Mörderhölzli - Sandra Gatti geb. Müller - E-Book

Mörderhölzli E-Book

Sandra Gatti geb. Müller

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Beschreibung

Das Buch basiert auf den Polizeiakten eines vor über 100 Jahren im Zürcher Weinland verübten bestialischen Mordes. Das Opfer war die 21-jährige Bauerntochter Anna Müller, und das damals ungeklärte Verbrechen liegt bis heute wie ein Schatten über der Region. Anhand der Ermittlungsakten sowie eigener Recherchen hat die Autorin einen Roman entwickelt, der die damaligen Ereignisse wieder zum Leben erweckt. Es ist ihr gelungen, Sachbuch, Krimi und historischen Roman zu einem fesselnden Werk zu verweben, sodass letztlich kaum mehr Zweifel bestehen, wer den Mord begangen hat. Das Opfer Anna Müller war die Urgrosstante von Sandra Gatti-Müller.

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Impressum
Vorwort
1. Das Leben in der Schweiz um 1900
2. Die Akten
3. Das Böse. Mitte Februar 1906
4. Im Pfarrhaus in Altikon
5. Strenge Sitten
6. Anna Müller
7. Elefantengedächtnis
8. Hinterhof
9. Am Brunnen vor der Türe
10. Ein Automobil. Donnerstag, 22. Februar 1906
11. Modenschau
12. Schlachtplatte
13. Gefallen
14. Nachtmahr. Mittwoch, 21. März 1906
15. Der erste Frühlingstag
16. Die Macht des Weibes
17. Gewalt
18. Bloss kein Kind. Sonntag, 1. April 1906
20. Mäuse und Chüngel
21. Karwoche. 13. April 1906
22. Karfreitag. 15. April 1906
23. Ostersonntag. Mittwoch, 18. April 1906
24. Ein dummer Tag. Mittwoch, 25. April 1906
25. Rache. Anfang Mai 1906
26. Ein bisschen Ruhe. Sonntag, 6. Mai 1906
27. Ein heikles Thema
28. Unheil. Zweite Maiwoche 1906
29. Es geschah am helllichten Tag. Aus den Akten
30. Der Mord
31. Späte Erkenntnis. Aus den Akten
32. Die Zeugen. Aus den Akten
33. Polizei und Bezirksanwaltschaft nehmen die Ermittlungen auf. Sandra Gatti ermittelt
34. Oberleutnant Locher und der erste motorisierte Verkehr im Kanton
35. Ausnahmezustand. Aus den Akten
36. Der Steckbrief eines Verdächtigen. Aus den Akten
37. Die Section. Sandra Gatti ermittelt
38. Die Spur führt nach Dinhard. Aus den Akten
39. Der Verdächtige Ulrich. Aus den Akten
40. Die Zigarre des Täters. Aus den Akten
41. Die Belohnung. Aus den Akten
42. Der Verdächtige Ernst Altwegg
43. Totenglocken 16. Mai 1906
44. Abschied
45. Und ein Wiedersehen
46. In der Höhle des Löwen
47. Abendstimmung. Aus den Akten
48. Der Verdächtige Wohlgemuth. Aus den Akten
49. Irreführung der Rechtspflege. Aus den Akten
50. Der Verdächtige Heinrich Rüeger. 18. Mai 1906
51. Emma ermittelt
52. Familiengeschichten
53. Am Tatort
54. Noch eine Leiche. Wochenende vom 19./20. Mai 1906
55. Sämi im Verhör. 21. Mai 1906
56. Ausgewandert
57. Antworten. Aus den Akten
58. Die Ermittlung in den folgenden Jahren. Aus den Akten
59. Das familiäre Umfeld des Opfers. Sandra Gatti ermittelt
60. Die Alibis der Familienangehörigen. Sandra Gatti ermittelt
61. Warum wurde der Fall nie geklärt? Sandra Gatti ermittelt
62. Das Pfarrersmädchen. Sandra Gatti ermittelt
63. Wer war es? Sandra Gatti ermittelt
64. Leonhardts Selbstladepistole. Sandra Gatti ermittelt
65. Zwei Zeitzeuginnen aus der Familie. Sandra Gatti ermittelt
66. Nur ein Gerücht oder schreckliche Tatsache? Sandra Gatti ermittelt
67. Was aus der restlichen Familie Müller wurde
68. Der Mörder entging der irdischen Gerechtigkeit. Sandra Gatti ermittelt
69. Was Albert Einstein mit der ganzen Sache zu tun hatte
Bilddokumente
Nachwort und Dank
Quellenangaben

Sandra Gatti-Müller

Mörderhölzli

Der Lustmord an Anna Müller von 1906

Impressum

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© Copyright by Sandra Gatti-Müller

Vertrieb: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

E-Book-Programmierung: 

«Solltest du wirklich die Augen öffnen und sehen,

du würdest dein Ebenbild in allen Bildern erblicken.

Und solltest du deine Ohren öffnen und hören,

du würdest deine eigene Stimme in allen Stimmen hören.»

Khalil Gibran, 1883 – 1931

Für meine Kinder

Virginia und Manuel

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 1906 in Altikon, einer kleinen Landgemeinde am Rande des Zürcher Weinlandes. Im Mai jenes Jahres wurde eine junge Frau auf bestialische Art und Weise getötet. Diese junge Frau war die Schwester meines Urgrossvaters.

Altikon (dazu gehören auch die Weiler Herten, Feldi, Schneit und zahlreiche Siedlungen) liegt rund zehn Kilometer nördlich von Winterthur und grenzt direkt an den Kanton Thurgau. Es ist der Fleck im Kanton Zürich, wo die Leute «nid» statt «nöd» sagen und deshalb von den Stadtmenschen belächelt werden, wo sich der Löwenzahn «Puggele» nennt, der Wald «Holz» und das Wäldchen «Hölzli» heissen und wo der Nebel auch im Mai noch bis zum Mittag dick und feucht in der Luft kleben kann.

Die Gegend ist sehr ländlich, Felder, Wälder und Wiesen umgeben die Gemeinde. Nach Süden in Richtung Winterthur ist das Dorf durch einen lang gezogenen Hügel von Rickenbach­ und Dinhard getrennt. Der Blick der Altiker muss zwangsläufig nach Norden schweifen, hinunter zur Thur, welche die Kantons- und Gemeindegrenze bildet, dann zügig weiter westwärts fliesst und bald darauf in den Rhein mündet. Trotz der Nähe zu Winterthur und Frauenfeld war Altikon zu jener Zeit eine kleine Welt für sich, friedlich und beschaulich. Die Uhren ticken hier noch heute etwas gemächlicher.

Rund vierhundert Menschen lebten damals in Altikon, mehrheitlich waren es Bauersleute und Handwerker. Viele waren Selbstversorger, mithelfen mussten alle, Kinder ebenso wie die Grosseltern, jeder nach seinen Möglichkeiten. Freizeit war ein Fremdwort. Nur der Sonntag wurde, so gut es ging und wenn es das Wetter zuliess, arbeitsfrei gehalten.

In jener Zeit war die Kindersterblichkeit hoch: Allein im ersten Lebensjahr starben mehr als 15% der Säuglinge. Viele Krankheiten waren bedrohlicher als heute, die Erfindung des Antibiotikums lag ja noch in ferner Zukunft. Die Frauen gebaren viele Kinder und dieses Ereignis war ein grosses Risiko für Mutter und Kind.

Der Tod war deshalb wohl oder übel ein akzeptierter und respektierter Gast in der Gesellschaft um die Jahrhundertwende, wenn auch nicht dergestalt, wie er den Altikern in jenem Frühling urplötzlich begegnete. Die heile Welt bekam einen Riss.

Der brutale Mord an der 21-jährigen Anna Müller erschütterte das Dorf und die ganze Region. Danach war nichts mehr wie vorher. Und der Tatort, das Wäldchen, wo dieses schreckliche Verbrechen begangen wurde, heisst auch mehr als hundert Jahre danach noch Mörderhölzli.

Eine andere junge Frau, sie hiess Emma Bachmann, spielte eine wichtige und dramatische Rolle in dieser ganzen Geschichte. Sie war viele Jahre als Dienstmädchen beim Altiker Pfarrer tätig und mit Anna befreundet. Sie trug – wenn auch gezwungenermassen und unwissentlich – entscheidend zum Mord bei. Geschähe dieses schreckliche Verbrechen heute, die Polizei würde umgehend bei Emma vorsprechen und sie befragen. Damals geschah nichts dergleichen. Niemand verhörte Emma, sie war ja nur eine Dienstmagd. Aber eben, die Polizei kam nicht weiter und der Mörder ungeschoren davon. Der Fall blieb offiziell ungeklärt.

Auch wenn schon mehr als hundert Jahre vergangen sind: Heute finden wir Antworten auf die Fragen, die damals nicht gestellt wurden. Kommen Sie mit und lernen Sie die arme Anna, die Dienstmagd Emma und das alte Altikon kennen. Begleiten Sie mich auf die Reise ins Jahr 1906 und die spannende Suche nach dem Mörder.

Sandra Gatti-Müller

1. Das Leben in der Schweiz um 1900

Um die Jahrhundertwende lebten in der Schweiz rund drei Millionen Menschen. In Mitteleuropa herrschte seit etwa dreissig Jahren Friede und das Wort «Weltkrieg» gab es noch nicht. Der technische Fortschritt war in vollem Gange: Elektrisches Licht war erfunden, Dieselmotoren wurden gebaut, Fahrzeuge und Maschinen ersetzten nach und nach die Muskelkraft. Im Jahr 1899 vermeldete das Patentamt in New York, dass jetzt «alles Erfindbare» erfunden sei.

Der Luxus der Stromversorgung war erst in einigen grösseren Städten verfügbar. In den ländlichen Gebieten der Schweiz lebten die Menschen nach wie vor ohne elektrisches Licht; man hatte Petrol- oder Gaslampen und Kerzen. Auch Kühlschränke gab es zum Beispiel noch nicht. Die Milch hielt sich im kühlen Keller höchstens zwei bis drei Tage. Geheizt und gekocht wurde mit Holz.

Tagwach war auf dem Land mit der Morgendämmerung, Feierabend zwangsläufig bei Einbruch der Dunkelheit. Die Kirchenglocken halfen bei der Zeiteinteilung. Die Menschen arbeiteten körperlich und waren viel auf den Beinen. Sport war deshalb schlicht unnötig. Die meisten Distanzen wurden zu Fuss zurückgelegt, denn auch Velos waren bei der einfachen Bevölkerung nicht sehr verbreitet. Dafür besassen die Bauern Ochsen, manchmal auch Pferde, die Fuhrwerke zogen und bei der strengen Arbeit auf dem Feld halfen.

Bei der Arbeiterschaft in der Stadt verschlang die Ernährung den grössten Teil des Einkommens. Der Stundenlohn betrug je nach Branche und Geschlecht des Arbeitnehmers um die 30 Rappen, ein Wochenlohn bewegte sich bei rund 20 Franken. Die Hälfte ihres Einkommens mussten die Menschen damals für Nahrungsmittel ausgeben. Heute sind es hierzulande weniger als 10%. In nur einer halben Stunde haben wir unser tägliches Brot bereits verdient.

Das war um 1900 ganz anders: Ein Liter Milch kostete etwa 22 Rappen, ein Kilogramm Kartoffeln 9 Rappen, ein Kilogramm Rindfleisch 1 Franken 57 Rappen und ein Kilo Bohnenkaffee sogar 1 Franken 80 Rappen. Und wenn ein neues Paar Schuhe wirklich dringend nötig wurde, so bezahlte man dafür rund 10 Franken. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass auf dem Land die Kinder den Grossteil des Jahres barfuss gingen.

2. Die Akten

Der Frühling des Jahres 2012 war mehr nass als wonnig, als ich dem Verbrechen im Mörderhölzli überraschend auf die Spur kam. Die offiziellen Ermittlungsakten zum «Lustmord an Anna Müller» aus dem Jahr 1906 existierten immer noch!

Meine Grossmutter aus Altikon blieb Ende der Siebzigerjahre, auf den schrecklichen Namen dieses Wäldchens angesprochen, vage: Vor sehr, sehr langer Zeit sei da ein Mädchen ermordet worden. Punkt. Ein Schauder lief mir über den kindlichen Rücken und ich wartete gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte. Meine Grossmutter wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Und dann, fast nebenbei, bemerkte sie, beim Opfer könnte es sich eventuell um eine entfernte Verwandte von uns gehandelt haben. Damit war die Fragestunde definitiv beendet. Ich spürte, dass sie glaubte, bereits zu viel erzählt zu haben. So blieb ich allein mit meinen Fantasien und mit meiner Neugier. Irgendwann geriet die Geschichte wieder in Vergessenheit.

Mehr als dreissig Jahre später führte mich eine Reise nach Wien zwangsläufig auch in die Kaiserzeit von Sissi und Franz Josef und weckte in mir überraschend glühendes Interesse für die Zeit um 1900.

Ein paar Tage später sass ich wieder mit meinen Kindern am Esstisch und schwärmte von meinen Erlebnissen. Nach den obligaten «Was wäre wenn?»-Fragen meiner Tochter landeten wir wieder einmal beim Geheimnis um das Mörderhölzli.­ «Ich weiss nicht einmal, wann dieser Mord passiert ist», klagte ich. Alle drei starrten wir gedankenversunken vor uns hin. Da fiel der Satz, der bei mir alles in Gang setzte. Mein Sohn sagte: «Man sollte halt zumindest mal einen Anhaltspunkt haben.»

So einfach, so klar. Ich begann zu fragen und zu forschen. Und wer sucht, der findet.

Also stattete ich dem Staatsarchiv meinen ersten Besuch ab. An einem trüben Samstagmorgen füllte ich am Empfang eine Registerkarte aus. Beim Forschungsthema schrieb ich: «Verbrechen im Kanton Zürich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Die junge Mitarbeiterin am Empfang instruierte mich gewissenhaft: «Sie lassen bitte alle Sachen wie Tasche und so weiter hier in der Garderobe. Die Akten dürfen fotografiert werden, aber ohne Blitz. Es hat Stromanschlüsse für Ihren Laptop. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Aufsichtsperson, ansonsten herrscht im Lesesaal Ruhe.»

Für meine hinterlegte Identitätskarte bekam ich einen Badge – den Schlüssel zur Wahrheit. Begleitet von elektronischem Piepsen gelangte ich dann durch zwei schwere Türen in den Lesesaal, wo zwei ältere Herren mit noch viel älteren Büchern beschäftigt waren. Gespannt setzte ich mich an einen freien Platz in der Nähe des Fensters und wartete.

«Ich möchte Sie warnen», hatte mir die zuständige Archivarin im Vorfeld geschrieben, «der Fall ist ziemlich heftig. Bringen Sie starke Nerven mit.»

Da durchschnitt wieder das Piepsen die Stille. Eine Tür im hinteren Teil des Raumes öffnete sich und ein Angestellter schob einen Wagen geräuschlos vor sich her. Das ernste Gesicht des Mitarbeiters und seine gemessenen Schritte erinnerten mich an den Transport einer Leiche. Die «Bahre» war an der Stirnseite mit «Gatti» beschriftet. Auf dem obersten Tablar befanden sich zwei grosse graue Archivschachteln.

Nachdem sich der «Totengräber» zurückgezogen hatte, hob ich vorsichtig die erste Schachtel vom Wagen. Behutsam legte ich sie auf den Tisch und öffnete sie. Der Geruch von altem Papier, Staub und Geschichte umwogte mich.

Statt durch die erhofften Fotos kämpfte ich mich erst einmal stapelweise durch Papier. Viele Dokumente waren in einer alten, schwer leserlichen Handschrift abgefasst. Dazwischen fanden sich auch sauber mit der Maschine getippte Aktenstücke. Zeitungsartikel erweckten meine Aufmerksamkeit, die Berichte von Polizei und Bezirksanwaltschaft und eine Menge Haftakten. Waren die etwa alle von Verdächtigen? Ich blätterte aufgeregt weiter. Da! Der Bericht des Arztes über die «Section». Der Amtsarzt hatte von den Verletzungen am Hals des Opfers eine Zeichnung angefertigt. Etwas weiter unten stiess ich auf das einzige Foto in den gesamten Akten.

Die grausame Tat lag jäh als düsteres, leicht vergilbtes Foto vor mir.

Im halbdunklen Hintergrund stehen zwei Männer mit Arztkitteln. Beherrscht wird das Bild von einer jungen Frau. Sie liegt auf einem Bett. Vermutlich ist es ein Doppelbett, denn daneben ist ein voluminöses Kopfkissen zu erkennen. Die Tote ist nackt, ihr Kopf ruht auf einem runden Stück Holz. Der eine Arm zeigt angewinkelt nach oben, als ob sie es sich am Strand bequem gemacht hätte. Ihr Gesichtsausdruck erscheint neutral, aber ihre Augen, im Tod erloschen, sind weit aufgerissen. Vom Brustbein bis zu ihrem Schambereich führt ein langer tiefer Schnitt. Die Därme quellen aus dem Dunkel des Bauches heraus und hängen auf ihrer rechten Seite bis fast auf das weisse Laken.

Ich zwang meinen Blick weg vom Bild. Die Aufsichtsperson vorne im Saal war mit einer Schreibarbeit am Computer beschäftigt, liess ihren Kontrollblick aber in regelmässigen Abständen durch den Saal schweifen. Rechts oben von der Ecke aus beobachtete mich eine Kamera, das rote Licht blinkte aufmerksam. Der Staat beschützt seine Akten gut.

Meine Gedanken schweiften ab zum Haus unterhalb der Kreuzstrasse in Altikon, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte und wo auch Anna und ihre Familie gelebt hatten. Ich stand der Familie damals sehr nahe. Und jetzt stand ich wieder vor ihrer Geschichte und ihrem Schicksal. Niemand vor mir hatte das schreckliche Verbrechen an Anna Müller gesühnt. Ich spürte eine offene Wunde, die nie verheilt war. Immer tiefer tauchte ich in die Geschichte ein und langsam erwachten Anna und ihr Umfeld wieder zum Leben.

3. Das Böse

Emma spürte etwas Bedrohliches, Böses. Es war da, hier zwischen den Bäumen in den Dämmerstunden dieses Wintertages. «Es ist der Tod», ging es Emma durch den Kopf, und sie nahm diese Gewissheit mit Demut hin, so, als ob es sie nicht weiter kümmern müsste.

Aber dann bekam das Böse eine Gestalt. Ein grosser Vogel schwebte auffallend langsam und nur wenig über dem Boden durchs Unterholz herbei, die Flügel fast unmerklich bewegend. Ein Rabe? Sein Blick schien in weite Ferne gerichtet und Emma wusste, dass er sie nicht wahrnahm. Aber seine Botschaft war unmissverständlich.

Verzweifelt raffte Emma ihre Röcke zusammen und lief weg, immer tiefer in den Wald hinein. Hinter sich «hörte» sie förmlich die unheimliche Stille, denn die Singvögel und Insekten des Waldes waren verstummt. Kein Schrei, kein Flügelschlag. Sogar der Eichelhäher hielt sich geduckt. Sie spürte nur den sanften Luftzug, der von den Schwingen des Raben herrührte. Emma wagte nicht, nochmals hinzuschauen. Sie drehte sich ab, begann zu laufen, zu rennen, hinein in eine Dunkelheit, die sie immer schwärzer umfing – bis sich ihr rechter Fuss im Unterholz verhedderte. Sie stolperte und fiel hin.

Einen Moment lang blieb sie fast erlöst liegen. Ihr Atem ging stossweise und ihr Herz pochte. Als sie sich wieder aufrichtete, lauerte ihr der Vogel noch immer auf. Unter dem Astwerk des Haselgesträuchs, in das sie gefallen war, fühlte sie sich für einen Augenblick fast ein bisschen geborgen. Aber nicht lange. Mit schwarz glänzendem Gefieder und spitzem Schnabel fixierte er sie mit seinen glühenden Knopfaugen. Emma sprang auf, wollte schreien, mit blinder Hoffnung auf Hilfe. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, aus ihrer Kehle kam nur ein atemloses Stöhnen …

Mitte Februar 1906

4. Im Pfarrhaus in Altikon

Emma erwachte schweissgebadet und bemerkte erstaunt, dass sie leise vor sich hin wimmerte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Durch das Fenster schimmerte der Schnee im Mondlicht und machte sie glauben, es dämmere schon. Mit heftig klopfendem Herzen tastete sie nach den Streichhölzern und zündete die Öllampe auf ihrem Nachttisch an. Ein flackernder Lichtschein breitete sich in ihrer Kammer aus und beleuchtete das Zifferblatt ihrer Taschenuhr: Es war halb fünf.

Emma sank ins Kissen zurück. Ihr Atem bildete Wölkchen im kalten Raum. Sie geisterten wie kleine Nebelschwaden durch das Licht und lösten sich dann auf. Nach und nach verloren sich auch die schrecklichen Bilder des Alptraumes. Trotzdem war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Emma Bachmann hatte kürzlich ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Seit fünf Jahren war sie beim Altiker Pfarrer als Dienstmagd angestellt, als Mädchen, wie es im Volksmund hiess. Über ihre Arbeit und ihre Lebensumstände wollte sie nicht klagen. Sie schlief in einer eigenen Kammer, in einem Bett mit einer richtigen Matratze. Reinster Luxus, wenn man bedachte, dass sie sich mit ihren Geschwistern Stroh- und Laubsäcke hatte teilen müssen. Ihre wenigen Kleider und Habseligkeiten waren in einer alten Kommode verstaut, darauf standen eine Waschschüssel und ein Krug aus Porzellan, die Ränder mit rosa Blümchen verziert. Das Wasser darin war an diesem frühen Wintermorgen vermutlich wieder angefroren. Und neben dem Fenster, an dem sich Eisblumen gebildet hatten, stand ein einfacher Schreibtisch mit einem zu kurzen Bein. Emma hatte das Manko mit gefaltetem, inzwischen vergilbtem Zeitungspapier ausgeglichen.

Hatte sie es hier nicht wirklich gut? Besser gesagt, gut gehabt. Bis der Pfarrer diese Spitzmaus geheiratet hatte. Emma schüttelte sich angewidert, sodass ihre Nachthaube verrutschte. Dann begannen die Kirchenglocken zu dröhnen, und Emmas Herz verkrampfte sich wieder. Hier im Pfarrhaus konnte man das Glockengeläut wirklich nicht verschlafen.

Emma schlug tapfer die Decke zurück und stand auf. Sie fror bitterlich in ihrem leinenen Nachthemd. Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging zur Kommode, um sich zu waschen. Sie durchbrach die dünne Eisschicht im Krug und goss Wasser ins Becken. Es stach ihr wie Nadeln ins Gesicht und vertrieb die letzte Trägheit aus ihren Gliedern. Hastig zog sie ihre wollenen Strümpfe hoch und befestigte sie am Strumpfgurt. Das Nachthemd liess sie gleich an, darüber zog sie ein weisses Hemd und schlüpfte dann in ihr dunkelblaues Alltagskleid. Zuletzt band sie sich noch eine frische weisse Schürze um und zog ihre schwarzen Schnürschuhe an. Sie bürstete ihr kupferrotes Haar und flocht sich zwei artige Zöpfe.­

Emma war eine ausgesprochen hübsche junge Frau, wohlgestaltet und schlank. Ihre Haare fielen offen in leichten Wellen über ihre Schultern, wobei sie diese natürlich geflochten tragen musste, um nicht als hoffärtig zu gelten oder gar als unsittliche Frauenperson aufzufallen. Sie hatte ein zartes, vornehm blasses Gesicht. Bei der geringsten Erregung überflutete Hitze ihre Wangen und brachte diese ganz liebreizend zum Glühen.

Als Emma das Fenster öffnete, verschlug ihr die Kälte fast den Atem. Gegenüber ihrem Fenster stand die alte Tanne, die das Pfarrhaus von weit her sichtbar überragte. Die schneebedeckten Äste hingen schwer zu Boden und hoben sich matt leuchtend von der Dunkelheit ab. Der Schnee lag seit Tagen knöcheltief und dämpfte die frühmorgendlichen Geräusche. Rasch schloss Emma das Fenster wieder, nahm ihre Lampe und verliess leise ihr Zimmer.

Die Öllampe vermochte nicht alle Winkel auf ihrem Weg zur Küche zu erhellen. Emma zog unwillkürlich den Kopf ein. Hinter jeder Ecke schien heute eine dunkle Gestalt zu lauern. Eilig lief sie auf die Küchentür zu und blieb dann abrupt stehen, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie wagte kaum mehr zu atmen. Ein Kratzen. Stille. Ein vorwurfsvolles Miauen riss Emma aus ihrer Erstarrung.

«Jesses Tigi!», flüsterte Emma erleichtert.

Rasch ging sie zur Hintertür und schob den schweren Riegel zurück. Ein Schwall trockener Winterluft wehte den hungrigen Kater in die Küche. Es störte ihn nicht, dass der Rest der Milch vom Vortag in seiner Blechschüssel gefroren war. Er leckte gierig, als hätte er seit Tagen nichts mehr gefressen.

Als die ersten Flammen im Herd aufloderten und sich langsam Wärme ausbreitete, verschwanden die letzten Irrlichter des Alptraumes aus Emmas Gedanken.

Die rohen Bretter der Kellertreppe knarzten unter Emmas Füssen, als sie hinabstieg, um frische Milch zu holen. Sie hörte oben im Haus Schritte. Vermutlich begab sich Frau Pfarrer auf den Abort. Seit sie in anderen Umständen war, litt sie am Morgen oft an Übelkeit. «Ganz recht», dachte Emma schadenfroh.

Emmas Freundin Anna hatte ihr kürzlich erzählt, dass diese Übelkeit so drei oder vier Monate dauern könne. Ihre grosse Schwester Kathrin hatte das einmal erzählt. Von der älteren Generation durfte man derlei Erklärungen nämlich kaum erwarten. Emma hatte vor Jahren einmal ihre Mutter gefragt, wieso sie denn einen so dicken Bauch habe. Die Mutter hatte beschämt geantwortet, sie hätte eben viele Taschentücher vorne in ihrer Schürze. Erst als der kleine Bruder auf der Welt und die Mutter wieder schlank war, begann Emma langsam zu begreifen, dass das ein ganz heikles Thema war.

Emma ging die Treppe wieder hoch und schloss die quietschende Tür. Zurück in der Küche schnitt sie Brot in Scheiben und setzte Kaffee auf. Glücklicherweise gab es im Pfarrhaus nicht auch noch jeden Tag zum Frühstück Rösti wie bei so vielen Leuten im Dorf. Obwohl Emma Rösti nicht ungern mochte. Das Wasser war inzwischen heiss geworden. Emma goss es vorsichtig in die pfarrherrlichen Waschkrüge. Doch ehe sie das Schlafzimmer erreichte, hörte sie Schritte.

5. Strenge Sitten

«Oh! Guten Morgen, Herr Pfarrer.» Eine verlegene Röte schoss Emma ins Gesicht.

Pfarrer Karl Wartmann war ein sehr schlanker, gross gewachsener Mann von einunddreissig Jahren mit dichten, dunklen, welligen Haaren und einem modischen Schnauz. Seine Brille sass immer etwas schief auf der Nase. In Emmas Augen war er der attraktivste Mann weit und breit. Er war ein bisschen ein Schussel und oft etwas zerstreut. Aber das fand Emma herzig. Nicht, dass sie etwa keinen Respekt vor ihm gehabt hätte, das nicht, er war schliesslich der Pfarrer und ihr Herr. Aber sie lebte bald fünf Jahre mit ihm unter einem Dach. Sehr viel länger, als Frau Pfarrer mit ihm zusammenlebte.

«Komm, gib mir das Wasser, ich möchte es meiner Frau bringen.»

Kurz darauf setzte sich der Pfarrer mit einem Blick ins Leere an den Küchentisch. Gewiss war er in Gedanken schon wieder bei seinen geistlichen und diakonischen Pflichten. Tigi miaute inzwischen schon ziemlich gereizt und strich Emma auffordernd um die Füsse. Er war eindeutig der Meinung, dass das Restchen gefrorene Milch für einen hungrigen Kater nicht reichte, besonders nach einer langen und kalten Winternacht.

Aber Emma hatte jetzt nur Augen für den Pfarrer. «Das Frühstück ist fast parat, Herr Pfarrer … äh … kommt Frau Pfarrer auch?»

«Nein. Sei so gut und bring ihr nachher ihren Tee und zwei Scheiben Brot ans Bett.»

«Selbstverständlich.» Emma senkte den Blick. Sie hasste es, die Schlafkammer der Herrschaft zu betreten, und noch mehr widerstrebte es ihr, die holde Lina im Bett zu bedienen.

«Hast du es heute früh auch gehört, Emma? Irgendjemand hat geschrien.» Der Pfarrer schaute sein Mädchen fragend an.

«Äh, nein … nein, ich habe nichts gehört.»

«So so so. Na, dann habe ich wohl geträumt. Oder es war am Ende gar nur ein Käuzchen …»

Der Pfarrer sass wieder schweigend am Tisch und starrte Löcher in die Luft. Emma beobachtete ihn verstohlen, während sie die heisse Milch in einen Krug goss.

Der Pfarrer war sich ihrer Verehrung bestimmt nicht bewusst, wenngleich Emma mit ihrer Schönheit und Anmut fast jeden Mann in Altikon in Versuchung hätte führen können.

Pfarrer Wartmann hatte nicht besonders viel Erfahrung mit Frauen, er war nämlich erst seit ein paar Monaten verheiratet. Er betete seine Lina an, obwohl sie weder Schönheit noch Anmut zu bieten hatte und auch keine Ahnung von Haushaltsführung hatte. Dafür war sie gebildet. Pah! Als ob das zählte. Vor der Eheschliessung wohnte die Mutter des Pfarrers noch im Haus und leitete den Haushalt. Dass eine junge Frau sich nach ihm verzehrte, durfte sich Pfarrer Wartmann ganz einfach nicht vorstellen. Die häufige Verlegenheit seiner Dienstmagd fiel ihm gar nicht auf. Und da es sich nicht gehörte, dass die Herrschaft mehr als das Nötigste mit ihren Bediensteten sprach, wusste er auch kaum etwas Persönliches über sie.

Der Tisch war fertig gedeckt und Emma legte noch ein Scheit ins Feuer. Als sie den dampfenden Krug mit dem Milchsieb obendrauf auf den Tisch stellte, wäre sie fast über Tigi gestrauchelt, der immer noch um ihre Beine strich. ­«Go­­pfridstutz Tigi!», schimpfte Emma unterdrückt.

«So so so! Komm, setz dich doch heute zu mir an den Tisch. Du hast ja auch noch nichts gegessen, nehme ich jedenfalls an.»

«Aber Herr Pfarrer … Ich kann doch nicht …», stotterte Emma verlegen.

«Keine Ausreden Emma, setz dich zu mir und iss etwas!»

Emma wagte nicht mehr zu widersprechen. Insgeheim freute sie sich sogar über diesen Erfolg. Wenn das Frau Wartmann wüsste! Normalerweise ass Emma frühmorgens zuerst und bediente dann ihre Herrschaft. Mittag- und Abendessen trug sie im feinen Esszimmer auf, sodass sie in Ruhe in der Küche essen konnte. Sie war jeweils ganz froh, ungestört zu sein.

Das Frühstück verlief schweigend. Emma brachte vor Verlegenheit kaum eine Scheibe Brot hinunter. Tigi hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es vorläufig nichts mehr zu fressen gab und putzte sich nun ausgiebig. Nach dem Essen zog sich Herr Wartmann in sein Studierzimmer zurück. Emma räumte den Tisch ab. Dann richtete sie das Frühstück für Frau Wartmann auf einem Holztablett, ging damit zu deren Kammer und klopfte zögerlich.

«Herein», kam es gedämpft von drinnen.

Emma hielt den Atem an und öffnete die Tür. «Guten Morgen Frau Pfarrer.» Der gewohnt penetrante Duft von Rosenparfüm schlug ihr entgegen.

Frau Wartmann sass aufrecht in ihrem Bett und schaute missbilligend drein. Ihr Gesicht war bleich, die Nase wirkte noch spitzer als sonst und ihre Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Aber ihre Nachthaube sass ordentlich auf dem Kopf, darunter lugte ihr langes braunes Haar hervor. Wortlos verfolgte sie Emmas Bewegungen, die ein kleines Holztischchen über ihren Beinen platzierte. Als sie etwas zögernd das Tablett mit dem Frühstück daraufstellen wollte, entglitt ihr der Teller mit den Brotscheiben. «Oh, Entschuldigung», stammelte sie. Eilig legte sie das Brot wieder zurück auf den Teller, doch blieben auf der Decke ein paar Brotkrümel zurück. Frau Pfarrer sagte keinen Ton, schaute dem nervösen Treiben nur abschätzig zu.

Emma wollte sich rasch zurückziehen, als Frau Wartmann schneidend sagte: «Emma, es schickt sich überhaupt nicht, dass du mit dem Herrn Pfarrer zusammen am Tisch sitzt. Das kommt nicht noch einmal vor, verstanden!»

Anders als ihr braver Ehemann hatte seine Gattin rasch bemerkt, dass Emma für ihren Herrn mehr empfand, als schicklich war, und die heimliche Leidenschaft des Mädchens reizte natürlich ihre Eifersucht.

Emma fühlte, wie Ohnmacht in ihr aufwallte, der Zorn trieb ihr die Röte ins Gesicht. Was hätte sie denn machen sollen? Dem Pfarrer widersprechen? Woher wusste diese Zwetschge das überhaupt?

Widerworte waren undenkbar. So blieb Emma ihrer Herrin eine Antwort schuldig, was fast ebenso unverschämt war. Mit gesenktem Blick verliess sie rasch die Kammer. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss.

«Dass du mir so schnell wie möglich diese Bettwäsche wechselst. Und vergiss die Nachttöpfe nicht!», rief ihr Frau Pfarrer noch nach.

Emma litt wie ein geschlagener Hund, seitdem ihr Herr seine junge Gemahlin ins Haus gebracht hatte. Früher, mit der Mutter des Herrn Pfarrer, war es so harmonisch gewesen. Mutter Wartmann war fast ein bisschen ein Mutterersatz geworden und jetzt vermisste sie die ältere Frau schmerzlich. Damals lebte Emma in der Illusion, dass ihr Herr Pfarrer niemals heiraten würde. Und falls doch irgendwann, dann sie, Emma Bachmann. Besser gesagt Emma Wartmann … Das tönte doch gut. Sie hätte ihm so gerne eine Schar gesunder Kinder geschenkt und nur ihm persönlich sein Mittagessen gekocht. Die Eifersucht frass Emma manchmal fast auf. Sie wusste nicht, ob sie unter diesen Umständen noch lange hier bleiben konnte.

Emmas Eltern waren einfache Bauersleute aus dem Zürcher Oberland und sie hatte sechs Geschwister. Das heisst, als sie ihre Familie vor ein paar Jahren verlassen hatte, waren es sechs. Gut möglich, dass es inzwischen noch ein paar mehr waren. Sie hatte alle schon lange nicht mehr gesehen. Es gab nicht viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit. Am liebsten dachte sie nicht über die Schläge und die Demütigungen nach, die sie zu Hause erlitten hatte. Der Vater hatte oft dem Schnaps zugesprochen. Darob hatte er seine Arbeit auf dem Hof und die Familie vernachlässigt. «Aber irgendwann muss man seinen eigenen Weg einschlagen», dachte Emma. Ihre Mutter hatte kaum eine Wahl gehabt. Emma schon. Wie es ihrer Mutter wohl ging? Emma war bereits mit vierzehn in einen Haushalt am Zürichsee gegangen. Sie hatte viel gelernt bei dieser Stelle, aber fast noch mehr gelitten. Ein Jahr später ging sie dann nach Zürich, wo sie blieb, bis sie 1901 zu Pfarrer Wartmann kam.

Am besten wäre es wohl, dachte Emma zum x-ten Mal, wenn sie bald heiraten würde. An Freiern mangelte es ihr ja beileibe nicht. Bisher hatte sie in ihrer Hingabe zum Pfarrer aber alle Avancen aus dem Dorf zurückgewiesen. Auch gab es jetzt nicht gerade einen, der Emma wirklich überzeugt hätte. Schon gar nicht Fritz, der ihr seit Langem nachstellte. «Ein bisschen Niveau sollte er schon haben», dachte sie hochmütig.­

Der restliche Vormittag verlief wie gewohnt mit Hausarbeiten. Frau Pfarrer bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Erst zum Mittagessen erschien sie, verlor aber kein weiteres Wort mehr über den Vorfall am Morgen.

6. Anna Müller

Gleich unterhalb des Restaurants Kreuzstrasse, in einem Haus ganz nah an der Strasse zur Thur, wohnte die 21-jährige Anna Müller mit ihrer Familie. Die Müllers waren Bauern, Anna und ihre drei Brüder arbeiteten in Haus und Hof mit. Die älteste Müllerstochter hatte bereits ihre eigene Familie und wohnte nicht mehr im Dorf.

Kurz vor dem Mittagessen war Anna allein in der Küche beschäftigt. Sie war schlank, aber etwas grösser und kräftiger als andere Frauen. Ihre Schultern waren vielleicht eine Spur zu breit und ihre Hände fast so stark wie die eines Mannes. Ihre blonden langen Haare trug auch sie nach alter Väter Sitte im Alltag zu Zöpfen geflochten. Manchmal, an einem Sonntag, liess sie ihre Haare schon auch mal offen. Sollten die Leute doch reden! Sie war zwar ein tüchtiges Mädchen, das ihrer Mutter fleissig zur Hand ging, aber brav hätte sie dennoch niemand genannt. Anna hatte etwas Keckes und konnte ziemlich direkt sein. Manchmal benahm sie sich ganz bewusst anders, als man es von einer jungen Frau erwartet hätte und brüskierte damit gerne die Leute. Und ab und an auch ihre beste Freundin Emma. «Es täte Emma überhaupt gut, wenn sie etwas frecher würde», dachte Anna übermütig.

Das Feuer flackerte im Herd und verbreitete eine angenehme Wärme. Am Morgen war es bissig kalt gewesen, als sie ihren Kaninchen die Ställe ausgemistet hatte. Eine der Häsinnen hatte ihr Nest seit ein paar Tagen fertig, der Nachwuchs würde also nicht mehr lange auf sich warten lassen. Hoffentlich mussten die Kleinen dann nicht frieren. Die ­Häsin Bäbeli­ hatte als Mutter aber schon Erfahrung, da würde sicher alles rundlaufen, dachte Anna zuversichtlich. Sie freute sich auf die Jungen immer wieder aufs Neue. Daran, dass sie die Tiere irgendwann dem Metzger geben musste, wollte sie jetzt nicht denken. Den Batzen, den sie mit den Kaninchen verdiente, konnten sie auf jeden Fall gut gebrauchen.

Der Geruch von Zwiebeln und Schweineschmalz lag in der Luft und liess Annas Magen knurren. Endlich waren Poltern und Schritte zu hören. Anna rührte noch einmal in der Restensuppe und wappnete sich innerlich für das Mittagessen. Letztes Jahr hatte sie bei einer Bauernfamilie in Feldi im Haushalt geholfen, als da das zweite Kind zur Welt kam. Die Erinnerung an angeregte Gespräche am Mittagstisch, an freundliche Worte zwischen den Eheleuten und sogar für sie und das ältere Kind liessen Anna damals nachdenklich werden.

Anna wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihre beiden Brüder in die Küche stürmten. Adolf, der jüngste, rempelte Heinrich an, der vor ihm ging. «Menü eins bitte, Fräulein!», rief Heiri fröhlich. Dann liess er seinen Ellbogen kurz zurückschnellen, sodass Adolf, in den Bauch getroffen, aufstöhnte. Über Heiris Gesicht zuckte ein triumphierendes Lächeln.

«Habt ihr euch die Hände gewaschen?», fragte Anna und schaute Adolf in einer fast mütterlichen Art an.

«Ähm …»

«Pfui! Das nächste Mal verköstige dich bitte im Kuhstall, oder noch besser bei den Schweinen!»

«Adolf, Heiri! Marsch, die Hände waschen!», befahl der Vater, der soeben in die Küche getreten war, mit seiner kräftigen Stimme. Die beiden Burschen gehorchten und verliessen wortlos die Küche.

«Hoi Anna», sagte Vater Müller knapp. Er zwängte sich schnaufend auf die Eckbank hinter den Tisch und beobachtete aufmerksam, wie Anna die grosse Pfanne mit der Suppe auf den Tisch stellte. Jakob Müller senior war ein stämmiger Mann, sein dichtes Haar war erst von wenigen weissen Strähnen durchzogen und er trug wie die meisten Männer einen üppigen Schnauz. Seine kräftigen Hände waren rau von der harten Arbeit und seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Sie konnten zupacken, aber im Umgang mit den Tieren zeigte er eine überraschende Sanftheit. Anna mochte ihren Vater, wenn sie auch gehörig Respekt vor ihm hatte. Da er nicht viel sprach, war man nie so ganz sicher, woran man bei ihm war.

Annas Mutter war inzwischen ohne ein Wort des Grusses zu Tisch gekommen. Sie sass still auf ihrem alten Holzstuhl und schaute mit ausdruckslosem Gesicht an ihrem Gatten vorbei an die gegenüberliegende Wand. Die roten Hände mit den krummen Fingern hatte sie vor sich auf der Tischkante wie zum Gebet gefaltet.

«Wo ist Jakob?», fragte die Mutter, während sich die beiden Buben mit nun sauberen Händen an den Tisch setzten.

«Er musste für eine Notschlachtung zum Ehrsam nach Feldi», brummte der Vater. «Wird vermutlich später bei ihm.»

Während dem Essen wurde nicht mehr gesprochen.

Danach blieb Anna allein mit dem schmutzigen Geschirr zurück. Sie räumte Teller und Besteck vom Tisch vorsichtig in den Blechzuber. Das Wasser über dem Feuer war während des Mittagessens dampfend heiss geworden. Trotzdem legte Anna gleich nochmals ein Scheit ins Feuer, sodass die Flammen herrlich aufloderten. Wenn das die Mutter sähe! «Sparen sollte ich, vor allem auch beim Brennholz. Ach was, ich lasse mich einfach nicht erwischen», dachte Anna trotzig und schloss das eiserne Ofentürchen. Sie streute etwas Soda über das schmutzige Geschirr und goss das heisse Wasser darüber. Annas Mutter kam mit einem frischen Tuch in der Hand in die Küche zurück und begann, das Geschirr abzutrocknen.

«Samuel war eben hier. Frau Erni hat heute grosse Wäsche … Du weisst ja, wie Frau Erni ist.» Die Stimme der Mutter klang wie immer eintönig. Dieses Monotone reizte Annas Widerspruchsgeist, es machte sie ganz nervös. Sie fragte sich manchmal, von wo sie selbst ihre Quirligkeit und Fröhlichkeit hatte. Wäre sie in einem Krankenhaus zur Welt gekommen, hätte sie vermutlich darauf getippt, als Säugling verwechselt worden zu sein.

Ja, Anna wusste, wie Frau Erni war: Immer knapp am Rand eines Nervenzusammenbruches. Sie fragte sich zum ­x-ten Mal, was Herr Erni an dieser Frau gefunden hatte, als er sie vor ein paar Jahren geheiratet hatte. Samuel, der Sohn aus erster Ehe von Burkhard Erni, war inzwischen zwanzig und seit Kurzem arbeitete er wieder in Altikon bei seinem Vater als Handlanger. Sämi hatte zwar eine Lehre als Schuhmacher abgeschlossen, aber dies vor allem auf Wunsch seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte gemeint, er müsse sich schonen und dürfe es nicht so streng haben wie sein Vater, der Hufschmied war. Aber Sämi hatte keine Freude am Schuhe machen und flicken. Sämi und Anna waren zusammen zur Schule gegangen und hatten sich immer gut verstanden. Seit er wieder im Dorf war, sahen sie sich ab und zu, aber jedes Mal nur von Weitem. «Eigentlich schade», dachte Anna, denn auch auf Dis­tanz konnte sie nicht übersehen, dass Sämi inzwischen ein attraktiver und kräftiger Bursche geworden war.

«Geh nachher hinüber und hol die beiden Gofen, damit sie nicht im Weg stehen. Sie sollen dir mit den Hühnern helfen», leierte die Mutter vor sich hin. Anna erinnerte sich nicht, ihre Mutter jemals richtig lachen gesehen oder gar gehört zu haben.

«Ja Mutter», sagte Anna und versuchte, ihre Freude über die Abwechslung mit den Kindern nicht zu deutlich zu zeigen. Irgendwie wurde sie den Eindruck nicht los, dass sie die Schuld an Mutters Kälte und Teilnahmslosigkeit trug. Auch wenn ihr eigentlich kein Grund dafür einfiel. Doch brauchte es überhaupt einen Grund? Es war halt, wie es war. Als der Abwasch beendet war, zog sich die Mutter in ihre Kammer zurück, um sich etwas hinzulegen. Sie hatte ein böses Bein, eine offene Wunde, die nicht heilen wollte und ihr seit Jahren Beschwerden bereitete.

7. Elefantengedächtnis