Mörderisch verstrickt - Ein Strickclub ermittelt - Susanne Oswald - E-Book + Hörbuch
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Mörderisch verstrickt - Ein Strickclub ermittelt Hörbuch

Susanne Oswald

5,0

Beschreibung

Susanne Oswald kombiniert Cosy Crime mit Strickromantik

Im Strickladen »Strickschick« von Mette treffen sich einmal pro Woche vier Menschen aus Lüttjekoog, einem kleinen Ort an der Nordseeküste, um gemeinsam zu stricken. Für alle ist die Gruppe zur zweiten Heimat geworden, ihren persönlichen Problemen zum Trost. Das Motto der Strick-Crew: Zusammen strickt man weniger allein! Als Pfarrerin Anne in ihrer Kirche überfallen wird und kurz darauf ein Mord geschieht, entscheiden die vier dem Verbrechen selbst auf die Spur zu gehen. Besonders Mette ermittelt begeistert – und das nicht immer legal. Können sie den Schatz aus dem Watt retten und den wahren Täter überführen? Susanne Oswald erweitert die Welt des kleinen Strickladens: Jetzt wird es kuschlig kriminell an der Küste!

Ein Kriminalroman für wunderbare Lesestunden, inklusive tollen Strickanleitungen, viel Wohlfühlatmosphäre und liebenswerten Charakteren.

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Zeit:7 Std. 38 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Anja Taborsky

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Zum Buch:

»›Wenn wir dir helfen sollen, müssen wir wissen, welchen Geist du gesehen hast‹, forderte sie.

Bei ihren letzten Worten zuckte Gustavsen so heftig zusammen, dass ihm die Tasse aus den Händen rutschte. Mit lautem Klirren zerbarst sie in tausend Teile. Mette eilte nach hinten und kam mit Eimer und Lappen wieder.

›Wenigstens bringen Scherben Glück‹, meinte sie lakonisch. ›Deinem Gesichtsausdruck nach ist das wohl kein Schaden. Jetzt komm, Gustavsen, mach es nicht so spannend.‹

›Der Mann ist tot‹, kam es endlich fast tonlos über Gustavsens Lippen.

›Der Mann?‹, kam es zweistimmig von Anne und Brunhilde.

›Hat das was mit dem Überfall zu tun?‹, wollte Mette aufgeregt wissen. ›Was ist passiert? Wo ist der Tote?‹

›Im Boot.‹«

Susanne Oswald sorgt in diesem charmanten Cosy Crime für die perfekte Mischung aus Nervenkitzel und Strickromantik.

Zur Autorin:

Susanne Oswald ist Bestsellerautorin – ihr Traum wurde wahr. Die gebürtige Freiburgerin liebt das Meer. Gemeinsam mit ihrem Mann am Strand spazieren zu gehen und den Abend vor dem Kamin mit Strickzeug auf dem Schoß ausklingen zu lassen ist für sie das Schönste. Mit dem Kopf ist sie fast immer bei ihren Heldinnen und Helden, und es macht sie glücklich, ihre Fantasie Wirklichkeit und Buchstaben zu Geschichten werden zu lassen.

Susanne Oswald

Mörderisch verstrickt

Ein Strickclub ermittelt

Kriminalroman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von Büro Süd GmbH, München

unter Verwendung von Shutterstock

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN9783749908882

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für wollverrückte Spürnasen, die auch beim Ermitteln die Maschen nicht fallen lassen.

Kapitel 1

Der Tote im Boot

Mette

»Wieso vereinbaren wir eigentlich keine feste gemeinsame Strickzeit?«, hatte Brunhilde vor ein paar Jahren gefragt, nachdem sie und Anne sich in Mettes Strickecke gerade wieder einmal knapp verpasst hatten.

Mette hatte die Idee sofort begeistert aufgegriffen. »Du hast total recht! Wieso bin ich da nicht längst selbst drauf gekommen? Ein Stricktreffen einmal die Woche wäre fantastisch. Und den Rest der Zeit lassen wir es weiter so flattern wie bisher – jeder kommt und geht, wie er kann und mag.«

»Klingt toll«, hatte auch Anne kurz darauf zugestimmt. »Lasst uns das machen. Mette setzt sich dazu, wenn der Betrieb es zulässt.«

Das Strickschick war nicht nur der Treffpunkt für den Strickclub, sondern Mettes Herzensprojekt. Es war viel mehr für sie als nur ein Wollgeschäft. Hier hatte sie all ihre Liebe, Kraft und auch das gesamte Erbe hineingesteckt. Und das zeigte Wirkung. Wenn man in den Laden kam, betrat man eine andere Welt.

Genau dieses Gefühl hatte Mette sich bei der Planung und Gestaltung erhofft und genau so beschrieben es die Kunden immer wieder.

Nach dem Besuch des Ladens traten sie regelmäßig mit einem seligen Strahlen im Gesicht ins Freie. Da konnte es stürmen oder Aale und Flundern regnen, mit der richtigen Wolle in der Tasche und einem neuen Strickprojekt im Kopf war alles halb so schlimm.

Gemütlichkeit, ohne dabei die Arbeitsabläufe zu sehr auszubremsen, das war Mettes Themenschwerpunkt bei der Planung der Ladenräume gewesen. Sie wollte keinen schnellen Einkauf ermöglichen, sondern wertvolle Me-Time schenken. Die Kundinnen und Kunden sollten sich wohlfühlen, sich Zeit lassen und den Besuch bei ihr als Wellness für die Seele erleben. Deshalb gab es überall in den Verkaufsräumen Sitzgelegenheiten. So konnte man sich in aller Ruhe mit dem Angebot beschäftigen, die Wolle auf sich wirken lassen und dabei über neue Strickprojekte nachdenken.

Und dann war da noch der Bereich mit Sofa, Sesseln und einem kleinen Tisch. Hier konnte Mette auch während der Öffnungszeiten sitzen und handarbeiten und war für die Kunden dennoch erreichbar. Da das Stricken für sie zum Job gehörte, war es ihr wichtig gewesen, diese Möglichkeit zu haben. In dieser Sitzecke war der Startschuss für ihren kleinen, aber feinen Strickclub gefallen.

Nach kurzer Beratung hatten sie sich auf Donnerstagnachmittag geeinigt. Zu dieser Zeit hatte Anne keine Verpflichtungen in der Pfarrei. Lüttjekoog war ein kleiner Ort. Aufgrund der geringen Zahl der Gemeindemitglieder hatte sie nur eine halbe Stelle als Pfarrerin – was ihr sehr entgegenkam, denn sie wollte auch für ihre Aufgabe als Mutter genug Zeit haben. Es ging ihr nicht anders als allen anderen alleinstehenden, berufstätigen Frauen. Sie musste viel organisieren und immer flexibel sein, wenn etwas Unvorhergesehenes ihre Aufmerksamkeit forderte. Das war schon so, als sie noch verheiratet gewesen war, von daher hatte der neue Status »geschieden« in diesem Punkt keine Veränderung gebracht.

Bei Rainer konnte sie sich seit Langem nur darauf verlassen, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnte – alles andere war unberechenbar.

Nur gut, dass Anne Mette als wunderbare Freundin an ihrer Seite hatte. Wann immer es ihr möglich war, sprang sie ein, um Anne zu unterstützen. Zum einen, weil sie das als ihre Freundin sowieso getan hätte, zum anderen aber auch, weil sie die Taufpatin von Ole und Lena war. Anne hatte sie gefragt, und für Mette war es eine Ehre gewesen, diese Aufgabe für beide Kinder zu übernehmen. Es erfüllte sie mit Glück, auf diese Weise mit diesen beiden wundervollen jungen Menschen verbunden zu sein.

Mette bewunderte Anne sehr und fand, dass sie eine fantastische Mutter war. Manchmal sagte sie zu ihr: »Möchtest du mich nicht adoptieren? Ich wäre wirklich gern auch deine Tochter.« Und Anne erwiderte jedes Mal: »Verrücktes Huhn. Eine zweite Tochter brauche ich nicht, aber du kannst mir ja einen Heiratsantrag machen. Dann denke ich drüber nach.« Und dann lachten sie beide bei der Vorstellung, wie besonders die älteren Gemeindemitglieder bei einer solchen Entscheidung vor Entsetzen von den Stühlen kippen würden.

Abgesehen davon stand einer derartigen Entwicklung ein sehr wesentlicher Fakt entgegen: Weder Anne noch Mette interessierten sich über eine reine Freundschaft hinaus für Frauen.

Um nachmittags für ihre Kinder da sein zu können, legte Anne die meisten beruflichen Termine auf die Vormittage. Abgesehen von der Chorprobe am Freitagabend und den Zeiten mit nachmittäglichem Konfirmationsunterricht klappte das auch sehr gut. Annes Kinder hatten donnerstags immer Karatetraining, von daher passte dieser Termin perfekt für das Stricktreffen. Auch für Brunhilde. Ihr Friseursalon Wilde Welle war montags und donnerstagnachmittags geschlossen. Dafür hatte sie mittwochs den ganzen Tag geöffnet – was eher ungewöhnlich war, die meisten Läden in Lüttjekoog hatten mittwochnachmittags geschlossen. So wie es früher auf dem Land üblich gewesen war. Hier an der Nordseeküste, nicht allzu weit von der dänischen Grenze entfernt, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Wer länger geöffnete Geschäfte wollte, musste nach Husum oder nach Flensburg fahren.

Brunhilde hatte in Bezug auf ihre Arbeitszeiten friesisch eigenwillige Ansichten. Nicht nur, dass sie mittwochs für das Personal aus dem Einzelhandel da sein wollte. Samstags fing sie offiziell bereits um sechs Uhr an, Haare zu schneiden. Inoffiziell trafen sich besonders die Kerle oft schon ab fünf bei ihr im Salon. Sie kochte immer eine große Kanne Kaffee und stellte eine Keksdose auf den Tisch. So konnten die Nordfriesen mit frisch geschorenem Haupt und einem morgendlichen Schnack ins Wochenende starten.

Ihre vierwöchentlichen Vollmondsessions von 20 Uhr bis Mitternacht waren dagegen meist den Damen vorbehalten. Dann gab es Sekt und Schnittchen, und die Frauen verbrachten eine gemütliche Zeit miteinander, während sie sich von Brunhilde verwöhnen ließen. Ein Mann verirrte sich um diese Zeit nur selten in den Salon – und wenn doch, dann durfte er für diesen einen Abend Hahn im Korb sein. Je nachdem, wer es war, wurde er entweder von der weiblichen Kundschaft umgarnt oder ausgequetscht.

Bei Vollmond geschnittene Haare sollten laut Brunhildes Mondkalender besonders kräftig und voll werden. Es hieß auch, dass die in diesen Nächten aufgetragene Farbe vom Haar besser angenommen wurde und länger hielt. In Vollmondnächten hatte die Wilde Welle dementsprechend immer Hochbetrieb.

Abgesehen von ihrem kleinen Mondspleen und ihrem Hang zu schrillen Neonfarben war Brunhilde eher traditionell eingestellt, weshalb sie ihren Salon grundsätzlich montags geschlossen hielt. Das hatten Friseure, so weit sie zurückdenken konnte, schon immer so gemacht.

Die wöchentlichen Treffen des Strickclub-Trios waren sehr schnell sehr viel mehr für sie alle geworden als nur gemeinsame Zeit mit Wolle und Nadeln. Ihre Freundschaft hatte sich spürbar vertieft. Sie waren füreinander da, unterstützten sich und hatten immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Probleme der anderen. Ganz egal ob es um lästigen Alltagskram ging oder um so existenzielle Angelegenheiten wie Brunhildes Sehnsucht nach ihrem Sohn, der in London lebte, oder Annes Entschluss, endlich die Scheidung einzureichen, nachdem sie beim Wäschewaschen wieder einmal die Quittung einer Hotelbar in Rainers Hosentasche entdeckt hatte. Champagner und Kaviar! Dieser Mistkerl machte sich nicht einmal die Mühe, seine Seitensprünge geheim zu halten. Fast schien es, als hätte er es darauf angelegt, enttarnt zu werden.

Die Wollknäuel in Mettes Regalen hatten im Laufe der Jahre schon vieles gehört – das Wunderbare war: Sie konnten schweigen.

Inzwischen gehörte auch Gustavsen zu ihrem Strickclub. Nachdem er seinen Mann Thies verloren hatte und fast im Kummer ertrunken war, hatte er sich ihnen angeschlossen. Sie hatten ihm Nadeln und Wolle in die Hand gedrückt und gezeigt, was man damit anstellen konnte. Gustavsen war ein Naturtalent in Sachen Handarbeit. Diese großen Hände hielten mit ganz selbstverständlicher Leichtigkeit die kleinsten Nadeln und führten sie bald schon sehr sicher. Sie konnten miterleben, wie ihr trauernder Freund Masche für Masche sein Herz wieder zusammenstrickte.

Anfangs hatte er kaum gesprochen, der Kummer über seinen Verlust hatte ihm die Lust auf Worte geraubt. Im Laufe der Monate hatte er neuen Lebensmut gefunden. Eine Quasselstrippe war er noch immer nicht, aber hin und wieder konnte er sogar lachen.

Gustavsen führte den Bootsverleih am Lüttjesee. Der See beim Deich in direkter Nachbarschaft zur Nordsee war ein beliebtes Ausflugsziel. Hier schipperten Tretboote und Ruderboote kreuz und quer, und es gab von der Tide unabhängige Bademöglichkeiten. Bei Ebbe war es immer sehr voll, während sich bei Flut ein Teil der Badegäste für den großen Pool hinter dem Deich entschied und zwischen Wattwürmern und wuselnden Krabben in der Nordsee schwamm und sich von den Wellen schaukeln ließ.

Während der Saison hatte Gustavsen immer viele Menschen um sich. Abgesehen von den Treffen mit Mette, Anne und Brunhilde war er aber sehr einsam. Der Strickclub war sein Rettungsboot, dessen war Mette sicher. Und sie war voller Dankbarkeit, dass sie Teil des Gefüges sein durfte, das ihm Halt gab.

Sie hatte eine Spruchkarte eingerahmt und neben ihrem Strickplatz aufgehängt: Zusammen strickt man weniger allein.

Diesem Motto getreu nutzten die vier auch abseits der donnerstäglichen Treffen jede Möglichkeit, um gemeinsam zu stricken und zu schnacken.

Nach sehr aufregenden vergangenen Tagen für die Lüttjekooger Freunde saßen Mette, Anne und Brunhilde an diesem Montagvormittag zu dritt im Strickschick. Brunhilde hatte gerade eine ihrer im Salon aufgeschnappten Geschichten aus der Nachbarschaft zum Besten gegeben, woraufhin sie alle in lautes Lachen ausgebrochen waren. Das tut gut, dachte Mette. Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen, als ihr etwas einfiel. »Sagt mal, wollen wir Gustavsen schreiben, dass wir hier sind? Es regnet, da läuft im Bootsverleih doch sowieso nichts.«

»Gute Idee. Machst du?«, bat Brunhilde.

Schon zückte Mette ihr Handy und tippte.

Moin, Gustavsen. Wir haben hier gerade ein spontanes Stricktreffen. Hast du Lust und Zeit?

Sie hatte gerade auf Senden getippt, da wurde die Tür ihres Ladens so heftig aufgerissen, dass die Türklingel sich überschlug.

»Das nenne ich mal eine prompte Reaktion«, kommentierte Mette anerkennend. »Wirst du von stachligen …« Sie stoppte mitten im Satz, als sie Gustavsen sah. Seine Gesichtsfarbe machte den Kreidefelsen auf Rügen Konkurrenz.

»Gustavsen, was ist passiert?«, rief Anne, und Brunhilde sprang auf, hakte sich bei ihm unter und führte ihn behutsam, aber dennoch resolut zum Sofa. Als er keine Anstalten machte, sich zu setzen, drückte sie ihn in das Polster.

»Hier, trink einen Schluck. Das wird dir guttun«, sagte Anne und hielt ihm eine Tasse mit Wintertee hin.

»Und dann spuck es aus. Also nicht den Tee, sondern natürlich, was los ist«, korrigierte Mette schnell, als sie merkte, wie zweideutig ihre Aufforderung geklungen hatte. »Wenn wir dir helfen sollen, müssen wir wissen, welchen Geist du gesehen hast«, forderte sie.

Bei ihren letzten Worten zuckte Gustavsen so heftig zusammen, dass ihm die Tasse aus den Händen rutschte. Mit lautem Klirren zerbarst sie in tausend Teile. Mette eilte nach hinten und kam mit Eimer und Lappen wieder.

»Wenigstens bringen Scherben Glück«, meinte sie lakonisch. »Deinem Gesichtsausdruck nach ist das wohl kein Schaden. Jetzt komm, Gustavsen, mach es nicht so spannend.«

»Der Mann ist tot«, kam es endlich fast tonlos über Gustavsens Lippen.

»Der Mann?«, kam es zweistimmig von Anne und Brunhilde.

»Hat das was mit dem Überfall zu tun?«, wollte Mette aufgeregt wissen. »Was ist passiert? Wo ist der Tote?«

»Im Boot.«

Als die Welt in Lüttjekoog noch in Ordnung war

Wie alles begann

Kapitel 2

Im Watt

Anne

Seit Jahren streifte Anne, wann immer ihr Alltag als Pfarrerin und Mutter es ihr erlaubte, durch das Watt. Sie liebte die Einsamkeit dort draußen. Die Weite und die Musik der Natur. Wenn der Wind rauschte, Möwen schrien und Gänse schnatterten, war das für sie die wundervollste Musik, die direkt in ihr Innerstes reichte. Im Watt fand sie Heilung von Stress, Ärger und den hässlichen Seiten, die das Leben manchmal präsentierte. Hier fühlte sie sich Gott nahe und konnte Zwiesprache mit ihm halten.

In den vergangenen zwei Wochen hatte sie leider keine Gelegenheit gehabt, sich eine Auszeit zu nehmen. Doch heute morgen beim Zähneputzen hatte die Sehnsucht sie wie eine mächtige Welle erfasst. So intensiv, dass sie ganz spontan beschlossen hatte, sich einen kleinen Spaziergang über den Meeresboden zu gönnen. Das Wetter war perfekt dafür! Ein prüfender Blick in den Gezeitenkalender bestätigte ihr, dass die Tide passte. Also hatte sie ihren Rucksack geschnappt und war direkt losgezogen, bevor irgendetwas oder -jemand dazwischenkommen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht einmal ansatzweise geahnt, was dieser Ausflug alles mit sich bringen würde. Sie hatte einfach nur große Lust auf eine frische Meeresbrise und Durchatmen verspürt und ein paar Stunden gehabt, die noch nicht verplant waren. Auf dem Weg zum Strand hatte sie zweimal ein merkwürdiges Gefühl gehabt, als würde sie beobachtet werden. Sie hatte sich umgesehen, doch da war niemand. Also hatte sie es als Spinnerei abgetan und sich nicht weiter damit befasst. Und dann war sie, mitgerissen von ihrer eigenen Begeisterung, viel weiter hinausgewandert, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

Inzwischen befand sie sich wieder auf dem Weg Richtung Strand und sie hatte es eilig. Sie wollte Mette ihre Fundstücke zeigen und konnte es kaum erwarten.

In den tiefen Fußstapfen, die ihre zurückgelegte Route markierten, sammelte sich Wasser. Die Natur eroberte sich ihr Revier zurück. Die nächste Flut würde die Spuren wegspülen. Keine Zeichen würden zurückbleiben, die verrieten, dass ein Mensch sich den Weg über den Meeresboden gebahnt hatte. Und das war auch gut so, denn der Naturpark Wattenmeer sollte nicht von den Spaziergängern, sondern von der Kraft der Gezeiten immer wieder aufs Neue geformt werden und möglichst unberührt bleiben.

Selbstverständlich hinterließ Anne bei ihren vielen Ausflügen ins Watt auch niemals Müll. Ganz im Gegenteil, sie hatte immer eine Tüte dabei und sammelte die Hinterlassenschaften ihrer Mitmenschen ein. Oft kamen die Dinge allerdings nicht von Wattwanderern, sondern von Schiffen. Unfassbar, was das Meer alles zutage brachte. Kanister, Seile, Netze, Schuhe, Plastikschüsseln, Spielzeug und vieles mehr, was man so nicht in den Fluten erwarten würde.

Vergangenen Herbst hatte Anne nach einem Sturm haufenweise Plastikpuppen gefunden – da musste irgendwo auf hoher See ein Container über Bord gegangen sein. Es waren so viele gewesen, dass sie sich Helfer organisiert hatte, um alle einzusammeln. Sie waren mit Wäschekörben losgezogen und hatten über eine weite Strecke den Küstenbereich abgesucht.

Die Puppen hatte sie mithilfe des Seniorenkreises ausgezogen, die Körper gereinigt, die Kleidung gewaschen und alles getrocknet. Dank vieler helfender Hände waren die Fundpuppen bald wieder wie neu und perfekt, um damit an Weihnachten viele Kinderaugen zum Leuchten zu bringen. Sie hatten sie in verschiedenen Kindergärten und auf den Kinderstationen der im Umkreis liegenden Krankenhäuser verteilt. An diese Aktion dachte Anne gern zurück, besonders das Miteinander hatte ihr Herz berührt. Am Ende waren nicht nur die Beschenkten glücklich, sondern auch die Helfer, die das möglich gemacht hatten. Es war also eine Win-win-win-Situation gewesen, denn es gab noch einen dritten Gewinner und das war die Nordseeküste. Durch das Einsammeln des Plastiks hatten sie aktiven Naturschutz betrieben. Solch ein gemeinsames Anpacken und aus etwas vermeintlich Schlechtem etwas Gutes hervorbringen sollte es viel öfter geben. Es würde der Welt guttun.

Erst durch das Miteinander wurde aus einer Ansammlung von Menschen eine Gemeinschaft. Und diese wiederum war nach Annes Überzeugung der Schlüssel für Frieden. Das harmonische und gegenseitig fördernde Gemeinschaftsleben musste im Kleinen beginnen und sich dann ausbreiten, andere anstecken und dadurch immer stärker werden – das zumindest war in Annes Augen das erstrebenswerte Ideal.

Dass die Realität oft eine andere war, bremste sie nicht, machte sie manchmal aber müde. Dann war sie froh, sich mit Wolle und Stricknadeln verkriechen zu können. Irgendwann loderte die Flamme in ihrem Inneren wieder auf und sie fühlte sich für neue Herausforderungen gerüstet.

Neben dem Seniorenkreis hatte Anne für die Puppenrettung auch den Strickclub mit ins Boot geholt. Da ein paar der Puppenkleider durch das Bad im Meer zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hatten sie ihre aktuellen Strickprojekte beiseitegelegt und für neue Jäckchen, Schühchen und Kleidchen gesorgt. Mette hatte die Wolle gespendet, und alle gemeinsam hatten sie die Nadeln geschwungen. Gustavsen, der sonst meist Pullover oder Socken strickte, hatte sich als Spezialist für Puppenschühchen erwiesen. Die Vorfreude auf glückliche Kinder hatte sie beflügelt.

Während Anne sich vorsichtig ihren Weg über den schwierigen Untergrund bahnte, ließ sie ihre Gedanken fliegen. Sie passierte gerade einen Bereich mit sehr nassem Schlick, der ihr beim Auftreten wenig Halt gab.

Das weiche Watt schmatzte, als sie ihr bis zur Wade eingesunkenes Bein herauszog. Beim nächsten Schritt blieb ihr Fuß stecken. Anne verlor das Gleichgewicht. Hektisch ruderte sie mit den Armen, um sich aufzufangen. Doch das rettete sie nicht. Mit einem satten Platschen landete ihr Hintern im Matsch.

Im ersten Moment war sie sprachlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Hin- und hergerissen zwischen Ärger und Belustigung, entschied sie sich ganz ihrem Naturell entsprechend für das Lachen. Übermütig patschte sie mit der flachen Hand auf den durchnässten Untergrund, hob ihr Gesicht dem Himmel entgegen und rief: »Ich hoffe, du hattest deinen Spaß! Aber jetzt ist bitte Schluss damit, ich habe es eilig.«

Für Anne war es ganz normal, mit Gott zu sprechen. Am liebsten hier draußen in der Einsamkeit. Von Angesicht zu Firmament sozusagen. Für sie war er wie ein guter Freund, der sie durch das Leben begleitete, immer an ihrer Seite war und sie lenkte. Allerdings ließ er sich nicht in die Karten schauen, und oft genug verstand sie den Sinn dessen nicht, was am Ende wohl der göttliche Plan war. Aber das war in Ordnung. Sie musste es nicht verstehen, es genügte ihr, darauf zu vertrauen, dass es diesen höheren Sinn gab. Dadurch fühlte sie sich behütet. Die Matschlandung allerdings verbuchte sie unter göttlichem Humor, was letztlich auch wieder einen Sinn ergab. Humor brachte Lachen hervor und sorgte für Leichtigkeit im Leben. Anne seufzte. Vermutlich hatte sie genau deshalb den Schlammplatscher gebraucht.

Obwohl sie gern und oft lachte und oft auch dann noch in sich ruhte, wenn andere längst die Fassung verloren hatten, war es gar nicht so einfach, an dieser Fähigkeit festzuhalten. Nicht wenn die Verantwortung für zwei Kinder – eines davon mit beginnenden pubertären Launen –, der Ärger über den treulosen Ex und die Sorgen der Gemeindeschäfchen manchmal schwer wie Blei wogen.

Entschlossen rappelte sie sich wieder auf, befreite durch kreisende Bewegungen ihren Fuß aus dem Schlick und setzte ihren Weg fort. Die nasse und durchmatschte Kleidung klebte an ihr, aber das störte sie nicht. Wenn sie ins Watt ging, trug sie ohnehin immer strapazierfähige oder bereits in die Jahre gekommene Klamotten, denen eine Schlammpackung nichts anhaben konnte. Und für die Haut war es sogar gut. Andere gaben viel Geld aus für eine Thalasso-Behandlung, wie sie in Wellness-Resorts angeboten wurde. Sie hatte den Luxus frei Haus.

Der Schlickbereich zog sich. Bald keuchte Anne vor Anstrengung, sie kam ins Schwitzen. Aber dessen ungeachtet hastete sie, so schnell sie konnte, voran.

Wenn es nach den Gezeiten ginge, müsste sie sich nicht so beeilen. Und an einem normalen Tag würde sie auch sicher noch eine Zeit lang verweilen und die Freiheit hier draußen bis zum letzten Moment genießen. Seit sie denken konnte, liebte sie das Watt. Es gab so viel zu entdecken. Für Anne war es kaum vorstellbar, dass manche Menschen die Nase rümpften und Watt langweilig oder sogar eklig fanden. Dabei steckte so viel Leben darin. Sie wurde nicht müde, die wuselnden Bewohner zu beobachten und Sandrippel zu bestaunen. Die Natur erschuf die schönsten Kunstwerke und spülte sie im nächsten Moment mit den Wellen wieder fort. Sie beobachtete Mut, Streit, Überlebenskampf und pure Lebensfreude. Genau wie in der Welt im Großen konnte man all das auf den Mikrokosmos Watt spiegeln. Hier konnte Anne Gottes Liebe spüren und fühlte sich ihm so nahe wie sonst nie.

Ganz sicher war er auch heute an ihrer Seite gewesen, als es sie so weit hinausgezogen hatte. Schon nach den ersten Schritten hatte sie fiebrige Aufregung erfasst. Es gab keinen besonderen Grund, aber sie hatte das Gefühl gehabt, als läge etwas Außergewöhnliches in der Luft. Unablässig hatte sie ihren Blick über den Grund wandern lassen, während sie langsam immer weiter gegangen war. Und tatsächlich! Kurz hintereinander hatte sie drei wunderschöne Bernsteine gefunden und sich sehr gefreut. Doch diese Ahnung, dass etwas auf sie wartete, war geblieben, und so hatte sie gar nicht anders gekonnt, als weiter zu suchen, ohne zu wissen, wonach genau sie Ausschau hielt.

Kurz bevor sie letztendlich doch aufgeben wollte, war ihr Blick an etwas hängen geblieben. Unscheinbar, fast nicht zu erkennen. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Aus der Ahnung war Gewissheit geworden.

Was sie heute entdeckt hatte, war ganz sicher eine Sensation und wahrscheinlich der Anfang von etwas Großem. Anne freute sich darauf, bald wieder hierherzukommen und nach weiteren Schätzen Ausschau zu halten. Wenn sich das, was sie vermutete, bestätigte, würde es hier bald von Archäologen wimmeln. Ein solch umfassender Schatz brauchte professionelle und gut koordinierte Ausgrabungen. Sie würde als freiwillige Helferin auf jeden Fall Teil der Truppe sein. Über die App hatte Anne die Koordinaten der Fundstelle auf der Karte markiert. Diese Information würde sie zusammen mit den Funden an das Amt geben. Wenn sie nicht alles täuschte, war hier der Denkmalschutz gefragt. Aber sie hatte da noch eine andere Idee und hoffte auf Zustimmung.

Anne eilte vorwärts. Sie hatte keinen Blick mehr für die Schönheit der Natur, es gab viel zu viel, was sie erledigen wollte. Wenn sie gewusst hätte, was passieren würde, hätte sie Mette überredet mitzukommen. Wobei sie nicht sicher war, ob es ihr auch wirklich gelungen wäre. Leider fand ihre Freundin Watt nicht halb so spannend und toll wie Anne. Selbst schuld. So hatte sie eben diesen vielleicht historischen Moment verpasst.

Bei dem Gedanken daran, Mette gleich ihre Funde präsentieren zu können, machte Annes Herz direkt einen Doppelschlag. Automatisch tastete sie nach ihrem Rucksack, um sich zu überzeugen, dass sie nicht nur geträumt hatte. Sie konnte die Statuette deutlich fühlen und ihr bemerkenswertes Gewicht spüren. Mette würde Augen machen!

Noch ein kleines Stück, dann hatte sie das Schlickwatt hinter sich und das Gehen würde einfacher werden. Der letzte Abschnitt bis zum Strand war dann festes Sandwatt, das war kein Problem mehr.

Zu dem Glücksbeben, das ihren gesamten Körper erfasst hatte, gesellte sich ein unangenehmes Kribbeln hinzu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, das Anne schon auf dem Weg an den Strand gespürt hatte, war zurück. Sie könnte schwören, dass da jemand war. Zweimal drehte sie den Kopf blitzschnell nach hinten, doch sie konnte niemanden sehen. Die Irritation aber blieb und jagte ihr Schauer über die Haut.

»Jetzt sei nicht albern«, schimpfte sie leise mit sich selbst. »Wer soll dich denn hier draußen beobachten und weshalb?« Aber das half auch nicht.

Als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, atmete sie erleichtert auf und beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht sollte sie ihre Bettlektüre überdenken, der in letzter Zeit gehäufte literarische Mord und Totschlag schien ihr nicht zu bekommen. Normalerweise liebte Anne leichte Küstenkrimis mit viel Wohlfühlatmosphäre und ein bisschen Mord. Kirsten, die Buchhändlerin, lachte schon immer, wenn sie kam und nach neuen Büchern Ausschau hielt. »Ich weiß schon«, sagte sie dann. »Viel Cozy, wenig Crime und ganz viel Meer.« Und dann präsentierte sie ihr die neuesten Schätze.

Da Anne aber inzwischen alles gelesen hatte, was an der norddeutschen Küste spielte, war sie seit ein paar Wochen zu den nordischen Krimis übergegangen. Schweden und Island waren als Schauplätze durchaus reizvoll, Anne mochte die wilde Natur dort. Die Krimis waren allerdings, verglichen mit ihrem sonstigen Lesefutter, deutlich düsterer. Toll zu lesen, extrem spannend, teilweise brutal und unerbittlich. Manchmal musste sie beim Lesen innehalten und warten, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Wäre es ein Film, würde sie vermutlich bei einigen Passagen die Augen zumachen, bei Büchern war das leider keine Option. Beim Überblättern verpasste sie teilweise wichtige Informationen, deshalb vermied sie das. Ein Teil von ihr war fasziniert von der Grausamkeit, die ein menschliches Gehirn hervorbringen konnte. Der andere Teil wollte eine Schmusedecke und einen heißen Kakao.

Ihre Krimileidenschaft wurde ihr jetzt hier im Watt gerade zum Verhängnis, denn ihre Fantasie schlug Purzelbäume. Aus dem Gefühl, beobachtet zu werden, wurde zusammen mit vielen spannenden Szenen, die sie gelesen hatte, ein mörderischer Film in ihrem Kopf. Und sie spielte in diesem Streifen die Leiche.

Anne sah sich gefesselt im Watt liegen, hilflos der nahenden Flut ausgeliefert. Ihr Herz pochte heftig. Sie stolperte und wäre beinahe vornübergefallen. »Jetzt ist aber Schluss!«, rief sie sich laut selbst zur Ordnung.

Es gab überhaupt keinen stichhaltigen Grund für derartige Ängste. Das fand alles nur in ihrem Kopf statt. Außerdem war das Watt ganz sicher nicht der beste Ort für einen Verbrecher, sich unbemerkt anzuschleichen. Weshalb sollte er auch? Dass Anne gerade einen Schatz bei sich trug, konnte niemand wissen – sie selbst hatte vor einer Stunde ja noch nichts davon geahnt.

Sie atmete erleichtert auf, da ihre Gedanken sich von dem inneren Krimi hin zum Wattschatz bewegt hatten. Das war sehr viel besser!

Obwohl sie die Fundstücke sicher im Rucksack verwahrt hatte, konnte sie ihr Glück noch nicht fassen. War es wirklich möglich, dass sie das entdeckt hatte, wonach so viele Menschen all die Jahre gesucht hatten? Aber was sollte es sonst sein? Räuber, die ihre Beute hier draußen vergraben hatten? Treibgut? Dann müsste ein Schiff diese wertvolle Fracht vor vielen, vielen Jahren verloren haben. Was auch immer sie sich ausmalte, es schien noch weiter hergeholt als ihre Vermutung.

Frei nach Sherlock Holmes musste man nach Würdigung aller Erklärungsmöglichkeiten und Beweise und nach Ausschluss des Unmöglichen die am wenigsten unwahrscheinliche Lösung als gegeben annehmen. Dann kam man unweigerlich zur richtigen Antwort. Für Anne lautete diese nach mehrfachem Herumwälzen und Hinterfragen demnach wirklich und eindeutig: Rungholt.

Allein den Namen zu denken sprengte fast ihre Brust vor Stolz und Glück. Sie zwang sich, ein paarmal tief einzuatmen, die Luft kurz anzuhalten und dann den Atem mit Schwung aus dem Körper zu pressen, um sich etwas zu beruhigen. Viel half es nicht. Zu der enormen Aufregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, gesellte sich erneut das Gefühl drohender Gefahr. Die Angst, beobachtet zu werden, ließ sich nicht länger abschütteln. Unwillkürlich rieb Anne sich über die Arme.

Kapitel 3

Die frühe Möwe

Mette

Im Takt ihrer Bewegungen atmete Mette tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, während sie Schritt für Schritt sicher setzte. Sie versuchte, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren und nicht an das Geschäft, Termine und Aufgaben zu denken. Diese Zeit hier am Meer gehörte ihr. Es gab nur sie und die Natur.

Möwen zogen kreischend ihre Bahnen über das Watt und stießen dabei ihr heiseres Krächzen aus. Ein paar Schafe hoben die Köpfe und sahen zu ihr herüber. Vermutlich wunderten sie sich – so früh waren Besucher am Deich eher selten. Ein Lamm schrie nach seiner Mutter. Als sie antwortete, rannte es herbei und begann sofort, kräftig mit dem Mäulchen gegen die Zitzen zu stoßen und gierig zu trinken. Das kleine Schwänzchen wedelte wild. Ein paar Sekunden sah Mette lächelnd zu, ohne jedoch ihr Tempo zu verlangsamen.

Zu der Arbeit in ihrem Woll-Laden und ihrer vielen Handarbeit war das Joggen ein sehr guter Ausgleich. So bekamen sie und ihre Golden-Cocker-Retriever-Hündin Ginger Bewegung und frische Luft. Wenn sie es doch nur öfter als nur einmal in der Woche schaffen könnte, sich zum Sport aufzuraffen. Natürlich ging sie jeden Tag mit Ginger vor die Tür. Aber meistens wurden es doch gemütliche Schlenderrunden – zumindest für Mette. Ginger rannte dann immer mehrfach voraus und wieder zurück und hatte am Ende ihrer gemeinsamen Strolchrunden die vielfache Strecke in den Pfoten, auf jeden Fall genug, um zufrieden zu sein.

Für Mettes Probleme mit der eigenen Sportlust gab es auch einen triftigen Grund, denn zu ihrem Leben gehörte leider nicht nur die zauberhafte Ginger mit ihrem großen Bewegungsdrang, sondern auch eine ausgewachsene innere Schweinehündin, die sie Hildur getauft hatte. Der Name kam aus dem Skandinavischen, was zu Mette passte, denn die nordischen Länder, besonders Island, hatten es ihr angetan. Während des Studiums hatte sie sogar überlegt, vielleicht dorthin auszuwandern und sich mit einer Spezialisierung auf Islandpferde und Schafe als Tierärztin selbstständig zu machen. Oder im Zoo in Reykjavik anzuheuern. Sie hatte sich bereits in ihrer Freizeit als Walforscherin oder in den Kolonien der Papageientaucher gesehen. Wissenschaftliche Studien auf dem Papier fand sie zwar dröge, aber das Abenteuer Wissenschaft hautnah am Geschehen – das hätte sie sich sehr gut vorstellen können.

Doch all diese Ideen und Träume hatte sie vor ihrer Reise nach Schottland gehabt. Bevor sie Maighread und deren schnuckligen Laden Wolle & Zeit kennengelernt hatte. Und – was noch entscheidender war – vor dem Tod ihrer Großmutter Käthe. Nur ein paar Wochen nach Mettes Schottlandreise war ihre Oma eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Für Mette war das der erste Abschied innerhalb der Familie, den sie bewusst miterlebte. Beim Tod ihres Opas Friedbert war sie noch ein Baby gewesen, und die Eltern ihres Vaters waren schon vor ihrer Geburt verstorben. Umso härter traf sie dieser Verlust, auf den sie emotional nicht vorbereitet gewesen war.

Das Band zwischen Mette und ihrer Lieblings-Käthe, wie sie ihre Oma immer genannt hatte, war sehr eng gewesen. Ihre Eltern, Hanne und Stefan, hatten immer viel gearbeitet und sich um ihre Karrieren gekümmert. Hanne arbeitete als Frauenärztin in ihrer eigenen Praxis und hatte Belegbetten im Husumer Krankenhaus. Ihr Vater war Architekt – ironischerweise mit Schwerpunkt auf Einkaufszentren, was so überhaupt nicht in ihren verträumten Küstenort passte. Eigentlich hätte er Friesenhäuser entwerfen oder sich auf das Restaurieren alter Gebäude spezialisieren müssen, das wäre die richtige Ausrichtung für Lüttjekoog gewesen. So aber war er ständig auf Dienstreise. Kaum war er mal ein paar Tage zu Hause, musste er auch schon wieder weg.

Das war der Grund, weshalb Mette von klein auf viel Zeit bei ihrer Großmutter verbracht hatte. Ihre Lieblings-Käthe war der Nabel der Welt für sie gewesen. Einfühlsam, klug, weise und mit einer großen Portion friesischem Humor. Sie konnte Seemannsgarn spinnen – besser als der beste Seebär. Vor allem war sie derart überzeugend, dass Mette mehr als einmal auf sie hereingefallen war. Wenn sie nur daran dachte, dass sie viele Jahre lang überzeugt gewesen war, dass Brillengläser mit der Zeit durch das ständige Durchgucken dünner wurden. Das Gesicht des Optikers, als sie ihn beim Kauf einer Sonnenbrille darauf angesprochen hatte, würde sie wohl nie vergessen. Ihre Lieblings-Käthe hatte ihr am Abend einen Versöhnungskakao gekocht, nachdem Mette schimpfend nach Hause gekommen war und sich beschwert hatte, weil sie aufs Glatteis geführt worden war. Zum guten Schluss hatten sie gemeinsam darüber gelacht.

Und dann war sie plötzlich weg gewesen. Von einer Sekunde zur anderen hatte Mette ihre wichtigste Bezugsperson verloren. Ihren Herzensmenschen. Sie hatte lange gebraucht, um sich von dem Verlust zu erholen. Dass ihre Oma fast neunzig hatte werden dürfen, war nur ein schwacher Trost. Für Mette war ihr Tod viel zu früh und unerwartet gekommen.

Nachdem sie das Haus ihrer Großmutter geerbt hatte, war es ihr Rückzugsort geworden. Sie hatte ihr Studium vernachlässigt und sich, sooft sie konnte, nach Lüttjekoog abgesetzt. Dort war sie zwar viel am Meer spazieren gegangen, da die Nordsee ihr Seelentröster war, am liebsten aber hatte sie sich im Haus verkrochen. Das war der Ort, an dem sie sich ihrer Lieblings-Käthe nahe fühlen konnte. Dieses Gebäude mit all den Erinnerungen war viel wichtiger für Mette als der Friedhof. Zu Käthes Grab ging sie nur, um es in Ordnung zu halten.

Und dann war eines Abends bei einem Glas Wein und gemeinsamer Strickzeit mit ihrer Freundin Anne plötzlich die Idee des eigenen kleinen Strickladens da gewesen. Mette konnte sich noch gut an die Atemlosigkeit erinnern, als sie es das erste Mal gewagt hatte, den Gedanken auszusprechen. Sie fühlte noch die Überwältigung und das wilde Herzklopfen. Doch wie verrückt und unmöglich es damals auch schien, die Idee hatte sich nicht mehr wegschieben lassen. Es hatte nicht lange gedauert und aus dem Gedankenfunken waren konkrete Pläne und ein loderndes Feuer geworden.

Jedoch nicht alle Menschen in Mettes Umfeld unterstützten ihr Vorhaben. Manche hoben nur skeptisch die Augenbrauen, wenn sie von ihren Plänen hörten. Andere tippten sich ganz offen an die Stirn, um ihr zu zeigen, dass sie sie für verrückt hielten. Immerhin fehlten nur noch ein paar Monate und Mette hätte ihr Examen in Tiermedizin in der Tasche gehabt. Besonders ihre Eltern taten sich schwer mit den, wie sie es nannten, Eskapaden ihrer einzigen Tochter. Sie hatten die Köpfe geschüttelt und gehofft, dass sie wieder vernünftig werden würde. Während ihr Vater es bis heute dabei beließ, ihr mit Blicken seine Enttäuschung zu signalisieren, war ihre Mutter nicht müde geworden, ihr zu sagen, dass sie vollkommen übergeschnappt sei. Sie hatte Mette prophezeit, dass aus diesem Traum innerhalb kürzester Zeit ein Albtraum werden würde, und versucht, sie zu einer Psychotherapie zu überreden, da sie ihrer Meinung nach die Trauer um ihre Lieblings-Käthe nicht richtig verarbeitet hatte. Für sie war die Idee, einen Strickladen zu eröffnen, eine Art Kurzschlusshandlung.

Aber Mette hatte nichts von einer Therapie wissen wollen. Unbeirrt von all der Unkerei hatte sie einen Businessplan erstellt und sich in die Thematik Selbstständigkeit eingearbeitet. Sie hatte einen Buchhaltungskurs an der Volkshochschule belegt und die Geschäftspläne mit einem Steuerberater und einem Bankberater auf Herz und Nieren geprüft. Ihr Ziel war gewesen, ein tragfähiges Fundament für diesen Schritt zu schaffen. Wie sie heute wusste, hatte sie alles richtig gemacht.

Anfangs hatte sie noch gehofft, vielleicht beides zu schaffen – das Studium abzuschließen und ihren Strickladen an den Start zu bringen. Doch es war schnell klar gewesen, dass sie nicht auf zwei Hochzeiten tanzen konnte. Sie hatte sich entscheiden müssen und sich das nicht leicht gemacht. Es gab so viele Argumente für und wider, Mette hatte unzählige Listen geschrieben, Pros und Kontras gegeneinander abzuwägen versucht.

Natürlich hatte sie viel Zeit in ihre Ausbildung gesteckt, doch sollte sie nur deshalb an etwas festhalten, von dem sie spürte, dass es für sie persönlich nicht richtig war? Was war mit all der Lebens- und vor allem Arbeitszeit, die noch vor ihr lag? Diese Gedanken und Überlegungen hatte sie viele Tage und Wochen mit sich herumgetragen, mit sich selbst und ihrer Freundin Anne diskutiert. Selbst bei Brunhilde im Friseursalon war es Thema gewesen, und Mette hatte sich alle Meinungen angehört. Am Ende war sie ihrem Herzen gefolgt und hatte die Entscheidung getroffen, die sich richtig anfühlte. Kurz vor dem Examen hatte sie ihr Studium an den Nagel gehängt und mit viel Energie ihren ganz persönlichen Traum wahr werden lassen. Ihr Strickschick war ein kleiner Strickladen, genau wie Maighread ihn am Loch Lomond führte. Nur eben an der Nordseeküste.

Seither waren ein paar Jahre ins Land gezogen. Mettes Mutter hatte den Schock zwar überwunden, trauerte der akademischen Karriere ihrer Tochter aber noch immer nach. Sie sagte es zwar nicht, aber Mette spürte, dass sie weiter darauf lauerte, dass das Kind endlich den Fehler erkannte und zur Vernunft kam. Deshalb war der Kontakt zu ihren Eltern, obwohl sie im gleichen Ort lebten, nur sehr sporadisch. Sie sahen sich alle paar Monate zu Geburtstagen oder zu Weihnachten.

Es war okay für Mette. Sie hatte entgegen aller Schwarzmalerei ihrer Mutter die Entscheidung, ihr Leben auf den Kopf zu stellen und komplett neu zu starten, noch nicht eine Sekunde bereut. Mit ihrem kleinen Laden in Lüttjekoog war sie glücklich.

Die Liebe zu Island und ein kleiner Hauch Sehnsucht nach Abenteuer waren ihr trotzdem geblieben. Deshalb auch die Namenswahl für ihre Schweinehündin: Hildur bedeutete Kampf – das passte perfekt zu dieser inneren Bestie. Sie war schuld, dass es Mette so schwerfiel, ihre guten Vorsätze einzuhalten. Hildur fand es vollkommen ausreichend, wenn die Hände sich beim Stricken bewegten. In der Wahl der Gründe war sie durchaus kreativ – das Wetter, zu warm, zu kalt, zu trocken, zu nass, zu windig, zu windstill. Hildur nahm, was gerade passte. Wenn das Wetter einfach mal so perfekt war, dass es sogar der inneren Bestie die Sprache verschlug, schwenkte sie auf körperliche Beschwerden um und erfand munter drauflos kleine Zipperlein, die als Ausrede dienen konnten. Da zwickte ein Muskel oder der Rücken, der Kopf brummte oder die Augen brannten. Wenn Hildur richtig loslegte, konnte es passieren, dass Mette sich wie ein altes Weib fühlte. Dabei war das Ziel der Schweinehündin klar: Es galt, Mette vom morgendlichen Sport abzubringen. Manchmal waren die Versuche von Erfolg gekrönt, aber was für ein Glück, dass sie nicht jeden Sieg auf ihr Konto buchen konnte.

Je stärker Mettes Wille wurde, desto zahmer wurde Hildur. Oder war es umgekehrt? Was war zuerst da? Stricknadel oder Wolle? Wattschnecke oder Watt? Egal. Wichtig war nur: Wenn Mette es wirklich wollte, ließ Hildur sich an die Kette legen und einen Maulkorb verpassen.

Nach der Joggingrunde glücklich und stolz, fragte Mette sich sowieso jedes Mal, weshalb es sie immer so viel Überwindung kostete, den Hintern aus dem Bett zu schwingen. Dabei waren die Morgenstunden am Watt doch absolut himmlisch. Abgesehen von den Schafen und Möwen hatten Mette und Ginger den Deich zu dieser frühen Zeit meist für sich allein. Auch wenn es nicht immer klappte, das Wissen um die reiche Belohnung für ihre Disziplin war Mettes Antrieb. Mit jedem Glücksmoment bekam sie mehr Kontrolle über Hildur, die sich dann scheinbar von der Schweinehündin zu ihrem inneren Schoßhündchen wandelte. Doch Mette machte sich nichts vor, sie wusste, dass ihre Disziplin jederzeit wieder untergraben werden konnte. Die Bestie wartete nur auf ihre Chance.

Heute wäre es ihr fast gelungen, Mette vom Joggingpfad abzubringen. Aber nur fast! Die frühe Möwe fängt den Wattwurm – mit diesem adaptierten Motto hatte Mette es geschafft, sich gegen die Verlockungen ihres warmen Bettes zu stemmen. Auch wenn sie sich gerade weniger als Möwe, sondern eher als schwerfälliger See-Elefant fühlte. Sie hätte gestern vielleicht doch den vierten Lillet Wild Berry ablehnen und nach Hause gehen sollen. Allerdings war es zu lustig gewesen, als dass sie auch nur eine Minute davon hätte verpassen wollen.

Ganz spontan hatten sie sich wieder einmal zu einer Grillparty bei Gustavsen am Lüttjesee zusammengefunden. Zuerst war der Strickclub unter sich geblieben. Irgendwann war Fiete, der Lüttjekooger Gemeindepolizist, auf seiner Abendrunde vorbeigekommen. Da er ohnehin gerade Feierabend hatte machen wollen, hatte er die Einladung angenommen und sich zu ihnen gesellt. Fiete war in Ordnung. Ein bisschen zu steif für einen jungen Mann, aber dadurch auch besonders. Mette kannte keinen korrekteren Menschen als ihn. Er war so ganz anders als sie. Regeln einzuhalten gehörte für ihn dazu wie das Atmen. Sie war eher der Typ Mensch, der übertragen gesprochen auch mal die Luft anhalten konnte, Regeln waren für sie nur dann bindend, wenn sie den Sinn und Zweck richtig fand. Ihre lockere Einstellung brachte Fiete hin und wieder aus der Fassung, aber er verehrte Mette.

Zu fortgeschrittener Stunde waren sie auf kuriose Kriminalfälle zu sprechen gekommen. Da gab es diesen Mann, der in einen Supermarkt eingebrochen war und einen Karton Thunfisch in Lake geklaut hatte. Ein anderer hatte einen Friseur mit dem Messer bedroht, um einen Haarschnitt zu bekommen. Besonders gut kam der Dieb an, der beim Ausräumen des Handschuhfachs durch die automatische Türverriegelung eingeschlossen wurde. Die Polizei musste ihn retten, um ihn verhaften zu können.

Mette, Anne, Brunhilde und Gustavsen hatten überlegt, wie sie wohl als Ermittler wären und was sie alles unternehmen würden, um den Tätern auf die Spur zu kommen. Bei den ausgetüftelten Ideen hatte Fiete mehr als einmal nach Luft geschnappt und den Kopf geschüttelt. Einfach so ohne Legitimation jemanden abhören oder in ein Haus eindringen? Allein der Gedanke an derartige Übergriffe ließ den braven Ortspolizisten blass werden. Ermittlungsarbeit gehörte in Polizeihand.

Wenn Mette in ihrer lockeren Art loslegte, sah er sie immer mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung an. Das reizte sie natürlich umso mehr. Es machte ihr Spaß, ihn aus der Reserve zu locken. Um ihn ein bisschen aus seiner Komfortzone zu schubsen, hatte Mette ihre Ideen gestern mit Unterstützung durch Brunhilde und einem Augenzwinkern in Fietes Richtung weiter ausgeschmückt. Bei dem Gedanken an sein Gesicht, als sie sich ausgemalt hatte, wie sie mit einem Verdächtigen flirten würde, um ihm ein auf Aufnahme gestelltes Handy unterzujubeln, kicherte sie. Fietes Gesichtsfarbe hatte von blass zu rot gewechselt. Es war nicht klar gewesen, was ihn mehr schockierte: die flirtende Mette oder das unerlaubte Abhören.

Seine Reaktion war auch das Schädelbrummen wert, das sie heute auf ihrer Joggingrunde begleitete. Daran – genau wie an ihrer gefühlten Schwerfälligkeit – war vermutlich der Restalkohol schuld, der noch durch ihre Adern floss.

Mit dem Unterarm wischte Mette sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn. Sie würde Brunhilde heute Nachmittag beim Strickschnack nach einem Termin fragen, um den Pony schneiden zu lassen. Oder besser gleich einmal frisch durchstufen, das würde ihren Haaren sicher guttun. Ihre Lieblings-Käthe hatte ihr immer gesagt, Haare würden durch das Schneiden der Spitzen zum Wachsen angeregt und dicker und kräftiger werden – Brunhildes Idee, dass der Vollmond einen Einfluss darauf haben sollte, hatte sie allerdings mit einem Kopfschütteln abgetan.

In Gedanken bei Brunhilde und dem Stricktreffen lief Mette mit gleichmäßigen Schritten weiter. Das Gesicht hielt sie dabei dankbar in den vom Watt kommenden sanften Wind. Ihre Wadenmuskeln brannten. Nur gut, dass die Runde fast geschafft war.

Da sie Ginger nicht mehr hörte, warf Mette einen Blick über ihre Schulter, um nach der Hündin zu sehen. Wie so oft hatte sie sich wieder einmal an einem Grasbüschel festgeschnuppert und war zurückgeblieben. Ihre Nase steckte tief zwischen den Halmen. Dem aufgeregten Schwanzwedeln nach musste es ein sehr spannender Duft sein. Die Hundezeitung hier am Deich war durch die vielen Urlaubshunde sicher spannend.