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Die Aare ist Kult - doch wer den Fluss und die Menschen an seinem Ufer unterschätzt, riskiert sein Leben. 13 Krimis, 13 Tatorte - von der Quelle bis zur Mündung, von der Gegenwart bis in die Vergangenheit zieht sich eine Spur des Verbrechens: Am Grimselsee wird ein Politiker erstochen, zwischen Thun und Bern kommt es zu einem rätselhaften Bootsunglück. Bei Solothurn treibt ein geheimnisvoller Räuber sein Unwesen, und in einem Thermalbad im Aargau geht es alles andere als entspannt zu. Ein Fluss voller Geschichten - und nicht alle enden gut.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sandra Rutschi
Mörderische Aare
Krimis
Dunkle Wasser Die Aare ist mehr als ein Fluss – sie ist Lebensader, Naturgewalt und manchmal auch Tatort. Als längster Fluss, der gänzlich innerhalb der Schweiz verläuft, verbindet sie nicht nur Städte und Landschaften, sondern auch dunkle Geheimnisse. Von den eisigen Quellen bei den Aargletschern bis zur Mündung in den Rhein erzählen 13 Krimis von tödlichen Begegnungen entlang des 288 Kilometer langen Flusslaufs. Im Quellgebiet gerät eine Biologin in die Bredouille, und der Streit eines Paares in der Aareschlucht endet verheerend. Im Freilichtmuseum Ballenberg gehen dubiose Gestalten um, während am Bielersee ein Winzer unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt und bei der Aaremündung eine letzte Reise beginnt. Auch in der Vergangenheit war die Aare bereits Schauplatz dramatischer Ereignisse: So kommt es im frühneuzeitlichen Bern zu einem herzzerreißenden Abschied, und im Internierungslager bei Büren wird in den 1940er-Jahren ein Wachmann tot aufgefunden. Eines ist sicher: Was an der Aare geschieht, bleibt selten harmlos.
Sandra Rutschi, geboren 1979, lebt in der Stadt Bern und schreibt Kriminalliteratur sowie Sach- und Kinderbücher. Zudem hat sie über 80 Kurzgeschichten publiziert, etliche davon mit kriminellem Hintergrund. Hauptberuflich arbeitet sie als Ressortleiterin und Journalistin bei den Berner Tageszeitungen »Berner Zeitung« und »Der Bund«. Aufgewachsen ist sie im Emmental, sie lebte zudem in Texas, in der Westschweiz und in Deutschland. Sandra Rutschi ist Mitglied beim Verein Krimi Schweiz, beim Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz sowie beim Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein.
© 2025 Sandra Rutschi
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © »Soyoung Han / unsplash und rangizzz / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3408-7
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 16. September 2023:
Wenn ich gewusst hätte, was mich hier oben erwartet, wäre ich niemals hochgefahren. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich hatte mich so sehr auf diese Exkursion gefreut. Dabei stand von Anfang an alles unter einem schlechten Stern.
*
Mit einem flauen Gefühl im Magen stieg Gabriela vor dem Hospiz aus dem Postauto. Die Fahrt hoch zum Grimselsee war kurvenreich gewesen. Eigentlich hätte Gabriela wissen müssen, dass sie auf solchen Touren stetig geradeaus schauen sollte, doch die Aussicht war zu verlockend gewesen. Die Straße schlängelte sich den Hang hinauf, während ringsum moosbewachsene Felsenkuppen wie gigantische Dinosaurierrücken aus der Hochebene ragten. Gabriela hatte am Fenster geklebt, die Schattierungen von Grau und Grün in sich aufgesogen und dabei in Kauf genommen, dass ihr schlecht wurde.
Sie hatte dem Moment entgegengefiebert, in dem sie oben beim Hospiz ankommen und den Grimselsee mit der Staumauer sehen würde. Nach dem Einchecken wollte sie die Route erkunden, die sie am nächsten Tag entlang des Sees Richtung Unteraargletscher führen sollte, um ins Quellgebiet der Aare zu gelangen und die Moose von Nahem zu betrachten. Doch nun stand sie mutterseelenallein auf dem Parkplatz, und im dichten Nebel konnte sie nicht einmal das Hotel erkennen. Wie eine kalte Hand glitt die Feuchtigkeit in ihren Nacken, während das Postauto davonfuhr. Innert Sekunden hatte der Dunst dessen leuchtendes Gelb verschluckt. Zurück blieben Stille und das seltsame Gefühl, in einer Zwischenwelt angekommen zu sein.
Gabriela schulterte den Rucksack, griff nach ihrem Rollkoffer und versuchte, sich zu orientieren. Sie ging ein paar Schritte in eine Richtung und konnte schemenhaft eine Art Pavillon ausmachen. Bestimmt gehörte dieses Gebäude zum Hotel, ein Wintergarten oder so etwas. Gabriela näherte sich der Silhouette, bis sie vor zwei Glastüren stand, die sich automatisch öffneten. Sie trat ein und blickte sich um.
Weit und breit war keine Rezeption zu sehen. Vielmehr stand sie in einem Treppenhaus.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Gabriela zuckte zusammen und wirbelte herum. Der ältere Mann, der direkt vor ihr stand, schien wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Er trug ein altertümliches Jackett und eine dazu passende Mütze. Die Härchen seiner buschigen Brauen standen in alle Richtungen ab.
»Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Als er lächelte, legten sich unzählige Falten um seine Augen.
Gabriela atmete tief durch und grinste. »Schon gut. Ich hatte Sie nicht kommen hören.«
»Möchten Sie ins Museum?«, fragte er und betrachtete skeptisch ihren Rollkoffer. »Die nächste Führung findet erst in einer Stunde statt. Aber Sie dürfen sich die Ausstellung gerne auch allein anschauen. Die ist kostenlos.«
Er deutete auf die Treppe, die in den Untergrund führte. Erst jetzt entdeckte Gabriela das Schild, das auf ein Museum hinwies.
»Nein, ich … äh … eigentlich suche ich die Rezeption. Ich möchte einchecken.«
Die Falten rund um die Augen des Mannes vertieften sich. »Dann sind Sie hier falsch. Das Hospiz liegt auf der anderen Seite des Parkplatzes.«
Gabriela lachte und schüttelte den Kopf. »Ich sah bloß diesen Pavillon und … der Nebel ist wirklich sehr dicht.«
»Ich weiß.« Der Mann griff nach ihrem Rollkoffer. Erst jetzt fiel Gabriela auf, dass er weiße Handschuhe trug. Er musste ein Portier sein. »Kommen Sie. Ich bringe Sie zum Empfang.«
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 16. September 2023:
Dieser seltsame Kauz hätte ein Geist sein können. Irgendwie hätte das in diese mysteriöse Umgebung gepasst. Erst später wurde mir klar, dass er tatsächlich nicht derjenige war, für den ich ihn gehalten hatte.
*
Gabriela folgte dem Portier, bis sich vor ihnen nach und nach eine pyramidenförmige Fassade mit Zinnengiebel aus dem Nebel schälte. Bald schimmerten rote Fensterläden durch, und schließlich erkannte Gabriela das unverputzte Steinmauerwerk des Hospizes. Der Mann trug ihren Koffer eine kurze Treppe zum Eingang hinauf. Dann hielt er ihr die Tür auf, lächelte und sagte: »Geradeaus geht’s zur Rezeption.«
Gabriela griff nach ihrem Koffer und ging durch die Tür auf den Tresen zu.
»Herzlich willkommen!« Die Frau hinter dem Tresen strahlte Gabriela an. »Veronika Gilgen«, stand auf dem Schild an ihrem Revers.
»Ich möchte einchecken. Gabriela Stauffer.«
Veronika Gilgen tippte etwas in den Computer ein. »Vier Nächte, eine Person?«
»Genau.« Gabriela kramte ihren Pass hervor.
Die Rezeptionistin räusperte sich. »Sind Sie gut gereist?«
»Danke, ja«, antwortete Gabriela. »Ich habe mich zuerst im Nebel auf dem Parkplatz verirrt. Aber Ihr Portier war so nett, mir den Weg zu zeigen.«
»Unser Portier?«
Gabriela nickte lächelnd.
Die Rezeptionistin schaute sie irritiert an, dann besah sie sich prüfend Gabrielas Pass. »Sie haben Zimmer Nummer 13«, sagte sie schließlich und reichte ihr den Schlüssel. »Haben Sie Pläne für heute?«
Gabriela zuckte mit den Schultern. »Ich wollte eigentlich die Landschaft erkunden. Aber bei diesem Wetter …«
Veronika Gilgen verzog den Mund. »Ja, heute würde ich Ihnen nicht empfehlen rauszugehen. Aber ab morgen soll sich der Nebel lichten.«
Gabriela atmete auf. Sie würde doch noch zu den Moosen wandern können.
»Hätten Sie denn heute Nachmittag Interesse an einer Führung durchs Kraftwerk und die Staumauer? In einer Stunde startet sie, es gibt noch ein paar wenige freie Plätze«, sagte die Rezeptionistin.
Gabriela musste nicht lange überlegen. »Gerne!«
Die Rezeptionistin druckte ein Papier aus und reichte es Gabriela. »Das ist Ihr Ticket. Die Tour startet drüben beim Pavillon im Museum. Und falls es morgen noch immer zu ungemütlich sein sollte: Wir haben weitere Führungen im Angebot.«
Gabriela horchte auf. »Sie sagten doch soeben, dass sich der Nebel lichten wird.«
Veronika Gilgen lächelte milde. »Voraussichtlich, ja. Aber es kann sein, dass es draußen immer noch recht frisch sein wird.«
Gabriela schmunzelte. »Das macht mir nichts aus. Ich bin Flechten- und Moosforscherin. Expeditionen bei garstigem Wetter bin ich gewohnt.«
»Sagen Sie bloß, Sie sind auch eine dieser Umwelttanten!«, dröhnte eine Stimme hinter ihr. Die Rezeptionistin rollte mit den Augen.
Gabriela drehte sich um und blickte ins Gesicht eines Endfünfzigers in Anzug und Krawatte. Er war umringt von weiteren chic gekleideten Menschen und funkelte Gabriela wütend an. »Leute wie Sie sollten hier Hausverbot haben. Gell, Vero?« Er warf Veronika Gilgen einen stechenden Blick zu. Die schnappte nach Luft, sprang aus ihrem Stuhl auf und starrte den Mann eine Weile wutentbrannt an, bevor sie sich abwandte und ins Backoffice ging.
Der Endfünfziger lachte. »Und jetzt zu Ihnen«, sagte er dann und kam mit erhobenem Zeigefinger auf Gabriela zu. »Sie haben hier nichts zu suchen.«
»Schh, Hans-Martin …«, flüsterte der Mann zu seiner Rechten und wollte ihn mit sich ziehen.
Hans-Martin riss sich los. »Ist doch wahr«, wetterte er. »Die finden doch immer irgendein seltenes Gras, das dann wieder all unsere Pläne zunichtemacht. Und wenn sie keines entdecken, erfinden sie einfach eines.« Er machte einen weiteren Schritt auf Gabriela zu. Sie wich zurück. »Welche dieser verpeilten Umweltorganisationen hat Sie geschickt?«
»Ich äh … keine. Ich möchte bloß …«
»Wer’s glaubt, wird selig«, höhnte der Mann, bevor Gabriela den Satz beenden konnte. Sie roch Alkohol in seinem Atem.
»Hans-Martin, das bringt doch nichts. Wir sollten jetzt wirklich weiter«, versuchte es nun die Frau zu seiner Linken und strich über seinen Arm.
Er schüttelte sie ab. »Lass mich, Antoinette. Ich bin noch nicht fertig hier«, zischte er, hob wieder den Zeigefinger und fuchtelte damit vor Gabrielas Gesicht herum. »Ich warne Sie – dieses Mal werden Sie verlieren! Wasserkraft ist erneuerbare Energie und der einzige Weg, damit die Schweiz bei der Stromversorgung nicht mehr vom Ausland abhängig ist. Das haben die Gerichte und Parlamente mittlerweile erkannt, und langsam solltet auch ihr Umweltfuzzis euch damit abfinden, dass man nicht den Fünfer und das Weggli haben kann. Also, was ist wichtiger: ein seltenes Gras oder die Energiewende?«
Gabriela starrte den Mann an und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich … äh … interessiere mich bloß für Pflanzen und …«
»Sie sagen es.« Hans-Martin ignorierte, dass mittlerweile mehrere Leute versuchten, ihn von Gabriela wegzuziehen. »Sie sehen nur Ihre Pflanzen und sonst nichts. Genau das ist das Problem. Die größeren Zusammenhänge kümmern Schrullen wie Sie nicht.«
Gabriela wurde langsam sauer. »Was fällt Ihnen ein, mich einfach so zu beleidigen? Ich habe Ihnen doch gar nichts getan!«
Entschlossen trat Hans-Martins Begleiter nun zwischen die beiden. Sanft redete er auf Hans-Martin ein und schob ihn von Gabriela weg. Der Rest der Gruppe zog den wütenden Mann die Treppe hoch.
Als sie außer Hörweite waren, wandte sich der Begleiter Gabriela zu und lächelte hilflos. »Es tut mir leid. Er regt sich zurzeit sehr schnell auf. Wissen Sie – Nationalrat Kehrli setzt sich seit vielen Jahren auf allen möglichen Ebenen dafür ein, dass die Grimselstaumauer erhöht werden darf. Aber wegen der stark geschützten Moorlandschaft haben die Umweltverbände das bislang zu verhindern gewusst. Dieser ständige Kampf ermüdet und frustriert.«
Gabriela nickte gedankenverloren. Sie hatte schon von dem Projekt gehört, bei dem der Grimselsee einen größeren Teil der Landschaft überfluten würde als bisher. Die Strom- und die Umweltlobby rangen auf politischer und juristischer Ebene erbittert miteinander. Doch selbst in linken Kreisen war man sich mittlerweile uneinig, welche Interessen höher zu gewichten waren: die erneuerbare Energie oder die Biodiversität der Bergflora – und damit auch Gabrielas geliebte Moose.
»In zwei Monaten stehen Nationalratswahlen an, und mittlerweile zweifeln sogar viele in unserer Partei daran, ob Hans-Martin nach all den Jahren noch immer der Richtige für den Job ist«, fuhr der Mann fort. »Das merkt er natürlich – und da liegen schlicht die Nerven blank.« Das Verhalten seines Parteikollegen schien ihm aufrichtig leid zu tun.
Gabriela seufzte. »Schon gut. Ich nehme an, ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und habe das Falsche gesagt.«
Der Mann nickte. »Ja, genau.« Dann lächelte er und zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Anzugs. »Falls Sie Fragen zum Projekt haben – oder doch irgendwelche Kontakte zu Umweltorganisationen, was natürlich absolut legitim wäre –, scheuen Sie sich nicht, sich zu melden. Es ist wichtig, miteinander zu reden. Zusammen findet man meist die besten Lösungen, nicht wahr?«
Gabriela nahm die Visitenkarte entgegen. »Christoph Moor, Grossrat«, stand darauf. Er lächelte sie ein weiteres Mal an. »Es würde mich jedenfalls freuen, Sie wiederzusehen. Und nochmals pardon für die Unannehmlichkeiten.« Damit wandte er sich ab und eilte seiner Gruppe hinterher. Auf der Treppe nahm er zwei Stufen auf einmal.
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 16. September 2023:
Bislang hatte ich in meinem Leben noch keinen Toten gesehen. Den Anblick der Leiche – das Blut überall, die Schreie ringsum –, all das werde ich nie mehr vergessen. Doch fast noch schlimmer war, was danach geschah.
*
Zwei Stunden später saß Gabriela mit einer Gruppe von Leuten in einer selbstbedienbaren Gondel, die vom Museum zur Staumauer fuhr. Es fühlte sich an, als würden sie durch eine Wolke schweben. »Bei besserem Wetter hätten Sie hier eine perfekte Sicht auf die Mauer«, sagte Paul von Allmen – der mysteriöse Portier, der sich mittlerweile als Pensionär und freiwilliger Tourenführer herausgestellt hatte. Gabriela saß neben der Rezeptionistin Veronika Gilgen, die sich ihrer Gruppe angeschlossen hatte. Spontan, weil noch ein Platz frei gewesen sei, wie sie Gabriela erklärte.
Der Rundgang durchs Museum war spannend gewesen, und Gabriela hatte einiges dabei gelernt. Etwa, dass das ursprüngliche Grimsel Hospiz beim Bau der Staumauer im Jahr 1928 überflutet worden war, ebenso eine Kapelle. Da erschienen ein paar geschützte Moose im Vergleich als ein harmloses Opfer, dachte sie. Oder entsprang dieses Denken genau jener Überheblichkeit, die die Menschheit dereinst ihre Existenz kosten würde?
»Wir werden gleich eine zweite Gruppe treffen, die diesen Teil der Führung mit uns gemeinsam macht«, riss von Allmen sie aus ihren Gedanken. In diesem Moment legte die Gondel bei der Station am Fuße der Staumauer an. Gabriela stieg aus und erstarrte. Vor ihr stand Hans-Martin Kehrli.
»Sie schon wieder«, knurrte er. »Wollen Sie das Kraftwerk ausspionieren?«
Gabriela platzte der Kragen. »Wissen Sie was? Ja, ich bin hierhergekommen, um die Moorlandschaft zu erforschen. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich wie den letzten Dreck zu behandeln. Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!«
Damit ließ sie Kehrli stehen und ignorierte auch das entschuldigende Lächeln, das ihr Christoph Moor im Vorbeigehen schenken wollte.
Die Gruppe stieg eine lange Treppe hinunter und kletterte in einen Minibus. Gabriela versuchte, möglichst viel Distanz zwischen sich und Nationalrat Kehrli zu bringen, der ständig vor sich hin murrte. Die Frau, die bereits beim Empfang versucht hatte, Kehrli zu beschwichtigen, setzte sich neben sie und stellte sich als Antoinette Berger vor. Dann neigte sie sich zu Gabriela und flüsterte: »Beachten Sie ihn einfach nicht. Irgendwann beruhigt er sich wieder.«
Gabriela seufzte und nickte.
Paul von Allmen setzte sich hinters Steuer und lenkte den Wagen durch einen langen Stollen bis zum Eingang des Wasserkraftwerks. Dort stiegen sie aus und folgten von Allmen zu den Turbinen.
Zu Beginn der Führung tauchte Kehrli immer wieder in Gabrielas Blickfeld auf. Sobald sie das bemerkte, bewegte sie sich möglichst in die andere Richtung. Sie heftete sich an von Allmens Fersen und konzentrierte sich auf die Informationen zum Wasserkraftwerk. Dabei staunte sie, wie ohrenbetäubend die Turbinen tosten, und bewunderte die Ausmaße der Anlage unter dem Grimselsee. Langsam entspannte sich Gabriela. Sie hörte Paul von Allmen gerne zu, und mit der Zeit schien auch Hans-Martin Kehrli ihr aus dem Weg zu gehen. Jedenfalls kam er nicht mehr in ihre Nähe, und nach einer Weile vergaß sie sogar, dass er ebenfalls Teil der Gruppe war.
Nach einer guten Stunde neigte sich die Tour dem Ende zu. Lediglich ein Zwischenstopp bei der Kristallhöhle stand auf der Rückfahrt mit dem Minibus noch an. Doch eine kleine Gruppe rund um Christoph Moor verwickelte von Allmen in eine Diskussion über die Staumauerprojekte. Das Thema interessierte sie zwar, aber Gabriela hatte Durst und ihre Trinkflasche im Bus gelassen. »Gehen Sie ruhig schon mal voraus, das Fahrzeug ist offen«, sagte von Allmen, als er ihren sehnsüchtigen Blick Richtung Ausgang bemerkte.
Gabriela schritt durch die Gänge, schloss die letzte Tür hinter sich und ging auf den Bus zu. Mit Schwung öffnete sie die Schiebetür – und zog scharf die Luft ein. Auf dem Rücksitz lag Hans-Martin Kehrli. Sein Arm baumelte über die Seitenlehne, seine Augen starrten an die Wagendecke – und in seiner Brust steckte ein Messer. Gabriela wich einen Schritt zurück. Sie wollte schreien, doch ein dicker Kloß in ihrem Hals hielt jeden Laut zurück. Blut tropfte träge aus dem Wageninneren auf den Stollenboden und verdichtete sich zu einem Rinnsal, während lange Sekunden verstrichen.
»Herr Kehrli?« Gabriela konnte endlich wieder sprechen. Sie beugte sich vor und überlegte, ob sie das Messer aus seiner Brust ziehen sollte. »Herr Kehrli, hören Sie mich?« Sie berührte den Griff des Messers und zuckte zurück, als sie merkte, dass sie mit der anderen Hand in eine Blutlache gefasst hatte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Kraftwerk und ihre Gruppe trat fröhlich plaudernd in den Stollen. Die Gespräche brachen ab. Alle blieben stehen und sahen Gabriela an. Das Nächste, was sie hörte, war ein Schrei. Christoph Moor und Paul von Allmen eilten zu Gabriela und starrten auf Hans-Martin Kehrlis Leiche.
»Mein Gott«, flüsterte Moor, »was haben Sie getan?«
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 16. September 2023:
Sie wollten mich über Nacht in Untersuchungshaft stecken, sagte Polizist Rudolf von Allmen. Ich glaube, wenn er nicht der Bruder unseres Tourenführers gewesen wäre, hätte er das auch getan, aber Paul von Allmen bestand darauf, dass ich im Hospiz bleiben darf. Weshalb, ist mir schleierhaft. Jedenfalls stehen nun zwei Wachen vor meinem Zimmer, damit ich nicht entkommen kann. Natürlich kommen theoretisch auch alle anderen Teilnehmer der Führung als Täter infrage. Aber Polizist von Allmen ist überzeugt, dass ich es war. Der Streit bei der Gondel vor fast zwanzig Zeugen, meine Fingerabdrücke an der Tatwaffe, der Fakt, dass ich allein mit Kehrli beim Bus war – wie soll ich bloß beweisen, dass ich unschuldig bin?
*
Jemand klopfte an die Tür. Gabriela öffnete die Augen. Sie hatte kaum schlafen können, obschon Polizist Rudolf von Allmen ihr mehr als deutlich gemacht hatte, dass sie sich glücklich schätzen konnte, die Nacht im Hotel und nicht in einer Zelle zu verbringen.
Oder war alles bloß ein böser Traum gewesen? Hans-Martin Kehrlis Leiche im Minibus, die Aufregung im Stollen, Tourenführer Paul von Allmen, der seinen Bruder anrief – Polizist Rudolf von Allmen –, der eine gefühlte Ewigkeit später mit einer ganzen Crew anrückte. Und die Blicke der Gäste, die während all dem auf Gabriela ruhten.
Nochmals klopfte es an der Tür. »Frau Stauffer? Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück.«
Das war die Stimme von Paul von Allmen. Es war also doch kein Traum gewesen.
»Kommen Sie herein.«
Der Tourenführer betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Auf einem Tablett balancierte er Kaffee, Brot, Konfitüre und Butter. Vorsichtig stellte er das Essen auf Gabrielas Schreibtisch.
»Wissen Sie schon mehr?«, fragte Gabriela bange.
Von Allmen blickte sie skeptisch an. Er schien mit sich zu ringen. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf einen Stuhl und räusperte sich. »Es sieht im Moment schlecht für Sie aus.«
Gabriela schluckte.
»Aber ich glaube nicht, dass Sie es getan haben.«
Erleichterung machte sich in ihr breit. Dann stutzte sie. »Und wieso nicht?«
Von Allmen lehnte sich zurück. »Erstens: Sie hätten sich sehr beeilen müssen, um Kehrli umzubringen. Sie waren doch keine fünf Minuten allein beim Wagen.«
»Ihr Bruder glaubt, das hätte gereicht«, erwiderte Gabriela trocken.
»Aber Kehrli rührte sich nicht mehr. Keine Zuckung, kein Röcheln, nichts. Das Blut schien auch schon zu gerinnen. Nein, ich verwette meine Rente, dass Kehrli bereits länger tot war, als Sie ihn entdeckten.«
»Aber er war doch die ganze Zeit zuvor mit uns auf der Führung.«
Von Allmen schüttelte den Kopf. »Er bat mich nach etwa zehn Minuten, seine Jacke aus dem Minibus holen zu dürfen. Und ich könnte ehrlich gesagt nicht bezeugen, dass er danach wieder zurückgekehrt ist. Sie?«
Gabriela überlegte. Anfangs war ihr Kehrli auf dem Rundgang ständig in die Quere gekommen. Aber irgendwann war er plötzlich verschwunden. »Jetzt, da Sie es sagen …«
»Eben«, konstatierte von Allmen. »Und ich habe auch nicht bemerkt, dass er kurz vor Ihnen die Gruppe verlassen hätte.«
»Stimmt. Ich auch nicht.« Gabriela räusperte sich. »Und zweitens?«
»Zweitens: Unsere Gruppe stand nahe am Ausgang und konnte dennoch keine Schreie und keinen Streit hören.«
»Die Turbinen waren laut, die Türen geschlossen«, sagte Gabriela.
Paul von Allmen stutzte. »Das stimmt.«
»Sehen Sie!«, rief Gabriela.
Paul von Allmens Lachfalten vertieften sich wieder. »Wollen Sie mich etwa von Ihrer Schuld überzeugen? Ich bin zwar heute Tourenführer, aber vor meiner Pensionierung war ich wie mein Bruder Polizist.«
Gabriela presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Drittens«, fuhr von Allmen fort, »gibt es in diesem Hotel mindestens zwei Personen, die triftigere Gründe als Sie gehabt hätten, Kehrli an den Kragen zu gehen. Beide waren an diesem Tag im Stollen – und zumindest eine davon hatte dort überhaupt nichts zu suchen.«
Nun hatte er Gabrielas volle Aufmerksamkeit. Sie rutschte an den Bettrand. »Und wer ist das?«
Von Allmen schmunzelte und schüttelte den Kopf. Dann wurde er nachdenklich. »Was halten Sie davon, wenn Sie das Frühstück doch mit allen anderen im Restaurant einnehmen?«
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 17. September 2023:
Da stellte sich heraus, dass Paul von Allmen einst der Chef der beiden Wachen vor meiner Tür war. Und seine Autorität scheint immer noch zu wirken, jedenfalls ließen sie mich mit ihm gehen. Er versprach den Männern, mich während des Frühstücks im Auge zu behalten. Dabei verfolgten wir beide einen ganz anderen Plan.
*
Als Gabriela mit Paul von Allmen das Restaurant betrat, verstummten die Anwesenden und das Besteck hörte auf zu klappern.
»Kommen Sie, wir setzen uns hier an diesen Tisch«, sagte von Allmen laut zu Gabriela. Es war ein Zweiertisch bei einer Eckbank, von dem sie den ganzen Raum im Blick hatten.
Langsam kam wieder Bewegung in die Menschen im Frühstücksraum. Christoph Moor führte die Kaffeetasse an seine Lippen, neben ihm strich sich Antoinette Berger Butter aufs Brot. Veronika Gilgen kam auf von Allmen und Gabriela zu. Sie rang sichtbar nach Worten, bevor sie schließlich fragte: »Darf ich Ihnen eine Eierspeise bringen? Rührei, Spiegelei?«
»Ein Spiegelei, bitte«, sagte Gabriela heiser.
»Sag mal, Vero – hat sich Hans-Martin Kehrli nicht neulich hier beim Wirtepaar dafür eingesetzt, dass du entlassen wirst?«, fiel von Allmen mit der Tür ins Haus.
Veronika Gilgen wurde bleich. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Wieso waren Sie denn gestern so wütend, als Hans-Martin Kehrli sagte, Leute wie ich sollten hier Hausverbot erhalten?«, fragte nun Gabriela. Im Saal wurde es wieder still.
Die Rezeptionistin schwieg.
»Du bist mit ganzem Herzen eine Berglerin, Vero«, sagte von Allmen sanft. »Ich weiß noch, wie glücklich du immer warst, wenn du mit deinen Eltern zur Alp fahren konntest. Und wir alle wissen von deiner Pflanzensammlung und deinem Engagement bei Nature on Top.«
Veronika Gilgen stellte das Tablett mit einem lauten Klirren auf den Tisch. »Ja, das stimmt. Ich liebe Pflanzen. Und niemand darf ihnen etwas zuleide tun!« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. »Dieser elende Kehrli! Er meinte nicht nur Sie mit dem Hausverbot, Frau Stauffer. Sondern auch mich.«
Paul von Allmen fixierte die Rezeptionistin. »Er hat versucht, deinen Chef auf seine Seite zu ziehen.«
Veronika Gilgen lächelte. »Aber das ist ihm nicht gelungen. Mein Chef ist sehr zufrieden mit meiner Arbeit und weiß, dass ich das eine vom anderen trennen kann.«
»Und wieso warst du denn gestern mit auf der Führung, obschon du eigentlich hättest arbeiten sollen?«, fragte Paul von Allmen.
Veronika Gilgen reckte das Kinn vor. »Weil mein Chef es so wollte. Er wusste, dass ich freiwillig nie in dieses Teufelswerk steigen würde. Also wies er mich an, dies während der Arbeitszeit zu tun.«
Im Frühstücksraum hätte man eine Serviette zu Boden fallen hören können. Paul von Allmen blickte hinter das Buffet zum Wirt. Dieser nickte.
Veronika Gilgen schnaubte. »Verdächtigst du etwa mich, Paul? Das ist ja lächerlich! Wenn jemand den Kehrli auf dem Gewissen hat, dann ist es Antoinette.«
Gilgens Arm schnellte vor und zeigte auf Kehrlis Parteikollegin.
»Ich?«, rief diese nun, und ihre Stimme quietschte dabei. »Wie kommst du denn darauf?«
Die Rezeptionistin lachte spöttisch. »Tu nicht so scheinheilig! Wir alle wissen, dass du ein Verhältnis mit Kehrli hattest. Und dass er dich vor ein paar Wochen für eine Jüngere sitzen gelassen hat.«
Auf Antoinette Bergers Hals bildeten sich rote Flecken. »Ich … ich …« Sie verstummte und stützte das Gesicht in ihre Hände. Ihre Schultern begannen zu zucken.
Eine Weile hörte man bloß ein leises Schluchzen im Frühstückssaal. Christoph Moor begann, seiner Kollegin über den Rücken zu streichen. »Was soll das, Vero?«, fragte er dann. »Hat Antoinette nicht schon genug durchgemacht?«
Plötzlich flog die Tür auf, und drei Polizisten stürzten herein, an ihrer Spitze Rudolf von Allmen.
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 17. September 2023:
Paul von Allmen hatte den Verdacht, dass entweder Vero Gilgen oder Antoinette Berger den Mord begangen hatten. Und er hatte darauf spekuliert, dass sich die beiden Frauen, die seit ihrer Kindheit eine Art Hassliebe verband, gegenseitig beschuldigen würden. Damit hatte er recht behalten. Und doch überraschte ihn die Lösung des Falls.
*
Für einen kurzen Moment blieb Rudolf von Allmens Blick an Gabriela hängen. Dann zeigte er auf sie und fixierte seinen Bruder. »Darüber sprechen wir noch.«
Er wandte sich ab, ging auf Antoinette Berger zu und sagte: »Du bist verhaftet.«
Antoinette Berger blickte den Polizisten aus tränenverschmierten Augen an. »Aber … ich habe doch gar nichts getan!«
Rudolf von Allmen schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht dich, Antoinette. Sondern Chris.« Er zeigte auf den Mann, der noch immer den Arm um seine Parteikollegin gelegt hatte. Christoph Moor öffnete fassungslos den Mund, brachte jedoch keinen Laut hervor.
»Aber ich dachte, sie habe Hans-Martin umgebracht«, stotterte Antoinette und zeigte auf Gabriela.
Rudolf von Allmen nickte. »So schien es, ja. Wer mit blutverschmierten Händen über einer Leiche steht, die Fingerabdrücke auf der Waffe hinterlässt und kurz zuvor mit dem Opfer stritt, scheint die perfekte Täterin zu sein. Aber so war es nicht.«
Der Polizist schwieg einen Moment und kostete die Spannung aus.
»Hans-Martin war seit mindestens einer Stunde tot, als Frau Stauffer ihn im Minibus fand. Paul hatte schon früh den Verdacht, dass an der Sache etwas faul war.«
Er warf seinem Bruder einen anerkennenden Blick zu. Paul von Allmen nickte ihm zu und tätschelte beruhigend Gabrielas Arm.
Rudolf von Allmen räusperte sich. »Ziemlich am Anfang der Führung ging Hans-Martin allein zurück zum Minibus, weil er seine Jacke dort hatte liegen lassen. Danach kehrte er nicht mehr zurück. Das zeigen die Videoaufnahmen aus dem Kraftwerk.«
Christoph Moor zuckte zusammen. »Videoaufnahmen?«
Der Polizist nickte. »Natürlich, Videoaufnahmen. Das Kraftwerk ist bestens überwacht, das müsstest du als Wasserkraft-Lobbyist eigentlich wissen.«
Christoph Moor wurde blass.
»Die Aufnahmen zeigen auch, dass du Hans-Martin zum Minibus gefolgt bist. Und dass du kurz darauf zurückkamst und auf die Toilette eiltest – mit Blut an den Händen.«
Antoinette Berger rückte von Christoph Moor ab. »Du, Chris? Aber – ihr wart doch so gut befreundet!«
Christoph Moor nickte. »So gut befreundet, ja. Das habt ihr gesehen. Aber den ganzen Rest habt ihr ignoriert.«
Er stand auf. Sofort eilten die Polizisten heran.
Christoph Moor lächelte. »Keine Bange, ich werde keine Schwierigkeiten bereiten. Das habe ich nie getan, auch wenn es längst fällig gewesen wäre. Jahrzehntelang war ich der Kopf hinter unserer Kampagne fürs Kraftwerk. Aber wen setzte die Partei bei den Wahlen immer zuoberst auf die Liste? Wen feierte sie als den großen Kämpfer für unsere Sache? Hans-Martin, immer nur Hans-Martin! Dabei war er doch längst nicht mehr tragbar.«
Gabriela hielt den Atem an, als Moor auf sie zeigte.
»Er hat alle angegriffen, die auch nur ansatzweise anders dachten als er. Seinetwegen verhärteten sich die Fronten immer mehr. Er trank viel zu viel, und was er dir antat, Antoinette …«
Antoinette Berger wandte den Blick ab.
Christoph Moor räusperte sich. »Trotz allem wäre Hans-Martin diesen Herbst wohl wieder in den Nationalrat gewählt worden. Und du und ich wären bloß wieder auf den Ersatzplätzen und im Kantonsparlament gelandet. Solange er da war, wäre die nationale Politik für uns unerreichbar geblieben. Dabei wären wir beide für diese Position viel besser geeignet.«
Antoinette Berger stand auf und verließ den Raum.
Christoph Moor ließ die Schultern hängen.
»Na komm«, sagte Rudolf von Allmen fast ein bisschen mitleidig. »Wir bringen dich nach Bern.«
*
Tagebuch von Gabriela Stauffer, Auszug aus dem Eintrag vom 22. Oktober 2023:
Antoinette Berger wurde heute in den Nationalrat gewählt. Irgendwie gönne ich es ihr, nach allem, was passiert ist – auch wenn Vero meint, sie sei eine harte Nuss, an der wir uns noch die Zähne ausbeißen würden. Vero und ich haben uns nach dieser leidigen Sache im Grimselkraftwerk angefreundet, also hatte all das zumindest noch etwas Positives.
Der Prozess gegen Christoph Moor soll nächstes Jahr stattfinden. Er ist geständig. Ehrlich gesagt hätte ich ihm so etwas nie zugetraut. Vero hingegen schon. Sie sagt, Chris sei schon in der Schule sehr ehrgeizig gewesen. Nun denn. Mittlerweile sind übrigens auch die Analysen der Pflanzenproben zurück, die ich am Grimselsee doch noch nehmen konnte. Vero sagt, die Resultate werden unserer Sache sicher dienen.
Wie ein Band zieht sich der Fluss durch die Aareschlucht. Die hohen Felswände glänzen nass und verstärken sein Rauschen. Linda bleibt stehen, reibt sich über die Hühnerhaut an den nackten Armen und legt den Kopf in den Nacken. Weit oben lässt die Sonne moosige Pflanzen leuchten. Kein einziger ihrer Strahlen dringt zum Grund der Schlucht hinunter.
»Man kommt sich vor wie ein Käfer hier drin«, sagt Linda und schlüpft in ihre Strickjacke.
Stefan legt die Hände aufs Geländer des Stegs, der an der Felswand entlang durch die ganze Schlucht neben der Aare her verläuft. »Stimmt. Aber insgesamt ist die Aareschlucht halt schon sehr brav. Verglichen mit …«
»Sag’s nicht!«, unterbricht ihn Linda. »Ich kann’s nicht mehr hören.«
»Aber es ist halt nun einmal so! Die Rosenlaui-Schlucht ist viel wilder, viel romantischer.«
»Pah«, macht Linda.
Stefan lässt sich nicht beirren. »Die Aare sieht hier doch nicht viel anders aus als weiter unten. Ein Fluss zwischen hohen Felswänden. Eindrücklich, ja. Aber wo ist da die Action?«
Linda knöpft ihre Strickjacke zu und schüttelt den Kopf. »Darum geht es dir doch gar nicht.«
»Ach ja? Und worum geht es mir dann?«
Linda stützt ihre Hände in die Hüften. »Um deinen Sherlock natürlich.«
»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragt Stefan und weicht ihrem Blick aus.
Linda lacht. »In ›Das letzte Problem‹ wandern Sherlock Holmes und Dr.Watson in Richtung Rosenlaui-Schlucht.«
Stefan strahlt. »Du hast die Geschichte also doch gelesen!«
Plötzlich kocht die Wut in Linda hoch. »Ja, letzte Nacht, während du schliefst. Mir blieb nichts anderes übrig, wenn ich mich nicht ständig von dir überrumpeln lassen will.«
»Aber ich …«
»Dir reicht es ja nicht, mich an euren Kongress in dieses Meiringen zu schleppen und ein Zimmer im Hotel zu buchen, in dem Sherlock Holmes angeblich einst übernachtete. Nein, selbstverständlich fahren wir mit dem Zug bis nach Genf und wandern dann ganz spontan auf den Pfaden des großen Detektivs hier hin. Tagelang über Stock und Stein, dazu diese Abgründe, die Blasen an den Füßen, das Gepäck. Es ist …« – Linda gestikuliert wild mit den Händen – »eine Zumutung ist das!«
»Ich wollte doch bloß …«
»… mich überraschen, ich weiß. Und mir zeigen, was in mir steckt. Aber begreif es doch endlich: Ich hasse Wandern! Mir wird schlecht, wenn ich an einem Abgrund stehe. Und dein Sherlock ist nichts weiter als eine Romanfigur, erfunden von Sir Arthur Conan Doyle. Er hat nichts, rein gar nichts mit mir zu tun. Und detektivisches Talent hat er mir erst recht nicht vererbt.«
Stefan betrachtet sie nachdenklich. »Heißt das etwa, du hast dich nur deshalb geweigert, in die Rosenlaui-Schlucht mitzukommen, weil du nicht wieder einen Sherlock-Holmes-Ort besuchen wolltest?«
Linda schweigt.
Stefan seufzt. »Wenn du dich nur ein kleines bisschen darauf einlassen würdest …«
»Ich lasse mich ständig darauf ein!«, faucht Linda. »Ich kam mit ins Berner Oberland und stakste über die Alpen, obwohl ich die Berge nicht mag. Und ich saß gestern den ganzen Abend mit deinen Kollegen von der Sherlock-Holmes-Vereinigung beisammen und hörte mir all eure abstrusen Theorien an, wie ich mit dem großen Detektiv verwandt sein könnte.«
Stefan grinst. »Ururururgroßvater. Markus hat es auf die Jahre genau ausgerechnet.«
Linda seufzt. »Markus mag die Lebensdaten eures Helden in- und auswendig kennen. Ihr beide und dieser seltsame Emil habt euch sowieso den ganzen Abend mit Insiderwissen übertrumpft.«
Stefan lächelt. »Wir sind auch die führenden Experten weltweit. Immerhin wird einer von uns morgen zum Präsidenten der Sherlock-Holmes-Vereinigung gewählt.«
»Das ändert nichts daran, dass euer Holmes erstens nichts anderes als ein Hirngespinst ist, pure Fiktion. Zweitens hatte er, wenn er denn tatsächlich existiert hätte, eine Abneigung gegen Frauen und war drittens sozial völlig inkompetent. Verrate mir mal, wie dieser Eigenbrötler oder sein noch schrägerer Bruder hätten Nachwuchs zeugen und eine Familie durchbringen sollen, von der ich abstammen könnte!«
Stefan schaut sie überrascht an. »Du hast mehr gelesen als ›Das letzte Problem‹.«
Linda erwidert einen Moment seinen Blick und schüttelt den Kopf. Dann wendet sie sich ab und stapft weiter den Fluss entlang.
»Gib’s zu«, sagt Stefan hinter ihr, »›Die Memoiren des SherlockHolmes‹ haben dich nicht mehr losgelassen.«
»Dank dir habe ich jeden Film gesehen, der je über Holmes gedreht wurde. Ich habe bei mindestens zwanzig von deinen ausgedachten Krimi-Schnitzeljagden mitgemacht. Und ich habe stundenlang irgendwelchen selbsternannten Holmes-Experten zugehört«, erwidert Linda kühl. »Ich weiß mehr als genug über deinen Helden.«
Stefan hält Linda am Arm zurück. »Nun beruhige dich doch, Miss Holmes.«
Linda verdreht die Augen. »Miss Holmes« ist seit jeher sein Kosename für sie. Seit sie sich kennen, liegt er ihr in den Ohren mit seinem Sherlock und erzählt allen, dass sie denselben Nachnamen trägt wie der berühmte Detektiv – ob sie es nun wissen wollen oder nicht. Er ist überzeugt, dass sie die perfekte Detektivin wäre, wenn sie sich den Job bloß zutrauen würde. Er schenkt ihr Arthur Conan Doyles Bücher, dabei liest sie viel lieber Liebesromane. Mindestens einmal im Jahr schleppt er sie in die Baker Street in London, wo der Detektiv gelebt haben soll. Und nun überredete er sie sogar, mit ihm an den Kongress der Sherlock-Holmes-Vereinigung nach Meiringen zu fahren.
Sie hätte es besser wissen müssen.
Linda wirbelt herum. »Manchmal denke ich, du bist nur mit mir zusammen, weil ich Holmes heiße.«
Stefan schaut sie erschrocken an und schweigt.
»Oh mein Gott«, flüstert Linda, »es ist wahr. Du bist nur mit mir zusammen, weil ich Holmes heiße!«
Stefan öffnet den Mund und sucht nach Worten.
»Mir reicht’s«, sagt Linda und stürmt Richtung Westausgang davon.
»Hey – immerhin bin ich mit dir in die Aareschlucht gekommen, obschon ich in die Rosenlaui wollte!«, ruft Stefan ihr hinterher.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, schreit Linda: »Ich wollte gar nie in irgendeine Schlucht!«
*
Unglaublich, wie warm es draußen an der Sonne ist. Stefan blickt zurück zum östlichen Ausgang der Schlucht und zieht seinen Pullover aus. Zugegeben, ganz so langweilig, wie er es vor Linda behauptet hat, ist die Aareschlucht nicht. Auch wenn der Fluss meist ruhig vor sich hin fließt, gibt es doch wunderbar verwunschene Stellen. Und hier, am Ende der Schlucht, sind auch kaum noch Menschen unterwegs. Der Ausflug hätte sich also durchaus gelohnt. Wäre dieser doofe Streit nicht gewesen.
Stefan blinzelt und setzt sich die Sonnenbrille auf. Vielleicht hätte er Linda hinterhergehen sollen. Ein paar nette Worte, und sie hätten trotz allem gemeinsam einen schönen Spaziergang machen können. Aber er war sprachlos vor Wut, als sie ihm vorwarf, er sei nur wegen ihres Nachnamens mit ihr zusammen. Ihr zuliebe geht er mit ins Kino, wenn sie eine ihrer Schnulzen schauen will. Jede Weihnacht sitzt er brav neben ihr und reicht ihr ein Taschentuch, wenn sie bei ihrem Lieblingsfilm »Love Actually« weint. Er macht mit ihr Strand- und Fahrradferien, obwohl er das Flachland stinklangweilig findet. Putzt immer das Bad, weil er weiß, wie sehr sie diese Arbeit hasst. Und er hat sogar seine geliebte Plattensammlung in den Estrich verbannt, damit Linda mehr Platz für ihre Bilder hat. Wenn das keine Liebe ist!