Mörderfinder – Die Macht des Täters - Arno Strobel - E-Book
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Mörderfinder – Die Macht des Täters E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Max Bischoff, begnadeter Fallanalytiker, ermittelt in seinem 2. Fall – Der neue Thriller von Nr. 1-Bestseller-Autor Arno Strobel Der Anruf kam unerwartet. Eine Ex-Kollegin bittet Fallanalytiker Max Bischoff um Hilfe. Ihr Neffe wurde des Mordes beschuldigt und hat sich daraufhin das Leben genommen. Mit 22. Ein Schuldeingeständnis? Oder die Tat eines Verzweifelten? Max sichtet die Fakten, die Beweislast ist erdrückend, aber nichts passt zusammen. Kein Motiv, vollkommene Willkür. Und dann die vage Verbindung zu einem anderen Fall. Irgendetwas ist da, das kann Max beinahe körperlich spüren. Aber der Kopf des Mörders bleibt ihm verschlossen. Hat er sich verrannt? Oder versagt die Fallanalyse und damit Max zum ersten Mal in seiner gesamten Laufbahn?  »Bei Arno Strobels Thrillern brauchen Sie kein Lesezeichen, man kann sie sowieso nicht aus der Hand legen. Packend und nervenzerreißend!« Sebastian Fitzek

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Seitenzahl: 368

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Arno Strobel

MÖRDERFINDERDie Macht des Täters

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Prolog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233BÖHMER343536373839404142434445464748MAX49505152535455565758WICHTIGES UPDATE

Für Laura

Der Täter ist immer der Moralist.

Alfred Selacher

Prolog

Er steht vor ihrem Bett und trägt das schummrige Halbdunkel des Zimmers wie einen Mantel. Sein Blick ist starr auf ihr Gesicht gerichtet, ein heller Fleck auf dem Schwarz des Kissens.

Seine Gedanken bestehen nicht aus logisch aneinandergereihten Wörtern, sondern aus psychedelischen Bildern, die einen wilden Reigen in seinem Kopf tanzen.

»Du musst es jetzt tun«, unterbricht eine wispernde Stimme von überraschender Klarheit das Durcheinander in seinem Verstand. »Sie hat es verdient. Tu es!«

Er versteht den Sinn dessen, was die Stimme sagt, aber da ist noch etwas anderes in ihm, das sich dagegen auflehnen möchte, das zu tun, was die Stimme von ihm verlangt.

»Na los, tu es! Jetzt!«

Die Muskeln in seinem Körper spannen sich, er macht einen Schritt auf das Kopfende des Bettes zu und bleibt stehen.

»So ist es gut«, lobt die Stimme. »Und jetzt erledige, was zu erledigen ist.«

Sein rechter Arm hebt sich wie ferngesteuert. Mit einer langsamen Bewegung des Kopfes betrachtet er seine hoch erhobene Hand, als wäre es die eines Fremden, richtet den Blick auf die längliche, matte Messerklinge.

»Jetzt!« Es ist kein Wispern mehr, sondern ein scharfes Kommando, dem er nichts entgegenzusetzen hat.

Er wendet sich ihr wieder zu. Seine linke Hand greift nach der Bettdecke und zieht sie mit einem Ruck zurück, während er das Messer mit aller Kraft nach unten stößt. Kurz spürt er den Widerstand von Haut und Muskeln, dann dringt der Stahl bis zum Schaft in ihren Körper ein. Sie zuckt krampfartig zusammen, reißt die Augen auf und starrt ihn an. Er sieht im Schummerlicht die unnatürlich großen weißen Augäpfel.

»Weiter«, fordert die Stimme hart, und obwohl er es nicht möchte, obwohl sich plötzlich etwas in ihm regt, das gegen seine Tat ankämpfen will, zieht er die Klinge aus ihrem Körper. Er hört das schmatzende Geräusch, das dabei verursacht wird, hebt erneut den Arm und stößt zu. »Ja! So ist es gut. Du weißt, dass du das Richtige tust. Weiter, immer weiter.«

Und er stößt zu wie im Rausch, wieder und wieder, er weiß nicht, wie oft, er weiß nicht, wie lange …

Irgendwann wird ihm bewusst, dass er ruhig dasteht, den Blick auf das Bett gerichtet. Er hört ein leises Poltern, betrachtet die schemenhaften Umrisse auf dem Boden neben seinen Füßen. Das Messer. Er sieht auf das Bett. Auf sein Werk.

»Du bist noch nicht fertig!«, wispert die Stimme in seinem Kopf. »Heb es auf.«

Wie ferngesteuert bückt er sich, greift nach dem Messer, richtet sich wieder auf.

Als die Stimme ihm sagt, was er noch zu tun hat, beginnt er zu weinen.

1

Max Bischoff klappte das Notebook zu und rieb sich über die brennenden Augen. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr, und er saß nun seit etwa vier Stunden an der Ausarbeitung eines Textes mit dem Titel Fallanalysen im Bereich der Tötungsdelikte und der sexuell assoziierten Gewaltdelikte, der ihm als eine von vielen Unterlagen für seine Vorlesungen an der Hochschule dienen sollte.

Er erhob sich und war gerade auf dem Weg zur Küche, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen, als sein Festnetztelefon klingelte. Während er zu dem Beistelltisch neben der Couch ging, auf dem das Gerät in der Ladestation stand, fragte er sich, wer ihn um diese Zeit noch über das Festnetz anrief. Er hatte schon darüber nachgedacht, den Anschluss abzumelden, es aber dann doch nicht getan, weil seine Eltern ihn grundsätzlich über diese Nummer kontaktierten. Aber nie so spät am Abend …

»Bischoff«, meldete er sich knapp.

»Katharina Baumann, guten Abend, Herr Bischoff.« Katharina Baumann … Max glaubte, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, aber er konnte auf Anhieb nicht einordnen, wo das gewesen war.

»Guten Abend.«

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so spät noch störe, aber …« Max hörte, dass die Frau tief durchatmete. »Ich weiß nicht, ob Horst Böhmer meinen Namen Ihnen gegenüber schon einmal erwähnt hat?«

Horst … Max überlegte angestrengt, ob ihm ihr Name deshalb so bekannt vorkam, und glaubte, sich zu erinnern, dass sein ehemaliger Kollege vor einiger Zeit von einer neuen Kollegin im KK11 erzählt hatte.

»Ja, doch, ich glaube, er hat von Ihnen gesprochen. Sie sind eine Kollegin, nicht wahr?«

»Ja, seit einem halben Jahr, in Ihrer alten Dienststelle.«

»Wie schon gesagt, Horst hat Sie in einem Gespräch erwähnt. Was kann ich für Sie tun, Frau Baumann?«

Sie zögerte einen Moment. »Ich … brauche Ihre Hilfe.«

»Meine Hilfe? Wobei?«

»Es geht um meinen Neffen. Er …« Sie räusperte sich. »Er hat sich umgebracht.«

»Oh! Das tut mir leid.« Max machte eine kurze Pause, während er darüber nachdachte, ob er etwas von einem Selbstmord mitbekommen hatte. Doch das war nicht der Fall.

»Wann war das?«

»Vor zwei Tagen.«

»Mein herzliches Beileid. Es ist schrecklich, jemanden auf diese Art zu verlieren. Aber … wie kann ich Ihnen helfen? Zweifeln Sie daran, dass es Suizid war?«

»Nein, und es gab tatsächlich auch einen Grund dafür, dass er das getan hat.« Max hörte an ihrer Stimme, dass sie gegen die Tränen ankämpfte, und wartete geduldig, bis sie weitersprach.

»Er wurde beschuldigt, eine Frau umgebracht zu haben.«

Max erinnerte sich an die Artikel, die er in der vergangenen Woche über den Mord an einer jungen Frau gelesen hatte. Klara Fell. Max erinnerte sich an ihren Namen, weil er sofort an Klarer Fall gedacht hatte, als er ihn las.

»Geht es um den Fall in Benrath?«

»Ja.«

Max schloss die Augen und versuchte zu rekapitulieren, was er über den Fall wusste. Klara Fell war laut den Berichten in der Presse nachts in ihrem Schlafzimmer mit zahlreichen Messerstichen regelrecht abgeschlachtet worden. Der Mörder hatte ihr anschließend die Daumen abgeschnitten und offenbar mitgenommen.

»Sie sagten, Ihr Neffe wurde verdächtigt, die Frau umgebracht zu haben?«

»Nein, ich sagte beschuldigt. Kollegen sind zu ihm gefahren, um seine Wohnung zu durchsuchen und ihn zu verhaften. Sie haben ihn in seiner Wohnung aufgefunden. Er hat sich erhängt.«

»Wie alt war er?«

»Zweiundzwanzig.«

»So jung … Haben Sie ihm gesagt, dass er verhaftet werden soll?«

»Nein, das habe ich nicht. Was denken Sie denn? Ich bin Polizistin und würde mich strafbar machen, wenn ich einem Verdächtigen in einem Mordfall einen Tipp geben würde. Auch, wenn der Verdächtige mein Neffe ist.«

»Ich wollte Ihnen nichts unterstellen, Frau Baumann, ich versuche nur herauszufinden, was der Grund für den Suizid war.«

»Können Sie verstehen, was es für die ganze Familie meines Bruders bedeutet, dass Leon als Mörder abgestempelt wird? Das war für ihn Grund genug. Auch oder gerade, weil er es nicht getan hat.«

Max verstand, was Katharina Baumann meinte. »Der Tod Ihres Neffen muss schlimm für Sie und Ihre ganze Familie sein, aber ich verstehe immer noch nicht, womit ich Ihnen helfen kann.«

»Ich weiß, dass Leon keinen Mord begangen hat, Herr Bischoff. Helfen Sie mir bitte, seine Unschuld zu beweisen.«

»Hm … Warum wenden Sie sich nicht an die Kollegen? An Horst, zum Beispiel.«

»Horst gehört zur Soko, die wegen des Mordes gegründet worden ist. Fast jeder von denen glaubt, dass Leon den Mord begangen hat.«

»Horst auch?«

»Die Beweislage spricht gegen meinen Neffen. Er ist am Tatort von zwei Zeugen gesehen und eindeutig identifiziert worden. Kleidungsstücke von ihm passen zu Fasern, die am Tatort gefunden wurden. Sein Selbstmord wird als Schuldeingeständnis gewertet. Sie kennen das Prozedere doch.«

»Also glaubt Horst auch, dass Ihr Neffe …«

»Er war es, der mir geraten hat, mich an Sie zu wenden. Er sagte, wenn Leon den Mord wirklich nicht begangen hat, würde er Ihnen zutrauen, seine Unschuld zu beweisen.« Es entstand eine Pause von mehreren Sekunden, in denen Max nachdachte.

»Werden Sie mir helfen?«

»Frau Baumann, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich verstehe, dass Ihr Schmerz groß ist und Sie an die Unschuld Ihres Neffen glauben, aber ich möchte zuerst mit Horst reden und mir anhören, was die Ermittlungen im Einzelnen ergeben haben. Und ich werde ihn auch nach seiner Meinung fragen. Ich übernehme nur Fälle, bei denen es darum geht, Täter zu fassen, die anderen Leid zugefügt haben. Wenn ich zu dem Schluss komme, dass Ihr Neffe möglicherweise tatsächlich unschuldig ist, dann bedeutet das, der Mörder ist noch auf freiem Fuß. Und dann werde ich sehen, was ich tun kann.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie zu einem Entschluss gekommen sind?« In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.

»Ja. Kann ich Sie unter der Nummer, die auf meinem Display angezeigt wird, erreichen?«

»Ja. Und … danke. Wenn es stimmt, was ich von Kolleginnen und Kollegen über Sie gehört habe, Herr Bischoff, dann werden Sie ebenso wie ich schnell davon überzeugt sein, dass mein Neffe kein Mörder war.«

»Ich melde mich. Guten Abend.«

Max legte auf und notierte sich für alle Fälle die Nummer, bevor er das Telefon wieder in die Ladestation stellte und dann zum Esstisch ging, wo sein Smartphone neben dem Notebook lag. Er rief seinen ehemaligen Partner beim KK11 an und hielt sich das Gerät ans Ohr. Sekunden später war Horst Böhmer am Apparat.

»Mein Exkollege Max ruft mich spät am Abend an«, begann Böhmer ohne Umschweife. »Das kann nur bedeuten, er hat gerade mit einer Kollegin telefoniert, die sich nicht damit abfinden will, dass ihr Neffe einen Mord begangen hat. Hab ich recht?«

»Da du ihr empfohlen hast, mich anzurufen, war das ja wohl nicht allzu schwer zu erraten.«

»Moment, Herr Exkollege. Das stimmt so nicht ganz. Ich habe ihr nicht empfohlen, dich anzurufen. Ich habe ihr gesagt, dass ich wie alle anderen hier denke, dass ihr Neffe erst die Frau und dann sich selbst umgebracht hat. Auch wenn der Fall seltsam ist. Und ja, ich habe gesagt, falls der junge Mann trotz aller Beweise, die für ihn als Täter sprechen, unschuldig sein sollte, dann kenne ich nur einen, der ihr helfen kann. Und das bist du.«

»Und du bist absolut davon überzeugt, dass er es war?«

»Nicht absolut. Aber ja, ich denke, er war es.«

»Du denkst …«

»Ach, verdammt! Also los, komm schon her, bevor du mir am Telefon den letzten Nerv raubst. Und vergiss nicht, eine Flasche Wein mitzubringen.«

Max musste grinsen. »Warum hat das so lange gedauert?«

2

Max brauchte eine Viertelstunde bis zu Böhmers Wohnung in Volmerswerth. In den ersten Minuten der Fahrt war es derart kalt im Inneren des Wagens, dass Max immer wieder eine Hand vom Lenkrad nahm und darauf blies, um sie zu wärmen. Der Winter hatte früh Einzug gehalten in diesem Jahr. Obwohl es erst Anfang November war, lagen die Temperaturen schon seit Tagen deutlich unter null Grad.

Als Böhmer ihm die Tür öffnete, fiel sein Blick als Erstes auf die Rotweinflasche, die Max ihm entgegenstreckte.

»Montepulciano, ein 2015er Monte Vecchio Riserva. Eigentlich zu schade für dich Banausen.«

»Eigentlich zu wenig dafür, dass du mir mitten in der Nacht auf die Nerven gehst«, erwiderte Böhmer knurrend, aber mit einem Lächeln und deutete mit einer Kopfbewegung in die Wohnung. »Nun komm schon rein.«

Max folgte Böhmer ins Wohnzimmer und betrachtete dabei die untersetzte Gestalt seines ehemaligen Partners. »Du solltest anfangen, Sport zu treiben«, bemerkte er, woraufhin Böhmer sich zu ihm umdrehte und mit der Handfläche über seinen gepflegten Dreitagebart strich, als dächte er angestrengt nach.

»Was?«, fragte Max scheinheilig.

»Ich überlege gerade, ob ich nicht doch schon zu müde bin und dich wieder nach draußen begleiten soll.«

Max hob grinsend die Flasche. »Sicher?«

»Nein«, entgegnete Böhmer nach einem Blick auf das Etikett und holte einen Korkenzieher und zwei Gläser aus dem hellen Vitrinenschrank.

Max ließ sich derweil auf der Couch nieder. »Erzähl mir was über Katharina Baumann«, forderte Max Böhmer auf, während er den Korkenzieher in den Flaschenverschluss drehte.

Böhmer nahm ihm gegenüber in einem Sessel Platz und zuckte mit den Schultern. »Da gibt’s nicht besonders viel. Sie ist Hauptkommissarin und kommt vom KK23, das ihr Exmann leitet. Oliver Baumann, vielleicht kennst du ihn. Etwa ein Jahr bevor du bei uns aufgehört hast, ist er zum Ersten KHK befördert worden und hat den Laden übernommen. Nach der Scheidung wurde es da wohl schwierig für sie, wie du dir denken kannst, zumal die meisten Kollegen sich auf die Seite des Chefs geschlagen haben. Also ist sie zu uns gekommen.«

Max hatte ihre Gläser mittlerweile zwei Finger breit gefüllt, und sie prosteten einander zu. Die Augen geschlossen, genoss Max den ersten Schluck und stellte das Glas dann auf dem Wohnzimmertisch ab.

»Ja, ich denke, ich habe Baumann mal getroffen. Wie alt ist seine Frau?«

»Zweiundvierzig.«

»Und? Was hältst du von ihr?«

»Ich finde, ihre Entscheidung, von Korruption und Wirtschaftskriminalität zu uns zu wechseln, war eine gute Idee, auch wenn der Grund für den Wechsel aus ihrer Sicht nicht so angenehm war. Sie hat sich gut bei uns eingelebt und verfügt über einen ausgeprägt analytischen Verstand. Hier und da erinnert sie mich sogar ein wenig an dich, nur dass sie bedeutend hübscher ist als du.«

»Und ihre Familie? Sie scheint ihrem Neffen sehr nahegestanden zu haben.«

Böhmer nickte. »Ja. Als sie herausgefunden hat, dass Baumann sie nicht zum ersten Mal mit irgendeinem jungen Hüpfer betrügt, hat ihr Bruder sie bei sich wohnen lassen und sich um sie gekümmert. Die Trennung war ziemlich unschön. Baumann wollte sie nicht gehen lassen. Als er eines Abends betrunken vor dem Haus ihres Bruders aufgetaucht ist und sie bedrängt hat, wieder zu ihm zurückzukommen, hat Jonas Kehler – so heißt ihr Bruder – ihm kurzerhand eins auf die Nase gegeben.«

Böhmer trank einen weiteren Schluck und grinste. »Baumann hat auf eine Anzeige verzichtet.«

»Hm … und jetzt der Mordverdacht gegen ihren Neffen.«

»Ja. Ein Nachbar, der nicht schlafen konnte, und jemand, der eine Straße weiter wohnt und mit seinem Hund unterwegs war, haben Leon gesehen, als er das Haus verlassen hat, und ihn unabhängig voneinander eindeutig identifiziert. Als die Kollegen vorgestern seine Wohnung durchsucht haben, fanden sie in der Wäsche einen Pullover mit Blutflecken, die zweifelsfrei vom Opfer stammen. Zudem passen die Textilspuren vom Tatort zu diesem Pullover.« Böhmer atmete tief ein und stieß die Luft schnaubend durch die Nase aus. »Du siehst, eigentlich ein wasserdichter Fall.«

»Eigentlich?«

»Es gibt eine Sache, die seltsam ist. Bisher konnten wir keinerlei Verbindung zwischen Leon und der Frau nachweisen. Zudem wurde Katharinas Neffe überall, wo wir nachgefragt haben, als ruhiger, intelligenter junger Mann beschrieben, der Gewalt verabscheute und dem ausnahmslos niemand aus seinem Umfeld diese Tat zutraut. Und dann diese Nachricht …«

»Welche Nachricht?«

Böhmer schüttelte den Kopf. »Ach, stimmt, ich habe ganz vergessen, dass du das nicht wissen kannst. Das ist nicht an die Presse gegangen. Der Täter hat an der Wand neben dem Bett mit dem Blut des Opfers eine Botschaft für uns hinterlassen: Das ist der Anfang. Ihr fasst mich nicht.«

»Das klingt aber nicht nach jemandem, der sich gleich umbringt, wenn er verdächtigt wird. Ihr habt dieses Detail zurückgehalten, weil ihr Trittbrettfahrer vermeiden wolltet?«

Böhmer nickte. »Du weißt doch, wie das ist. Wenn die Boulevardpresse so was mitbekommt, bauschen die das auf, und irgendein gestörtes Arschloch findet es toll, die Tat eines berühmten Serienkillers nachzumachen.«

»Ja, leider. Was ist mit der Mordwaffe?«

»Ein Messer. Wir haben es nicht gefunden, aber das kann er irgendwo entsorgt haben, wo es nie wieder auftaucht.«

»Hm … wie sieht es mit Alkohol oder Drogen aus?«

Böhmer schüttelte den Kopf. »Nichts nachweisbar.«

»Und die Schrift? Die habt ihr doch sicher analysieren lassen. Passt die zu Leons Handschrift?«

»Nein.«

»Das ist ja schon mal ein Hinweis darauf, dass er womöglich doch nicht der Täter war.«

»Nicht unbedingt, Max. Der Experte meint, die Buchstaben seien so ungelenk, dass er vermutet, sie sind von einem Rechtshänder mit der linken Hand geschrieben worden.«

»Scheiße.«

»Ja, kann man sagen. Da hat sich jemand richtig Gedanken gemacht.«

»Was ist mit der ermordeten Frau?«

»Anfang dreißig, unverheiratet, Angestellte in einem Versicherungsbüro, völlig unauffällig. Sie hatte einen Freund, der für die Tatnacht ein wasserdichtes Alibi hat. Es gibt nach unserem Wissensstand niemanden, der auch nur ansatzweise einen Grund gehabt hätte, sie zu töten.«

Max dachte an die Berichte, die er über den Fall gelesen hatte. »Ihr wurden die Daumen abgetrennt?«

»Ja, und wir haben keine Ahnung, wo sie sich befinden. Diese Botschaft war wohl an uns gerichtet. Das ist der Anfang. Ihr fasst mich nicht. Die typische Überheblichkeit eines Psychopathen. Und eine Aussage, die auf einen Serientäter schließen lässt.«

»Oder auf jemanden, der möchte, dass genau dieser Eindruck entsteht.«

Böhmer winkte ab. »Du denkst manchmal zu sehr um die Ecke. Es soll vorkommen, dass Dinge auch tatsächlich so sind, wie sie aussehen.«

Max wiegte den Kopf hin und her. »Wenn es – was wir hoffen wollen – keinen weiteren Mord mehr gibt, ist das für euch doch ein Beweis, dass ihr den Richtigen verdächtigt habt. Wenn eine offensichtlich geplante Mordserie schon nach der ersten Tat aufhört und der vermeintliche Mörder sich umgebracht hat, ist es eine klare Sache, nicht wahr?«

»Jaja, ich weiß, worauf du hinauswillst, Herr Fallanalytiker. Falls wirklich jemand anderer die Frau umgebracht hat, hätte er damit dafür gesorgt, dass der Fall abgeschlossen wird und er fein raus ist.«

Max drehte beide Hände nach oben und zuckte mit den Schultern. »Ganz genau.«

»Eines hast du dabei aber vergessen: Woher sollte der wirkliche Täter wissen, dass Leon sich umbringt?«

Max nickte. »Und woher willst du wissen, dass es tatsächlich Selbstmord war?«

»Alle Indizien sprechen dafür, und es gibt keinen einzigen Hinweis auf Fremdeinwirkung«, erklärte Böhmer.

»Hm … und dennoch hast du Frau Baumann an mich verwiesen«, antwortete Max.

Böhmer schüttelte den Kopf und beugte sich nach vorn. »Max, noch mal, ich …«

Max wiegelte ab. »Nein, schon gut, ich denke, ich habe dich verstanden. Wie ist der Täter in die Wohnung der Frau gelangt?«

»Durch die Terrassentür. Er hat ein sauberes Loch ins Glas geschnitten, hindurchgegriffen und die Tür mit der Klinke geöffnet.«

»Kann ich Berichte und Fotos haben? Vom Tatort des Mordes und des Selbstmordes?«

»Du möchtest also tatsächlich in der Sache aktiv werden?«

»Ich gehe erst einmal davon aus, dass ihr alles getan habt, was zu tun war, und ich vertraue grundsätzlich auf dein Urteil. Ich würde mir nur gern selbst die Unterlagen in Ruhe anschauen. Wer weiß …«

»Also gut. Ich besorge dir morgen, was du brauchst, aber da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.«

»Über Katharina Baumann?«, hakte Max nach, als Böhmer eine Pause machte.

»Nein. Über die Dienststelle. Wir haben seit letzter Woche eine neue Chefin. Kriminalrätin Eslem Keskin.«

»Das ist türkisch, oder?«

»Ja, ihre Eltern sind aus der Türkei eingewandert. Ich kann sie noch nicht richtig einschätzen, aber ich weiß, wie sie dazu steht, dass ein ehemaliger Kollege privat in aktuellen Fällen ermittelt.«

»Und woher weißt du das?«

Böhmer trank einen großen Schluck und behielt das Glas in der Hand. »Sie hat bei ihrer Antrittsrede vor versammelter Mannschaft von dir gesprochen.«

Max hob die Brauen. »Von mir? Woher kennt sie mich denn? Ihr Name sagt mir nämlich nichts.«

»Das kann er auch nicht. Sie kommt aus Bielefeld. Böse Zungen behaupten, man hat sie dort weggelobt.«

»Umso verwunderlicher, dass sie mich dann offenbar kennt.«

»Sie hat Bernd Menkhoff wohl gut gekannt und scheint dir die Schuld an seinem Tod zu geben.«

»Ah!«, entgegnete Max und hatte augenblicklich wieder das Bild des Kriminalhauptkommissars vor Augen, wie er blutend auf dem lehmigen Boden lag …

»Wir alle wissen, dass du rein gar nichts dafür kannst, aber die Frau Kriminalrätin sieht das offensichtlich anders.«

»Tja, damit werde ich dann wohl leben müssen.«

»Im Grunde kann es dir egal sein, aber das macht es nicht leichter, dir Einblick in Ermittlungsakten zu ermöglichen.«

Max trank sein Glas leer, stellte es ab und erhob sich. »Ich bin mir ganz sicher, du schaffst das. Und damit du morgen ausgeschlafen bist, werde ich dich jetzt verlassen.«

Auch Böhmer stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Ich bewundere immer wieder deine Fähigkeit, etwas, das dir nicht passt, einfach zu ignorieren.«

Max grinste. »Nur wenn ich weiß, dass es letztendlich nicht so wichtig ist.«

3

Als das Klingeln des Telefons Max aus dem Schlaf riss, zeigten die blassroten LED-Ziffern des Weckers auf dem Nachttisch 5:47 Uhr an.

Max schob den Arm aus dem Bett und tastete verschlafen nach seinem Smartphone, das am Ladekabel auf dem Boden lag. Er mochte es nicht, das Gerät beim Schlafen direkt neben seinem Kopf liegen zu haben.

Es war Böhmer.

»Du weißt schon, wie spät es ist?«, brummte Max. »Sag mir jetzt nicht, du konntest nicht schlafen, weil du …«

»Ich bin mir nicht mehr zu hundert Prozent sicher, dass Katharinas Neffe ein Mörder war«, unterbrach Böhmer ihn, und erst in diesem Moment nahm Max die Hintergrundgeräusche wahr. Die Erkenntnis, dass sein Exkollege nicht zu Hause war, vertrieb schlagartig die Müdigkeit. Max richtete sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes. »Was ist passiert?«

»Wir haben einen weiteren Mord, quasi bei mir um die Ecke. Ein Mann, Anfang vierzig. Man hat ihm mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel eingeschlagen. Mehrfach. Kein schöner Anblick.«

»Ich verstehe nicht … ein Mann, sagst du?«

»Ja.«

»Was ist mit seinen Daumen?«

»Sind beide dort, wo sie hingehören.«

»Und der Tatort? Das Schlafzimmer?«

»Nein, er liegt mit einer Unterhose bekleidet im Wohnzimmer.«

»Hm … gibt es eine Botschaft?«

»Nein.«

»Warum denkst du dann, dass die Morde zusammenhängen könnten?«

»Zum einen ist der Täter wie bei der Frau durch die Terrassentür reingekommen. Ein uraltes, billiges Modell, deswegen musste er kein Loch ins Glas schneiden, sondern hat die Tür einfach aufgehebelt. Und dann ist da noch die Tat an sich. Die Rechtsmedizinerin meint, wie es aussieht, hat der Täter mit großer Wucht mehrfach auf den Schädel des Opfers eingeschlagen, obwohl der Mann wahrscheinlich schon nach dem ersten Schlag tot war. So, wie auf die junge Frau von letzter Woche auch noch nach Eintritt des Todes wieder und wieder eingestochen worden war.«

Max’ Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Okay, aber dennoch … Erst eine junge Frau, jetzt ein vierzigjähriger Mann. Keine Botschaft und keine abgetrennten Gliedmaßen wie beim ersten Mal. Das wäre für einen Serientäter sehr ungewöhnlich. Gibt es schon einen Hinweis auf den Täter?«

»Nein, nichts.«

»Okay, ich komme und sehe mir das mal an.«

»Das ist keine gute Idee«, widersprach Böhmer. »Sie ist zwar noch nicht da, aber es ist recht wahrscheinlich, dass die Frau Kriminalrätin noch auftaucht. Dann solltest du nicht hier sein.«

»Du weckst mich mitten in der Nacht auf, um mir von einem Mord zu berichten, und dann soll ich mich umdrehen und weiterschlafen? Spinnst du? Wie lautet die Adresse?«

»Max!«

»Das ist keine Adresse.«

»Also gut, aber wenn sie dich dort sieht, hältst du mich gefälligst raus, klar?«

»Jaja. Straße und Hausnummer?«

Böhmer nannte ihm die Adresse und legte auf.

 

Das kleine Haus des Opfers stand auf einem nicht sonderlich gepflegt aussehenden Grundstück in einer Seitenstraße. Ebenso wie bei den meisten Häusern der Nachbarschaft hätte die Front einen neuen Anstrich oder besser noch einen neuen Verputz vertragen können.

Als Max seinen Wagen hinter dem Van der Kriminaltechnik abstellte und ausstieg, sah er Böhmer vor dem Haus bei einer schlanken Gestalt mit schulterlangen, dunklen Haaren stehen, die Max den Rücken zuwandte. Während er auf die beiden zuging, zog er den Kragen seiner Winterjacke am Hals enger zusammen und dachte für einen kurzen Moment an sein warmes Bett.

Max war bis auf wenige Meter heran, als Böhmers Blick ihn traf und das Gesicht seines Exkollegen sich verzog, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Die Gestalt, eine Frau, wie Max jetzt erkannte, bemerkte die Veränderung in der Mimik des Hauptkommissars und wandte sich zu Max um. Er vermutete, dass es Böhmers neue Chefin war.

Sie schien ihn zu erkennen, denn der vorwurfsvolle Blick, mit dem sie gleich darauf Böhmer bedachte, sprach Bände.

»Herr Bischoff!«, sagte sie mit einer Stimme, in der deutliche Missbilligung mitschwang. »Ein Expolizist taucht am frühen Morgen an einem Tatort auf. Was für ein Zufall.«

Max blieb vor den beiden stehen. Er schätzte Eslem Keskin auf Anfang fünfzig. Ihr Gesichtsausdruck wollte für Max’ Empfinden nicht so recht zu dem Unterton in ihrer Stimme passen. Die dunklen Augen hinter den Gläsern ihrer dunkelrot umrandeten Brille musterten ihn kritisch, aber weder kalt noch abweisend.

»Warum Zufall?«, entgegnete Max im Plauderton. »Ich interessiere mich noch immer für die Arbeit der Polizei und nutze jede Möglichkeit, um zu helfen, wo ich kann. Ich nehme an, Sie sind Frau Keskin?«

»Kriminalrätin Keskin.«

Max lächelte, entgegnete aber nichts darauf.

»Was wollen Sie hier, Herr Bischoff?«

»Wie ich schon sagte: Ich helfe, wo ich kann.«

»Ich bin sicher, meine Beamten schaffen das auch ohne Sie. Und wenn ich daran denke, wie der letzte Fall ausgegangen ist, bei dem Sie geholfen haben …«

»Ich habe Max angerufen«, warf Böhmer ein, woraufhin seine Chefin ein humorloses Lachen ausstieß.

»Stellen Sie sich vor, Herr Böhmer, das habe ich mir schon gedacht. Wir beide werden uns über die Schweigepflicht von Ermittlungsbeamten gegenüber Zivilisten bei laufenden Ermittlungen unterhalten müssen.«

Max wurde den Eindruck nicht los, dass Keskin mit allen Mitteln versuchte, die strenge Chefin zu geben, die sie aber eigentlich gar nicht war. Doch mit diesem Gedanken konnte er sich später beschäftigen.

»Wäre es in Anbetracht des Tatortes, an dem wir uns gerade befinden, nicht sinnvoll, sich über den Mord zu unterhalten, der da drin geschehen ist?«, bemerkte Max.

»Aber nicht mit Ihnen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zur Straße. »Sie sollten gehen.«

Max erkannte in Böhmers Gesicht Anzeichen dafür, dass er kurz davor war, etwas zu sagen, das er später sicher bereuen würde, und kam ihm zuvor.

»Schon gut, ich gehe.« Und mit ruhiger Stimme fügte er hinzu: »Das war kein guter Start, Frau Kriminalrätin, aber das ist angesichts der Uhrzeit und der Situation auch nicht weiter verwunderlich. Vielleicht sollten wir es ein andermal in anderer Umgebung noch einmal versuchen. Ich würde mich über ein Gespräch freuen.«

Böhmer sah ihn verdutzt an, während Keskin nicht recht zu wissen schien, wie sie mit seinem Friedensangebot umgehen sollte. Schließlich rang sie sich zu einem gemurmelten »Wir werden sehen« durch, wandte sich ab und sagte: »Kommen Sie, Böhmer.«

Böhmer warf Max noch einen fragenden Blick zu, dann folgte er seiner Chefin ins Innere des Hauses.

4

Er sitzt auf einem einfachen Holzstuhl am Fenster und hat den Blick nach draußen gerichtet, wo sich langsam eine trübe Morgensonne über den Dachfirst des Nachbarhauses schiebt. Er spürt weder seine Arme noch den Rest seines Körpers. Es ist, als wäre er körperlos.

Beiläufig registriert er das Bild des heraufziehenden Tages, seine Gedanken sind woanders.

Er wartet. Auf die Stimme, die seit einer ganzen Weile verstummt ist. Er weiß weder, wann sie aufgehört hat, zu ihm zu sprechen, noch kann er sich an Einzelheiten erinnern, die sie ihm gesagt hat. Aber dass sie mal flüsterte, als wollte sie seine Seele streicheln, und mal so herrisch kommandierte, dass sie ihm Angst machte, daran erinnert er sich. Und daran, dass sie von ihm verlangt hat, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Die Frage, welche Dinge das waren, kann er sich ebenso wenig beantworten wie die, ob er sie dennoch getan hat.

Aber er glaubt, dass er die Befehle befolgt hat, weil da noch etwas anderes in ihm ist: das Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben.

»Du kannst stolz auf dich sein.«

Da ist sie wieder, und obwohl er die Stimme aus tiefstem Herzen hasst, tut es auf eine bizarre Weise gut, sie zu hören. Ja, er hat sie auf eine unerklärbare Art vermisst.

»Ich habe etwas Schreckliches getan.« Er glaubt, die Worte ausgesprochen zu haben, aber vielleicht hat er sie auch nur gedacht. Es ist egal, denn die Stimme antwortet ihm.

»Nein. Du hast das Richtige getan. Etwas, das dringend getan werden musste und worauf du stolz sein kannst. Du bist ein guter Mensch, weil du andere vor großem Unheil bewahrt hast.«

»Ja«, sagt er und spürt, wie das Schuldgefühl in ihm sich verflüchtigt. Stattdessen wird ihm immer klarer, dass die Stimme recht hat. Was er auch getan und wie sehr er sich auch dagegen gewehrt hat – es war nötig und gut. Es war richtig.

»Du musst aufpassen, denn die anderen wissen nicht, wie wichtig es war zu tun, was du getan hast. Sie sind dumm und blind, und sie verstehen es nicht. Sie dürfen nichts davon erfahren.«

»Nein«, sagt oder denkt er. Und er weiß, dass die Stimme auch damit recht hat. Er wird nicht mehr darüber nachdenken, was geschehen ist, und er wird ganz sicher mit niemandem darüber reden. Er ist sich jetzt sicher, dass es gut und wichtig war. Das genügt.

»Du hast noch etwas zu tun.«

»Ja.« Er steht auf und schaut an sich hinab. Sein Blick fällt auf die Papiertüte, die neben dem Stuhl steht. Er hebt sie auf und geht damit zu dem abgenutzten Schrank aus Kiefernholz. Obwohl er keine Sekunde darüber nachdenkt, weiß er, was er machen muss. Er zieht die Schublade auf, nimmt eines der Feuerzeuge und eine Schere heraus und geht dann zum Badezimmer. Er zieht den Duschvorhang zur Seite und kippt den Inhalt der Tüte in die Duschwanne, legt die Tüte darauf und beginnt, den Lackiereranzug, die Überschuhe und die Tüte in kleine Stücke zu schneiden. Es dauert eine Weile, die Schnipsel zu verbrennen, aber schließlich bleibt von alledem nur ein kleines schwarzes Häufchen übrig, das er mit dem Strahl der Dusche wegspült.

Als es erledigt ist, geht er zurück und setzt sich wieder auf den Stuhl.

Er blickt aus dem Fenster in die Helligkeit und wartet auf das, was die Stimme ihm noch zu sagen hat.

Aber sie schweigt.

Irgendwann wird er schrecklich müde. Er legt sich auf das Bett und fällt Sekunden später in einen bleiernen Schlaf.

5

Max ging nicht mehr ins Bett, als er vom Haus des Mordopfers zurück in seine Dreizimmerwohnung in Düsseldorf-Unterbilk kam. Um 10:00 Uhr hatte er eine Vorlesung an der Uni in Köln, was bedeutete, dass er um Viertel vor neun losfahren müsste. Also frühstückte er erst gemütlich und begann dann, im Internet nach Informationen zu Leon Kehler zu suchen, wurde jedoch bis auf die Kurznotiz eines Handballvereins, in dem Leon als Siebzehnjähriger gespielt hatte, nicht fündig.

Schließlich gab er es auf und tippte stattdessen einen anderen Begriff in die Suchmaske ein. Die Ergebnisliste dafür war erheblich länger.

Gegen halb acht rief Böhmer an.

»Was war das denn mit der Keskin?«, polterte sein ehemaliger Partner gleich los, nachdem Max den Anruf angenommen hatte. »Sie fährt dir ein ums andere Mal über den Mund, und du kuschst?«

»Rufst du mich an, um mit mir über mein Verhältnis zu deiner Chefin zu sprechen, oder erzählst du mir endlich etwas über den Mord?«

»Dazu kommen wir gleich. Erst möchte ich wissen, was das da eben war. Ich habe keine Ahnung, wie Keskin zu Menkhoff gestanden hat, aber dass sie dich bei ihrer Antrittsrede bei uns vor allen Kolleginnen und Kollegen zum Thema macht und dich bei eurem ersten Treffen so abkanzelt, ohne dich zu kennen, das geht gar nicht. Dass du dann auch noch vor ihr den Schwanz einziehst, noch viel weniger. Was ist los mit dir? Musstest du für den Job an der Uni deine Eier abgeben?«

Obwohl Böhmer ihn nicht sehen konnte, schüttelte Max lächelnd den Kopf. »Das nennt man Diplomatie, Horst. Etwas, von dem du wenig bis gar nichts verstehst.«

»Pfft …«, ertönte es aus dem kleinen Lautsprecher. »Allerdings muss ich gestehen, dass es interessant war zu sehen, wie die Frau Kriminalrätin ins Schleudern gekommen ist, als du plötzlich so stinkfreundlich zu ihr warst.«

»Eben«, entgegnete Max. »Und jetzt erzähl mir was über den Fall.«

»Das meiste weißt du ja schon. Der Mann hieß Julian Kroll. Er hat eine Buchhandlung in der Innenstadt. Verheiratet, keine Kinder. Seine Frau ist mit einer Freundin auf den Kanaren. Wir haben sie informiert, und sie versucht, einen Rückflug zu bekommen. Bisher niemand, der ein Motiv hätte. Keine Feinde, keine bekannten Konflikte. Wir müssen noch den Bericht der Rechtsmedizin abwarten, aber wenn nicht noch eine große Überraschung auftaucht, waren die Todesursache eindeutig die Schläge auf den Schädel.«

»Ich wundere mich ja immer noch, dass du Parallelen zu dem anderen Fall siehst. Dumm, dass ich mir den Tatort nicht anschauen konnte.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Parallelen sehe, sondern dass ich mir nicht mehr absolut sicher bin, dass es tatsächlich Katharinas Neffe war, der die Frau umgebracht hat. Und das hat mehr mit einem Bauchgefühl zu tun als mit Fakten. Ich kann das … warte mal bitte.«

Max hörte die Stimme eines Mannes, ohne ihn verstehen zu können, dann herrschte für einige Sekunden Stille, bevor Böhmer sich wieder meldete.

»Max?«

»Ja, ich bin noch dran.«

»Ein Kollege hat mir gerade ein Foto gezeigt, das die Rechtsmedizinerin uns auf die Handys geschickt hat. Das Opfer hatte ein Plastikröhrchen im Rektum, in dem ein zusammengerollter Zettel steckte. Auf dem stand, offensichtlich mit Blut geschrieben: Es geht weiter. Ihr fasst mich nicht. Dr. Peterknecht geht davon aus, dass die Wörter mit dem Blut des Opfers geschrieben wurden.«

»Da hätten wir die Parallele«, kommentierte Max, fügte aber hinzu: »Vielleicht.«

»Vielleicht?«

»Ich erinnere mich nicht genau, aber das, was beim Mord an der Frau mit ihrem Blut an der Wand geschrieben stand, konnte man doch sicher in allen Zeitungen lesen. Es wäre also durchaus möglich, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt.«

»Nein. Wir hatten das Thema schon, erinnerst du dich? Von der Botschaft stand nichts in den Zeitungen. Wir haben es bewusst zurückgehalten, um genau das zu verhindern: Dass Trittbrettfahrer auf den Plan gerufen werden. Zudem würde so jemand auch noch andere Merkmale der Tat kopieren. Was nämlich sehr wohl in den Zeitungen stand, war, dass die Frau mit mehreren Messerstichen umgebracht wurde und der Täter ihre Daumen abgetrennt und wahrscheinlich mitgenommen hat.«

»Hm …«, brummte Max nachdenklich.

»Ich werde die Schrift auf dem Zettel mit der an der Wand vergleichen lassen«, kündigte Böhmer an. »Vielleicht wissen wir dann mehr.«

»Und ich unterhalte mich mit der Kollegin Baumann. Ich rufe sie gleich mal an.«

»Ist ja witzig.«

»Was?«

»Du hast Kollegin Baumann gesagt. Du hast noch immer nicht losgelassen, mein Freund.«

»Macht der Gewohnheit«, wiegelte Max ab.

»Lassen wir das mal so stehen. Jedenfalls werden wir uns in der Soko auch weiter mit dem ersten Mordfall beschäftigen. Allerdings gehe ich davon aus, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen immer noch davon überzeugt sind, dass Leon den Mord begangen und sich umgebracht hat, weil er aufgeflogen ist. Die Indizien und Zeugenaussagen sind schon sehr eindeutig. Katharina ist ziemlich verzweifelt wegen der Sache, vielleicht kannst du ihr ja helfen.«

»Gut. Falls es etwas Neues gibt …«

»Dann melde ich mich selbstverständlich bei dir, auch auf die Gefahr hin, dass die Frau Kriminalrätin mir ein Diszi wegen anhaltender Befehlsverweigerung anhängen wird.«

»Gib es zu, es macht dir doch Spaß, sie zu ärgern.«

»Und ob!«, bestätigte Böhmer und beendete das Gespräch.

Max warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass noch Zeit für ein Telefonat mit Katharina Baumann blieb. Er tippte die Nummer von dem Zettel ab, der neben ihm auf dem Tisch lag, und hoffte, dass er die Polizistin erreichte.

»Hallo, Frau Baumann«, begann er, nachdem sie das Gespräch schon nach dem zweiten Klingeln angenommen hatte. »Hier ist Max Bischoff. Ich würde mich mit Ihnen gern über Ihren Neffen unterhalten.«

»Guten Morgen. Danke, dass Sie mich anrufen. Heißt das, Sie glauben mittlerweile auch, dass Leon unschuldig ist?«

»Wie ich schon sagte, würde ich mich gern mit Ihnen über Leon unterhalten. Es scheint einige Übereinstimmungen zwischen dem Mord in der vergangenen Nacht und dem an der jungen Frau zu geben, die Ihr Neffe getötet haben soll. Nicht genug, dass es sich zwingend um denselben Täter handeln muss, aber doch ausreichend, dass man es zumindest in Betracht ziehen kann.«

»Furchtbar, dass erst ein weiterer Mensch sterben musste, bis klarwird, dass Leon kein Mörder ist.«

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Baumann, aber noch ist nichts klar. Ich weiß, dass Sie natürlich nicht zur Soko gehören, weil es um Ihren Neffen geht, aber Sie sind sicher mindestens auf dem gleichen Stand wie ich und wissen, dass es nach wie vor zwingende Beweise dafür gibt, dass Leon in der Mordnacht zumindest am Tatort war.«

»Ja, das weiß ich«, gab sie leise zu. »Und dennoch … das beweist noch lange nicht, dass er die Frau auch getötet hat. Es ist einfach nur der bequemste Weg, das zu glauben. Leider haben meine Kollegen es aufgegeben, nach Hinweisen zu suchen, die Leon entlasten. Genau deshalb habe ich mich ja an Sie gewandt. Wenn Sie ihn gekannt hätten … Was möchten Sie über Leon wissen?«

»Wie wäre es, wenn wir das persönlich besprechen?«

Natürlich hätte Max die Unterhaltung mit ihr auch weiter am Telefon führen können, aber davon abgesehen, dass er sich bald auf den Weg in die Uni machen musste, wollte er die Frau persönlich treffen, um das, was sie ihm sagen würde, besser einschätzen zu können.

»Gern. Wann und wo?«

»Ich habe nachher noch eine Vorlesung in Köln, die bis halb zwölf dauert. Sagen wir um eins?«

»Das kann ich einrichten. Wollen wir etwas essen? Ich kenne ein kleines Restaurant, in dem es hervorragende Lahmacun gibt.«

»Das klingt prima. Also gut. Geben Sie mir die Adresse, dann treffen wir uns dort um dreizehn Uhr.«

Nachdem Max aufgelegt hatte, gab er die Straße und Hausnummer des Restaurants in seine Notiz-App ein und brach kurz darauf nach Köln auf.

6

Die Vorlesung war ziemlich schlecht besucht. Das mochte daran liegen, dass das Wochenende vor der Tür stand, oder aber daran, dass wichtige Klausuren in Pflichtfächern fällig waren und die Studierenden dafür lernen mussten, statt sich Max’ Vorlesung über Möglichkeiten und Techniken der Fallanalyse anzuhören. Seine Veranstaltungen waren grundsätzlich beliebt, aber freiwillig, und deshalb mussten sie in besonderen Situationen zurückstehen.

Max fand einen Parkplatz am Straßenrand, nur etwa zwanzig Meter vom Restaurant entfernt, und betrat um kurz vor eins das Lokal.

Neben dem Eingang blieb er stehen und sah sich um. Das Restaurant war nicht sehr groß, aber gemütlich.

Gemälde mit orientalischen Motiven zierten die hellen Wände, dazwischen sorgten schalenförmige Wandlampen für eine angenehme, indirekte Beleuchtung. Stühle und Sitzbänke, um die wenigen Holztische gruppiert, waren mit dunklem Leder bezogen und rundeten das Bild ab.

Katharina Baumann saß an einem der hinteren Tische und winkte Max zu, als er in ihre Richtung blickte. Als er zu ihr trat, lächelte sie ihn zaghaft an und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. »Sie sind sehr pünktlich, Herr Bischoff.«

Katharina Baumann sah etwas jünger aus, als sie nach Böhmers Angaben war. Das Erste, was Max bei ihrem Anblick einfiel, war sympathisch. Ihre grünen Augen waren nur dezent geschminkt, die blonden Haare trug sie zu einem unregelmäßigen Dutt zusammengefasst.

Max zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Ich bin gut durchgekommen, der Verkehr hielt sich zum Glück in Grenzen.«

»Stimmt, Sie sagten ja, Sie kommen von der Uni. Horst hat mir schon erzählt, dass Sie seit Ihrem Ausscheiden bei der Kripo als Dozent an der Hochschule tätig sind. Ich habe natürlich schon einiges über Sie gehört. Das meiste davon war sehr positiv.«

»Das meiste?«

Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihren Mund. »Es war ausschließlich positiv bis Anfang letzter Woche. Da hielt unsere neue Chefin ihre Antrittsrede und hat es für wichtig befunden, Sie zu erwähnen. Quasi als schlechtes Beispiel dafür, was dabei herauskommen kann, wenn wir mit Zivilisten zusammenarbeiten. Allein schon, einen verdienten Exkollegen als Zivilist zu bezeichnen … Aber das hat Ihnen Horst ja sicher schon erzählt.«

Max zuckte mit den Schultern. »Ja, Horst erzählte mir, dass die Kriminalrätin offensichtlich kein Fan von mir ist.«

Ein junger Mann in weißem Hemd trat freundlich lächelnd an ihren Tisch. »Was darf ich zu trinken bringen?«

Max entschied sich für Apfelschorle, Baumann bestellte Wasser und fügte hinzu: »Und zweimal Lahmacun, bitte.«

Max wartete, bis der Kellner gegangen war, bevor er sagte: »Wollen wir uns ein wenig über Ihren Neffen unterhalten?«

Katharina Baumanns Gesicht veränderte sich auf eine Weise, als hätte sich ein hauchdünner Schleier über Wangen und Augen gelegt. »Ja. Ich möchte Ihnen nochmals danken, dass Sie sich die Zeit nehmen. Es ist mir wichtig, dass Sie wissen, dass ich meinen Kollegen nicht abspreche, alles Mögliche tun zu wollen, um den Täter zu fassen. Es ist nur so, dass von der Staatsanwaltschaft die Order gekommen ist, den Fall abzuschließen, weil der Mörder der Frau sich das Leben genommen hat.«

Max nickte. »Ich kenne das Prozedere, und ich weiß, dass man manchmal mit dem Kopf gegen die Wand rennen möchte, weil man davon überzeugt ist, dass ein Fehler gemacht wird, und man nichts dagegen tun kann. Aber es gibt in diesem Fall nun mal vieles, was eindeutig auf Ihren Neffen als Täter hinweist, und kaum etwas, das ihn entlastet.«

Katharina Baumann presste die Lippen aufeinander und nickte langsam. »Ich weiß. Aber er war es nicht.«

»Dann erzählen Sie mir von ihm.«

Sie blickte eine Weile vor sich auf die Tischplatte, als müsste sie darüber nachdenken, wie sie beginnen sollte, bevor sie Max offen ansah. »Leon war ein fröhlicher, sehr lebensbejahender Mensch. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass er sich einmal selbst das Leben nehmen würde.« Sie schlug die Augen nieder und machte eine kurze Pause, bevor sie leiser hinzufügte: »Aber ich hätte auch nie gedacht, dass man ihn einmal beschuldigen würde, einen Mord begangen zu haben.«

»Hatte er viele Freunde?«

»Ja, ich denke schon. Er hat im dritten Semester Physik an der Heinrich-Heine-Universität studiert. Da gab es natürlich eine Menge Kommilitonen. Und Kommilitoninnen.«

Der junge Mann brachte ihre Getränke und stellte sie vor ihnen ab.

»Hatte er eine Freundin?«

»Nein, also nichts Festes. Er fand es zu früh, sich zu binden. Aber irgendein Mädchen begleitete ihn immer.«

Baumann zog ihr Smartphone zu sich heran, das am Rand des Tisches gelegen hatte, tippte ein paarmal auf das Display und drehte das Gerät dann so, dass Max das Foto sehen konnte, das sie aufgerufen hatte. Es zeigte einen gutaussehenden, sportlich-schlanken jungen Mann mit einem modernen Undercut, der in die Kamera lachte und dabei übermütig die Arme ausbreitete.

»Ich verstehe, was Sie meinen. Er wirkt sympathisch.«

Max bemerkte, dass Katharina Baumanns Augen feucht glänzten. »Ja, er hatte wirklich ein einnehmendes Wesen. Er war anderen gegenüber sehr aufgeschlossen und ist auf jeden zugegangen. Ich kenne wirklich niemanden, der Leon nicht gemocht hat. Deswegen glaube ich einfach nicht, dass er so etwas Schreckliches getan haben kann.«

»Aber er war in der Tatnacht in der Wohnung der jungen Frau. Das beweisen ja nicht nur die Zeugenaussagen, sondern auch die Fasern, die dort von seinem Pullover gefunden wurden.«

»Ich weiß, aber diese Fasern kann auch jemand anderes dort platziert haben, um den Verdacht auf Leon zu lenken. Und die Zeugen … Vielleicht wollte der Täter, dass sie glauben, Leon gesehen zu haben. Vielleicht hat er dafür gesorgt, dass er im Dunkeln so aussieht wie mein Neffe.«

»Konnten Sie mit Leon reden, nachdem er verdächtigt worden war?«

»Ja«, antwortete Baumann leise und senkte den Blick.

»Und? Was hat er dazu gesagt?«

»Er … hat die Frau nicht umgebracht.« Max bemerkte deutlich die Unsicherheit in Baumanns Stimme und wartete, ob sie noch etwas hinzufügen würde, doch das tat sie nicht.

»War es das, was Leon Ihnen gesagt hat, oder ist das Ihre Meinung?«

Baumann schloss kurz die Augen, bevor sie antwortete, und Max sah die Tränen, die sich aus ihren Augen lösten, als sie sie wieder öffnete. »Er hat gesagt, er wisse nicht, ob er in der Wohnung der Frau war und was er in der Nacht getan habe.«

Das war eine wichtige Information, dachte Max.

»Sonst noch etwas?«