Mörderfinder – Mit den Augen des Opfers - Arno Strobel - E-Book
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Mörderfinder – Mit den Augen des Opfers E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Max Bischoff, begnadeter Fallanalytiker, ermittelt in seinem 3. Fall – Der neue Thriller von Nr. 1-Bestseller-Autor Arno Strobel Damit hat Fallanalytiker Max Bischoff nicht gerechnet. Keine andere als die Leiterin des KK 11 in Düsseldorf, Polizeirätin Eslem Keskin, die bislang kein gutes Haar an ihm gelassen hat, bittet Max um Hilfe. Er soll in dem kleinen Weinort Klotten an der Mosel inoffziell in einem nie gelösten Vermisstenfall ermitteln. Keskin ist in ihrem privaten Umfeld auf neue Hinweise zu dem zwanzig Jahre alten Fall gestoßen und hofft, dass es Max gelingt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch kaum vor Ort ereignet sich ein Mord. Max ist bald an etwas dran, aber ignoriert alle Warnungen. Eine Entscheidung, die ihn das Leben kosten könnte …

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Seitenzahl: 345

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Arno Strobel

Mörderfinder

Mit den Augen des Opfers

Thriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Damit hat Fallanalytiker Max Bischoff nicht gerechnet. Keine andere als die Leiterin des KK 11 in Düsseldorf, Polizeirätin Eslem Keskin, die bislang kein gutes Haar an ihm gelassen hat, bittet Max um Hilfe.

Er soll in dem kleinen Weinort Klotten an der Mosel inoffziell in einem nie gelösten Vermisstenfall ermitteln. Keskin ist in ihrem privaten Umfeld auf neue Hinweise zu dem zwanzig Jahre alten Fall gestoßen und hofft, dass es Max gelingt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch kaum vor Ort ereignet sich ein Mord. Max ist bald an etwas dran, aber ignoriert alle Warnungen. Eine Entscheidung, die ihn das Leben kosten könnte …

 

Der neue Thriller von Nr. 1-Bestsellerautor Arno StrobelFallanalytiker Max Bischoff ermittelt in seinem 3. Fall

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Leserinnen und Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt.

Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller, standen wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.

 

Arno Strobel lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.

 

www.arno-strobel.dewww.facebook.com/[email protected]

 

Außerdem bei FISCHER Taschenbuch erschienen:

 

»Der Trakt«, »Das Wesen«, »Das Skript«, »Der Sarg«, »Das Rachespiel«,» Das Dorf«, »Die Flut«, »Im Kopf des Mörders – Tiefe Narbe«, »Im Kopf des Mörders – Kalte Angst«, »Im Kopf des Mörders – Toter Schrei«, »Offline«, »Die App«, »Sharing«, »Fake«, »Mörderfinder – Die Spur der Mädchen«, »Mörderfinder – Die Macht des Täters«

Zeit vergeht – Schuld nicht!

unbekannter Verfasser

Prolog

Der Hass ist plötzlich wieder da. Nach so vielen Jahren, in denen es ihm gelungen ist, ihn in Schach zu halten, ist er wie aus dem Nichts wieder über ihn hereingebrochen und füllt ihn vollständig aus. Grenzenlos und so glühend, dass er ihn fast um den Verstand bringt.

Er hatte völlig vergessen, wie ambivalent dieser Zustand ist. Dieses lodernde Feuer, das ihn einerseits innerlich zu verbrennen droht, gleichzeitig aber die Verheißung auf geradezu orgiastische Erfüllung mit sich bringt, wenn er ihm freien Lauf lässt, sich ihm hingibt.

Würde er einem Seelenklempner erlauben, in seinem Kopf herumzustochern, ihm voyeuristisch-intime Fragen zu stellen und damit Schicht für Schicht seines Ichs abzukratzen, dann käme der wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass er verrückt ist. Aber das ist er nicht. Er braucht keinen dieser Möchtegern-Halbgötter, weil er selbst weiß, was für die Hassanfälle verantwortlich ist. Und er weiß ganz genau, wohin sie führen können. Führen werden.

Welcher Verrückte ist schon in der Lage, seine eigene Situation so explizit zu analysieren?

Nein, die wahren Irren sind meist die Psychiater selbst.

Aber er schweift ab. Er muss sich konzentrieren. Auf sie. Auf diese Handvoll Menschen, die plötzlich wieder wichtig geworden sind.

Er hat geglaubt, dieses Kapitel wäre endgültig abgeschlossen, aber es nützt nichts. Er wird sich mit ihnen befassen müssen.

Er denkt erneut daran, was für seine unbändige Wut verantwortlich ist. Diese Sache.

Wie ein alter Film, den er lange nicht mehr gesehen hat, läuft die Geschichte vor ihm ab. Nein, wie ein Theaterstück, ein Drama, in dem er die Hauptrolle spielt. In dem es nur um Schmerzen geht und um Wunden. An seinem Körper und an seiner Seele.

Er hat gehofft, er hätte das hinter sich gelassen. Er hat sich getäuscht.

Er öffnet die Tür, bleibt einen Moment auf der obersten Stufe stehen und blickt die Treppe hinab. Das gesamte Haus ist mit Gewölben unterkellert, weit über hundert Jahre alt, an manchen Stellen seit Jahrzehnten feucht. Er steigt die Stufen hinab und zählt jede einzelne von ihnen, sobald er den Fuß darauf setzt. Nach der siebzehnten hat er den groben Betonboden erreicht. Er ist nachträglich in einigen der Kellerräume gegossen worden. Das muss etwa dreißig Jahre her sein.

Er durchquert das kleine, zur Treppe offene Gewölbe, erreicht eine halb verfaulte Holztür und öffnet sie. Der Raum dahinter ist größer, vor den Wänden stehen alte Regale, schief und voller verrosteter Werkzeuge, verstaubter Dosen und Gläser mit nicht identifizierbarem Inhalt. Nur ein Regal auf der linken Seite ist neuer. Es ist ebenfalls vollgestellt, doch die Farbeimer, Weinflaschen und kleineren Maschinen wie eine Handkreissäge, ein Bandschleifer und zwei Bohrmaschinen sind noch nicht so vergammelt wie die Dinge auf den anderen Regalen.

Sein Blick fällt auf die Stahltür ihm gegenüber. Die braune Farbe, mit der sie vor langer Zeit gestrichen worden war, ist an manchen Stellen abgeblättert. Der Rost hat die Schicht im Laufe der Jahre wie verbrannte Haut in Blasen angehoben und dann aufplatzen und abfallen lassen.

Er weiß, der Raum dahinter hat keinen Betonboden, nur festgetretenen Lehm. Er geht auf die Tür zu, bleibt stehen.

Viele Jahre ist es her, seit er das Gewölbe dahinter zum letzten Mal betreten hat. Ohne Zögern greift er in seine Hosentasche, zieht einen Schlüsselring mit zwei Schlüsseln hervor. Den größeren, einen altmodischen Vollschlüssel aus Eisen mit durchgehendem Bart, steckt er in das Schloss und dreht ihn um. Dann legt er die Hand auf die schwere Klinke und drückt sie nach unten.

Er muss kräftig ziehen, bis die Tür sich mit einem Knarzen öffnen lässt. Er macht einen Schritt nach vorn, seine linke Hand ertastet den klobigen Drehschalter neben dem Türrahmen.

Es klickt laut, dann leuchtet die nackte Glühlampe auf, die an einem Kabel von der Steindecke herabhängt, und taucht das Gewölbe in diffuses, schmutziges Licht.

Er betritt den vollkommen leeren Raum und saugt mit dem nächsten Atemzug abgestandene, modrige Luft in die Lungen. Sie riecht ekelhaft süßlich und schmeckt ölig. Er muss würgen, zwingt sich aber, stehen zu bleiben und sich umzusehen.

Die Wände glänzen feucht, der Lehmboden unter seinen Füßen strahlt seine Eiseskälte durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe ab.

Der nächste Atemzug ist nicht mehr so schlimm.

Sein Blick richtet sich auf den hölzernen Deckel auf dem Boden in der Mitte des Raumes, an dessen linkem Rand ein Eisenring angebracht ist. Ein weiterer Ring befindet sich etwa zwanzig Zentimeter daneben an einem metallenen Pflock, der tief in dem Lehmboden verankert ist. Beide Ringe sind mit einer schweren, rostigen Eisenkette verbunden, deren Enden von einem großen, ebenfalls verrosteten Schloss zusammengehalten werden. Sie verhindert, dass der Deckel geöffnet werden kann. Er weiß, dass sich darunter eine Grube befindet, die vor sehr vielen Jahren ausgehoben worden war.

Sein Herzschlag beschleunigt sich kein bisschen, als er einen Schritt darauf zu macht. Er zögert nicht, denkt nicht eine Sekunde daran, sich umzudrehen und wieder zu gehen.

Er ist vollkommen ruhig.

Ein weiterer Schritt – und noch einer. Dann bleibt er stehen und betrachtet den Holzdeckel. Er ist etwa anderthalb Meter lang und halb so breit und aus aneinandergefügten Bohlen gefertigt, die durch drei Z-förmig angeordnete, dicke Bretter zusammengehalten werden.

Schließlich bückt er sich und steckt den zweiten, kleineren Schlüssel des Schlüsselbundes in das Schloss. Er muss sich anstrengen, um den eingerosteten Mechanismus in Gang zu setzen, doch schließlich lässt der Schlüssel sich drehen, und der Bügel springt auf. Er legt das Schloss zur Seite und zieht die Kette durch die beiden Ringe heraus. Dann packt er den Ring des Holzdeckels, stellt sich breitbeinig hin und zieht.

Jetzt erst schießt ihm eine heiße Welle durch den Körper.

1

Max stellte das Wasser ab, fuhr sich mit beiden Händen über Haare und Gesicht und blieb dann noch einige Sekunden mit geschlossenen Augen in der Dusche stehen. Er hatte sich an diesem frühen Winterabend für die längste seiner gewohnten Joggingstrecken entschieden, weil er den ganzen Nachmittag in seinem Büro in der Uni gesessen und Klausuren durchgesehen hatte.

Fast eineinhalb Stunden war er durch die Dämmerung, dann durch die nasskalte Dunkelheit an Medienhafen und Rheinturm vorbei zur Rheinpromenade und in einer großen Schleife über den Paradiesstrand gelaufen und hatte sich ausgepowert, bevor er wieder in seine Wohnung in Unterbilk zurückgekehrt war. Nun genoss er das wohlige Gefühl, das das auf seiner warmen Haut verdampfende Wasser hinterließ.

Schließlich zog er das große Duschtuch vom Halter, rubbelte sich trocken und schlang es sich um die Hüfte. Beim Blick in den beschlagenen Spiegel konnte er lediglich die Konturen seines Kopfes und der Schultern erahnen, also wandte er sich ab und wollte ins Schlafzimmer gehen, als sein Handy klingelte, das er auf dem Esstisch abgelegt hatte.

»Echt jetzt?«, stieß er aus und schüttelte den Kopf. Manchmal schien es, als warte ein Anrufer auf den ungünstigsten Moment für ein Telefonat.

»Bischoff«, meldete er sich, nachdem er festgestellt hatte, dass ihm die angezeigte Nummer nicht bekannt war.

»Eslem Keskin hier«, entgegnete die Anruferin zu Max’ Verwunderung.

»Frau Kriminalrätin Keskin? Haben Sie sich verwählt?«

»Mir ist klar, dass Sie sich über meinen Anruf wundern«, erklärte die Leiterin von Max’ ehemaliger Dienststelle, dem KK11 in Düsseldorf, und zwar in einem Tonfall, der Max aufhorchen ließ.

»Allerdings, zumal um diese Uhrzeit. Ist etwas nicht in Ordnung? Stimmt etwas nicht mit Horst?«

Sein ehemaliger Partner und mittlerweile guter Freund Horst Böhmer war für Max nach wie vor das Bindeglied zur Kripo, wohingegen Kriminalrätin Keskin alles andere als ein Fan von Max war. Sie mochte ihn nicht sonderlich und trug das auch offen zur Schau. Umso alarmierter war Max über ihren abendlichen Anruf bei ihm.

»Mit dem Kollegen Böhmer ist alles in bester Ordnung, denke ich. Ich bin zurzeit nicht im Präsidium. Ich habe mir ein paar Tage frei genommen und halte mich seit vorgestern in einer kleinen Gemeinde an der Mosel auf.«

Horst ging es also gut. Max lehnte sich erleichtert an das Waschbecken. »Ah, ich verstehe. Und wo Sie gerade so entspannt in Urlaubsstimmung sind, ist Ihnen aufgefallen, dass wir beide schon lange nicht mehr miteinander geplaudert haben und dass es höchste Zeit dafür wird.«

»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Sarkasmus wieder einpacken und mir einfach zuhören?«

»Ich kann es zumindest versuchen.«

Was immer es war, weswegen Keskin ihn anrief – offenbar wollte sie etwas von ihm, und Max gestand sich ein, dass er es genoss, sie in einer Situation zu sehen, in der sie es sich offenbar verkneifen musste, ihr gewohntes Gift gegen ihn zu versprühen.

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

Das kam direkter, als Max es erwartet hatte.

»Moment! Habe ich das richtig verstanden? Sie, Frau Kriminalrätin Eslem Keskin, die Leiterin meiner ehemaligen Dienststelle, die keine Gelegenheit verstreichen lässt, mir zu verstehen zu geben, wie wenig sie von mir und dem, was ich tue, hält, rufen mich abends an, weil Sie meine Hilfe brauchen? Und schicken dabei nicht Horst Böhmer vor? Ich bin überrascht.«

»Sind Sie jetzt fertig?«, entgegnete Keskin mit einer Nachsichtigkeit, die Max davon überzeugte, dass ihr Anruf einen ernsten Hintergrund haben musste und dass es an der Zeit war, mit den Spielchen aufzuhören.

»Also gut, wie kann ich Ihnen helfen?«

Er hörte, wie Keskin tief durchatmete, bevor sie begann.

»Wie gesagt, halte ich mich gerade in einem kleinen Moselort namens Klotten auf. Er liegt gleich neben der Stadt Cochem, die Ihnen sicher ein Begriff ist. Ich bin allerdings nicht zum Urlaub hier, sondern zur Beerdigung meiner langjährigen Freundin, die vor ein paar Tagen an Krebs gestorben ist.«

Max spürte ein flaues Gefühl im Bauch und schalt sich einen Narren wegen des Unsinns, den er gerade von sich gegeben hatte.

»Das tut mir leid«, sagte er ein wenig beschämt.

»Ja, mir auch. Gabriele – so hieß meine Freundin – hat eine einundzwanzigjährige Tochter, und die hat mir, als ich hier angekommen bin, ein Tagebuch gegeben, das sie unter der Wäsche in einer Kommode ihrer Mutter gefunden hat. Die Einträge sind laut den Datumsangaben vor etwa zweiundzwanzig Jahren verfasst worden.«

»Das ist lange her«, bemerkte Max und war gespannt, wo Keskins Schilderung hinführen würde.

»Ja. Gabriele hat dieses Tagebuch nur ein paar Wochen lang geführt, aber das, was sie geschrieben hat, klingt sehr merkwürdig. Sie erwähnt immer wieder eine furchtbare Schuld, die sie gemeinsam mit den anderen auf sich geladen hat, und dass sie sich gegenseitig geschworen haben, niemals ein Wort darüber zu verlieren, weil das die Existenzen ihrer Familien vernichten würde. Sie schreibt, dass sie das Gefühl hat, an diesem furchtbaren Geheimnis zu ersticken, und so verzweifelt ist, dass sie sogar schon daran gedacht hat, sich umzubringen.«

»Das klingt sehr dramatisch, aber … ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, wobei Sie meine Hilfe brauchen. Soll ich für Sie herausfinden, was das Geheimnis ist, von dem Ihre Freundin vor zweiundzwanzig Jahren geschrieben hat?«

»Jessica, das ist Gabrieles Tochter, sagte, dieses Tagebuch hätte offen in der Kommode gelegen, so dass jeder x-Beliebige es hätte finden können.«

»Ihre Freundin wollte also, dass das Buch gefunden wird.«

»Genau. Jessi glaubt, ihrer Mutter war es wichtig, dass das, worüber sie damals geschrieben hat, nach ihrem Tod ans Licht kommt. Damit sie ihren Seelenfrieden findet.«

Max dachte kurz nach. »Aber warum dann so vage? Warum hat sie nicht erklärt, worum es geht? Das wäre doch am einfachsten gewesen.«

Keskin atmete tief durch. »Gabriele hat bis zur letzten Stunde fest daran geglaubt, dass sie noch eine ganze Weile leben würde. Dann ging es aber plötzlich sehr schnell. Innerhalb von ein, zwei Tagen ist sie regelrecht in sich zusammengefallen. Ich denke, sie ist einfach nicht mehr dazu gekommen.«

»Was ist mit dem Vater von Jessica?«

»Der ist nicht bekannt.«

»Nicht bekannt?«

»Nein, Gabriele hat den Namen nie preisgegeben. Sie hat ihre Tochter allein aufgezogen.«

»Okay. Also kein bekannter Vater. Und Sie möchten jetzt, dass ich herausfinde, was diese Schuld war, von der sie geschrieben hat?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, ob das etwas ist, wofür ich …«

»Da gibt es noch was, das Sie wissen sollten. Ich habe natürlich gleich ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass etwa zwei Monate vor Beginn dieser Tagebucheinträge ein junger Mann aus einer Winzerfamilie hier im Ort spurlos verschwunden ist. Die Polizei hat damals ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen, den Fall dann aber irgendwann ruhen lassen, weil es keine Hinweise gab und sie nicht weitergekommen sind. Ich befürchte, diese Tagebucheinträge könnten vielleicht etwas damit zu tun haben.«

»Was natürlich auch bedeuten würde, dass Ihre Freundin etwas mit dem Verschwinden des Mannes zu tun hatte.«

Es entstand eine Pause von einigen Sekunden, bevor Keskin leise antwortete. »Werden Sie mir helfen? Ich werde Sie selbstverständlich dafür bezahlen.«

Max dachte darüber nach, obwohl spätestens mit der letzten Information, die die Leiterin des KK11 ihm gegeben hatte, sein Interesse definitiv geweckt war.

»Eine Frage: Wenn Sie einen konkreten Verdacht haben – warum machen Sie es nicht offiziell und lassen die Kollegen vor Ort ermitteln?«

»Weil ich natürlich nicht weiß, ob Gabrieles Tagebucheinträge tatsächlich etwas mit dem Verschwinden dieses jungen Mannes zu tun haben. Wenn ich es offiziell mache, wird aber in jedem Fall etwas an ihr hängenbleiben, auch wenn keine Beweise für ihre Mittäterschaft gefunden werden.« Erneut atmete Keskin tief durch. »Ich möchte nicht, dass wegen einer vagen Möglichkeit das Andenken an sie beschmutzt wird.«

»Das verstehe ich. Wann ist die Beerdigung?«

»Die war heute. Und? Werden Sie mir helfen?«

»Geben Sie mir die Adresse, ich komme morgen Vormittag.«

2

Nachdem er sich die Adresse notiert und aufgelegt hatte, ging Max ins Schlafzimmer, wo er sich frische Sachen aus dem Schrank nahm.

Während er sich ankleidete, kreisten seine Gedanken um das Telefonat mit Keskin. Erst hatte er ihre Bitte reflexartig ablehnen wollen, denn bisher hatte sie keine Gelegenheit versäumt, ihm zu verstehen zu geben, was sie von ihm und der Tatsache hielt, dass er sich als Privatmann in offizielle Fälle einmischte. Es wäre gerade eine gute Gelegenheit gewesen, ihr das unter die Nase zu reiben, doch dann hatte er sich darauf besonnen, dass er wohl immer wieder mit ihr zu tun haben würde und es sich als nützlich erweisen könnte, wenn er ihr half. Zudem hatte sie mit ihrer Geschichte sein Interesse geweckt.

Fertig angezogen schenkte er sich in der Küche ein großes Glas Apfelschorle ein und ging damit ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte und dann seinen ehemaligen Partner anrief. Schon nach zweimaligem Läuten nahm Horst Böhmer das Gespräch an.

»Max! Wie schön, von dir zu hören.«

»Hallo, Horst, ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Das hängt vom Grund deines Anrufs ab. Falls du mich um ein Rendezvous bitten möchtest, muss ich leider ablehnen. Ich sitze gerade gemütlich auf meiner Couch, genieße ein kühles Bier und habe nicht vor, an dieser Situation etwas zu ändern.«

»Keine Angst, du brauchst dich nicht vom Fleck zu bewegen. Obwohl es dir sicher guttun würde.«

»War nett, mit dir geplaudert zu haben.«

Max grinste, wurde dann aber wieder ernst. »Keskin hat mich gerade angerufen.«

»Was?«, stieß Böhmer überrascht aus. »Die Frau Kriminalrätin ruft dich an? Ich dachte, die ist ein paar Tage in Urlaub. Wollte sie sich ihre Urlaubstage versüßen, indem sie dir einfach mal präventiv sagt, du sollst dich zukünftig aus unseren Ermittlungen raushalten?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«

Erst nach einer Pause von mehreren Sekunden sagte Böhmer: »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«

»Nein. Es geht um eine Freundin von ihr, die gerade an Krebs gestorben ist.«

In wenigen Sätzen erzählte Max seinem ehemaligen Partner von dem Telefonat und beendete seine Schilderung mit: »Ich denke, das ist eine gute Gelegenheit, sie davon zu überzeugen, dass ich vielleicht ganz anders bin, als sie es sich vorstellt.«

»Wieso anders? Hält sie dich nicht mehr für einen Ex-Polizisten, der an maßloser Selbstüberschätzung leidet und glaubt, die Polizei könnte ohne ihn keine Fälle mehr lösen?«

»Ich sollte mir angewöhnen, unsere Freundschaft hier und da einer kritischen Prüfung zu unterziehen.«

Beide Männer lachten.

»Jetzt mal Scherz beiseite«, sagte Böhmer schließlich. »Du willst doch nicht wirklich dort hinfahren, nur weil die Frau Kriminalrätin glaubt, einem Geheimnis um ihre Freundin auf der Spur zu sein?«

»Doch, genau das habe ich vor.«

»O Mann, Max! Sie benutzt dich nur. Du weißt doch, was sie von dir hält und dass sie dir noch immer die Schuld an der Sache mit Menkhoff gibt. Seit sie da ist, wirft sie dir Knüppel zwischen die Beine, wo immer es geht. Und jetzt ruft sie dich an, weil sie deine Hilfe braucht, und du springst sofort? Was, zum Teufel, ist los mit dir?«

»Ich habe wahrscheinlich einfach ein zu großes Herz. Ich melde mich, wenn ich dort bin, okay?«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, grummelte Böhmer. »Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Nachdem er aufgelegt hatte, rief Max seine Schwester Kirsten an und erzählte auch ihr von Keskins Anruf.

Kirsten hörte sich seine Schilderungen an, ohne ihn zu unterbrechen. Erst als eine längere Pause entstand, fragte sie: »Und? Wirst du ihr helfen?«

»Ich denke schon.«

»Was sagt Horst dazu?«

Das war typisch für Kirsten. Sie fragte nicht, ob er seinen ehemaligen Partner schon angerufen hatte. Sie setzte es voraus.

»Er hält mich für verrückt, weil Keskin mir Steine in den Weg gelegt hat, wo immer sie konnte, seit sie Chefin des KK11 geworden ist.«

»So habe ich das bisher auch verstanden. Warum möchtest du ihr trotzdem helfen?«

»Vielleicht, weil das eine Gelegenheit ist, ihr zu beweisen, dass sie sich in mir getäuscht und mir die ganze Zeit über Unrecht getan hat.«

»Ist es dir denn so wichtig, was sie über dich denkt?«

Max überlegte kurz, bevor er antwortete. »Eigentlich nicht.«

»Was ist es dann?«

»Vielleicht möchte ich einfach, dass sie in meiner Schuld steht.«

»Nein.«

»Nein?«, wiederholte Max überrascht.

»Das glaube ich nicht. Zumindest ist das nicht der Hauptgrund, dass du nach … in dieses Dorf …«

»Klotten.«

»Genau, warum du nach Klotten fahren möchtest. Ich denke, das, was Frau Keskin dir erzählt hat, lässt dir jetzt schon keine Ruhe mehr. Geheimnisvolle Tagebucheinträge von einer Schuld, die die verstorbene Frau gemeinsam mit anderen damals auf sich geladen hat, ein verschwundener Mann ungefähr zur gleichen Zeit … das ist es, was dich antreibt, dem du unbedingt auf den Grund gehen möchtest. Dabei nimmst du den Nebeneffekt, Horsts neuer Chefin zu zeigen, dass sie, was dich betrifft, völlig falschliegt, als zusätzliches Bonbon mit.«

Max lächelte. »Vielleicht hast du ja recht.« Natürlich wusste er, dass seine Schwester recht hatte. Letztendlich wäre es egal gewesen, wer in diesem Fall um Hilfe gerufen hätte, der Fall an sich war es, der ihn reizte. Wenn es denn ein Fall war.

»Pass auf dich auf«, mahnte Kirsten.

»Das tue ich. Ich melde mich wieder bei dir.«

Max legte auf und schloss für einen Moment die Augen. Er sah Kirsten vor sich, wie sie in ihrem Rollstuhl saß, das Telefon noch in der Hand, und aus dem Fenster schaute, während ihre Gedanken um ein furchtbares Ereignis kreisten, das gerade einmal zwei Jahre zurücklag. Die zweite traumatische Erfahrung, die sie in ihrem Leben hatte machen müssen.

Bei der ersten war sie acht Jahre alt gewesen. Ein betrunkener Autofahrer hatte sie damals vom Fahrrad gerissen und in den Rollstuhl katapultiert. Bruch des vierten Brustwirbels, Verletzung des Rückenmarks. Max hatte noch immer den Ausdruck auf ihrem Kindergesicht vor Augen, als ihr nach der Notoperation klarwurde, dass sie wohl nie wieder herumlaufen konnte.

Vielleicht hatte dieses Ereignis mit dazu geführt, dass er so ein inniges Verhältnis zu Kirsten hatte und dass diese Geschichte vor zwei Jahren ihn derart aus der Bahn geworfen hatte, dass er den Dienst bei der Polizei quittierte.

Max schob diese Gedanken beiseite, legte das Telefon auf den Tisch und stand auf. Er musste ein paar Sachen packen für die Fahrt an die Mosel.

3

Max erwachte nach einem unruhigen Schlaf gegen halb sieben am Morgen und stand um sieben Uhr schließlich auf, nachdem er noch einmal über seine Telefonate mit Keskin, Böhmer und Kirsten nachgedacht hatte.

Nachdem er geduscht und gefrühstückt hatte, warf er um kurz vor acht seine gepackte Reisetasche in den Kofferraum und brach Richtung Mosel auf. Das Wetter entsprach der Jahreszeit Anfang November, es war kalt, diesig und trüb.

Während der Fahrt über die Autobahn ging Max wieder und wieder die wenigen Anhaltspunkte durch, die Eslem Keskin ihm genannt hatte. Tagebucheinträge von Keskins Freundin, die sich um eine große Schuld drehten, die aber nicht näher beschrieben worden war.

Max versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum jemand ein Tagebuch führte, dort aber nur Andeutungen machte, statt sich den Kummer von der Seele zu schreiben, wie man es bei einem Tagebuch normalerweise tat.

Vielleicht würde sich ja schnell herausstellen, dass Keskin zu viel in die Tagebucheinträge ihrer Freundin hineininterpretiert hatte, und Max würde schon am nächsten Tag wieder nach Hause fahren. Ein Gefühl sagte ihm jedoch, dass es anders kommen würde.

Auf Höhe von Bad Neuenahr-Ahrweiler begann es zu regnen, und Max verringerte die Geschwindigkeit. Als er etwa eine halbe Stunde später die A48 bei Kaisersesch verließ, wurde die Sicht noch schlechter und die Fahrt zu einer anstrengenden Angelegenheit, die seine volle Konzentration erforderte.

Der Himmel war eine verwaschene, dunkelgraue Fläche, die nass glänzende, schmale Landstraße schlängelte sich in einem ständigen Auf und Ab wie eine Berg- und Talbahn durch dünnbesiedelte Natur.

Max musste noch langsamer fahren, weil sich die Sicht mit jedem Kilometer, den er hinter sich ließ, weiter verschlechterte.

Als er kurz darauf die serpentinenartige Straße Richtung Cochem hinabfuhr, hingen die dunklen Wolken wie eine Drohung über der Stadt und dem Moseltal.

Kurz nachdem er Cochem durchfahren und wieder verlassen hatte, erreichte er schließlich Klotten.

Die kleine Gemeinde wirkte mit ihren überwiegend alten, teilweise leerstehenden und dem Verfall preisgegebenen Gebäuden auf Max wie ein verwunschener, aus der Zeit gefallener Ort, als er von der Moselstraße in die engen Gässchen abbog, die laut seinem Navigationsgerät zu der Adresse führten, die Keskin ihm genannt hatte.

Max ließ in Gedanken noch einmal Revue passieren, was er über Klotten gelesen hatte. Ein Weinort, umgeben von steilen Schieferhängen, etwa tausendzweihundert Einwohner, etliche Weinbaubetriebe. Anfang des 11. Jahrhunderts hatte eine Polenkönigin, deren Namen Max vergessen hatte, sich mit ihren Kindern für ein paar Jahre in Klotten aufgehalten, was in allen Publikationen über den Ort erwähnt wurde.

Am Fuß der Gemeinde gab es eine Fähre über die Mosel, auf einer Bergkuppe oberhalb eine Burg, deren Namen Max ebenfalls entfallen war, die er aber schon von der Moselstraße aus gesehen hatte.

Eslem Keskin hatte sich in einer kleinen Pension einquartiert, deren beigefarbene Fassade offenbar vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden war. Dennoch wirkte das Gebäude bei dem trüben Wetter wenig einladend auf Max, und er erwischte sich bei dem Gedanken, dass dieser ganze Ort auf ihn den Eindruck machte, als sei er als Kulisse für einen Edgar-Wallace-Krimi gebaut worden.

Nachdem er seinen Wagen in einer kleinen Parkbucht neben dem Haus abgestellt hatte, griff Max nach seinem Smartphone und wählte Keskins Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm sie das Gespräch an.

»Guten Morgen«, begrüßte Max sie. »Ich bin da. Ich stehe vor dem Haus.«

»Wow!«, entgegnete Keskin hörbar überrascht. »So früh habe ich nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Worauf hätte ich warten sollen?«

»Da haben Sie natürlich recht. Schön, dass Sie da sind, ich komme sofort runter.«

Max stieg aus, schlüpfte in seine Jacke und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Der Niederschlag war mittlerweile etwas schwächer geworden und rieselte als kalter Nieselregen aus den dunklen Wolken, was es aber nicht unbedingt besser machte.

Max ging auf den überdachten Eingang zu und stellte fest, dass es sich seltsam anfühlte, wenn Keskin so freundlich mit ihm sprach. So, als ob das dicke Ende in Form von zynischen Kommentaren und Vorwürfen gegen ihn gleich kommen würde.

Ganz im Gegenteil zeigte sich auf Keskins Gesicht der Anflug eines Lächelns, als sie die Tür öffnete und ihm die Hand entgegenstreckte. »Noch mal: Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Bischoff.«

Eslem Keskin hatte sich seit ihrem letzten Treffen, das schon eine Weile her war, nicht verändert. Ihre schlanke Gestalt wirkte sportlich, die dunkelrot umrandete Brille bildete einen interessanten Kontrast zu ihren dunklen Augen und den schulterlangen, fast schwarzen Haaren.

Max wollte ihr die Hand schütteln, stockte aber in der Bewegung, als hinter Keskin eine weitere Person auftauchte. Eine junge Frau Mitte zwanzig mit blonden Haaren, die bis zur Mitte des Rückens reichten. Sie kam Max sofort bekannt vor, und zwei Atemzüge später wusste er auch, woher.

Vor ihm stand Jana Brosius, eine ehemalige Studentin von ihm, die – auch daran erinnerte er sich noch gut – laut ihrer eigenen Aussage ein glühender Fan von ihm war.

»Frau Brosius?«, stieß er aus, die Hand noch immer halb erhoben.

»Kriminalkommissarin auf Probe Brosius, genau genommen«, entgegnete sie, und ihre Miene wollte dabei nicht so recht Max’ Erwartung unterstreichen, dass sie das im Scherz gesagt hatte.

»Sie sind …«, setzte er an, wurde jedoch von Jana unterbrochen. »Bei Ihrer alten Dienststelle, dem KK11, ja.«

Max’ Gedanken überschlugen sich. Wie kam sie unmittelbar nach dem Studium zum KK11? Und warum hatte Böhmer ihm nichts davon gesagt, dass eine ehemalige Studentin von ihm nun seine neue Kollegin war?

Die Antwort auf die zweite Frage gab Max sich gleich selbst: Weil Jana Brosius für Böhmer einfach nur eine neue Kollegin war. Woher sollte er wissen, dass sie in Max’ Vorlesungen gewesen war und ihn und seine Methoden bewunderte. Die erste Frage beantwortete gleich darauf Keskin.

»Frau Brosius war direkt nach dem Studienabschluss bei mir und hat mich in einem persönlichen Gespräch davon überzeugt, dass sie eine Bereicherung für die Mordkommission ist«, erklärte Keskin mit wohlwollendem Blick auf die junge Frau. »Ich halte große Stücke auf diese junge Polizistin und habe sie ein wenig unter meine Fittiche genommen. Wenn ich das richtig einschätze, steht ihr eine steile Karriere bevor. Sie ist extrem engagiert und zudem noch mit dem richtigen Gespür ausgestattet, das sie zu einer Top-Ermittlerin machen kann.«

Max hatte seine Überraschung überwunden und lächelte Jana an. »Das klingt wirklich gut. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, finden Sie die Fallanalyse ebenso faszinierend wie ich.«

»Ach ja, schon«, entgegnete sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Aber es gibt noch genügend andere interessante Bereiche.«

»Das hört sich anders an als noch vor zwei Jahren.«

»Ja, stimmt.« Sie warf Keskin einen schwer zu deutenden Blick zu, bevor sie sich erneut Max zuwandte. »Das war damals Schwärmerei. Ich bin mittlerweile reifer und erfahrener geworden. Außerdem wusste ich vor zwei Jahren noch nicht, was ich heute weiß.«

Über mich und Bernd Menkhoff?, schlussfolgerte Max und zwang sich dazu, Keskin keinen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. »Wie dem auch sei«, erwiderte er und wischte die Überlegungen und die Überraschung über Janas Verhalten ihm gegenüber beiseite.

»Frau Brosius hat sich extra Urlaub genommen und ist gleich hergekommen, als sie von Gabrieles seltsamen Tagebucheinträgen gehört hat«, beeilte sich Keskin zu berichten.

»Verstehe«, sagte Max und überlegte, dass die junge Kommissarin sicher nicht irgendwo davon gehört, sondern von Keskin einen Anruf erhalten hatte. Ebenso wie er. Zudem fragte er sich, warum die Leiterin des KK11 sie beide um Hilfe bat, nachdem sie ihn zuvor bei der jungen Polizistin offensichtlich diskreditiert hatte.

»Ich schlage vor, Sie kommen erst einmal rein.« Keskin deutete hinter sich. »Bevor wir alle völlig durchnässt sind.«

Es zeigte sich, dass die Renovierungsarbeiten im Inneren der Pension noch nicht so weit fortgeschritten waren wie an der Außenfassade. Die Möbel hatten ihre besten Jahre längst hinter sich, und den Decken und Wänden hätten einige Reparaturarbeiten und ein neuer Anstrich sicher gutgetan.

»Nicht modern, aber sauber«, erklärte Keskin, die Max’ Gedanken zu erraten schien. »Und die Inhaber sind sehr freundlich.«

Max nickte. »Alles prima. Gibt es hier auch ein Zimmer für mich? Ich meine, falls ich bleibe.«

»Nein, alles ausgebucht«, erklärte Jana, noch bevor Keskin antworten konnte.

»Ah, okay. Und wo soll ich übernachten?«

»Ich habe Ihnen ein Zimmer in einer Pension ganz in der Nähe gebucht. Ich gebe Ihnen nachher die Adresse. Hatten Sie denn eine gute Anreise?«

Max nickte. »Der Regen hat das Fahren etwas anstrengend gemacht, aber es ging.«

Dabei sah er Jana Brosius an und überlegte, was Keskin ihr wohl alles von ihrer speziellen Version der Ereignisse um Bernd Menkhoff erzählt hatte. Und er fragte sich, wie sie es geschafft hatte, die junge Frau so zu beeinflussen.

4

Er stampft die Treppe nach oben, schließt, im Flur angekommen, die Tür hinter sich und lehnt sich dagegen.

Er wundert sich. Anders als früher hat der Gang in den Keller ihm keinerlei Befriedigung verschafft. Im Gegenteil, er hat die alten Wunden wieder aufgerissen, was den Hass in ihm noch verstärkt. Auf sie und ihre Freunde.

Als er davon gehört hat, dass gleich nach ihrem Tod eine Polizistin aufgetaucht ist und unmittelbar darauf noch eine zweite, da hat er geahnt, dass genau das eingetreten ist, was er befürchtet hat. Diese Schlampe.

Sie hat ihre Strafe bekommen, als der Krebs sie hat verrecken lassen, aber die anderen … Er wird sich um die Sache kümmern müssen. Er wird sich um alles kümmern müssen, bevor es zu spät ist. Wer weiß, was diese dämliche Kuh nach ihrem Tod noch alles anrichtet.

Er stößt sich von der Tür ab, geht in das Wohnzimmer und lässt sich dort auf den Stuhl fallen. Als er die Augen schließt, sind sofort Bilder da. Brutale, blutige Bilder. Phantasien davon, was er mit denjenigen macht, die sich gegen ihn stellen. Wie er sie bestraft.

»Strafe muss sein«, hört er sich selbst mit veränderter Stimme sagen. »Strafe reinigt die Seele. Schmerz reinigt die Seele. Wer Unrecht getan hat, findet im Schmerz Läuterung und Vergebung.«

Seine Gedanken wandern ein paar Minuten in die Vergangenheit. Er sieht sich wieder in der Mitte des Raumes stehen, den Blick nach unten gerichtet. Erneut sieht er vor sich, was er dort zu seinen Füßen ewig lange angestarrt hat, in dem Bewusstsein, was sich darunter verbirgt.

Er war nicht immer der, der er jetzt ist.

Die Sache hat ihn zu einem anderen gemacht, das ist ihm völlig klar. Aber ebenso klar ist auch, dass er nichts dagegen tun kann und auch nichts dagegen tun will.

5

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Keskin deutete auf eine hölzerne Eckbank, die in dem Zimmer, das Max wie eine Art Aufenthaltsraum vorkam, zusammen mit zwei Stühlen an einem länglichen Tisch stand. Neben einem deckenhohen antiken Schrank und einer hüfthohen Kommode das einzige Inventar des Raumes, der durch zwei große Glaselemente im Sommer lichtdurchflutet sein musste, nun aber von einer über dem Tisch hängenden, altmodischen Lampe erhellt wurde.

Während er sich niederließ, betrachtete Max das in schwarzes Kunstleder eingebundene Buch, das auf dem Tisch lag.

»Das ist Gabrieles Tagebuch, von dem ich Ihnen am Telefon erzählt habe«, erklärte Keskin und setzte sich ihm gegenüber auf einen der Stühle. Jana Brosius zog den zweiten Stuhl zurück und nahm darauf Platz, vermied es dabei aber, Max anzusehen.

»Darf ich?«, fragte Max, an Keskin gewandt.

Sie nickte. »Ja. Wenn Sie die ersten Einträge gelesen haben, wissen Sie, was ich meine. Im Grunde wiederholt sich das, was dort steht, immer wieder. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Sehr gern.«

Ihr Blick richtete sich auf Jana, die aber den Kopf schüttelte. »Für mich nicht, danke.«

Während Keskin aufstand, zog Max das Buch zu sich heran und schlug es auf. Er vermied es bewusst, Jana Brosius anzuschauen. Mit der Frage, warum sie sich ihm gegenüber so seltsam verhielt, konnte er sich später beschäftigen. Auf der ersten Seite des Buches stand mittig nur der mit blauer Tinte handgeschriebene Name Gabriele Meininger, doch schon auf der nächsten Seite begann der erste Eintrag.

Mittwoch, 13.9.2000

Wer hätte gedacht, dass ich jemals in ein Tagebuch schreiben würde? Etwas, das ich noch nicht mal als Teenager getan habe. Aber es gab auch keine Zeit, in der ich so verzweifelt war, wie ich es zurzeit bin. Nicht einmal als junges Mädchen.

Ich habe große Schuld auf mich geladen und weiß nicht, wie ich damit weiterleben soll. Seit dieser schrecklichen Nacht kann ich nicht mehr ruhig schlafen, und mehr als alles andere bin ich zutiefst erschrocken, nein, schockiert darüber, zu was ich fähig bin.

Mein ganzes bisheriges Leben habe ich mich für einen guten Menschen gehalten. Natürlich habe ich meine Fehler wie jeder andere, aber ich habe stets Wert darauf gelegt, mich anderen gegenüber anständig zu verhalten. Nie habe ich jemandem etwas zuleide getan.

Und dann tue ich etwas derart Schreckliches. Tun wir etwas so Schreckliches. Ja, ich war nicht allein, aber diese Tatsache macht es keinen Deut besser.

Wie oft habe ich mir in den vergangenen Wochen die Frage gestellt, ob ich anders gehandelt hätte, wenn ich allein gewesen wäre, und tatsächlich glaube ich, dass das alles dann nicht so geschehen wäre. Aber was ändert das? Ich war nicht allein, und was wir getan haben, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Auch wenn ich wirklich alles dafür geben würde. Nun muss ich für den Rest meines Lebens mit dieser Schuld zurechtkommen.

Tatsächlich habe ich schon ein paarmal darüber nachgedacht, ob ich mein Leben beenden soll. Dadurch würde zwar auch nicht ungeschehen gemacht, was wir getan haben, aber es wäre zumindest eine Art Vergeltung. Dann aber habe ich mich gefragt, ob man Leben gegeneinander aufwiegen kann. Und auch mein Tod würde nichts an dem ändern, was wir zu verantworten haben.

Keskin kam zurück und stellte ein Tablett vor Max ab, auf dem eine gefüllte Tasse, ein Milchkännchen sowie eine Zuckerdose mit einem Löffel darin standen.

Max deutete auf das vor ihm liegende Buch. »Ihre Freundin hat sich gefragt, ob man Leben gegeneinander aufwiegen kann. Das könnte tatsächlich ein Hinweis darauf sein, dass ein Mensch umgekommen ist.«

Keskin nickte. »Vor allem vor dem Hintergrund, dass nur wenige Wochen vor dem ersten Tagebucheintrag ein junger Mann verschwunden ist. Wenn Sie die letzten Seiten aufschlagen, finden Sie darin ein gefaltetes Blatt Papier, auf dem ich die Daten dazu ausgedruckt habe und ein Foto von ihm.«

Max zog beides heraus und betrachtete zunächst die Fotografie. Sie zeigte einen jungen Mann mit blonden, an den Seiten kurz geschnittenen Haaren, der in die Kamera lächelte. Dem Gesicht nach zu urteilen schien er recht schlank zu sein. Als Nächstes faltete Max das Blatt auseinander und las.

 

Peter Kautenberger, geb. 17. August 1974

Jungwinzer

vermisst seit 2.8.2000

Gewaltverbrechen nicht nachweisbar, aber auch nicht auszuschließen

mögliches Motiv für Gewalttat unbekannt

keine bekannten Konflikte

Eltern geschieden, Mutter lebt in München

Vater auffallend unkooperativ, Kenntnis über Verschwinden seines Sohnes nicht nachweisbar

Ermittlungen im Ort gestalteten sich schwierig

Max sah von dem Blatt auf. »Diese Informationen haben Sie aber nicht aus der Zeitung.«

»Nein, ich habe gestern mit einem Kollegen der Koblenzer Kripo gesprochen. Er war sehr hilfsbereit. Das, was ich aufgeschrieben habe, entspricht dem damaligen Ermittlungsstand.«

»Und er hat Ihnen am Telefon Auskunft gegeben?«

»Ich hatte mit ihm einen Videocall. Mein Dienstausweis hat ihm als Legitimation ausgereicht.«

Max lehnte sich zurück.

»Ihre Freundin hat geschrieben, sie war nicht allein bei dem, was da geschehen ist. Haben Sie eine Idee, wen sie mit den anderen gemeint haben könnte?«

»Es gibt ein paar Namen, aber ich weiß nicht, ob diese anderen damit gemeint sind. Ich hoffe, dass Sie das herausfinden werden. Ich muss morgen zurück nach Düsseldorf. Termine, die sich nicht verschieben lassen.«

Max hob eine Braue. »Sie bleiben nicht hier?«

Ein Lächeln umspielte Keskins Mund. »Herr Bischoff, wenn ich selbst hierbleiben könnte, hätte ich Sie nicht um Hilfe bitten müssen. Ich werde heute noch zurück fahren.«

Da war er wieder, dieser Unterton, in dem die Abneigung mitschwang.

»Ich bleibe«, erklärte Jana knapp, bevor er etwas entgegnen konnte.

Max musste unwillkürlich an Böhmers Worte denken. Keskin benutzt dich nur. Du weißt doch, was sie von dir hält und dass sie dir noch immer die Schuld an der Sache mit Menkhoff gibt. Wie es aussah, behielt sein Expartner recht.

»Ist es für Sie ein Problem, wenn ich nicht mehr hier bin?«

»Nein«, erwiderte Max und sah zu der jungen Polizistin hinüber. »Frau Brosius ist ja noch da, um mich zu unterstützen.«

»Sie unterstützen mich, meinten Sie sicher«, korrigierte Jana ihn. »Wir wollen doch bitte nicht die Rollen vertauschen. Ich bin aktive Polizistin, Sie sind ein ehemaliger Polizist, der es mittlerweile vorzieht, vor jungen Menschen über Dinge zu sprechen, vor denen Sie selbst weggelaufen sind. Also werde ich diese … Ermittlungen leiten, nicht Sie.«

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte Keskin und stand auf. »Ich muss schnell ein privates Telefonat führen.«

Max sah ihr nach, bis sie durch die Tür war, und überlegte dabei, ob Keskin bewusst genau diesen Zeitpunkt gewählt hatte, um ihn mit Jana Brosius allein zu lassen. Dann wandte er sich an seine ehemalige Studentin.

»Dinge, vor denen ich weggelaufen bin?« Er schüttelte den Kopf. »Aber gut, darauf möchte ich – zumindest im Moment – nicht eingehen. Das können wir zu einem anderen Zeitpunkt diskutieren, denn Sie deuten etwas an, über das Sie nicht urteilen können. Was mich aber wirklich interessiert … Sagen Sie mir, was vorgefallen ist?«

Sie zuckte mit den Schultern, wirkte von der Frage allerdings wenig überrascht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ich erinnere mich daran, dass Sie mir nach einer Vorlesung sagten, Sie seien ein großer Fan von mir und hätten alles über mich gelesen. Und dass Sie den gleichen Weg einschlagen möchten wie ich.«

»Und?«

»Nun, es scheint, dass Sie Ihre Meinung geändert haben, und es würde mich interessieren, woran das liegt.«

»Also gut.« Jana lehnte sich auf dem Stuhl zurück, legte die Hände vor sich auf den Tisch und sah ihn mit festem Blick an. »Sie haben recht, ich war ein Fan von Ihnen. Das war, bevor ich erfahren habe, wie Sie agieren, seitdem Sie die Polizei verlassen haben.«

»Ach! Und wie … agiere ich?«

»Sie riskieren ohne Rücksicht alles, nur um einen Fall erfolgreich abschließen zu können.«

»Was genau meinen Sie damit?«, hakte Max nach, obwohl er eine recht konkrete Vorstellung hatte.

»Ich denke, Sie wissen, was ich damit meine.«

Max hatte also wohl richtiggelegen mit seiner Vermutung. Er spürte, wie Ärger in ihm hochkochte.

»Sie meinen Bernd Menkhoff?«

Als Jana keine Anstalten machte, darauf zu antworten, sagte Max: »Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass die Quelle, von der Sie aller Wahrscheinlichkeit nach diese Geschichte gehört haben, voreingenommen ist? Und dass diese Person, ganz davon abgesehen, dass sie damals nicht dabei war und gar nicht wissen kann, was genau geschehen ist, sich deshalb eine ganz eigene Version zurechtgelegt hat, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht?«

Bevor Jana antworten konnte, kam Keskin zurück, setzte sich wieder zu ihnen an den Tisch und legte ein in der Mitte gefaltetes Blatt Papier vor sich. Max war sicher, dass sie gehört hatte, was er gerade gesagt hatte, doch sie tat so, als sei alles in bester Ordnung.

»Warum ich?«, wandte Max sich an sie. »Warum haben Sie ausgerechnet mich angerufen und um Hilfe gebeten, obwohl Sie mich nicht ausstehen können?«

Keskin zuckte mit den Schultern. »Ungeachtet der Tatsache, was ich von Ihnen persönlich halte, bin ich mir in einem Punkt sicher: Sie sind der zweitbeste Ermittler, mit dem ich je zu tun hatte. Der beste lebt leider nicht mehr, wie Sie ja wissen.«

6

Eine Weile sahen sie einander in die Augen, schweigend und bewegungslos, als würden sie einen telepathischen Kampf austragen, dann riss Max den Blick von Keskin los und stand auf.

»Was ist?«, fragte Keskin, offensichtlich verwundert. »Das war ein Kompliment. Zumindest der zweite Teil.«

Max verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. Die unverhohlene Dreistigkeit, mit der diese Frau mit ihm umsprang, ärgerte ihn. Noch mehr aber wurmte ihn die Erkenntnis, dass er sich darüber ärgerte. Und wieder fielen ihm Böhmers Worte ein. Sie benutzt dich nur …

»Ich sollte mich jetzt in mein Auto setzen und wieder nach Hause fahren, denn ungeachtet der Tatsache, dass dieser Fall mich interessiert, bin ich