schauen könnt. Einfacher Aberglaube. Aber ein achtzig Jahre alter Whisky lädt dazu ein.«
Mari gehorchte ihr. Sie betrachtete die Sahne, die auf dunklem Kaffee ruhte. Hokuspokus, Abrakadabra, wollte sie schon sagen, da sah sie, dass die Sahne schmolz und Punkte und Linien bildete. Steine und Muscheln, dachte sie resigniert. Weshalb sehe ich einen Strand, obwohl ich jetzt doch die Möglichkeit zu einem Neuanfang habe? Warum lässt du mich nicht in Frieden?
 
Als Mari nach Hause kam und die Türe aufschloss, voller Hoffnung, verflüchtigte diese sich bereits in der Diele wieder. Niemand war da, dem sie von der neuen Geschäftsidee erzählen konnte. Die Wohnung kam ihr ebenso verlassen vor wie immer. Es war schon seltsam, dass es ihr nicht einmal gelang, ihren eigenen Geruch in der Wohnung zu verbreiten und sich so in ihr heimisch zu machen. Ohne das Licht einzuschalten, betrat sie das Badezimmer, zog sich aus und legte die Kleider auf den Rand der Badewanne. Dann schlüpfte sie in ein warmes Nachthemd und kroch ins Bett.
Sie war wieder dort. Im Schlaf konnte sie das Gras sehen, die Steinmauern und die grasenden Pferde. Sie sah, wie die Berge im Nebel in der Höhe verschwanden, der Duft von Salz stieg ihr in die Nase, als das Meer gegen die Felsen schlug, die senkrecht in den Atlantik abfielen. In Irland bäumte sich das Land förmlich vor dem Meer auf. Ohne zu verlangsamen, schossen Landzungen ins Meer hinaus. Dann ging es steil in die Tiefe. Hunderte von Meter zu den schäumenden Wellen hinab, und kein Zaun hielt die Neugierigen zurück. Ein Windstoß würde reichen, hatte sie einmal gesagt.
David hatte gelacht.
Sie waren auf dem Weg nach Renvyle Point gewesen wie so oft, wenn David Luft atmen wollte, die nicht schon durch unzählige Lungen geströmt war. Auf dem Weg dorthin kamen sie durch das Quäkerdorf Letterfrack und fuhren durch Tullycross. Sie stellten fest, dass sie an diesem Tag vielleicht sogar Croagh Patrick, den heiligen Berg, würden sehen können, falls es nicht anfing zu regnen. Im Übrigen unterhielten sie sich nicht sonderlich viel. In Tully machten sie Pause und tranken ein Guinness. Sie wollte ihn nach seiner Ausstellung fragen und danach, was über seine Skulpturen geäußert worden sei, ließ es dann aber bleiben. Wenn David ihr davon erzählen wollte, so würde er das schon tun. Sie konnte nur hoffen, dass sein Schweigen bedeutete, dass es etwas zu feiern gab. Etwas, das er ihr am Renvyle Point anvertrauen würde.
Sie parkten das Auto am Ende der Straße und gingen auf die äußerste Landspitze zu. Wie immer erzeugte die Schönheit der Landschaft in ihr das Gefühl, ausgeliefert zu sein, als sei sie zwar ein Element des Ganzen, das aber doch nicht richtig passte. Das Gras schimmerte auf den Hügeln, die Schafe grasten mit roboterähnlicher Monotonie, und eine alte Ruine reckte ihr Skelett und gestattete der Vegetation, sich in den Spalten zwischen den Steinquadern breitzumachen. Die Inseln in der Ballinakill Bay schienen ungewöhnlich scharfe Konturen zu besitzen, und sie dachte, dass die Touristen deswegen nach Irland kamen und die Schauer und die Feuchtigkeit ertrugen. Sie sehnte sich nach Augenblicken wie diesen, wenn sich Vorzeit und Gegenwart vereinten und die Gebete der Kelten zum Himmel aufstiegen, als würden sie immer noch über die Insel herrschen. Das Meer war aufgewühlt, aber die Sonne wärmte. David zog auf der Wanderung zum Rand des Kliffs die Jacke aus.
Sie erreichten es fast gleichzeitig und schauten vorsichtig über den Rand hinweg in die Tiefe. Der Strand weit unten war mit Muscheln und Steinen bedeckt. Er wirkte ebenso unnahbar und irreal wie immer. Bei ihrem ersten Besuch war sie erstaunt gewesen, dort unten jemanden zu sehen, der in die Wellen starrte. David hatte versucht, ein ernstes Gesicht zu machen.
»Er ist dort hinabgeflogen. Das geht. Irgendwann werde ich dir zeigen, wie das geht«, hatte er angekündigt. Dann zeigte er ihr einen versteckten Pfad, der das Kliff hinunterführte. Gemeinsam kletterten sie nach unten und erreichten bald ohne sonderliche Anstrengung den Strand. Sie setzten sich ans Wasser und genossen die Aussicht. David erklärte ihr, dass er Renvyle Point immer am meisten gemocht hätte, obwohl alle Touristen sich an den spektakuläreren Cliffs of Moher drängten.
»Klar. Dort gibt es noch mehr Felsen. Und höhere. Aber die hier sind mir schon hoch genug. Und hoch genug ist manchmal vorzuziehen, wenn einem die höheren durch unzählige Busladungen von Touristen verleidet werden«, hatte er damals gesagt.
Jetzt dachte sie an den Pfad und schlug vor, ihn hinabzugehen. Aber David sagte nein und erklärte, er wolle von oben auf das Meer schauen, wenn die Sicht schon einmal so gut sei.
Er breitete die Decke aus, und sie dachte, jetzt. Jetzt. Sie hatten so lange auf Anerkennung gewartet und alle Hoffnung in Davids neue Skulpturen gesetzt, die sie für das Beste hielt, was David bisher geschaffen hatte. Expressionistische, ineinander verschlungene Körper aus Ton, die den Fischen huldigten, von denen David immer erzählte, bei denen das Männchen sich nach dem Liebesakt in dem Weibchen so verbiss, dass sie schließlich zusammenwuchsen und einen gemeinsamen Blutkreislauf bildeten.
»Das nenne ich echte Liebe«, hatte er gesagt, während er ihren Körper aus weißem Ton knetete und formte. Ihr selbst hatte diese Vorstellung Angst gemacht, sie stellte sich vor, wie Davids Blut buchstäblich durch ihre Adern floss, damit er sie noch besser kontrollieren konnte. Aber David hatte einfach ganz begeistert mit seiner Beschreibung fortgefahren, wie dieser ihr unbekannte Tiefseefisch lebte. Und die fertige Skulptur hatte sie wirklich überzeugt, ihr zerbrechlicher Schmerz und Facettenreichtum. Die Kritiker mussten einfach auf sie aufmerksam werden, wenn sie sogar ihr als Laie auffiel. Irgendwann musste David seinen Durchbruch erleben, und jetzt deutete sein Verhalten darauf hin, dass es endlich so weit war.
Aber er schwieg noch immer. Er setzte sich einfach auf die Decke, zog eine halbe Flasche Rotwein aus der einen Jackentasche und eine Rolle Kekse aus der anderen.
»Das letzte Abendmahl«, sagte er.
Sie lächelte bei dieser Anspielung auf die Bibel, aß einen Keks, trank einen Schluck Wein und sah David an. Er hatte die Stirn gerunzelt, und die Sommersprossen auf seiner Nase waren in Unordnung geraten. Sein rotes Haar kräuselte sich im Nacken, und sie dachte, hier habe ich einen Iren, der so aussieht, wie alle sich einen Iren vorstellen. Außerdem singt er und spielt Flöte, und auch das entspricht dem Klischee. Aber die Iren sind nicht so, nur meiner. Sie blinzelte, und David wandte sich ihr zu.
»Erinnerst du dich, dass ich dir einmal versprochen habe, dir zu zeigen, wie man hier fliegen kann?«, sagte er.
»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete sie, und David erhob sich.
»Jetzt zeige ich es dir«, sagte er.
Plötzlich erwachte sie davon, dass er sich neben sie legte.
Es war ihr warm geworden, und sie befand sich im Tiefschlaf, als sie die Kälte im Kreuz spürte. Seine Finger strichen ihr über den Rücken und zwangen sie dazu, zu erwachen und sich umzudrehen. Davids Augen waren müde, und seine Haut war trocken. Sie brauchten Feuchtigkeit und Wärme. Nur sein Haar leuchtete rot.
»David«, flüsterte sie. »Entschuldige, dass ich so spät komme«, erwiderte er und schob sein Bein zwischen ihre Schenkel. Sie spürte, dass sich die Kälte von den Beinen zum Bauch, Rücken, zu den Armen und zum Mund ausbreitete. Ihre Zähne begannen zu klappern, ohne dass sie dagegen etwas unternehmen konnte.
»Kannst du wirklich nicht …«, begann sie, aber er legte einen Finger auf ihre Lippen.
»Nein, ich kann nicht, aber ich versuche. Hast du heute gelebt?«
»Ja, David. Ich habe heute gelebt, wie du mich gebeten hast.«
»Das ist gut«, flüsterte er. »Nur so können wir zusammen sein.«
KAPITEL 3
Anna streckte die Arme aus und fuhr sich vorsichtig mit den gespreizten Fingern durchs Haar. Die Gardine war nicht ganz zugezogen, und vom Bett aus konnte sie sehen, dass der Tag grautrüb wirkte und verschwommene Konturen hatte. Eigentlich so ein Tag, an dem es erlaubt sein sollte, sich auf die andere Seite zu drehen und einfach weiterzuschlafen. Aber zwei Dinge hinderten Anna daran, diese verlockende Alternative zu wählen. Zum einen war sie seit einigen Wochen Mitbesitzerin eines Unternehmens, dessen zwei andere Mitglieder der »Führungsgruppe« es mit Zeiten, Orten und Planungen sehr genau nahmen. Zum anderen wurde die Hälfte ihres Betts von einem jungen Mann eingenommen, der am Vortag noch sehr erwachsen gewirkt hatte, heute aber eher Muttergefühle in ihr auslöste, als sie vorsichtig seine rührend muskulösen Arme und seine etwas verschwitzten, blonden Haarsträhnen im Nacken betrachtete.
Er lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, ungefähr so wie Fanditha, als sie klein war. Anna atmete vorsichtig die Gerüche ein, die das Schlafzimmer erfüllten. Unter den hitzigen und durchdringenden Düften der Nacht lag eine unverkennbare Note von jungem Mann in der Luft, ein Geruch von unschuldigem und sattem Kind, garniert mit Vergnügungen, die normalerweise Erwachsenen vorbehalten blieben.
Von der Tatsache beruhigt, dass ihr Liebhaber von letzter Nacht jung genug war, um nach getaner Pflicht tief und traumlos zu schlafen, schälte sie sich vorsichtig aus den Decken. Leise ging sie ins Badezimmer, in dem sie ungewöhnlicherweise einmal versuchte, ihr Haar mit der Bürste zu bändigen. Ohne in den Spiegel zu schauen, ging sie anschließend in die Küche, kochte Wasser auf, brühte sich eine Kanne dunklen afrikanischen Kaffee und setzte sich an den Tisch.
Sie dachte an den Abend, an dem alles begonnen hatte. Sie hatten die Idee, ein Unternehmen zu gründen, um die Probleme anderer Leute zu lösen, während einiger berauschender nächtlicher Stunden weiterentwickelt. Auf den ersten Irish Coffee, mit dem sie gefeiert hatten, waren weitere gefolgt, während sie konzentriert daran gearbeitet hatten, Dienstleistungen zusammenzustellen, die sie anbieten konnten. Mari hatte recht gehabt. Ihre gesammelte Kompetenz deckte ein breites Spektrum ab. Fredrik hatte die Aufgabe übernommen, eine verlockende Broschüre auszuarbeiten, während sich Mari erboten hatte, eine Homepage zu entwerfen.
Sie hatte ihre beiden Freunde lächelnd betrachtet. Ihre Begeisterung war rührend und ansteckend gewesen, aber Annas Gedanken waren nicht recht bei der Sache gewesen. Meine besten Freunde sind eigentlich Fremde, hatte sie gedacht. Warum hat Fredrik Mari und mir nie seine Freundinnen vorgestellt? Warum hat mir Mari nie erzählen wollen, wie sie mit David auf Irland gelebt hat? Es gibt so viel, was ich über sie nicht weiß, und trotzdem fühlt es sich so richtig an, dass wir zusammenarbeiten. Dieses Fazit hatte sie überrascht und froh gemacht.
Gegen Morgen und wie berauscht hatten sie den Namen des Unternehmens diskutiert. Einen Vorschlag nach dem anderen hatten sie verworfen, bis sie eine Eingebung hatte: »Kleopatras Kamm soll es heißen«, sagte sie. Die anderen starrten sie ratlos an. Da erzählte sie ihnen von einem Besuch des British Museum in London und wie sie sich die ägyptische Abteilung angesehen hatte. Es faszinierte sie, wie die Mumien hinter ihren Glastüren die Besucher mit toter Überlegenheit in den Augen betrachteten. Noch immer erinnerte sie sich an das Gefühl, wie Knochen, Bandagen und verzierte Holzdeckel einen seltsamen Sog auf sie ausübten, als wollten sie ihr die Lebenskraft rauben, und nach einer Weile musste sie in eine andere Abteilung flüchten, in der die Werkzeuge des alten Ägypten ausgestellt waren. Sie gesellte sich zu einer Gruppe Besucher, die andächtig ein vermutlich mehrere tausend Jahre altes Kleinod betrachtete.
»Kleopatras Kamm«, hörte sie sie flüstern. Sie versuchte, sich durchzudrängen, um den Kamm zu betrachten. Zwischen den großen Zinken ließen sich noch ein paar schwarze Haare ausmachen. Schließlich stand sie direkt vor der Vitrine. Königin Kleopatra, dachte sie und war erstaunt, wie feierlich ihr zumute war. Vor mir liegen ihre Haare mit ihrer DNS, ihren Genen und dadurch auch mit ihrem Körper und ihrer Seele. Mit diesem Kamm hat sie sich schön gemacht, wenn sie den römischen Kaiser, ihren Liebhaber, erwartete. Jeden Tag hat sie diesen Gegenstand in Händen gehalten. Vielleicht kleben an ihm auch noch Hautreste.
Mehrere Minuten lang starrte sie den Kamm an und hatte das Gefühl, sich außerhalb der Zeit zu befinden, da bemerkte sie plötzlich das kleine Schildchen, das daneben lag. Darauf stand, dass der Kamm mit Sicherheit einer mächtigen Kleopatra in Ägypten gehört habe, aber dass es sich bei dieser nicht um die berühmte und ewige Kleopatra handele. Kaum hatte sie fertig gelesen, da erschien ihr ihre anfängliche Faszination unverständlich. Sie erklärte Mari und Fredrik das seltsame Gefühl, etwas zu betrachten, das die Zeit aufhielt, nur um durch einige Zeilen auf einem Papier darüber aufgeklärt zu werden, dass der Gegenstand, der einen eben noch tief berührt hatte, nichts anderes war als ein altes Stück Knochen.
»Da habe ich begriffen, dass Leute so lange auf Dinge starren können, bis sie schließlich zu magischen Gegenständen werden, während eigentlich nichts weiter als einige vernünftige Informationen nötig sind, um das magische Strahlen zum Erlöschen zu bringen«, hatte sie gesagt. »Ich habe auf diesen Kamm gestarrt und geglaubt, dass er genau das sei, magisch. Dann habe ich ein Schildchen gelesen, und anschließend war er … nichtig. So funktioniert das. Sowohl mit positiven als auch mit negativen Dingen. Ich meine, dass Dinge dank fachgerechter Hilfe ihre richtigen Proportionen zurückerlangen können. Im Falle des Kammes war nur ein Schildchen nötig, um aus einem verzauberten Kamm ein Stück Knochen zu machen. Was die Probleme anderer Leute angeht, so liegt es an uns, ihnen die Hilfe zu geben, die etwas Unmögliches oder meinetwegen auch Magisches überwindbar erscheinen lässt. Normal. Etwas Altes oder Verrottetes, das man einfach beiseite kehren kann.«
Mari hatte erst widersprochen und behauptet, das sei eine wirklich weit hergeholte Erklärung, und sie sollten einen Namen wählen, der den Kunden eine konkretere Vorstellung davon vermittelte, welche Dienstleistungen das Unternehmen anbieten könne. Aber Fredrik gefiel der Name, und schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Anna Kleopatras Kamm als Aktiengesellschaft eintragen lassen sollte.
»Klingt gut«, hatte Fredrik gesagt. »Kleopatras Kamm - das Unternehmen, das alle deine Probleme löst. Wer kann so einer Botschaft schon widerstehen? Ich würde vermutlich auch sofort neugierig werden.«
Am Tag darauf hatte Mari die Mutter von gegenüber gefragt, ob sie Lust habe, in Annas Café den Laden zu schmeißen, zumindest in nächster Zeit, bis sie wussten, wie viel Zeit Kleopatras Kamm in Anspruch nehmen würde. Die Mutter, die Johanna hieß und Jo genannt wurde, sagte sofort zu. Jo vertraute Anna später noch an, dass sie sich so schnell entschieden habe, um sich nicht noch eine Menge logischer Argumente von nicht näher bestimmter Seite anhören zu müssen, die sie alle von einer bestimmten Sache zu überzeugen versuchten: dass sie nicht ausreichend qualifiziert sei. Anna bot ihr daraufhin einen Lohn an, der sie dazu veranlasste, die Arbeit sofort aufzunehmen - und zwar mit der für eine Mutter dreier Kinder eigenen Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen.
Das Ganze ging so schnell, dass Anna mehrmals das Gefühl beschlich, es müsse vorausbestimmt gewesen sein. Sie hatten klein begonnen, einige Hundert Broschüren drucken lassen und in die Briefkästen in der Gegend eingeworfen. Keine Dutzendware, sondern ein professionelles Produkt. Die Unternehmensinhaber, die Geschäftsidee und die angebotenen Dienstleistungen wurden in dem Heftchen überzeugend präsentiert. Auf dem Foto der drei war Anna gekämmt, Mari zog den Bauch ein, und Fredrik sah aus wie immer. Niemand, dem Qualität wichtig war, sollte bezweifeln, dass es sich um ein seriöses Unternehmen handelte, dessen kompetente Mitarbeiter bereit waren, alles zu unternehmen, um die Kunden zufriedenzustellen. Dasselbe Foto zierte auch die Homepage, und die Beschreibungen daneben waren klar und eindeutig.
Die Botschaft hatte Anklang gefunden. Bereits am zweiten Tag, als Mari gerade in dem Zimmer hinter der Küche Regale anbrachte und Fredrik Zimtschnecken mit Eigelb bepinselte, stand eine ältere Frau in der Tür und fragte, ob hier die beste Putzhilfe der Stadt zu finden sei. Freundlich klärten sie die Frau darüber auf, was es mit Kleopatras Kamm wirklich auf sich hatte, und zählten das Angebot der Dienste auf. Eine Viertelstunde später saß sie mit einer himmlisch duftenden Tasse Tee und einer frischgebackenen Vanilleschnecke im Schaukelstuhl und unterhielt sich mit Fredrik darüber, wie ihr Testament abzufassen sei, damit die Schwiegersöhne nicht an das Erbe gelangten. Drei Vanilleschnecken später hatten sie sich auf die Form des Testaments, das Honorar und einen
Die schwedische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Kleopatras kam« bei Forum, Stockholm.
 
 
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung November 2009
Copyright © Maria Ernestam 2007
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published by Agreement with Nordin Agency, Sweden Umschlagfoto: Richard Ryan
eISBN : 978-3-641-03757-6
 
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