Mordnacht - Dieter Weißbach - E-Book

Mordnacht E-Book

Dieter Weißbach

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Beschreibung

Nichts deutet im Leben von Erwin Zimmerl, Joseph Neuner, Karl-Friedrich Häusler, Oscar Vincenti und Wolfram Summer darauf hin, dass sie irgendetwas anderes sind als alteingesessene, honorige Bürger ihrer Heimatorte Garmisch-Partenkirchen und Farchant. Sie haben Karriere gemacht als internationaler Vertreter für Skibekleidung, Polizeidirektor, Sägewerksbesitzer, Notar und DSV-Mannschaftsarzt und führen jeweils ein solides Leben zwischen Arbeit, Stammtisch und Gebirgsschützen. Doch als eines Tages zwei der engen Freunde ermordet im Schnee aufgefunden werden, kurz darauf ein dritter verschwindet und eine Fremde im Ort auftaucht, ist klar: Jemand hat noch eine Rechnung mit ihnen offen. Etwa wegen ihrer zwielichtigen Geschäfte in Sachen Schneekanonen? Oder wegen eines Vorfalls aus der Vergangenheit, über den nicht nur die fünf Freunde seit Jahrzehnten schweigen? Hauptkommissarin Paulig aus München tappt lange im Dunkeln, bis sich ihr das ganze Ausmaß einer Tragödie zeigt …

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Mordnacht

Oberbayern-Krimi

Für den Maremma Peter, meinen Begleiter auf seltsamen Wegen.

Peter Bechmann (1946–2012)

April 2014 Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München © 2014 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München Titelbilder Klaus Doblmann (www.dokla.net); Printed in Europe ISBN 978-3-86906-628-8

Alles Glück dieser Welt entsteht aus dem Wunsch, dass andere glücklich sind.Und alles Leiden dieser Welt aus dem Wunsch, dass wir selbst glücklich sind.

Sinnspruch von Shantideva, 8. Jahrhundert

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Weitere Hochspannung im Allitera Verlag

1

I hr Treffen hatte später begonnen als geplant. Joseph Neuner, Leiter der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen, hatte zum Dienstschluss noch einen Unfall auf den Tisch bekommen, und Oscar Vincenti, Notar, ebenfalls aus Garmisch und auf dem Rückweg von einem Termin, war hinter Mittenwald in einen Stau geraten. Immer dichter fiel der Schnee auf die Häupter der drei Wartenden, Dr. Wolfram Summer, Orthopäde und DSV-Mannschaftsarzt, Karl-Friedrich Häusler, genannt Lufti, Farchanter Bürger, Mitglied der bayerischen Gebirgsschützen, der größte Sägewerksbesitzer im Tal, und Erwin Zimmerl, Vertreter für Skibekleidung, ebenfalls aus Farchant.

Eine Stunde später gingen die fünf wieder auseinander. Wolfram Summer drehte an seiner Stirnlampe, fummelte noch ein wenig an den Schlaufen seiner Walkingstecken und verschwand Richtung Wald. Bis Partenkirchen rechnete er mit einer guten Stunde, heute wohl eher anderthalb. Vincenti, Neuner und Zimmerl stapften am Rand der Skipiste hinunter zum Parkplatz, wünschten sich noch einmal einen angenehmen Abend, Vincenti und Neuner bestiegen ihre Wägen, Erwin Zimmerl ging weiter Richtung Uferweg. Lufti Häusler, sogar im Dunkeln und bei Schneetreiben leicht zu erkennen an seinem altmodischen Pelerinenmantel und dem handgearbeiteten Trachtenhut, steckte sich erst einmal eine an. Das hölzerne Wegkreuz und der Kastanienbaum an seiner Seite blieben wie immer unbeachtet zurück. Der Baum kannte es nicht anders, er war noch jung und erst vor wenigen Jahren hier gepflanzt worden. Das Marterl, ungebeugt, trotz der Jahrzehnte, die es schon hier stand, mochte dagegen wirklich eine Art Erinnerung haben an vergangene, an bessere Zeiten, als die Menschen, die es schließlich errichtet hatten, noch nicht achtlos an ihm vorübergingen, sondern stehen blieben, kurz innehielten, ein kleines Gebet verrichteten, sich bedankten für ein gesund geborenes Kind, eine glücklich überstandene Operation, den Tod der reichen Erbtante oder einfach nur für einen schönen Tag. Aber nicht einmal für ein hastig geschlagenes Kreuzzeichen schien es heutzutage zu reichen. Nur die alte Martha Bruckmeier mit ihrem Rucksack, in den sie alles stopfte, was sie meinte, gebrauchen zu können, sei es für die Küche, zur Verschönerung ihres Heims oder einfach nur zum Verheizen, kam regelmäßig vorbei und murmelte von vergangenen Geschichten, die keiner hören wollte, von begangenem Unrecht, diejenigen würden schon wissen, von einem bemalten Haus, das nicht mehr stand, Gottes Zorn und ewiger Verdammnis und anderem verworrenen Zeug. Und natürlich die Kinder, die hier, zur Freude ihrer jeweiligen Erziehungsberechtigten, erste hoffnungsvolle Bögen in den Schnee stemmten.

Karl-Friedrich Häusler war ein Mann von Achtung gebietendem Äußeren, ein echter Werdenfelser, Ende sechzig, mit einem gepflegten Schnauzbart, eisblauen Augen und vollem, grauem Haar. Wenn man ihn so sah, gerade hatte er das Kuhgitter überquert und wieder festen Boden unter den Stiefeln, mochte man kaum glauben, dass er in frühen Jahren als rechter Treibauf und Schürzenjäger verschrien war. Einer, zu dem der Name Lufti wirklich passte, aber auch einer, der aus nichtigstem Anlass Schlägereien anzettelte, der regelrecht außer Rand und Band geraten konnte, der tat, als müsse er nie erwachsen werden, und der dann, als nur noch er und Erwin übrig waren, gerade noch so die Kurve kratzte. Er war fast vierzig, als er zu Elvira ging, eine Straße weiter, ebenfalls eine übrig Gebliebene, und sie fragte, ob sie ihn haben wolle.

Von Bekannten angeblinkt oder durch beschlagene Seitenscheiben gegrüßt, stapfte er die Esterbergstraße entlang Richtung Ort und überquerte die Loisach, die hier, wie meist um diese Jahreszeit, mehr Eis und Schnee als Wasser führte, musste am Bahnübergang einige Minuten warten – was ihm unangenehm war, denn er hatte keine Lust, geschlossenen Autofenstern zuzuwinken und dabei den Mund zu bewegen, was ja keinen Sinn machte, außer jemand drehte sein Fenster herunter, was ihm noch unangenehmer wäre, denn dann käme er um eine Konversation nicht herum. Er wartete dann noch einmal an der großen Kreuzung und war schließlich in dem Teil des Ortes, den die Zugezogenen respektvoll Altfarchant nennen. Hier steht das Rathaus, die Kirche, die Schule, hier hat der Metzger seinen Laden und der Bäcker, hier wohnen Bauer und Vieh noch unter einem Dach, Hühner gibt es auch und echte Misthaufen mit Odelrinne. Hier wohnen die, die immer schon hier wohnen, die niemandem eine Erklärung schuldig sind, die tun, was zu tun ist, und alles andere so lange vor sich herschieben, bis es sich am besten von selbst erledigt. Ein Indiz für dieses Gerücht sind ihre Häuser. Mögen ihre Bewohner von Generation zu Generation immer größer werden, sie selbst unter der Last der Jahrhunderte langsam in Grund und Boden versinken, kaum einer ihrer Besitzer käme deshalb auf die Idee, es abzureißen und ein neues dafür hinzustellen. Auch wenn die Balkone zum Teil schon so niedrig hängen, dass man sich bücken muss, um unter ihnen durchzugehen. Zumindest soll es Leute geben, die das behaupten.

»Und wie war’s?«, fragte Elvira aus der Küche.

»Wie soll’s schon g’wesen sein«, brummte er aus der Garderobe und schob betont beiläufig nach: »Ich geh dann noch mal.«

»Ich hab gedacht, du kommst gerade.«

»Ich schau noch ins Stüberl. Ich zieh mich nur schnell um.«

»Übrigens, die Regine hat angerufen.«

»Und?« Er nahm Geldbeutel und Handy aus dem Überwurf und steckte beides in seine schwarze Bogner-Jacke. »Was sagt sie?«

»Nichts Besonderes, das Übliche, dass es ihr gut gefällt im neuen Job. Besonders, dass die Kollegen sie so freundlich aufgenommen haben, richtig befreit hat sie geklungen am Telefon. Und ob wir am Wochenende schon was vorhaben. Ich hab gesagt, dass wir da sind. Ich hab mir gedacht, ich mach uns eine Linzer Torte oder vielleicht einen Aprikosenkuchen. Ich weiß noch nicht genau. Mal schaun.«

»Brauchst nicht auf mich zu warten«, antwortete er fürsorglich. »Also dann, bis später.«

»Ist schon recht. Und sei leise, wenn du kommst. Soll ich dir was warmhalten?«

»Nein, ich ess im Stüberl.«

Er zog die Tür ins Schloss und griff nach der Schneeschaufel. Langsam wusste er wirklich nicht mehr, wo er den Schnee noch hinwerfen sollte. Am liebsten hätte er ihn einfach auf die Straße geschoben, war sich aber nicht sicher, ob es da nicht eine Verwaltungsvorschrift gab, die das untersagte. Er war Gemeinderat, er konnte nicht einfach tun, was er wollte. Er würde sich erkundigen.

Zehn Minuten später saß er am Stammtisch des Georgistüberls und wartete auf das Einsetzen der Gemütlichkeit. Es roch nach Küche. Marthas Küche, präzisierte er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kam zurück zu dem, was sie eben am Marterl besprochen hatten. Wie immer landete er ziemlich schnell bei der Frage, warum er sich das eigentlich immer noch antat. Nichts hinderte ihn daran, einfach auszusteigen. Es gab keinerlei Verträge, nichts, was ihn band. Aus. Vorbei. Ein für alle Mal. Nie mehr diese blöde Angst, dass doch noch was rauskommen würde. Nie mehr Kitzbühel, Serfaus, Ladis, Ischgl oder wie auch immer die Skigebiete hießen, die sie in bald dreißig Jahren abgegrast hatten. Obwohl, diese Orte waren weit weg. Auch mit Garmisch hatte er kein Problem. Aber hier war er daheim. Der größte Sägewerksbesitzer im Tal, Mitglied des Gemeinderats, ein angesehener Bürger. Er war heilfroh gewesen, als sie die Anlage endlich beschlossen hatten. Jetzt schon an eine Erweiterung zu denken, ging entschieden zu weit. Wenn nur nicht dieser Pelzer wäre. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nur schwer wieder davon abzubringen. Das Beste würde wohl sein, erst einmal auszuloten, wer dagegen und wer dafür stimmen würde. Waren genügend Gemeinderäte dafür, könnte er seine Hände in Unschuld waschen und sogar dagegen stimmen. Wenn nicht? Wenn seine Stimme den Ausschlag geben würde? Eine blöde Situation. Aber warum, versuchte er das nutzlose Grübeln auf den Punkt zu bringen, sollte ihnen gerade Farchant mit seiner windigen Hundertfünfzigtausendeuroanlage zum Verhängnis werden. Auf jeden Fall nicht, wenn sie jetzt erst einmal Ruhe gäben. In ein, zwei Jahren vielleicht, warum nicht. Aber jetzt? Nicht auszudenken. Ihn schauderte. Spontan drückte er seinen verlängerten Rücken gegen den Kachelofen und dachte wieder einmal daran, wie alles angefangen hatte. Auch wenn es ewig her war, er erinnerte sich an jedes Detail.

Zum ersten Mal seit Jahren hatte einer der Freunde es für nötig gehalten, sich wieder einmal zu melden. Wolfram, wer sonst. Sie wollten sich treffen, am Marterl, logisch. Und ob er sich nicht manchmal langweilen würde dabei, immer nur den Sägewerksbesitzer zu spielen. Sie hätten da eine Idee, die ihm gefallen könnte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was das wohl sein könnte. Er wusste ja nicht einmal, dass die vier noch Kontakt hielten. Alle fünf, mein Gott, wie lange war das her. Das war alles, was zählte, als er noch am selben Abend mit klopfendem Herzen, unverrückbarer Bestandteil seiner Erinnerung, an ihren alten Treffpunkt geeilt war. Sie hatten sich in die Arme genommen, zum ersten Mal in ihrem Leben, jeder mit Tränen in den Augen, und bis er kapiert hatte, um was es ging, hatte er bereits Ja gesagt. Erst viel später war ihm der Gedanke gekommen, dass sie ihn vielleicht absichtlich überrumpelt hatten. Aber warum sollten sie. Wahrscheinlich war es für die vier einfach selbstverständlich gewesen, dass er dabei wäre, nein, müsse. Sie hatten ihn gefragt, und er hatte Ja gesagt. Das war alles gewesen. Ein erfolgreicher Unternehmer und Mitglied der bayerischen Gebirgsschützen, ein Polizeioberrat auf dem Sprung zum Dienststellenleiter, ein Notar und Mitglied beim BUND, dazu ein Orthopäde und DSV-Mannschaftsarzt, und Erwin, den eine schwedische Nobelmarke eben zum Generalvertreter ernannt hatte. Eine beeindruckende Aufzählung, ein Beweis, dass sie es zu etwas gebracht hatten. Warum sich das nicht vergolden lassen? Und wer wäre wohl besser geeignet, hatten sie gelacht, einen Ort von der Notwendigkeit künstlicher Beschneiung zu überzeugen. Und gebaut würden sie sowieso, stellte Oscar unmissverständlich klar. So etwas konnte er, ein Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen, im richtigen Moment einen passenden Spruch aus dem Hut zaubern.

Und sie wären wieder zusammen, schwärmte Erwin, einer für alle, alle für einen, wie in alten Zeiten. Kein Wort, dass man da konspirativ vorgehen müsse, im Geheimen.

Einer ging voraus, die anderen folgten. Welle um Welle. Manchmal dauerte es Jahre, bis sie die jeweilige Gemeinde so weit hatten. Der Durchbruch erfolgte Ende der Achtzigerjahre, nach ein paar schneearmen Wintern, als die Wintersportorte erschrocken feststellten, dass ausreichend Schnee nicht gottgegeben war. Mit ihnen die mächtigen Seilbahngesellschaften, die plötzlich um ihre Existenz bangten. Im Schlepptau die Politiker, denen vielleicht in absehbarer Zeit die Austragungsorte regelrecht davonschwimmen würden, denen überhaupt der ganze Skizirkus komplett abzuwandern drohte. Von da an lohnte es sich. Sie verdienten ein Vermögen mit ihrer Beratertätigkeit. Lufti Häusler registrierte es, mehr nicht. Er hatte genug eigenes Geld. Ihm genügte es, herumzukommen, Menschen kennenzulernen, neue Gesichter zu sehen. Er hätte es auch getan, wenn er nichts dafür bekommen hätte. Irgendwie wäre es ihm sogar lieber gewesen.

Veronica Fischer, die sein Kommen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen hatte, gehörte zu den Frauen, die älter wirken, als sie sind. Nicht einmal die roten Haare, die sie am Morgen zu einem lockeren Pferdeschwanz band und erst am Abend wieder löste, hatten diesem Eindruck Entscheidendes entgegenzusetzen. Sie war von mittlerer Größe, schlank, aber nicht feingliedrig, und ihren Schritten sah man an, dass sie eher an ausdauerndes Gehen gewohnt waren, als zwischen Tischen und Stühlen wie zwischen zu eng gesteckten Slalomstangen herumzuwedeln.

Andererseits hatte sie kein Problem damit, vier Teller gleichzeitig und formvollendet durchs Lokal zu balancieren. Sie durfte dabei nur nicht an die Möglichkeit denken, dass ihr ein Gast an den Hintern fassen könnte. Und sie arbeitete alleine. Sie hatte keine Lust darauf, jede Saison eine neue Aushilfe anzulernen und ihr dann permanent auf die Finger zu sehen. Bargeld macht gierig, hatte sie deshalb gleich zu Anfang ihrer Köchin Martha erklärt und ihr damit sozusagen über Bande aufgezeigt, um was sie besser einen großen Bogen machen sollte. Sie wusste, dass es knapp hergehen würde, dass sie sich keinen launischen Teenager und schon gar keine diebische Elster leisten konnte. Von den paar Urlaubern im Sommer waren keine Reichtümer zu erwarten, und dass die paar Einheimischen die Heimkehrerin mit offenen Armen empfangen würden, war auch nicht ausgemacht. Man wusste nie, wie Gäste auf einen Wirtswechsel reagierten. Zum Glück war ihr Vorgänger mehr am eigenen Konsum interessiert gewesen als an der Zufriedenheit seiner zahlenden Kundschaft, sodass, bis auf eine Handvoll Schwerstalkoholiker, alle im Dorf der Meinung waren, dass es schlimmer wohl kaum werden könne. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil war, dass sie eine von hier war. Im Ort geboren und aufgewachsen, in jungen Jahren hinausgezogen in die Welt und erst jetzt zurückgekehrt an einen Platz, der nur auf sie gewartet zu haben schien: das Georgistüberl. Ein Häuschen, nicht mehr ganz im Zentrum, mit einer stilvollen Malerei quer über die Front und einer kleineren zwischen Haustür und erstem Stock, daneben eine Schlosserei, umgeben von Bauernhöfen, bewirtschaftet oder zu Wohneinheiten umfunktioniert, gegenüber die einzige Tankstelle, ein paar Herbergsbetriebe, nichts Großes, nichts, über das man sich aufregen müsste. Für die, die es kennen, darunter wohl fast nur Einheimische, steht es stellvertretend für den gesamten Ort, Heimat von knapp viertausend Seelen, an einen Berg gelehnt, der ebenso harmlos daherkommt wie das Dorf selbst. Keine Sehenswürdigkeiten, keine groß zu feiernden Jahrestage, nicht einmal ein durchgereister Heiliger, der sich einmal im Jahr wichtig macht. Dafür an die zwanzig Vereine, vom Maschkerastammtisch über den Spar- und Stopselclub bis zu den Fingerhaklern ist alles vertreten. Wobei vom Fingerhakeln abzuraten ist, solange noch ein Briefmarkensammler unter den Familienmitgliedern weilt. Nicht dass man am End das ganze Glump erbt, es zu den vereinigten Briefmarkensammlern schleppt, die einen infizieren und einem dann seine Gelenksarthrose in die Quere kommt. Dreiviertel des Jahres ist Farchant von saftigen Wiesen und Weiden umzingelt, im Winter schneit es. Farchant hat auch einen eigenen Bahnhof. Der Spatenstich für den Bau der dazugehörigen Bahnlinie erfolgte etwa 1200 vor Christus, als durchreisende Bernsteinhändler eine erste Schneise durch diesen unwirtlichen Landstrich schlugen. Die feierliche Eröffnung der Linie Murnau−Garmisch-Partenkirchen fand allerdings erst dreitausend Jahre später statt, am 25. Juli 1889. Am Ende des Tals, in Sichtweite, liegt Garmisch-Partenkirchen, die Kreisstadt, die alles verschlingt, was an Farchant vorbeifährt, seit der Tunnel den Ort von der Welt abgeschnitten hat, zu der man aber ein entspanntes Verhältnis pflegt.

Abgesehen vom Tunnel hatte sich seit ihrem Weggang nicht viel verändert. Links und rechts der alten Straße, die während ihrer Abwesenheit in Kurven gelegt worden war, war ein Neubaugebiet entstanden, und wo in ihrer Jugend Kühe geweidet hatten, standen jetzt Einfamilienhäuser. In der anderen Richtung, zur Autobahn hin, hatte sich eine Handvoll Firmen angesiedelt, und der Friedhof war jetzt doppelt so groß, war aber immer noch mit diesem einzigartigen Bergblick gesegnet, der sie auch in der Fremde nie losgelassen hatte und den wohl auch Martha Bruckmeier genoss, wenn sie herüberschaute, im Winter vom Küchenfenster aus, im Sommer auf der kleinen Gartenbank neben der Haustür sitzend.

Martha Bruckmeier lebte alleine, vielleicht der Hauptgrund, warum sie nicht aufhörte zu arbeiten, dazu der Fortschritt in der Küche, all die Erleichterungen. Kein Vergleich zu früher. Die Pfannen, die sofort anbrannten, wenn man mal eine halbe Zigarettenlänge nicht aufpasste, das stundenlange Umrühren, die ewig sauertöpfischen Küchenmeister, die Schlepperei all die Jahre, besonders in den Großküchen, erst bei den Amerikanern, dann in der Bundeswehr. Und jetzt, wo es um so viel leichter geworden war, wollte sie das mitnehmen, so lange es noch irgendwie ging.

Ihre Eltern waren arme Kleinbauern gewesen. Einfache Leute von der Sorte, die nirgends dabei sind, die keiner kennt, die sterben, ohne dass es in ihrem Leben jemals etwas wirklich Schönes gegeben hätte, die Kinder haben, die ihnen egal sind, Hauptsache, sie funktionieren. Mittag heimgekommen, den Schulranzen achtlos in die Ecke gestellt, schnell etwas hinuntergeschlungen, dann ab in den Stall, auch am Sonntag, und immer auf der Hut vor dem Jähzorn des Vaters. Gleich nach Beendigung der Schule besorgte sich Martha deshalb eine Stelle als Hilfsköchin. Aber die Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändern würde, blieb unerfüllt. Das verdiente Geld kassierte der Vater, Prügel gab’s trotzdem weiter reichlich. Ruhe war erst, nachdem er von einer Kuh mit einem gezielten Tritt ins Jenseits befördert wurde. Als Jahre später auch ihre Mutter starb, verkaufte sie das Vieh und das bisschen Grund, das nach Abzug der Beerdigungskosten geblieben war, und besorgte sich eine Ganztagsarbeit. Nur einmal hatte sie seitdem den Landkreis verlassen, vor bald zwanzig Jahren, zur Beerdigung ihrer jüngeren Schwester, die nach Huglfing auf einen Bauernhof geheiratet hatte, und noch einmal, als sie bald darauf erneut hinfuhr, warum auch immer. Nur so viel hat sie verstanden, dass der Bauer, der jetzt alleine lebte, irgendwie meinte, dass jetzt vielleicht sie … Aber weiter kam er nicht. Die Vorstellung, was das mit sich bringen würde, jede Nacht mit einem Mann und so. Sie tat sich ja schon schwer damit, jemandem nur die Hand zu geben.

Bruckmeiers Martha, wie sie sich selbst nannte, war keine reizvolle Person. Alles an ihr war eckig, ihr Gang, die Art zu reden, das Kinn, das sie bei jedem Schritt ruckartig nach vorne bewegte, sogar ihr Blick. Es gab nur einen Grund, sich für sie zu interessieren: ihre Sparsamkeit. Jeder im Dorf wusste, dass sie Geld hatte, wo wäre es denn hin. Doch sie ließ sich auf nichts ein, blieb allein. Die einzige Abwechslung in ihrem Leben waren die Jahreszeiten, die kamen und gingen, hin und wieder ein neuer Nachbar und das Fernsehprogramm. Sie ließ die anderen in Frieden, und die sie. Nur einmal geriet sie aus dem Tritt. Damals, beim Bau der Ortsumgehung, als das bemalte Haus zwischen Farchant und Oberau, ein kleines Häuschen, von der Straße aus gut zu sehen, dazu ein paar Gewächshäuser, als das alles einfach abgerissen wurde und der Besitzer von heute auf morgen wegzog. Aber was genau sie so tief getroffen hatte, der Verlust des Eremiten, seiner Gewächshäuser, des bemalten Hauses – etwas Besonderes war es nicht gewesen –, erfuhr nie jemand. Solange der Baufortschritt es erlaubte, ging sie hin, bückte sich, hob etwas auf, verstaute es in ihrem Rucksack, lief hierhin und dorthin, schaute, bückte sich, klaubte und ging wieder weg. Keiner dachte sich etwas dabei, seltsam war sie ja schon immer gewesen. Wenn jemand sie ansprach zum Beispiel, vielleicht ein vorwitziger Wanderer, der nach dem Weg fragte, ruckte sie erst mit dem Kopf und begann sogleich, vor sich hinzuschimpfen. Tourette, sagten die, die es wissen mussten. Jetzt war sie eben noch ein wenig mehr »tourette«. Bestimmt auch ein Grund, weshalb sich nie jemand für sie gefunden hatte, denn wie gesagt: Geld wäre da gewesen, also rentiert hätte sie sich. Für Veronica war es ein Glück. Die verschrobene Alte, bei der jeder lieber die Straßenseite wechselte, war die ideale Küchenkraft. Sie arbeitete schnell und sauber, diskutierte nicht, war immer einsatzbereit, und was sie kochte, schmeckte. Bevor sie allerdings anfing, stellte sie zwei Bedingungen: Die erste war, dass sie sich keine Vorschriften machen lassen wollte. Dafür, meinte sie, sei sie dann doch zu alt. Entweder, sagte sie, es passe oder eben nicht Die zweite war, dass sie allein arbeiten wolle. Allein oder gar nicht. Auch das war ganz im Sinn ihrer neuen und vermutlich letzten Arbeitgeberin.

Mit einem hingeworfenen »Komm gleich« verschwand Veronica in der Küche. Sekunden später war sie wieder da.

»Na, heut ganz allein …?«

»Was? … Entschuldige, Vroni, ich war grad in Gedanken. Es wird schon noch wer kommen. Schenkst du mir bitte ein Weißbier ein?«

»Zum Essen auch was?«

»Ja, das Cordon Bleu von der Tageskarte, das hätt ich gern.«

Erst jetzt sah Lufti sich um. Im kleinen Gastraum saßen ausschließlich Leute, die er kannte. Nicht ein einziger Fremder, stellte er zufrieden fest. Nicht dass er etwas gegen Auswärtige gehabt hätte, es war nur einfach ein gutes Gefühl, noch einen Ort zu haben, an dem man unter sich war. Und das war eh nur im Winter, außerhalb der Wandersaison, der Fall. Er hatte seinen Rundblick schon fast beendet, als ihm doch noch ein neues Gesicht auffiel. Am Bistrotisch, gleich am Eingang. Kein beliebter Platz. Besonders im Winter, wenn jeder Gast einen Schwall kalter Luft hinter sich herzog. Ihr schien es nichts auszumachen. Vor sich hatte sie einen leer gegessenen Teller, Messer und Gabel auf fünf Uhr, die Papierserviette unter das Besteck geklemmt. Den Resten nach zu urteilen, musste es ein Schnitzel mit Kartoffelsalat gewesen sein. Eine Bewegung ihres Kopfes vermittelte ihm für einen Moment das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Wer ein Schnitzel bestellt, setzte er seinen Gedankengang fort, zeigt damit, dass er sich nicht für etwas Besseres hält. Sie hätte auch Salat mit Scampis nehmen können. Er hätte es ihr nicht übel genommen. Es hätte zu ihr gepasst. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Bild vor sich: die Vorstellung einer Frau aus der Stadt, die aufgrund einer Trennung ein paar Tage allein sein will und sich dazu einen Ort aussucht, den sie vielleicht vom Durchfahren kennt und der ihr auch erst nach längerem Nachdenken in den Sinn gekommen ist. Ein Ort, an dem niemand sie vermuten, folglich auch nicht suchen wird. Sie war die, die verlassen hatte. Keine Anzeichen von durchweinten Nächten etwa oder Nachlässigkeiten an ihrem Äußeren, kein unsteter Blick. Sie war die, die gehandelt hatte.

Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu, blieb mit den Gedanken jedoch bei der Frau. Wie lange mochte sie es vor sich hergeschoben haben? Er hielt das Blatt vors Gesicht und schielte über den Rand. Noch einmal hatte er den Eindruck, ihr schon einmal begegnet zu sein. Waren es die Augen? Der ernste Zug um die Mundwinkel?

Bevor ihre Blicke sich treffen konnten, schaute er weg.

Veronica brachte sein Weißbier und machte ein Kreuz auf den Bierdeckel. »Zum Wohl. Cordon Bleu dauert heut ein bisserl, das macht die Mama, die Martha ist krank.«

»Krank? Die Martha? Was hat sie denn?«

»Ich weiß auch nicht. Gestern ist sie einfach weg, und dann hat sie angerufen und gesagt, dass sie sich erkältet hat und dass sie zum Bürgermeister muss.«

»Zum Bürgermeister? Zum Peter?«

»Ja. Aber wegen was, keine Ahnung. Na ja, irgendeine Laus wird ihr schon über die Leber gelaufen sein. So, jetzt muss ich aber wieder.«

Sie nickte Richtung Eingang, drehte sich um und ging.

»Hat’s geschmeckt?«, hörte er sie fragen. »Noch einen Assam?«

Die Antwort ersoff im Gelächter der Farchanter Kuhfluchtschützen, deren Stammlokal vor einiger Zeit abgerissen worden war und die hier eine neue Bleibe gefunden hatten. Veronica nutzte den Moment und kündigte an, eine Runde Obstler ausgeben zu wollen. Sicher ist sicher.

Keiner hatte damals verstanden, warum sie weggegangen war. Ohne ein Wort, und das kurz vor Beendigung ihrer Ausbildung. Sie wollten doch expandieren. Das Hotel, das Restaurant. Und sie hatte auch nie etwas anderes gewollt, zumindest hatte sie nie etwas gesagt. Aber es half alles nichts. Kein Herumgebrülle ihres Vaters, kein Beleidigtsein, kein Drohen mit dem Entzug des Erbes. Als hätte jemand einen imaginären Stecker gezogen.

»Ist es so schlimm? Musst du wirklich gehen? Jetzt red doch endlich, Veronica. Himmelherrgottsakrament!« Nicht einmal ihre Mutter war ihr beigekommen. »Ist es wegen dem Peter? Jetzt sag doch endlich. Mein Gott, Vroni, kein Mann ist es wert, dass du wegen ihm dein Leben hinwirfst. Ich bitt dich inständig, komm wieder zur Vernunft.«

Keine Chance. Keine Erklärung. Nichts.

Am nächsten Morgen packte sie ihren Rucksack und verschwand. Als sie gegen Mittag vom Beifahrersitz eines Dortmunder Lkw kletterte, fand sie sich auf der anderen Seite der Alpen wieder, im Grödnertal, in einem Ort namens Wolkenstein. Sie ging zur Gemeindeverwaltung und fragte, ob es vielleicht irgendwo einen Bauern gebe, der eine Almerin gebrauchen könnte oder irgendetwas in der Art. Sie hätte Gastronomie gelernt, sähe darin aber keine Zukunft für sich. Sie wolle etwas anderes machen. Dann schickte sie ihren Eltern eine Postkarte. Es ginge ihr gut und sie sollten sich bitte keine Sorgen machen, eines Tages würde sie ihnen alles erklären. Aber nicht jetzt. Am nächsten Morgen brachte sie ein Angestellter der Gemeindeverwaltung zu seinem Schwager, der dringend eine Hilfe benötigte. Eine geschlagene Stunde fuhren sie durch die Berge, erst auf Teer, dann auf unbefestigten Forstwegen, irgendwann nur noch querfeldein.

Der Anblick, der sich ihr bot, war ein Schock. Das war kein Hof, das war eine Ruine. Sie lauschte dem sich entfernenden Geräusch des alten Fiats und fragte in die Stille: »Hallo? Ist da wer?«

Dann drehte sie sich um und machte, dass sie fortkam.

»Woll‘n Sie zu mir?«

Der Bauer, dessen Frau erst vor Kurzem gestorben war, stand plötzlich neben ihr und sah sie mit traurigen Augen an.

»Ich weiß«, sagte er und kratzte sich am Kopf, »es ist nichts Besonderes.«

Sie hätte lachen können. Stattdessen sagte sie: »Na ja, versuchen kann ich es ja mal.«

Er zeigte ihr den Hof, der von innen kaum besser aussah als von außen, den Stall, den Gemüsegarten und die Obstbäume. Anschließend führte er sie hinauf auf die Alm, die ebenfalls in einem bedauernswerten Zustand war. Das Dach musste ausgebessert werden, eine bergseitig gelegene Stalltür hatte dem Druck des Schnees nachgegeben und hing mitsamt Türstock und einem Teil der Mauer in der Stallgasse, zwei aus den Angeln gerissene Fensterläden und ein eingestürzter Außenkamin lagen verstreut im Hof. Bis er seine Kühe wieder hinauftreiben konnte, war noch viel zu tun. Aber noch war Zeit, noch lag der Schnee in fetten Wogen auf den Wiesen und Matten, Bäumen und Dächern, noch schlug der Frost seine eisigen Krallen in jeden Baum, jeden Strauch, jedes Tier, das es wagte, ihm zu trotzen.

Im letzten Licht der untergehenden Sonne waren sie wieder zurück.

»Bleibst?«

Sie hörte ein Zittern in seiner Stimme.

Bevor sie antworten konnte, nestelte er ein Feuerzeug aus der Joppe und bückte sich zum Herd. Kaum hatte er die Flamme entzündet, heulte ein Luftzug durch den Ofen, riss ihm das brennende Papierknäuel aus der Hand und jagte es durch den Schornstein. In einem einzigen Moment, am Ende eines langen Tages, in einer Welt, die ihr als Kulisse bestens vertraut, in ihrer Tiefe und Eindringlichkeit jedoch gänzlich unbekannt war, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt noch gab, verwandelte sich die Ruine zur Heimat und ein unscheinbares Ofentürl zum Tor in ein neues Leben.

Er war fünfunddreißig, als sie sich kennenlernten, und einundsiebzig, als er in ihren Armen starb. Sie verkaufte die Alm an eine Weidegenossenschaft und den Hof an einen Geschäftsmann aus Mailand. Ihre Verbindung war kinderlos geblieben. Für wen sollte sie sich weiter plagen.

Als sie einmal darüber redeten, hatte er nur gemeint: »So, wie es ist, ist es gut. Das Schicksal macht eh, was es will. Warum ihm unnötig Steine in den Weg legen.« Es war eine seiner Standardantworten.

Sie selbst verfügte nicht über diese Gabe, Dinge einfach hinzunehmen. So sehr sie sich auch bemühte, es ihrem Lehrmeister gleichzutun, sie wollte immer wissen, warum etwas geschah. Und zu ihrer Kinderlosigkeit hatte sie längst eine ganz eigene Theorie, die sie allerdings für sich behielt. Sie wusste, was er sagen würde. »Wozu meinst, hat der Herrgott das Vergessen erfunden.« Sie kannte alle seine Sprüche, wie die Berge, den Hof, die Alm, wie die Sprache, die er für sie übersetzt hatte, bis sie sie beherrschte. Ladinisch. Sie hatte es geliebt. Jetzt, da er tot war, konnte sie es nicht mehr hören.

Er starb, wie er gelebt hatte. Als er fühlte, dass es zu Ende ging, als der Husten immer schlimmer wurde, legte er dem Schicksal keine Steine in den Weg und erlosch. Und sie ging zurück.

2

P aulig?« »Hauptkommissarin Paulig? Grüß Gott, Neuner hier. Polizei Garmisch. Wir haben hier einen Mord.«

»Guten Morgen, Herr Kollege. Wann?«

»Wahrscheinlich heut Nacht.«

»Mann, Frau, Kind?«

»Männlich.«

»Wie?«

»Erschlagen.«

»Hat ihn jemand berührt?«

»Ja. Aber wir haben ihn nicht bewegt, wenn Sie das meinen.«

»Sehr gut. Wir sind in einer Stunde da. Wo müssen wir hin?«

»Kennen Sie Farchant?«

»Ja. Kenn ich.«

»Auch den kleinen Skihügel?«

»Meinen Sie den hinten am Freibad?«

»Ja, genau den.« Der Mann klang verwundert. »Ja dann – ein Kollege erwartet Sie am Parkplatz.«

»Gut. Wir fahren gleich los. Rufen Sie mich bitte in zehn Minuten auf meinem Handy an? Dann können wir weiterreden. Nein, ich ruf Sie an. Geben Sie mir Ihre Nummer? Und können Sie bitte weiter dafür sorgen, dass keiner was anfasst?«

Mit der freien Hand gab sie Oberkommissar Tilman Würfel ein Zeichen, die Kollegen zu informieren. Beinahe gleichzeitig griffen sie sich Jacke und Mütze, Kollege Würfel, der schon in der Schule nie etwas anderes werden wollte als Kommissar – die Kombination aus Abenteuer und Pensionsanspruch –, zusätzlich Handschuhe und einen riesigen Schal.

Auf dem Gang lief ihnen Staatsanwältin Yasmin Schäfer-Kaan über den Weg, eine Deutschtürkin, immer in Eile, gut zwanzig Jahre jünger als sie, verheiratet, keine Kinder.

»Na, wohin so eilig?«

»Nach Farchant. Die haben da eine Leiche.«

»Farchant? Ist das nicht da unten bei Garmisch, da, wo deine Eltern zu Hause sind? Aber bevor du gehst, was ist eigentlich mit dem toten Ehepaar? Gibt’s da was Neues?«

»Wollte sich nicht der Manzoni um den Fall kümmern?«

»Eigentlich schon, aber …«

»Versteh schon«, sagte Paulig rasch. Sie wusste, dass die beiden nicht miteinander konnten. »Also kurz gesagt, wir gehen davon aus, dass es der Eigentümer war. Die beiden Alten waren die letzten Mieter im Haus. Die hätte der nie im Leben hinaus bekommen. Du hast ja die Protokolle gelesen. Die waren fit.«

»Aber deshalb bringt man keinen um.«

»Und warum hat er dann den Kamin zubetonieren lassen?«

»Schon, aber doch nicht mit der Absicht, sie zu töten. Der wollte die fertigmachen. Totschlag meinetwegen. Aber nicht einmal das können wir ihm nachweisen. Wir haben nichts in der Hand. Er behauptet nach wie vor, dass er nichts damit zu tun hat.«

»Das würde ich an seiner Stelle auch behaupten. Yasmin, hier geht’s um Millionen. Lad doch noch mal die beiden Arbeiter vor, am besten gleich heute, damit die nicht zu viel Zeit zum Nachdenken haben. Bei denen müssen wir ansetzen. Wirst sehen, die knicken schon noch ein.«

»Aber die behaupten auch steif und fest, dass sie von nichts wissen.«

»Jaja, sag ich ja, Druck aufbauen. Die geben schneller auf, als du denkst. Oder glaubst du, dass die ewig den Kopf hinhalten für ihren Chef. Lass die mal eine Nacht … Wer hat die eigentlich so schnell wieder heimgeschickt?«

»Der Erich hat mit denen geredet.«

»Der Erich. So … Ich muss jetzt leider. Kann er mir ja unterwegs erzählen. Aber tust du mir schon mal den Gefallen und fängst sie wieder ein? Aber diesmal nicht als Zeugen, die sollen ruhig Angst bekommen.«

»Das sagst du so einfach. Der Erich hat die ja nicht einfach so wieder gehen lassen. Die hatten einen Anwalt dabei, dreimal darfst du raten, wen.«

»Den von ihrem Chef? Den, wie heißt er gleich noch mal …?«

»Erraten.«

»Tja, was tut man nicht alles für verdienstvolle Mitarbeiter. Aber da haben wir es doch schon. Welcher Zeuge kommt gleich mit einem Anwalt. Das stinkt doch. So, jetzt muss ich aber wirklich, die anderen warten schon. Und halt mich auf dem Laufenden.«

»Mach ich. Und viel Glück. Was ist das eigentlich für eine Leiche da unten in Farchant?«

»Männlich, vermutlich erschlagen. Mehr weiß ich auch noch nicht. Ciao, Yasmin.«

»Äh, Christine …?«

Während ihre Mutter noch davon träumte, einmal eine Oberärztin als Tochter zu haben, war Yasmin Schäfer-Kaan längst klar, dass, zumindest in diesem Leben, daraus wohl nichts werden würde. Sie war zwar gut in der Schule, und sie hätte sich ein Medizinstudium auch vorstellen können, aber der erforderliche Notendurchschnitt schien ihr dann doch etwas zu ambitioniert. Dem heiteren Beruferaten ihrer Mutter begegnete sie weiter leidenschaftslos. Deren Vorstellungen von der Zukunft ihrer Tochter kamen und gingen wie die Serienheldinnen der Daily Soaps, die sie schaute. Schon bald würde Mutter Kaan wieder etwas Neues einfallen. Im Moment liefen, soweit Yasmin das überblickte, drei Serien, die die Blaupausen für ihre Zukunft lieferten. Die letzte Staffel einer himmelschreienden Klinikserie, eine Winzerserie, aus der sie die Rolle der Gutsherrin übernehmen sollte, und »Richterin Holm«. Der Numerus clausus für Jura war machbar, das Studium anspruchsvoll, die Richterserie zwar auf unterstem Niveau, aber die Richterin echt und sogar richtig gut. Also beschloss sie, ihrer Mutter eine Freude zu machen, und studierte Jura. Zumindest machte es Spaß, die Geschichte so zu erzählen. Richtig war, dass der Beruf ihr entsprach, dass es Yasmin Kaan – der Schäfer kam erst später hinzu – lag, etwas zu durchdringen, an etwas dran zu bleiben, wenn es kompliziert wurde, sich hineinzufuchsen, all das, was man gemeinhin unter Ehrgeiz versteht. Waren es die Gene, wie ihr Vater meinte? Oder lag es an der konsequenten und vorausschauenden Erziehung ihrer Mutter, wie diese nicht müde wurde zu betonen? Oder doch eher am Nachnamen, was auch immer der im Konkreten heißen mochte, auf jeden Fall Verpflichtung, Erwartungen erfüllen, Stärke zeigen. Sie hatte ihn gehasst. Ein Mädchen, das von seiner Mutter Kaan gerufen wurde. Eine Kaan tut das nicht, eine Kaan tut jenes nicht. Wenn sie etwas gut gemacht hatte, eine echte Kaan eben, Kaan als Lob und Kaan als Tadel, Kaan in allen Lebenslagen. Aber als sie heiratete und ihn problemlos hätte loswerden können, behielt sie ihn.

Auf Staatsanwältin kam sie, weil ihr das Konkrete gefiel, die Möglichkeit, für etwas zu kämpfen, Stellung zu beziehen, auf der richtigen Seite zu stehen und nicht zuletzt wegen der lebendigen Vorlesungen des Oberstaatsanwalts Bernhauer. In einem seiner Vorträge hörte sie auch von Christine Paulig, der Hauptkommissarin mit der höchsten Aufklärungsquote im Freistaat. Legendär, wie sie aus Protest über das skandalös milde Urteil für einen von ihr überführten Doppelmörder ihren Job schmiss und erst Jahre später zurückkam. In der Zwischenzeit hatte sie eine Security-Firma gegründet, wieder verkauft und eine Zeit lang auf Mallorca gelebt.

Als Yasmin Schäfer-Kaan quasi bei ihr anfing, merkte sie eines sehr schnell: dass es eine feine Sache war, ein abgeschlossenes Jurastudium in der Tasche zu haben, aber etwas ganz anderes, ein Gespür zu entwickeln. Beinahe bestürzend war die Erkenntnis, dass da noch etwas anderes sein musste als Fleiß, etwas, das man nicht studieren konnte, das keiner Logik folgte, sich auf nichts stützte. Der Begriff »Instinkt« griff zu kurz, gefiel ihr aber noch am besten, passte er doch zu einem anderen der wegen ihrer Alleingänge gefürchteten – der Jagdlust. Vielleicht bedingte das eine ja das andere. Sie selbst blieb, trotz ihres martialischen Nachnamens, lieber auf der sicheren Seite, jener der Paragrafen.

3

L ufti Häusler war es gewohnt, früh aufzustehen. Nicht einfach mal schnell im Jogginganzug, sondern korrekt mit Mantel, Hut und Schal holte er seine Frühstückssemmeln, die Zeitung und einmal in der Woche eine große Tüte Knödelbrot (Brot nicht, das kaufte seine Frau). Den kleinen Zeitungsstand gleich links neben der Tür hatte der Bäcker ihm zuliebe extra eingerichtet. Vorher hatte er seine Frühstückslektüre immer im Supermarkt gekauft, aber der war vor einigen Jahren an den Ortsrand gezogen, Richtung Garmisch, ins äußerste Eck. Er hätte sie natürlich auch einfach abonnieren können. Doch da wäre er sich nie sicher gewesen, ob und wann, und wenn, in welchem Zustand er sie bekommen würde.

Er saß bei seiner zweiten Tasse Tee, als zwei Polizeiautos auf der Partenkirchner Straße kurz hintereinander ihre Sirenen abschalteten. Er dachte an das Nächstliegende – einen Unfall am Bahnübergang.

»Weißt du, was da los ist?«, fragte Elvira aus der Küche.

»Ein Unfall wahrscheinlich«, antwortete er ohne aufzusehen.

»Bitte sei so gut und schau auf die Eier, nicht, dass die hart werden.«

»Interessiert dich gar nicht, was da los ist?«

»Morgen steht’s eh in der Zeitung. Aber wenn’s dich beruhigt, ich geh sowieso gleich ins Holz.«

Wieder war nur das feine Ticken der Stubenuhr zu hören und das Umblättern der Zeitung, für Elvira ein sicherer Gradmesser für die Stimmung im Haus.

»Du, Karl-Friedrich?«

»Elvira?«

»Es sind heut übrigens weiße Eier, die mit den braunen Schalen waren aus. Macht das was?«

»Solange ich sie nicht mitessen muss.«

»Ich hab nur gemeint, nicht dass du dich wunderst.«

»Keine Sorge, ich wundere mich schon nicht. Hab gar nicht gewusst, dass es die überhaupt noch gibt.«

»Doch, doch, die gibt’s schon noch. Aber schon mehr die braunen.«

Nach den beiden Eiern, die er etwas schneller löffelte als sonst, marschierte er los. Die Zeitung hatte er entgegen seiner Gewohnheit noch vor den Sterbeanzeigen zusammengefaltet.

Am Bahnübergang war nichts Auffälliges zu sehen, nichts, das auf einen Unfall deutete, aber auch kein Rabe, der sich ihm vertraulich näherte und dann aufflog, oder etwa ein Bild, das ihm ohne zu fragen in den Sinn gekommen wäre, nichts, was ihn darauf vorbereitet hätte.