Mörderisches Oberhessen - Bernd Köstering - E-Book

Mörderisches Oberhessen E-Book

Bernd Köstering

4,9

Beschreibung

Oberhessen ist nicht Frankfurt. Auch nicht Klein-Chicago. Trotzdem lauert das Verbrechen überall: im Maisfeld, in der Lahn oder auf Wanderwegen im Vogelsberg. Begleiten Sie die Protagonisten von 11 fesselnden Krimis durch das Herz von Hessen. Die Täter werden meist durch private Ermittlungen überführt - oder auch gar nicht. *Eine kriminelle Entdeckungstour quer durch Oberhessen. Ein ungewöhnlicher Freizeitführer mit Humor, Spannung und vielen interessanten Orten.* (kursiv)

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Seitenzahl: 153

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Bernd Köstering

Mörderisches Oberhessen

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Karte zu Beginn: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © David Dieschburg / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5364-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Karte

0. Vorwort

Für einen Krimiautor, der in Gießen aufgewachsen ist und für den Oberhessen zu seiner Jugend gehört wie Kassettenrekorder, VW Käfer und die RAF, ist es fast eine Selbstverständlichkeit, die Reihe der Kriminellen Freizeitführer im Gmeiner-Verlag durch den Band »Wer mordet schon in Oberhessen« zu ergänzen.

Als knifflige Aufgabe erwies sich dabei die Abgrenzung der Region. Der Begriff »Oberhessen« ist sowohl von geschichtlichen Entwicklungen als auch von aktuellen Interessen geprägt. Der »Verein Oberhessen« mit Sitz in Nidda und Hirzenhain hat sich die Regionalentwicklung zur Aufgabe gemacht und sieht den Bereich zwischen Schotten, Gedern, Büdingen und Nidda als oberhessisches Kerngebiet. Der »Oberhessische Geschichtsverein Gießen« betrachtet den Begriff – nomen est omen – eher aus historischer Sicht. Die darmstädtische Provinz Oberhessen umfasste bis zu ihrer Auflösung die Kreise Gießen, Alsfeld, Schotten, Lauterbach, Büdingen und Friedberg. Die historische Landschaftsbezeichnung zieht sich teilweise sogar bis nach Nordhessen.

Ich erlaube mir, beide regionale Definitionen zu vereinen und auch Städte miteinzubeziehen, die meine Jugend geprägt haben. Insofern spannt sich der oberhessische Bogen im vorliegenden Buch von Butzbach über Wetzlar, Marburg und den Vogelsberg bis nach Büdingen – den Kreis Gießen und die Wetterau einschließend.

Freuen Sie sich auf elf Kurzkrimis, teils nur wenige Seiten lang, teils mit Novellenlänge, einige im »gewohnten« Schreibstil, andere in einer außergewöhnlichen Form und Erzählweise. Meine Ermittler sind ausschließlich Privatpersonen. In Marburg und Lich ermittelt eine Studentengruppe, in Gießen ein Kioskbesitzer, in Bad Salzhausen ein Hausmeister. Manchmal stellt sich der Täter selbst ein Bein, manchmal ergibt sich die Lösung des Falls von selbst oder bleibt offen. Den Lesern meiner Kriminalromane sind die beiden Figuren Hendrik Wilmut und Herbert Falke bestens bekannt. In Bad Nauheim ermitteln sie zum ersten Mal gemeinsam. Sogar Elvis und Goethe sind mit von der Partie.

Weiterhin finden Sie 125 interessante Freizeittipps, die an den jeweiligen Handlungsort gekoppelt sind und teilweise auch in der Krimihandlung eine Rolle spielen. Einige der Tipps dürften selbst Einheimischen unbekannt sein. Sie können also den einen oder anderen freien Tag nutzen, um diese regionalen Besonderheiten zu erkunden.

Ich wünsche Ihnen dabei viel Spaß!

Ihr

Bernd Köstering

1. Ich wollte er sein

Butzbach

Sie werden das vielleicht nicht verstehen, aber ich wollte er sein. Schon immer. Schon in der zweiten Klasse der Degerfeldschule, als er neben der süßen Katja den Prinzen spielen durfte. Und später, mit 15, als ich zum ersten Mal verliebt war. In Veronika, ein Mädchen wie der Frühling. Sie erinnern sich bestimmt auch noch an Ihre erste Liebe, oder? An dieses starke Gefühl des Hingezogenseins, ohne zu wissen, wie es sein wird, wenn man am Ziel ankommt. Bei Veronika kam ich nie ans Ziel. Dafür schaffte er es, schnell, an einem einzigen Abend, während des Butzbacher Altstadtfests. Ich sah, wie er sie küsste.

Was war anders an ihm?

Ich beobachtete ihn, um herauszufinden, was es war. Das mit Veronika hielt nur ein paar Wochen. Bei ihm folgten dann Tanja aus Kirch-Göns, Mona aus Bodenrod und Andrea aus Nieder-Weisel. Bei mir folgte niemand. Ich musste herausbekommen, was seine Besonderheit war. Dieser Vorsatz wurde mir fast zum Lebensinhalt. Wahrscheinlich finden Sie das seltsam, aber ich sage es ganz offen: Ich war süchtig nach ihm. Nicht wirklich nach ihm selbst, mehr nach seiner Aura, wie Mutter es immer nannte.

Während des Studiums in Gießen wurde er Semestersprecher, dann ASTA-Vorsitzender. Unser Jurastudium absolvierten wir beide im Eiltempo mit Auszeichnung. Sie merken, meine Sehnsucht lag nicht auf fachlicher Ebene, nein, eher auf der inneren Erfüllungsebene. Später wurde er Parteimitglied und bekam ein Mandat im Butzbacher Stadtparlament, nach kurzer Zeit saß er im Magistrat.

Ich wollte er sein. Schon immer.

Als er schließlich zum Staatssekretär im hessischen Innenministerium berufen wurde, nach Wiesbaden zog und eine Laufstegschönheit heiratete, verlor ich ihn eine Zeit lang aus den Augen. Ich heiratete eine der von ihm abgelegten Freundinnen aus Ebersgöns, kaufte einen gebrauchten VW und versuchte, meinem Leben eine eigenständige Richtung zu geben. Mit mäßigem Erfolg. Ich pflegte Mutter bis zum Tod, schnitt meine Frau vom Dachbalken ab, beerdigte sie und schloss meine Kanzlei, die so erfolgreich gewesen war wie ein Hüttenberger Handkäs bei einem Duftwettbewerb. Nun werden Sie sicher denken, ich sei ein Verlierertyp. Ja – ich denke, damit haben Sie recht.

Danach hatte ich wieder Zeit für meine Sucht, er sein zu wollen. Ich war immer noch nicht hinter sein Geheimnis gekommen. Als er wegen einer kleinen Affäre geschieden wurde und dann auch noch den Posten als Staatssekretär verlor, weil die Affäre der gegnerischen Partei angehörte, dachte ich, es sei vorbei mit seiner Glückssträhne. Doch das Gegenteil war der Fall: Er bekam täglich lobhudelnde E-Mails, seine Facebook-Likes stiegen auf 85.000 und im Butzbacher Stadtparlament wurde der Antrag eingereicht, auf dem Schrenzer eine Ehrentafel für ihn zu errichten. Da hatte ich genug und tötete ihn.

Es war ganz leicht.

Er liebte schnelle Autos. Was für ein Klischee, werden Sie jetzt wohl denken. Ja, das stimmt, aber: So war es tatsächlich. Ich kann die Wahrheit ja nicht verbiegen, nur weil Sie keine Klischees mögen. Abgesehen davon sollten Sie es wertschätzen, wie offen ich Ihnen gegenüber bin. Schließlich gestehe ich gerade einen Mord. Einen feigen Mord natürlich, wie es zu mir passt. Ich habe nämlich die Bremsleitung seines Autos durchgeschnitten, und er ist auf der Landstraße von Butzbach nach Espa gegen einen Baum gerast. Eine gefährliche, lang gezogene Linkskurve, die schon vielen Rasern zum Verhängnis geworden ist. Sein Maserati brannte aus, es blieb nur ein Haufen Asche übrig. Ich kaufte eine Urne in XXL-Größe – für seine Asche und die seines Sportwagens, denn beide waren nicht mehr zu trennen. Dann behauptete ich, er zu sein, und dass ich den Maserati an meinen Zwillingsbruder verliehen hätte, der sonst nur VW fuhr. Und schon war ich er.

Was für ein Gefühl! Herrlich. Das Paradies lag vor mir.

Ich übernahm seine Villa in Wiesbaden, schlief in seidener Bettwäsche, besuchte seine Freunde, ging auf deren Partys und räkelte mich in seiner Sonne. Ich versuchte, zu reden wie er, zu gestikulieren wie er und zu lachen wie er. Da ich ihn zuvor so lange beobachtet hatte, klappte das gut. Auch seine Freundinnen gefielen mir, besonders Clarissa. Sie besuchte mich oft in der Villa, schenkte mir Champagner ein und strich mein seidenes Kopfkissen glatt.

Nach ein paar Wochen jedoch fühlte sich die glänzende Oberfläche kalt an. Ich fand immer weniger Gefallen an dem Spiel. Schließlich sagte einer seiner Freunde: »Du bist so komisch seit einiger Zeit, was ist los mit dir?«

Ein anderer fragte: »Wo ist dein spezieller Humor geblieben, deine Wortgewandtheit, dein Charme, deine Ausstrahlung?«

Ein Dritter meinte: »Du bist fast wie ausgewechselt!« Das war das Stichwort. Die Polizei kam. Sie konnten mir zwar nichts nachweisen, denn bei eineiigen Zwillingen ist die DNA identisch. Aber hinter der Stirn meiner Freunde waberte von nun an der Zweifel. Sie zogen sich zurück und mieden die Villa. Auch Clarissa schmeckte mein Champagner nicht mehr. Es war nicht schön, in der großen Luxusbehausung allein zu sein, sie war mehr für Partys gedacht als für Soloauftritte. Und schon gar nicht für Menschen, die jemand anders sein wollten, es aber selbst mit den radikalsten Mitteln nicht geschafft hatten.

Irgendwann ging ich zurück in mein altes Haus in Butzbach. Es wirkte wie tot, ohne jegliche Ausstrahlung. Mein gebrauchter VW rostete in der Einfahrt vor sich hin. Das Schild mit dem Namen meiner Kanzlei hing schräg am Zaun. Die Tür stand offen und die Treppenstufen knarrten wie immer. Dann befand ich mich auf dem Dachboden, direkt unter dem Balken, an dem meine Frau sich aufgehängt hatte.

Was hätten Sie an meiner Stelle jetzt getan?

Freizeittipps:

Touristik Butzbach:

Butzbach bekam 2011 vom hessischen Innenmister offiziell den Titel »Friedrich-Ludwig-Weidig-Stadt« verliehen.

Tourist-Information: Färbgasse 16, 35510 Butzbach, Telefon: 06033/995310, E-Mail: [email protected]

*

1. Museum Butzbach

Sie möchten wissen, in welchem Zusammenhang der Butzbacher Lehrer, Theologe, Politiker und Turner Dr. Friedrich Ludwig Weidig (1791–1837) mit Georg Büchner stand? Dann sind Sie in diesem Museum genau richtig. Nur so viel vorab: Während Büchner die Flucht nach Frankreich gelang, wurde Weidig von einem knallharten Untersuchungsrichter wegen seiner demokratischen, antifeudalen Grundüberzeugung in den Suizid getrieben. Nach zwei Jahren Untersuchungshaft im großherzoglichen Arresthaus in Darmstadt schrieb er mit seinem eigenen Blut an die Wand der Gefängniszelle: »Da mir der Feind jede Verteidigung versagt, so wähle ich einen simplen Tod von freien Stücken!«

www.stadt-butzbach.de/kultur/museum

*

2. Altstadt mit Marktplatz

Das wunderschöne gotische Rathaus, die dicht beieinanderstehenden hohen Giebelhäuser und der Marktbrunnen aus Sandstein formen die Butzbacher Altstadt zu einer filmreifen Kulisse. Diese ist allerdings kein potemkinsches Dorf, sondern besteht aus echten, teils im Mittelalter erbauten Fachwerkhäusern. Der Butzbacher Marktplatz ist an einem legendären Wettbewerb beteiligt: In welcher Stadt spielt Goethes Epos »Hermann und Dorothea«? In Pößneck, Emmendingen oder Butzbach? Alle drei Städte haben einen Marktplatz vorzuweisen, auf den die Beschreibung des Altmeisters der deutschen Dichtung passt, sogar jeweils mit einem Gasthaus »Zum Goldenen Löwen«. Doch die Goetheforscher sind sich bis heute uneinig, welche Stadt tatsächlich als Inspirationsquelle diente. Es gibt weder Beweise noch Gegenbeweise. Solange diese fehlen, kann der geneigte Literaturfreund sich getrost mehr mit dem Werk selbst als mit dessen Hintergründen beschäftigen. Gerade in Zeiten von immensen Flüchtlingsströmen ist es aktueller denn je.

*

3. Altstadtfest

Das Altstadtfest ist seit 34 Jahren ein fester Bestandteil des Butzbacher Herbstkalenders. Die angeblich größte Theke der Wetterau, Livemusik und jede Menge Marktstände locken die Besucher aus der Stadt und aus Oberhessen. Und, wie im Kurzkrimi »Ich wollte er sein« beschrieben, kann man sich dort sogar verlieben.

4. Die Butzbacher Märkte

Zu Zeiten, in denen es nicht möglich war, zum Einkaufen mit dem Auto in die nächste große Stadt zu fahren, waren die Märkte ein wichtiger Bestandteil der urbanen Entwicklung. So auch in Butzbach. Die Wochenmärkte, die reine Handelsmärkte waren, wurden zunehmend durch Jahrmärkte ergänzt, die namentlich jährlich stattfanden. Der Katharinenmarkt ist mit der Ersterwähnung 1416 der traditionsreichste und damit älteste Jahrmarkt Butzbachs. 1494 kam mit dem Faselmarkt der zweite Frühjahrsmarkt hinzu, entstanden durch ein historisch belegtes kaiserliches Privileg. Dieser ehemalige Viehmarkt wandelte sich im Laufe der Zeit zu einem Krämer- und Vergnügungsmarkt. Lediglich eine Pferdeschau wies 2016 noch auf den Ursprung des Faselmarkts hin.

*

5. Stadtführungen

Interessant sind insbesondere Themenführungen, wie zum Beispiel die Friedrich-Ludwig-Weidig-Führung, der Rundgang auf den Spuren berühmter Besucher Butzbachs oder die Nachtwächterführung mit Dieter Schulz, die auch als Laternenführung für Kinder angeboten wird. Ein Highlight 2016 waren die Führungen von Monika Gniffke unter dem Motto »Butzbach im Fokus der Literatur«. Sie wären es wert, wiederholt zu werden.

www.stadt-butzbach.de/kultur/stadtfuehrungen

*

6. Open-Air-Kino

Sehr beliebt: jeden Sommer zwei Wochen lang Open-Air-Kino im Innenhof des Landgrafenschlosses, alle Informationen finden Sie hier:

www.open-air-kino.info

*

7. Justizvollzugsanstalt (JVA) Butzbach

Die 1894 erbaute JVA stellt 760 Haftplätze höchster Sicherheitsstufe zur Verfügung. Sehenswert: die Kapelle im Innenhof. Sie möchten sie besichtigen? Nun, Sie wissen ja sicher, wie man in eine Strafanstalt kommt. Dann haben Sie viel Zeit, sich die Kapelle anzusehen …

*

8. Schrenzer

Der Schrenzer ist eine Anhöhe am Rande von Butzbach und ein beliebtes Ausflugsziel. Von dort hat man einen schönen Blick auf die Stadt und die Umgebung. Besuchen Sie dort auch den Weidig-Gedenkstein und die Nachbildung eines römischen Wachturms, so wie er am Limes üblich war. Der Zugang zum Schrenzer erfolgt über die Kleebergstraße oder die Hildegard-Clement-Schneise.

9. Landgräfliches Schloss

Dieses Schloss in der Stadtmitte Butzbachs hat eine wechselvolle Geschichte und viele Besitzer hinter sich. Die bauliche Beeinflussung durch den kunstbewussten Landgrafen Philipp III. von Hessen-Butzbach prägte das Schloss am deutlichsten. Ab 1817 diente es als Kaserne und wurde als solche von 1951 bis 1992 auch von der U.S. Army genutzt. Heute befindet sich darin die Butzbacher Stadtverwaltung und das Standesamt. Falls Sie eine besondere Örtlichkeit für Ihre Hochzeitsfeier suchen, sind Sie hier genau richtig: vom Standesamt direkt in den historischen Gewölbesaal schlendern, zwischendurch im Schlosspark flanieren, barocker Hintergrund für die Hochzeitsbilder inklusive. Sehr stilvoll!

www.gewoelbesaal-butzbach.de

2. Die Milliardenbrille

Wetzlar

Jenny lächelt. Sie sitzt im Restaurant »Die Linse« und blickt hinaus auf den Optikpark und die Hotelbaustelle. Sie hat ihren Vater vor Augen, der nie gut mit der Kamera umgehen konnte, obwohl er in Wetzlar, der Stadt der Kameras, wohnte. Seine Fotos waren meistens unscharf und oft war ein Teil des eigentlichen Objekts abgeschnitten, worüber Jenny lachen musste. Sie fotografierte all seine Erfindungen. Er war ein genialer Tüftler, ein oberhessischer Daniel Düsentrieb. Umgekehrt lachte er oft über Jennys soziale, teils alternative Ideen, die technisch nicht umsetzbar waren. Nur bei einem Thema, da waren sich beide einig, da lachten sie nicht: das Projekt Milliardenbrille.

Jenny arbeitet als Lehrerin in Gießen. Sie kommt regelmäßig hierher, in die Nachbarstadt, in die Stadt, in der ihr Vater glücklich war. Und an den Ort, an dem ihr Vater ums Leben kam. An einem warmen Sommerabend, genau heute vor fünf Jahren.

Sie schüttelt den Kopf, um den Nachhall der Vergangenheit loszuwerden, nippt an ihrem Glas, sieht auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Die gelbe Rose liegt auf dem Tisch, wie von ihm gewünscht.

»Guten Abend, Jenny!«

Sie haben nur wenige Male telefoniert, aber sie erkennt die Färbung seiner Stimme sofort. Er wirkt präsent und sportlich, trägt ein helles Jackett, genau wie auf dem Foto. An seinem Revers entdeckt sie einen Anstecker, eine gelbe Rose.

Sie steht auf. »Guten Abend, Tristan!«

Er ist offensichtlich beeindruckt von ihr. Sie trägt ein hinreißendes Kleid, das ihren Körper gut zur Geltung bringt. Über dem Stuhl hängt ein Bolero, der später, draußen, beim geplanten Spaziergang ihre Schultern bedecken soll.

»Können … ich meine, wollen wir uns nicht setzen?«, fragt Jenny.

»Ja, natürlich, sorry, ich stehe hier so rum, bitte!« Er hilft ihr galant mit dem Stuhl. Dann nimmt er ihr gegenüber Platz. Noch immer kann er den Blick nicht von ihr lassen.

»Und, Tristan 5, bist du überrascht?«, fragt sie.

»Ja, Jenny 11«, antwortet er, »ich bin sehr … positiv überrascht!«

Jenny lächelt. Für einen Moment scheint er verwirrt. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Oh ja, danke«, sagt er. »Ich war zunächst erstaunt, dass du diesen Treffpunkt vorgeschlagen hast. Ich nahm an, wir treffen uns in Gießen. Aber von Frankfurt aus ist es fast egal, ob man nach Gießen oder Wetzlar fährt. Außerdem: Für dich ist mir kein Weg zu weit.«

Jenny lächelt. Sie findet den letzten Ausdruck ein wenig kitschig. Der Ober kommt mit der Speisenkarte. Sie wählt den Chefsalat. Er entscheidet sich für den Salat Nizza.

»Du bist ja Vegetarierin, ich dachte, ich passe mich dem etwas an.« Er lächelt.

Sie lächelt zurück. »Passende Wahl!«

Er nickt. »Seit wann suchst du in einer Internet-Partnerbörse?«

»Noch nicht lange. Meine Freundin Nadja hat mich darauf gebracht. Der Name ›Lost and Found‹ hat mir gut gefallen: für alle, die einen Partner verloren haben und einen neuen suchen.«

»Gefiel dir ›Tristan 5‹ sofort?«

»Ja, Tristan ist ein schöner Name, sehr männlich. Offensichtlich suchen mehr Jennys einen Mann als Tristans eine Frau.«

Sie lachen beide.

»Ich staune noch immer über diesen Zufall«, sagt er, »die 11 ist meine Lieblingszahl, darum habe ich dich bei ›Lost and Found‹ angeklickt. Welch ein Glück!«

»Ach, nur wegen der 11 hast du mich angeklickt, nicht wegen meiner Beschreibung oder meiner sonstigen … Vorzüge?«

Er lacht, ein wenig zu laut. »Die lese ich erst gar nicht, stimmen sowieso meistens nicht!«

Jenny lehnt sich zurück. Sie versucht, einen entspannten Eindruck zu machen.

Er wirkt nachdenklich. Als der Kellner den Wein bringt, ändert Tristan seine Bestellung. Er möchte doch lieber ein Steak. Jenny ist enttäuscht. Aber sie sagt nichts dazu. Sie zeigt durch ein großes Fenster nach draußen: »Hier entsteht die Erweiterung des Optikparks. Er soll Wetzlar einen großen Schub in der industriellen Entwicklung geben.«

Tristan sieht sie erstaunt an, so als habe er nicht mit diesem Gesprächsthema gerechnet. »Ja, das habe ich auch gehört«, sagt er.

»Da drüben wird ein neues Hotel gebaut. Eigentlich war dort ein Entwicklungszentrum für innovative Kleinbetriebe im Optikgewerbe geplant.«

»Aber davon kann doch keiner leben!«

Sie hebt das Kinn. »Einige schaffen es. Außerdem kann man ja nicht das ganze Leben lang nur vernünftige Dinge tun, oder?«

Er scheint zu überlegen. Dann sagt er: »Du bist mir sehr nahegekommen, selbst in den wenigen E-Mails und Telefonaten. Es ist schon sehr lange her, dass ich das zulassen konnte.«

Sie nickt. »Und mit dieser Frage komme ich dir noch näher.«

»Ja, so ist es.«

»Und?«

»Oh ja, es ist sehr … interessant.«

»Warum benutzt du das Wort ›interessant‹? Das klingt nicht besonders schmeichelhaft.«

»Oh, entschuldige bitte. Ich kann mit Worten nicht so gut umgehen wie du als Lehrerin.«

»Das ist möglich!«, sagt sie akzentuiert. »Möchtest du nicht noch meine Frage beantworten?«

Er gießt Wein nach. »Welche Frage?«

»Egal, lass uns anstoßen!«

Er trinkt. Jenny beobachtet ihn dabei. Sein Schnurrbart zieht sich schmal über die Oberlippe, fast ein wenig zu schmal. Er erinnert sie an Clark Gable.

»Die beiden großen Betontürme da hinten«, jetzt zeigt Tristan hinaus, »Turm 1 und 2, die werden morgen gesprengt, dann sieht das gesamte Ensemble schon viel besser aus.«

Der Salat und das Steak werden serviert.

Nach dem Essen brechen sie zu dem vereinbarten Spaziergang auf. Er hilft ihr in den Bolero und reicht ihr die Handtasche.

»Danke«, sagt sie. »Dort hinter den beiden Betontürmen gibt es einen Park«, sagt sie.

Er nickt, sie laufen los. Die Dämmerung setzt ein. Unmittelbar neben Turm 2 steht ein kleines Gebäude, möglicherweise ein ehemaliger Verwaltungsbau.

»In diesem Haus hat sich mein Vater das Leben genommen«, sagt Jenny. »Genau heute vor fünf Jahren. Ein Immobilienhai aus Frankfurt hatte ihn mit dubiosen Geschäften um seine Existenz gebracht. Sein Haus, seine Werkstatt, seine Entwicklungsideen – alles weg!« Sie wundert sich selbst, wie emotionslos sie davon sprechen kann.

Er mustert sie, zwischen seinen Augen bildet sich eine scharfkantige Falte. »Woher weißt du das mit dem Immobilienmakler?«

»Ich habe eindeutige Beweise. Hier!« Sie hält die Handtasche hoch.

»Oh«, sagt er.

»Ist das alles?«

»Sorry, ich hatte ja keine Ahnung, das ist ja … schrecklich!«

»Ja, es ist schrecklich«, sagt sie trocken. Dann geht sie ruckartig auf ihn zu: »Komm, ich zeig dir den Raum, in dem er sich aufgehängt hat!«

Er zögert. »Äh, findest du das jetzt … passend?«

»Du willst mich doch kennenlernen, oder? Das gehört dazu!«

»Also gut.«

Sie öffnet die Tür. »Es war im Keller!«