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Sie lieben Nervenkitzel und Spannung? Das schön-schaurige Gefühl, das Ihnen den Rücken hinabläuft, wenn Sie von Verschwörungen, Psychoterror oder Mordfällen lesen? Dann ist dieser Leseproben-Mix genau das Richtige für Sie! Bewahren Sie die Ruhe, wenn plötzlich die Smart Home-Assistentin aus S. K. Tremaynes »Die Stimme« Dinge über ihre Besitzerin weiß, die sie nicht wissen dürfte, oder Dinge tut, zu denen sie nicht in der Lage sein dürfte? Sie faszinieren zukunftsnahe, dystopische Szenarien? Wie wäre es dann mit dem Techno-Thriller »Sodom«, in dem durch Prothesen optimierte Killer die Straßen Berlins in einen tödlichen Dschungel verwandeln? Nach all den Schockern darf es auch etwas humorvoller sein? Begleiten Sie die Staatsanwalts-Sekretärin Daisy Dollinger, die mit ihrem Dackel Wastl zur Undercover-Agentin wird und plötzlich einen Mord vor dem Münchner Hofbräuhaus aufklären muss, in Isolde Peters »Der halbe Russ«. Diese und weitere Geschichten von AutorInnen wie John Katzenbach, Val McDermid, Lisa Jackson oder dem Erfolgsduo Douglas Preston & Lincoln Child finden Sie in den Mörderischen Aussichten von Droemer Knaur. Nervenkitzel und beste Unterhaltung garantiert! Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - Rydahl/Kazinski, »Die tote Meerjungfrau« - Isolde Peter, »Der halbe Russ« - Val McDermid, »Das Grab im Moor« - S. K. Tremayne, »Die Stimme« - John Katzenbach, »Der Bruder« - Gilly Macmillan, »Sieben Wahrheiten« - Veit Etzold, »Final Control« - Lisa Jackson, »Paranoid« - Eva Siegmund, »Sodom«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ausgewählte Leseproben von S. K. Tremayne, Isolde Peter, Veit Etzold, Val McDermid uvm.
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Vorwort
Thomas Rydahl, A. & J. Kazinski – Die tote Meerjungfrau
Isolde Peter – Der halbe Russ
Val McDermid – Das Grab im Moor
S.K. Tremayne – Die Stimme
John Katzenbach – Der Bruder
Gilly Macmillan – Sieben Wahrheiten
Veit Etzold – Final Control
Lisa Jackson – Paranoid
Eva Siegmund – Sodom
Liebe Leserinnen und Leser,
Sie lieben Nervenkitzel und Spannung? Das schön-schaurige Gefühl, das Ihnen den Rücken hinabläuft, wenn Sie einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele wagen, von Verschwörungen und unheimlichen Morden lesen oder bei kniffligen Fällen miträtseln?
Dann wagen Sie gerne einen Blick auf unsere neuen Spannungstitel im diesjährigen Herbstprogramm 2020 – hier ist sicherlich die eine oder andere Entdeckung dabei, die Ihr Krimi-Herz höherschlagen lässt!
Lassen Sie sich von Starautor John Katzenbach in ein perfides Spiel um Leben oder Tod verwickeln, gehen Sie mit Daisy Dollinger und Dackel Wastl – das kongeniale Ermittlerduo bei Isolde Peter – auf Verbrecherjagd in Bayern und bewahren Sie – hoffentlich! – die Ruhe, wenn die Smart Home-Assistentin Electra im neuen Bestseller von S.K. Tremayne Dinge über ihre Besitzerin weiß, die sie eigentlich gar nicht wissen dürfte …
Wir wünschen viel Spaß und gute Unterhaltung mit diesen exklusiven Vorableseproben unserer Neuerscheinungen – aber vergessen Sie nicht: Lesen auf eigene Gefahr!
Ihr Droemer Knaur-Team
Die tote Meerjungfrau
Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries erscheint am 01.10.2020
Die Hoffnung auf ein besseres Leben hat 1834 auch den jungen Dichter Hans Christian Andersen nach Kopenhagen geführt, doch die Stadt ist geprägt von Not und Elend. Als eine Prostituierte ermordet wird, bei der Andersen zuletzt gesehen wurde, gerät der Dichter unter dringenden Mordverdacht. Nur dank der Fürsprache eines Mäzens erhält er drei Tage Zeit, seine Unschuld zu beweisen. Hilfe kommt dabei von unerwarteter Seite: Molly, die Schwester der Ermordeten, ist ebenfalls auf der Suche nach dem wahren Mörder. Gemeinsam decken sie eine ungeheuerliche Geschichte auf, die Andersen zu einem berührenden Märchen inspiriert.
H. C. Andersen führt von 1825 bis zu seinem Tod 1875 akribisch Tagebuch.
Doch anderthalb Jahre fehlen.
1834, als er aus Italien zurückkehrt, hört er plötzlich mit dem Schreiben auf.
Niemand weiß, warum.
Dieser Roman beginnt dort, wo Andersen aufhört.
Er ist nicht normal. Ein normaler Mann hätte ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie mit starker Hand herumgerissen. Die Hose aufgeknöpft und ihren Blick nach unten ins Dunkel gezwungen, in der Erwartung, dass der Anblick sie begeistert. Ein normaler Mann würde sie vor Müdigkeit, Alkohol, Geilheit nicht einmal sehen oder wissen, dass ihr Name Anna lautet und sie eine sechsjährige Tochter hat, Mariechen, auf die jetzt die Tante im Nebenzimmer aufpasst. Ein normaler Mann denkt an nichts anderes, als es ihr zu besorgen.
Nein, dieser Kunde ist nicht normal.
Er hat seine Kleider angelassen, sie kaum angefasst und ihr nicht gezeigt, was er in der Hose hat. Er ist weder reich noch arm, vielleicht ein Student, eine Art Dichter, hat sie gehört, auch wenn er nur wenig sagt. Sie kennt nur seinen Nachnamen. Andersen.
An diesem Abend riecht er unnormal gut. Seit ihrem letzten Treffen hat er seinen Schnäuzer wachsen lassen. Das macht ihn männlicher, denkt Anna, traut sich aber nicht, ihm das zu sagen. Er hat sich auf die Bank an der Wand gesetzt und seine Schere und das farbige Papier hervorgeholt. Wie immer will er sie nur betrachten und einen Scherenschnitt von ihr machen. Manchmal blickt er mit seinen großen Augen auf, kurz, fast verlegen, bevor sein Blick sich wieder auf die Schere und das farbige Papier senkt. Er ist ganz in seine Arbeit versunken. Kleine Papierschnipsel rieseln zu Boden. Die Schere zuckt hin und her und greift auf eine Weise ins Papier, wie sie es bei niemandem zuvor je gesehen hat. Nicht einmal bei ihrem Onkel, der Schneider war. Sie bewundert, wie er das Schöne hervorholt und alles andere verschwinden lässt. Was schließlich entsteht, ist eine papierdünne Ausgabe von Anna mit offenen Haaren und naturwidrigen Formen. Verschwunden ist alles Hässliche, die Spuren, die ihre Kunden in Annas Augen hinterlassen haben, der fehlende Schneidezahn, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn, die angstvollen Fragen, was aus ihrem Mariechen werden wird und ob sie ihr ein besseres Leben ermöglichen kann, als sie selbst es führt.
Es kommt vor, dass Andersen sie um etwas Besonderes bittet. Könnten Sie Ihre Arme und Hände zur Decke ausstrecken? Könnten Sie Ihr Bein so anheben wie eine Ballerina im Theater? Dann tut sie, was er will. Sie versucht es wenigstens. Für das Geld, das er ihr gibt, macht sie sonst beinahe alles. Er will aber nie, dass sie ihren Unterrock fallen lässt, will ihre Scham nicht sehen, nur ihre Brüste, ihre Formen. Sie hat ihn direkt gefragt, ob sie das letzte, entscheidende Stück Stoff ablegen soll? Aber das wollte er nicht. Annas kleine Schwester Molly hält ihn für unnatürlich. Einem Mann, der nicht trinkt und nicht mit Frauen schläft, kannst du nicht trauen, sagt sie. Dass ein Mann, der trinkt und mit Frauen schläft, dir irgendwann wehtut, darauf kannst du dich verlassen. So sind alle Männer.
Anna streckt sich, schiebt ihre Brüste vor und stemmt die Hände auf die schmalen Hüften. Er schaut hoch, mustert ihren weißen Busen, der sich leicht bewegt.
Draußen auf der Straße ertönt das Lied des Nachtwächters. ›Hört, ihr Leut und lasst euch sagen, vom Turm die Glock hat neun geschlagen!‹ Immer derselbe Nachtwächter, sie haben ihre festen Stadtteile. Und die Ulkegade braucht einen standhaften Mann, der sich nicht scheut, zwischen zwei Streithähne zu treten, besoffene Seeleute zu besänftigen, einbeinige Diebe zum Richterstuhl zu führen und Ordnung im Chaos zu schaffen. Das sogenannte gute Ende der Gasse darf sich Holmensgade nennen. Als würde das Gesindel und sündige Pack deshalb verschwinden.
»Au!« Andersens Finger zuckt zurück. Blut tropft auf den Boden.
»Lassen Sie mich mal sehen«, sagt sie und beugt sich vor.
Er blickt entsetzt auf und steckt sich den Finger in den Mund. »Nein, nein«, sagt er.
»Aber Sie bluten.«
»Ich muss gehen, es ist schon spät, viel zu spät«, meint der Mann und wirkt unglücklich wie ein Kind.
»Müssen Sie zurück zu Ihrer Familie?«, fragt sie und legt ihr Korsett an, während sie sich den großen, hageren Mann mit einer bleichen Frau vorstellt, ein Kind an jeder Brust.
Er antwortet nicht, steht auf und legt seinen Scherenschnitt in eine schwarze Ledermappe. Seine Locken berühren fast die Zimmerdecke, so groß ist er. Sein Körper erinnert sie an den Affen mit den langen Armen, den sie draußen im Vergnügungspark gesehen hat.
»Für Ihre Mühen«, sagt er und drückt ihr eine warme Münze in die Hand, ein Tropfen Blut folgt dem Geld. »Und für Ihre Vertraulichkeit«, fügt er hinzu.
Sie nickt, hat das Gefühl, sich verbeugen zu müssen. »Darf ich mal sehen?«, fragt Anna und überrascht sich selbst. Sie bittet ihre Kunden niemals um etwas.
Auch Andersen ist überrascht, ja geradezu erschrocken. »Sehen?«
»Mich«, sagt sie und nickt Richtung Ledermappe, die er fest mit seinen langen Fingern umklammert, wie eine Beute.
»Nächstes Mal, nächstes Mal. Ich bin nicht zufrieden, noch nicht«, sagt Andersen. »Aber das liegt nicht an Ihnen. Nur an mir, nur an mir.«
Er öffnet die Tür und sieht nach draußen auf den Gang. Wie die meisten anderen Kunden möchte er nur ungern den anderen Männern begegnen, die zu ihr kommen. Dann grüßt er zum Abschied. Er setzt keinen hohen Hut auf, wie die feinen Herren, nur eine weiche Mütze aus schwarzer Seide, die ein bisschen zu klein wirkt, bestimmt im Ausland gekauft, vielleicht in Frankreich. Anna erinnert sich schwach an einen französischen Kunden, der vor vielen Jahren bei ihr war. Er hat eine ähnliche Kopfbedeckung getragen und sie damals mit französischen Geldscheinen bezahlt, die längst ihren Wert verloren hatten.
Andersen duckt sich unter dem Türrahmen hindurch und geht. Sie hört seine Schritte auf den Holzdielen. Dann ist er weg.
Ihr ist leicht ums Herz, der dünne Dichter war ihr letzter Kunde. Jetzt kann sie zu Molly gehen und zu Mariechen, die hoffentlich schon schläft.
Sie zieht ihr Kleid wieder an und fegt die Papierschnipsel zusammen, die wie Schneeflocken herumliegen, hier eine Brust, dort ein Bein. Andersen war anfangs nicht zufrieden und hatte immer wieder von vorn begonnen. Anna steckt die Münze in ihre Geldbörse und denkt an die Suppe mit Grünkohl und Fleisch, die es unten an der Ecke für sechs Schillinge zu kaufen gibt.
In diesem Moment klopft es an der Tür. Ein Geräusch, an das sie sich nie gewöhnen wird. Ein neuer Kunde, neue Widerwärtigkeiten, Männer, die ihre Finger in sie schieben wollen, sich mit ihrem Urin waschen, mit Gürteln geschlagen werden wollen. Normalerweise rufen sie ihren Namen, aber jetzt bleibt es still. Vielleicht ist der Dichter noch einmal zurückgekehrt, hat etwas vergessen.
»Herr Andersen, sind Sie das?«
Keine Antwort. Stattdessen klopft es noch einmal, unrhythmisch. Sie legt ihr Ohr an die Tür. Hört jemanden da draußen. Sie könnte die Tür geschlossen lassen, sagen, dass sie für den Tag Schluss gemacht hat. Andererseits denkt sie an das Geld, das sie so dringend für die Judashöhle gebrauchen könnten, die Molly und sie kaufen wollen. Die Gaststätte liegt eine knappe Stunde vom westlichen Stadttor entfernt. Sicher nicht die schönste Schankstube in Seeland, aber sie ist bei Reitern und Reisenden beliebt, da der frühere Besitzer niemanden wegschickte. Wer auch immer dort übernachten wollte – und wenn es Judas persönlich war –, bekam dort einen Strohsack und ein Glas Bier, solange er einen Schilling in der Tasche hatte. Außerdem ist es die einzige Gaststätte, die Molly und sie kaufen können. Frauen dürfen keine Gaststätten besitzen, der jetzige Besitzer ist aber bereit, den Namen von Annas Vater in die Papiere einzutragen, um diese Vorschrift zu umgehen. Sie haben bereits hundert Reichstaler angezahlt, für die sie ein halbes Jahr gespart und in dieser Zeit beinahe jeden Kunden hereingelassen hatten. Mit wenigen Ausnahmen.
Sie muss aufmachen.
Im Licht der Öllampe unter der Flurdecke sieht Anna eine junge Frau in einem sauberen Kleid und einem hübschen Tuch um die hellen Haare. Diese Art von Frauen kommt sonst nicht in dieses Haus. Niemals. Hat sie sich verlaufen, oder sucht sie ihren Ehemann? Ist das Frau Andersen, die ihrem Mann gefolgt ist?
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Anna.
»Erlauben Sie, Fräulein Hansen?«, fragt die Frau und zeigt in Annas Kammer.
Die Frau ist schön – wie eine Pariserin. Anna legt es nicht auf ein Gespräch auf dem Flur an, wo jeder sie hören kann. Ein paar der Dirnen, vor allem Sofie, oder Saugfie, wie die Soldaten sie nennen, haben so wenige Kunden, dass sie ihre Langeweile damit füllen, den anderen zu lauschen. Anna zieht die Tür auf und tritt zur Seite.
Die Frau schlüpft hinein, sieht sich in der Kammer um, tritt ans Fenster und zupft die Gardine zurecht, obwohl sie bereits zugezogen ist. Anna ist die Nervosität ihrer Kunden gewohnt, sie kennt ihre Angst, im Hurenhaus gesehen zu werden.
»Suchen Sie Gesellschaft? Ich habe leider nur noch wenig Zeit. Eine Viertelstunde vielleicht.« Anna bleibt an der Tür stehen. Sie hat nur selten weibliche Kunden, aber es kommt vor, und sie empfängt sie gerne. Sie riechen besser als die Männer, und sie sind großzügiger. Aber sie leiden auch an Schamgefühlen, dabei wollen sie oft nur in den Arm genommen und ein bisschen gestreichelt oder ein klein wenig gekitzelt werden. Ganz anders die Männer, sie sind schamlos und laut und rücksichtslos wie Vieh vor der Schlachtung.
Die Frau bleibt in den Schatten stehen und flüstert. »Lassen Sie mich Ihre Brüste sehen.«
Anna ist nicht dumm. »Das macht acht Schilling.«
»Sie bekommen fünf Reichstaler«, sagt die Frau wieder mit Flüsterstimme.
Fünf Reichstaler. Ein kleines Vermögen. Damit könnten sie bald die nächste Rate zahlen. »Sie reißen mir aber nicht mein Kleid kaputt«, sagt Anna und denkt an einen früheren, reichen Kunden, der glaubte, sich alles erlauben zu dürfen.
»Machen Sie sich keine Sorgen.«
Anna schiebt die Träger ihres Kleides über die Schultern und löst ihr Korsett, sodass ihr Busen zum Vorschein kommt. Die Frau sieht sie an. Mustert ihre Taille, ihre Brust, wie ein Schlachter ein Vieh auf dem Viehmarkt taxiert.
»Kommen Sie mit mir in meine Kutsche. Sie wartet an der nächsten Straßenecke.«
»Ich kann nicht weg, gute Frau, es tut mir leid. Es ist zu …«
Die Frau legt Anna den kleinen Finger auf die Lippen. »Sie bekommen Ihr Geld unten.«
»Ich werde erwartet«, sagt Anna und verrät damit mehr, als sie es sonst tut. Aber vielleicht hat eine Frau ja Verständnis für ihre Situation.
»Ich zahle Ihnen noch mehr, wenn Sie mitkommen«, sagt die Frau und zeigt Anna sogar einen richtigen Geldschein. Sie wurde noch nie zuvor mit einem Schein bezahlt, außer von diesem Franzosen. »Der gehört Ihnen, wenn Sie mitkommen«, flüstert die Frau. Ihr Atem ist nah und warm. Anna zögert, sie braucht das Geld. Noch einmal schaut sie in Richtung Tür. In der Kammer am Ende des langen Flures schläft ihr Mariechen, gut behütet von Molly. Anna und Molly haben sich das Versprechen gegeben, nie mit einem Kunden auf die Straße zu gehen. Unter keinen Umständen. Mit den Dirnen auf der Straße geschehen ungeheuerliche Dinge, und weder die Nachtwächter noch die Polizei kümmern sich darum. Als Dirne ist man vogelfrei. Hier im Haus passen die Frauen aufeinander auf. Ein Hilferuf bleibt nicht unerhört.
»Es tut mir leid«, flüstert Anna. »Ich kann nicht. Ich darf nicht.«
Die Frau wendet verärgert den Blick ab. »Dann machen Sie weiter«, sagt sie und zeigt auf Annas Busen.
Anna nimmt das Korsett ab und schiebt die Unterröcke zu Boden. Sie setzt sich auf das Bett, wie es die meisten Männer lieben. Mit halb gespreizten Beinen, die Brüste leicht mit den Armen nach oben gedrückt, sodass sie sich prall aneinanderlehnen, wie zwei Betrunkene auf dem Nachhauseweg.
Die Frau setzt sich neben Anna. Fährt mit dem Handrücken über Annas Brust. »Wie alt sind Ihre Brüste?«
Zuerst ist Anna verwirrt. Haben Brüste ein anderes Alter als der Körper, an dem sie sitzen? Sie wachsen ja erst später, aber meinte die Frau wirklich das?
»Ich bin achtundzwanzig«, antwortet Anna, die zwölf Jahre nicht abgezogen, die es gedauert hat, bis ihr Busen keimte.
Die Frau nimmt das Tuch aus ihren Haaren, schiebt sich ein paar Strähnen zurecht und sucht in ihrer Tasche nach etwas. »Mögen Sie Parfüm? Gefällt Ihnen mein Duft?«
Die Frau hält Anna ihr Tuch hin und nickt. Keine Aufforderung, ein Befehl. Es riecht nur schwach, süß und auch irgendwie sauer, wie Honig mit etwas anderem, vielleicht Walöl.
»Ein merkwürdiger Geruch«, sagt Anna.
»Ich nenne ihn Engelsatem. Er stammt von den Wilden in Westindien.«
Anna steckt die Nase in den Stoff.
»Ich kann nicht …«
Plötzlich legt die Frau ihre Hand fest auf Annas Hinterkopf und drückt ihre Nase in das Tuch. Warum ist dieses Parfüm so wichtig? Anna schnappt nach Luft und spürt Ameisen in ihre Lungen krabbeln. Oder etwas, das sich so anfühlt. Sie will Molly rufen, oder eine der anderen, egal wen, verliert aber die Kontrolle über Körper und Stimme.
Das Gesicht der Frau verschwindet wie ein Docht in den Flammen.
»Ist Mama zu Hause?«, fragt Mariechen noch halb im Schlaf.
Sie heißt Mariechen, weil sie klein für ihr Alter ist. Sie bekommt zu wenig zu essen, und ihr Vater, der in Annas und ihrem Leben keine Rolle mehr spielt, ist auch klein. Außerdem gibt es im Hurenhaus noch eine andere, größere Marie, eine unangenehme Frau, die alle nur Schimmel-Marie nennen.
»Sie kommt gleich«, antwortet Molly und lauscht dem Nachtwächter. Es muss bald zehn sein. Anna sollte längst fertig sein. Seit sie die Anzahlung gemacht haben, hat sie mehr Kunden angenommen. Das sollte ich ebenfalls tun, denkt Molly, auch wenn Anna immer sagt, das sei nicht nötig, und behauptet, das Ganze setze ihr weniger zu. Große Schwestern könnten mehr einstecken als kleine. Molly weiß ganz genau, dass Anna lügt. Außerdem hat sie das Mariechen zu versorgen. Ich sollte auch mehr arbeiten, denkt sie. Morgen. Morgen wird sie ihre Tür ein- oder zweimal öfter aufmachen, ihre Seele einkapseln, wo niemand sie erreichen kann. Sonst kommen sie und Anna und das Mariechen niemals hier weg. Sie müssen das Hurenhaus hinter sich lassen, den Kuhstall über ihnen, den ewigen Gestank nach Mist, Liderlichkeit und Erbrochenem.
»Tante?«
Molly sieht zu der Kleinen hinüber, die sich halb aufgerichtet hat. »Was ist?«
»Ich will eine ehrliche Antwort von dir«, sagt das Mariechen mit einem Blick, dem Molly nichts entgegenzusetzen vermag.
»Ehrlich, ich verspreche es. Und du musst jetzt schlafen.«
Mariechen bereitet ihre Frage vor. Das braucht Zeit. Molly sieht, wie der kleine Kopf arbeitet, um die richtigen Worte zu finden. Molly kämmt sich in der Zwischenzeit mit den Fingern die schon wieder verfilzten Haare. Ihre Trumpfkarte, was die Männer angeht, aber schwer zu bändigen. Sie dreht sich einen Knoten im Nacken und steckt ihn mit der langen Haarnadel fest, die sie von Anna bekommen hat. Die hat die Nadel von einem chinesischen Seemann erhalten, der keinen hochbekommen hat. Anna wollte keine Bezahlung, solange der Chinese nicht konnte, weshalb er ihr die Haarnadel geschenkt hat. Sie ist lang und flach wie ein Messer und rot und schwarz wie die Uniform der Soldaten. Anna ist überzeugt, dass diese Haarnadel Molly noch einmal das Leben retten wird. Eine Hure ist nackt und hat nichts, womit sie sich verteidigen kann, doch Molly hat jetzt immer ein Ass in den Haaren. Einen Hurensäbel, wie Anna ihn nennt.
»Komm schon, mein Schatz«, sagt Molly. »Du musst schlafen.«
»Und du sagst wirklich die Wahrheit?« Mariechen sieht sie skeptisch an.
»Ja, versprochen«, antwortet Molly.
»Gibt es Prinzessinnen? Also echte?«
Molly lächelt und setzt sich auf die Bettkante. Das Stroh sticht ihr in die Pobacke. Sie streicht Mariechen die Haare aus der Stirn und versucht die blonden Locken hinter die kleinen Ohren zu schieben. Es schmerzt sie, dass Marie die Stadt noch nie wirklich gesehen hat, aber sie achten darauf, dass sie in der Kammer bleibt oder wenigstens im Haus, da der König in den letzten Jahren mit Hurenkindern böse umgesprungen ist. Im letzten Monat haben sie Karen ihre beiden Jungen weggenommen. Karen hat geschrien und sich auf den Vogt des Königs und die Soldaten gestürzt, um ihre Kinder festzuhalten, aber sie wurden aus der Stadt gebracht. Manche Leute sagen, sie kämen als Dienstboten zu Familien auf dem Land.
»Ja, Marie. Es gibt echte Prinzessinnen. Und jetzt musst du schlafen.«
»Hast du schon mal eine gesehen?«
»Das habe ich, ja«, antwortet Molly, was wirklich die Wahrheit ist. Sie hat mal eine der goldenen Kutschen durch die Stadt fahren sehen. Hinter den weißen Gardinen hat Molly ein Gesicht gesehen, ein Augenpaar, das sie verwundert und fragend angestarrt hatte. Kann man wirklich so im Dreck leben? Nein, kann man nicht, hätte Molly ihr am liebsten geantwortet. Aber so ist das Leben, wenn man arm ist und sich in den Falschen verliebt. Liebe ist gefährlich. Das weiß Molly nur zu genau. Und das würde sie Mariechen gerne zuflüstern. Damit sie es ebenfalls weiß und auf sich aufpasst. Man muss sich vor den Männern hüten. Männer sind gefährlich, das Gefährlichste auf der Welt. Du verliebst dich in sie und wirst verlassen, so wie Molly. Und dann kannst du nur noch aus deinem Dorf weggehen. Niemand will dich, wenn du entjungfert bist, besudelt. Dann interessieren sich nur noch die Seeleute für dich, die Soldaten, Scharlatane und Freibeuter, mit ihren klimpernden Münzen in der Tasche. Und der Abschaum, die Stotterer mit faulen Zähnen oder Studenten mit krankhaften Fantasien. Wie der Dichter, der eben zu Anna in die Kammer geschlichen ist. Dieser Andersen. Molly hat Anna gewarnt, dass sie vor so einem Mann auf der Hut sein soll. Solche Männer sind gefährlich. Molly erinnert sich an einen Jungen in Odinswinkel, der begonnen hatte, Tiere aufzuschlitzen. Er hat sogar einer Amsel die Flügel abgebrochen. Irgendwann wurde er festgenommen, weil er ein Mädchen aus dem Nachbardorf misshandelt hatte. Er hatte sie grün und blau geschlagen und ihr die Arme gebrochen. So kann es auch mit dem Dichter gehen. Noch reicht es ihm, ins Papier zu schneiden. Aber was würde in einem Monat sein oder beim nächsten Vollmond? Wollte er dann mehr? So etwas kam vor. Dieser Andersen hatte auch Molly gebeten, ihm für seine seltsamen Schnipseleien Modell zu stehen, aber sie hatte ihn abgewiesen. Sie kam mit solchen verkorksten Seelen nicht zurecht, hatte lieber irgendeinen Idioten als einen eingebildeten Dichter.
Molly gibt Mariechen den Rest des warmen Biers zu trinken. Die Kleine schluckt gierig. In ihrem Dorf auf Lolland konnte man das Wasser trinken. Hier geht das nicht, hier trinken alle, Kinder wie Erwachsene, Milch mit Branntwein oder warmes Bier.
»Gute Nacht, mein Engelchen.«
Die Kleine kauert sich wie ein kleiner Vogel auf dem Bett zusammen. Viel zu mager. Sie muss raus aus diesem Haus. Wenn sie erst ihre eigene Gaststätte haben, können sie auch etwas mehr Speck in ihre Suppe schneiden. Dann müssen sie keine Angst mehr vor dem Vogt haben und das Mariechen wie eine Puppe unter dem Bett verstecken.
Im selben Moment hört sie den Nachtwächter. ›Hört, ihr Leut und lasst euch sagen, vom Turm die Glock hat elf geschlagen! Elf der Jünger blieben treu …‹, ruft er über die klappernden Hufe eines unruhigen Pferdes und das Gegröle des Trunkenboldes Otto unten in der Kneipe hinweg. Elf? Kann das sein? Anna arbeitet doch sonst nicht so lang.
Molly steht auf und lauscht an der Tür. Annas Kammer ist am Ende des Flures.
Ist noch jemand gekommen? Ein verzweifelter Junggeselle mit einem letzten Schilling in der Tasche? Andererseits ist Monatsmitte – nicht die Zeit, in der den Tagelöhnern oder Knechten aus den Dörfern vor der Stadt das Geld ausgegangen ist. Ende des Monats versuchen sie manchmal den Preis zu drücken, dann kriegt man sie schwer in den Griff. Aber in der Regel hatte Anna selbst mit diesen Leuten keine Probleme.
Anfangs, wenn die Kleine schlief, hat Molly Anna um Rat gefragt, sie wollte alles lernen, was man als Dirne wissen musste. Heute weiß sie, dass sie die dümmsten Fragen gestellt hat, die man nur stellen kann. Es ist unwesentlich, was den Männern gefällt oder warum sie so gerne überall geleckt werden… Anna hatte ihre Fragen trotzdem geduldig beantwortet und damit Mollys Neugier weiter angestachelt. Erst Monate später hatte Molly herausgefunden, dass ihre große Schwester keine sonderlich gute Dirne war. Aber sie hatte, seit die Kleine auf der Welt war, große Brüste, was ihr gleichermaßen Segen und Fluch war. Ohne sie hätte sie zu den Ärmsten im Hurenhaus gehört, in der ganzen Stadt. Und ohne diese Brüste wären sie vor drei Jahren, als Molly ihre Anstellung als Zimmermädchen im Krankenhaus verloren hatte, alle verhungert. Molly hatte ihr verfluchtes, neues Gewerbe selbst lernen müssen. Ein verfluchtes Gewerbe, aber auch ein Handwerk wie alle anderen. Je tüchtiger man war, desto schneller waren die Kunden zufrieden und wieder verschwunden. Sie hatte sich Ratschläge von den anderen Mädchen geholt. Wie man das Glied der Männer hält und massiert, damit sie schnell zum Höhepunkt kommen, was man mit dem Mund macht und wie man es vermeidet, schwanger zu werden. Sollte man sich die Scheide mit Malzbier oder morgens und abends mit Lederbalsam vom Schuhmacher einreiben, wie Salomine es behauptete?
Monate später hatte Molly Anna beigebracht, wie man die Kunden täuschte, wie man sich kleidete, damit die Brüste am besten zur Geltung kamen, und welche Kunden man annehmen sollte. Das Glück wandte sich ein bisschen, aber wirklich nur ein bisschen. Die Kleine wuchs heran. Sie begann zu laufen, bekam Zähne, sagte Mama und Tante und lernte zu stöhnen wie ein besoffener Kapitän, dass Anna und sie sich vor Lachen nicht mehr halten konnten und die Kühe oben zu brüllen begannen.
Molly gleitet in einen weißen Nebeltraum, bis die Glocken der Holmenskirche sie aus dem Schlaf reißen. Sie steht auf und legt noch einmal das Ohr an die Tür.
Kein Laut. Anna muss fertig sein.
Ein Schauer läuft ihr über den Rücken, als ihr endgültig klar wird, dass etwas passiert sein muss. Was, wenn dieser Andersen seine Schere zu etwas anderem als seinen Scherenschnitten benutzt hat? Sie wirft einen kurzen Blick auf das Mädchen. Die Augen der Kleinen zucken unter den Lidern hin und her.
Molly schlüpft auf den Flur und huscht an Saugfie vorbei, die dünn wie ein kranker Vogel zwischen den Beinen eines Soldaten kniet. Sofies Scheide ist bei der Geburt ihrer toten Zwillinge komplett aufgerissen und anschließend falsch zusammengewachsen. Jetzt kann sie ihr Geld nur noch mit dem Mund verdienen. Molly biegt um die Ecke zu Annas Kammer. Klopft vorsichtig an.
»Anna«, sagt sie leise, falls ihre Schwester in den Armen eines Kunden eingeschlafen ist. So etwas kam vor. Anna ist um diese Uhrzeit oft sehr müde.
Keine Antwort.
Sie öffnet die Tür. Als sie das leere Bett in der kleinen Kammer sieht, verliert sie vollends die Ruhe. Die Türklinke gleitet ihr aus der Hand, sie macht auf dem Absatz kehrt und rennt wieder an Sofie und dem Soldaten vorbei. Dann bleibt sie stehen, geht zurück. »Hast du Anna gesehen?«, fragt sie. »Sofie, wo ist Anna?«
Sofie befreit sich aus den Hosen des Soldaten. Ihre Lippen sind nass. »Was?«, fragt sie.
»Verdammt, antworte mir, es ist wichtig. Wo ist Anna?«
Der Soldat sieht sich verwirrt um, zu besoffen, um einen Satz herauszubringen.
»Was?«, lallt Sofie. Sie scheint noch mehr als ihr Kunde getrunken zu haben.
»Verdammt«, schimpft Molly und stürmt über die Treppe nach draußen auf die Straße, wo sie nach Annas blonden, zu einem Knoten hochgesteckten Haaren Ausschau hält.
Auch nach dem Dichter sucht sie. Diesem Andersen. Aber es sind zu viele Menschen auf der Straße. Um diese Zeit wimmelt es auf der Ulkegade vor Menschen, Molly kann die Leute in der Dunkelheit kaum unterscheiden. Sie schiebt sich an einem Bettler ohne Arme vorbei, passiert die Schenke, in der sich zwei Leute prügeln. Ein junger Mann schreit, weil seine Nase gebrochen ist. Ein Bäcker preist seine süßen Teilchen an. Hinter ihm hat eine Tonne Branntwein Feuer gefangen. Ein alter Mann schreit einem Jungen hinterher, der ihm die Uhr gestohlen hat. Eine Kuh brüllt. Molly biegt in die Vingårdstræde ab. Ein paar Seeleute tanzen im Kreis, ihre Mützen wippen auf ihren Köpfen.
Etwas entfernt entdeckt sie den Nachtwächter. Sie läuft zu ihm.
Er sieht geschäftig und müde aus, nickt ihr aber kurz zu, bis er in ihr die Dirne erkennt und weitergeht.
»Sie müssen mir helfen«, sagt Molly.
»Rede, Dirne, ich muss in die Admiralsgade, da hat sich ein Mann erhängt.«
»Ich weiß nicht, ich … meine Schwester ist weg. Sie ist … sie ist mit einem Mann verschwunden, einem seltsamen Mann.«
»Davon gibt es viele. Ist sie … ein leichtes Mädchen, wie du?«
»Ja, ja, aber … so ist sie nicht…«
»Dann wird sie schon wieder auftauchen, wenn der Herr sich beruhigt hat.«
»Nein, das ist irgendwie anders. Das spüre ich …«
Aber der Nachtwächter ist bereits gegangen und hinter einem Karren mit stinkenden Kuhhäuten verschwunden. Molly hält sich die Nase zu und sieht sich um.
»Anna!«, ruft sie, als sie eine blonde Frau in der Gasse hinter dem Hotel du Nord verschwinden sieht. »Anna!«
Die Gasse steht voller Holzkisten, Balken und Tonnen. Jemand hat einen kaputten Pferdewagen zurückgelassen. Es gibt nirgendwo Licht, lediglich aus einem Fenster etwas entfernt dringt ein schwacher Schein. Sie geht weiter in die Gasse hinein. Im Dunkel erkennt Molly mehrere ineinander verschlungene Paare. Erregte Gesichter, nackte Brüste und Schultern, ein paar haarige Ärsche, unter dem Stoff der Röcke verschwundene Männerköpfe.
Sie sieht einen Mann in dunklem Frack, der sich über ein grünes Kleid beugt.
»Anna?«, fragt sie und schiebt den Mann weg, damit sie die Frau sehen kann.
»Hau ab, Schlampe«, ruft der Mann. Seine Zähne sind blutrot.
Die Frau sieht Molly ausdruckslos an. Es ist nicht Anna.
Molly läuft aus der Gasse und lässt ihren Blick über das Gewimmel der Menschen schweifen. Überall Chaos und Lärm. Nachts, wenn die Stadttore geschlossen sind, wird Kopenhagen zum Gefängnis. Ohne die richtigen Papiere kommt dann niemand mehr hinaus oder herein. So wird sie Anna niemals finden, das ist ihr klar. Es gibt viel zu viele Gassen, Keller, Hinterhöfe und Straßen, in denen sie verschwunden sein kann. Es ist nicht wie zu Hause in Odinswinkel mit den unbefestigten Wegen und wo der Gasthof vor Sonnenuntergang schließt. Dort weiß man immer, wer sich wo befindet. Plötzlich muss sie an Mariechen denken und hastet zurück zum Hurenhaus. Sofie ist noch immer mit dem Soldaten beschäftigt.
Die Kleine schläft zum Glück. Sie atmet ruhig, unbekümmert, nichts wissend von dem Verschwinden ihrer Mutter. Mollys Magen krampft sich zusammen. Anna würde Marie oder sie niemals vergessen. Sie ging um diese Uhrzeit nicht nach draußen auf die Straße, nicht einmal um einen Kunden zu suchen, Tabak zu rauchen oder sich einen Schnaps zu holen. Und Sofie hätte Anna gesehen, wenn sie mit dem Dichter gegangen wäre.
Aber wenn Anna nicht durch die Haupttür verschwunden war, wie dann? Molly schlüpft noch einmal aus ihrem Zimmer und wirft einen Blick ins Treppenhaus. Über den Kuhstall? Unmöglich, denkt sie, stürmt aber trotzdem nach oben. Die Tür zum Stall ist offen. Das ist sie sonst nie. Der Hausbesitzer, Herr Müller, hat Angst, dass die Dirnen Milch stehlen. Eine der drei Kühe sieht Molly müde und resigniert an. Die Luke am Giebel steht offen, das Hebewerk, mit dem Müller die Kühe nach oben zieht, muss benutzt worden sein. Der große Haken, der sonst immer oben eingehängt ist, ist nicht zu sehen. Molly geht an den Kühen vorbei zur Giebelöffnung. Unten am Ende des Seils hängt der Haken mit dem Lederriemen, den Müller um die Kühe spannt, wenn sie zum Schlachten abtransportiert oder gegen ein Stück Land in Amager eingetauscht werden. Hat der Dichter, Andersen, Anna auf diese Weise herabgelassen? Aber warum sollte jemand Anna stehlen? Molly dreht sich um und entdeckt die Spuren in dem alten, am Boden klebenden Stroh. Exakt solche Spuren hatten sie zu Hause immer auf dem dreckigen Küchenboden, wenn sie und Anna abends ihren betrunkenen Vater ins Bett geschleift haben.
Mit einem Mal ist ihr alles klar. Eine harte Hand legt sich um ihr Herz. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Ein fürchterliches Verbrechen. Jemand hat Anna durch den Stall geschleift.
Sie ist tot. Maries Mutter ist tot.
Mollys einzige Hoffnung zerplatzt.
Hinter den Fenstern passiert etwas, das interessanter zu sein scheint als der Text, den Hans Christian vorträgt. Immer mehr der feinen Herren richten ihre Blicke auf die Straße.
Hans Christian räuspert sich und fährt fort: »Am Freitag, dem siebzehnten März, erwachte ich um Mitternacht und lag bis morgens wach, ohne wieder einschlafen zu können…«
»Uns geht es ganz anders, Andersen«, ruft einer aus den hinteren Reihen. »Wir können uns nicht wach halten.«
Gelächter brandet bei den gut fünfzig Männern in dem großen Saal auf.
Nur Edvard Collin ist jünger als Hans Christian, der in einem halben Jahr dreißig wird. Die anderen im Raum sind gestandene Männer aus der besseren Bürgerschaft, Ärzte, Professoren, Geschäftsleute. Viele von ihnen haben Hans Christian mit Almosen unterstützt, seit er vor etwas mehr als fünfzehn Jahren in die Stadt gekommen ist. Besonders die Collins haben ihm geholfen. Edvard, der gute Edvard, und sein stattlicherer Vater haben ihn aufgenommen wie einen herrenlosen Hund. Und genau das war das Problem. Als sie ihn zu sich nahmen, war er fünfzehn und sprudelte vor jugendlicher Kraft und frischer Hoffnung. Jetzt ist die Kraft fort, die Hoffnung geschwunden, ihre Geduld aufgebraucht. Er spürt das ganz genau. Sein großes, dramatisches Werk von Agnete und dem Meermann war ein Fiasko geworden, die Kritiker hatten ihn geschlachtet, und Monrad, der Schlimmste von ihnen, hatte mit seiner durchdringenden Stimme gesagt, das Stück sei ein jämmerliches Streben nach Tiefe. Auf der Rückreise aus Italien hatte sich Hans Christian geschworen, seinen Traum, Schriftsteller zu werden, ein für alle Mal an den Nagel zu hängen. Es sollte Schluss sein mit der unendlichen Nutzlosigkeit.
Hans Christian spürt, wie sich ein Schweißtropfen von seinem Haaransatz löst und über die Stirn rinnt. Er fährt mit seinem Text fort, was soll er sonst tun? – »Wir stiegen zu den Ruinen der Tiber-Villa hinauf«, liest er und hebt dabei die Hand, um zu zeigen, wie großartig die Ruinen sich in den italienischen Himmel recken. Aber ohne Erfolg. Knapp die Hälfte seiner Zuhörer ist aufgestanden und an die Fenster getreten, die zur Straße weisen. Dabei ist da draußen nur das Klappern von Hufen auf Pflastersteinen zu hören, aber nicht einmal mit einer solchen Banalität kann er konkurrieren.
Hans Christian wirft einen Blick auf seinen Text, seine Reise nach Italien. Er hatte keine Lust zu dieser Lesung, aber er hat nicht ablehnen können. Wegen des bescheidenen Honorars, das er für die Miete braucht. Honorar? Sie nennen es so, damit er nicht das Gesicht verliert, im Grunde ist es aber nicht mehr als ein Almosen. Er weiß das so gut wie der Rest der Gesellschaft. Er fängt Edvards Blick ein und sieht Mitleid und Irritation. Edvard ist wie ein Bruder für mich, pflegt Hans Christian zu sagen, um alle zu beruhigen. Dabei ist er mehr, viel mehr, viel bedeutender.
Bei seiner Rückkehr aus Italien – die Worte der Kritiker noch im Ohr – hatte Edvard ihm vorgeschlagen, doch für Kinder zu schreiben. Sie lieben alle Arten von Geschichten, hatte Edvard gesagt. Ohne jeden Zweifel meinte sein Freund es nur gut, aber Hans Christian hörte etwas anderes heraus. In den wohlmeinenden Worten steckte mehr als nur ein Funke Wahrheit. War er nicht gut genug, für Erwachsene zu schreiben, blieben ihm nur die Kinder. Aber Hans Christian hat für Kinder nicht viel übrig, ihre Boshaftigkeit und wilde Natur, das ewige Popeln in allen nur erdenklichen Körperöffnungen stößt ihn ab. Selbst als Kind mochte er keine anderen Kinder, und in der Schule ergriff er am liebsten die Hand der Lehrer. Nein, die Entscheidung war schon vor langer Zeit gefallen. So etwas wollte er niemals schreiben. Da würde er lieber zurück nach Odense gehen, alles aufgeben und verschwinden. Seinem Vater war es ebenso ergangen. Er hatte immer von einem anderen Leben geträumt, war klug, zu klug für einen Schuhmacher, und doch war dies sein Leben geblieben.
Mit Ausnahme von Edvard sehen jetzt alle nach draußen auf die Straße. Eine Kutsche hat vor der Mauer des Collin’schen Anwesens gehalten. In der klaren Luft hört er das Wiehern der Pferde. Hans Christian dreht sich zum Fenster und sieht einen Polizisten durch das Tor treten und auf das Haus zukommen.
Irgendwo weit entfernt klopft die Wirklichkeit hart an die Tür. Sie wird geöffnet, und Hans Christian ist zum Warten verurteilt. Er kann nicht mehr weitermachen. Entschiedene Schritte hallen durch den Vorraum. Dann sind sie auf der Treppe zu hören. Alle Blicke sind auf die Tür des Salons gerichtet.
Sie schwingt auf, und ein Polizist mit schwarzem Hut tritt ein.
»Hans Christian Andersen?«, fragt der Polizist, und plötzlich starren ihn alle an wie die Kugel, die auf die Kegel zurollt.
Der Polizist schiebt sich durch das murmelnde Publikum, das zur Seite tritt und das Drama gespannt verfolgt. Schließlich steht er vor Hans Christian, der noch immer sitzt und seine Papiere umklammert.
Hans Christian schluckt seine Spucke hinunter, sieht auf seinen Reisebericht aus Italien, dann zu Edvard, der fragend mit den Schultern zuckt. War es so schlecht, dass er festgenommen werden musste?
»Sind Sie Hans Christian Andersen?«, fragt der rundliche Polizist und legt eine Hand auf den Knüppel an seinem Gürtel. Der Mann ist genau wie die anderen Polizisten, die Hans Christian in Kopenhagen erlebt hat. Großzügig teilen sie Schläge und Ohrfeigen aus, bis die Delinquenten in der Gosse liegen. In Odense ist die Polizei freundlicher und spielt sich nicht auf, wenn man für seine Sache sprechen konnte. »So antworten Sie doch, Mann«, schimpft der Polizist.
»Ja.«
»Dann muss ich Sie bitten, mit mir zu kommen.« Der Polizist legt eine Hand auf Hans Christians Arm.
Hans Christian sieht noch einmal zu Edvard. »War es wirklich so schlecht?«, fragt er.
Edvard tritt vor. »Guter Mann, was geht hier vor?«
Der Polizist scheint Edvard Collin zu kennen und lässt Hans Christian augenblicklich los. Wieder ein trauriger Beweis für Hans Christians Position am unteren Rand der Gesellschaft. Man darf ihn behandeln wie ein Straßenkind, das an der Stadtmauer entlangschleicht und Jagd auf alles macht, was von den überfüllten Wagen der Bauern herabfällt.
»Befehl des Polizeidirektors, Herr Collin«, antwortet der Polizist. »Er will mit Andersen reden.«
»Worüber?«, fragt Hans Christian mit bebender Unterlippe, seine Gedanken stolpern bei dem Versuch, alle seine Handlungen Revue passieren zu lassen. Hat er etwas Falsches getan, etwas Falsches geschrieben, hat jemand erfahren, was er nur seinem Tagebuch anvertraut?
»Worüber?«, wiederholt Edvard. Ein Raunen geht durch das Publikum. »Worüber will Cosmus Bræstrup mit Herrn Andersen reden?«
Dem Polizisten ist sichtlich unwohl. »Es tut mir leid, ich habe bloß Order erhalten, Herrn Andersen zu holen.«
Hans Christian stammelt linkisch einen Protest, er will nirgendwohin mitgehen. Soll er wirklich abgeführt werden wie ein Kind, das etwas verbrochen hat? Die Erinnerung an einen Tag, an dem er in der Näherei in Odense gearbeitet hat, meldet sich. An die kräftigen Arbeiter, die mit einem Mal behaupteten, er sei ein Mädchen, eine Jungfrau, die ihn verlegen sehen, ihn demütigen wollten. Er hatte geschrien, als sie ihm die Hose runterzogen und ihn vor den Blicken der anderen Jungs entblößten. Damals war er nach Hause zu seiner Mutter gelaufen, die ihm versprochen hatte, dass er nie wieder zurück in die Näherei musste. Dasselbe Verlangen hatte er jetzt. Er wollte weg, für immer verschwinden.
»Der Zeitpunkt ist äußerst ungünstig, ich kann meine Zuhörer nicht einfach zurücklassen.«
»Der Polizeidirektor wartet nicht. Wir müssen gehen«, sagt der Polizist, packt erneut Hans Christians Arm und zieht ihn vom Stuhl.
Die Zuhörer treten zur Seite, die Erwachsenen, gestandene Männer, sehen ihn bartzwirbelnd an, einer kneift sein Auge um sein Monokel zu. Hans Christian weicht ihren Blicken aus, seine Augen finden den Boden, während er aus dem Saal gezogen wird.
Wie ein gemeiner Verbrecher.
Vielleicht wird er aus Kopenhagen ausgewiesen, rausgeschmissen? Am Fuß der Treppe wartet das Hausmädchen mit seinem Mantel. Der Polizist hält nicht mit seiner Verachtung hinterm Berg. Im Ärmel ist ein Loch, außerdem ist der Mantel für die Jahreszeit viel zu warm, aber seit dem Winter hat er sich keinen neuen leisten können.
»Sie müssen doch irgendetwas sagen können? Ist jemandem, den ich kenne, etwas zugestoßen?«, fragte Hans Christian.
Sie gehen durch den prächtigen Hof mit den braunen Bäumen und treten durch das Tor des Collin’schen Anwesens auf die Straße. Auf dem Kutschbock sitzt ein älterer Polizist. Oben an den Fenstern stehen die Männer und verfolgen den letzten Akt der Andersen-Tragödie. Der Polizist gibt dem Kutscher ein Zeichen, und als sie eingestiegen sind, fahren sie los. Über die Norgesgade und dann über den Kongens Nytorv, wo sie um ein Haar zwei herrenlose Hunde überfahren hätten.
»Fahren wir nicht zum Gericht?«, fragt Hans Christian.
»Der Polizeidirektor ist am Tatort«, ruft der junge Polizist.
Tatort? Die Worte ergeben für Hans Christian keinen Sinn. Er sieht über den Platz auf die Frauen mit ihren Sonnenschirmen, dazwischen herausgeputzte Kinder mit Hüten. Sie fahren in Richtung Holmens Kanal. Gestank schlägt ihnen entgegen. Dieser Abschnitt des Kanals ist die Kloake der gesamten Stadt. Hier mündet alles, was gegessen oder getrunken wurde und über die Gossen hierhergelaufen ist. Der Schandfleck der Stadt. Besonders an warmen Sommerabenden wie heute gemahnt alles auf sehr greifbare Weise an die Vergänglichkeit. Hans Christian hält sich die Nase zu, die Polizisten hingegen lassen sich nichts anmerken.
Am Ufer des Kanals ist eine Menschenmenge zusammengelaufen. Junge Leute, Rabauken, ein paar Frauen, die sich unter ihren Schals verstecken, ein Malergeselle mit Farbklecksen auf dem Gesicht, ein paar Händler mit Hühnern und Gänsen in Käfigen, jeder kämpft in dieser Stadt um einen Schilling. Seit dem Staatsbankrott ist es noch schlimmer geworden, jetzt muss man doppelt so hart für dreimal so wenig arbeiten.
