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Als die Kriminalpolizistin Lisa Grundberg sich nach Alfeld versetzen lässt, ahnt sie nicht, dass sie bereits nach wenigen Tagen nach dem Mörder einer jungen Frau suchen wird, die nach einer Vernissage tot im Treppenhaus des Fagus-Werkes gefunden wird. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Markus Heitkämper ermittelt sie in 16 Fällen im Landkreis Hildesheim. Sie bekommt es mit Brandstiftern zu tun, jagt einen Entführer oder sucht nach dem Mörder mit der Schlange. Als sie im Ratskeller in Lamspringe einen Toten in einem Branntweinfass finden, brauchen sie die Unterstützung eines Historikers, Fitz. Der hilft ihnen auch, mit einer Ansichtskarte einen Täter zu entlarven, der vor mehr als vierzig Jahren gemordet hat. Doch kaum ist dieser Fall gelöst, wartet der nächste auf sie: im Krötentunnel, an den Apenteichquellen oder in der Lönsgrotte - ein Mord heimtückischer als der andere.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten im Landkreis Hildesheim, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über die Autorin:
Sabine Hartmann wurde 1962 in Berlin geboren. Seit 1982 lebt sie in Sibbesse. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Nach vielen Jahren als freiberufliche Übersetzerin und Dozentin in der Erwachsenenbildung arbeitet sie heute als Schulleiterin in Alfeld.
Als Tochter eines Polizisten interessierte sie sich schon früh für Detektivgeschichten und Krimis. So lag es nah, dass sie, als sie die Schreiblust packte, dieses Genre bevorzugte. Neben Krimis für Erwachsene schreibt sie auch für Kinder und Jugendliche. Im Regionalkrimibereich hat sie bisher im Leinebergland morden lassen. In Lesungen, Vorträgen und Schreibworkshops versucht sie, auch andere für Krimis zu interessieren. Für ihre Kurzkrimis, die in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Sie ist Mitglied bei den ,Mörderischen Schwestern’ und im ,Syndikat’.
Dieses Buch ist das Ergebnis eines spannenden Experiments, das rundherum gelungen ist. 2009 riefen die Region Leinebergland, der Kulturförderverein, die Volkshochschule Hildesheim und ich, die Autorin Sabine Hartmann, zu dem Projekt „Leinebergland kriminell“ auf. In den acht Orten, aus denen die Region besteht, fanden sich Menschen, die sich in ihren Heimatorten auskannten, darüber sprechen wollten und sich für Krimis erwärmen konnten.
Ich hörte zu, fragte nach, und so entwickelte sich ein Gefühl für den Ort, für das, was für die dort Lebenden wichtig ist. Schnell hörte ich heraus, was man in Lamspringe, Sibbesse, Elze, Alfeld, Duingen, Delligsen, Gronau oder Freden unbedingt gesehen haben musste, wo es die leckersten Gerichte zu essen gab und welche Geschichten überliefert wurden.
Bei einem zweiten Treffen besuchten wir die möglichen Tatorte, prüften Fluchtwege und kosteten die einheimischen Spezialitäten (z.B. die handgemachten Lamspringer Trüffeln oder die Duinger Campingwecken).
Dabei entwickelten wir den Basisplot, den ich im Anschluss daran, bis zu unserem nächsten Treffen, in einen spannenden Kurzkrimi verwandelte.
An unserem letzten Termin überprüften die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch einmal, ob die ermittelnden Beamten im Haltverbot parkten, verkehrtherum in eine Einbahnstraße fuhren oder vielleicht am Ruhetag bei Steinhoff in Freden Essen gehen wollten.
Vom pensionierten Oberstaatsanwalt über den fachkundigen Heimatpfleger bis zur 15-jährigen Schülerin reichte die Palette der Beteiligten, und entsprechend unterschiedlich sind die 16 Kurzkrimis geworden. Die Fälle im Buch werden innerhalb von zwei Jahren gelöst, in denen sich auch die Hauptpersonen besser kennenlernen und weiterentwickeln, sodass man die Stories gut fortlaufend lesen kann. Weder Todesart noch Motiv kommen doppelt vor. Das Leinebergland erweist sich bei aller Gastfreundschaft und trotz der lieblichen Landschaft als durchaus mörderisch.
Nach der Drucklegung begann die nächste spannende Phase. Alle acht Orte veranstalteten Lesungen mit spektakulären Beiprogrammen. Nach dem Auftakt im Faguswerk mit kriminell-musikalischer Begleitung gab es zum Beispiel einen mörderischen Spaziergang durch Elze, an dem sich sogar die Polizei mit einem Einsatzwagen beteiligte. Lamspringe steuerte einen historischen Vortrag bei, in Sibbesse spielte der Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr usw.
Diese vielfältigen Aktivitäten (und die spannenden Geschichten) trugen dazu bei, dass die gesamte Auflage innerhalb von vier Monaten vergriffen war. Allerdings riss die Nachfrage nicht ab.
Im Herbst werden Lisa Grundberg und Markus Heitkämper, die beiden Kriminalpolizeibeamten aus Alfeld, in einem neuen Fall ermitteln. Ein guter Grund für den C. W. Niemeyer Verlag, „Leinebergland kriminell“ noch einmal aufzulegen.
Und so bleibt auch für die Neuauflage folgendes gültig: Sie können alle genannten Orte besuchen, sofern es sich nicht um die Wohnungen der Täter handelt, die sind alle frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen, die sich dazu bereit erklärt haben, im Buch mitzuspielen, sind gekennzeichnet. Alle anderen sind ausgedacht.
Sabine Hartmann
Im April 2012
Alfeld: Weltkulturerbe - çok güzel
Elze: In der Finie
Lamspringe: Die Schnapsleiche
Gronau: Die Braunkohlwanderung
Freden-Everode: Am Aschermittwoch ist längst nicht alles vorbei
Delligsen: Ein Toter kommt selten allein
Sibbesse: Verbrannt
Duingen: Bartmänner im Pottland
Alfeld: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Gronau: Der Gastdozent
Elze: Elzer Ansichten
Delligsen: Hart wie Glas
Duingen: Für ein Paar Silberlinge
Sibbesse: Nichts bleibt mehr
Freden-Winzenburg: Am liebsten bei Vollmond
Lamspringe: Im Auftrag
Danksagung
Alfeld
„Diese Architektur wäre einfach leer, wäre nicht der Inhalt – und das sind die Menschen – tätig.“Walter Gropius 1
„Du liest Krimis?“ Markus Heitkämper, Kriminalhauptkommissar aus Alfeld, blätterte das Taschenbuch mit spitzen Fingern durch.
Seine Kollegin, Lisa Grundberg, zuckte mit den Schultern. „Zur Entspannung, warum denn nicht?“
„Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen, absurd und völlig unrealistisch.“
Lisa schürzte die Lippen. „Demnach hältst du dein Lieblingsbuch über Tolkiens Mittelerde für realistisch?“
Markus warf das Buch auf den Schreibtisch zurück. „Das ist was anderes, da steht von vornherein Fantasy drauf.“ Lisa nahm eine Akte hoch. „Hier steht: fahrlässige Tötung, Ermittlungsakte der Kriminalpolizei Alfeld/Leine, sachlich bis zum Abwinken.“ Dann griff sie zu ihrem Buch und schaute demonstrativ darauf. „K – R – I – M – I, das klingt für mich eindeutig nach Fiktion.“
Markus winkte ab. „Lass uns lieber über die fahrlässige Tötung reden.“
Lisa nickte. „Ich verstehe noch immer nicht, wieso diese Kinder auf die Idee gekommen sind, ausgerechnet einen Findling …“
„Komm, ich zeige dir, was es damit auf sich hat.“ Markus schob die Akte in die Schublade, warf Lisa den Schlüssel zu. „Du fährst, und ich erkläre dir alles.“
„Bei dem bisschen Verkehr, den ihr hier habt, könntest du durchaus gleichzeitig fahren und erklären. Dadurch könnte ich mir die Gegend anschauen und mühelos einprägen.“
„Man findet sich viel besser zurecht, wenn man eine Strecke selbst gefahren ist“, erwiderte Markus.
Lisa zog eine Grimasse. Nach Abschluss ihrer Ausbildung hatte sie acht Jahre in ihrer Heimatstadt Kassel gearbeitet. Dort kannte sie jeden Baum, an dem jemals ein Hund sein Bein gehoben hatte. Irgendwann erfuhr sie von diesem Regionalisierungsprojekt Leinebergland der Hildesheimer Polizeiinspektion. Spontan reichte sie ihre Bewerbung ein. In einem festen Team für ein ländlich geprägtes Gebiet zuständig zu sein, sprach sie an und gab ihr die Möglichkeit, Kassel und alles andere hinter sich zu lassen. Inzwischen arbeitete sie seit gut sechs Wochen für die Polizei in Alfeld. Sie grinste. Irgendwie gefiel es ihr, wenn ihr Kollege Markus, der in dieser Kleinstadt aufgewachsen war, ihr wie ein Fremdenführer seine Heimat zeigte. Umso besser, wenn sie ganz nebenbei noch den einen oder anderen Fall lösten.
„Dies ist das Büro von Herrn Greten. Wie Sie sehen können … bitte nichts anfassen. Danke.“ Yilmaz Yıldız, der türkischstämmige Wachmann, Fremdenführer und selbsternanntes Mädchen für alles im Alfelder Fagus-Werk, ärgerte sich maßlos über Besucher, die alles angrabschen mussten, sogar die privaten Fotos auf dem Schreibtisch des Chefs.
„Salak“, fluchte er fast lautlos auf Türkisch. Doch eine junge Frau mit Grübchen schien ihn trotzdem verstanden zu haben. Sie lächelte ihm verschwörerisch zu.
Mit ausgreifenden Bewegungen und einem Wortschwall türkischer Wörter bugsierte er die Gruppe zurück auf den Flur. „Wir schauen uns jetzt die alte Schmiede an.“
Er achtete darauf, alle Türen sorgfältig hinter sich und den Besuchern zu verschließen. Jedes Mal war dieser weizenblonde Mann mit den dunklen, buschigen Augenbrauen der Letzte, der den Raum oder Gang verließ, den er abschließen wollte.
„Der Server für ihre Computeranlage steht im Keller?“, fragte der Blonde mit einer Stimme, die Yilmaz aufhorchen ließ. Für ihn klang das so, als besuchte Bruce Willis das Fagus-Werk. „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, Mister …“ Im letzten Augenblick schluckte er das Mister McClane, das ihm auf der Zunge gelegen hatte, herunter. Doch der Mann beachtete ihn gar nicht. „Ich würde viel lieber die Produktionsstätten besichtigen“, nörgelte er. „Diese Büros sind doch völlig uninteressant.“
Yilmaz beruhigte ihn. „Keine Sorge, davon sehen wir später mehr. Jetzt zeige ich Ihnen erst einmal die Fassade, çok güzel, ganz wunderbar, sage ich Ihnen.“
Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die von Glas dominierte Fassade. „Diese 1911 vom Bauhaus-Gründer Walter Gropius entworfene Schuhleisten-Fabrik gilt als Schlüsselbau der Moderne. Und Carl Benscheidt, der Gründer der Schuhleistenfabrik, sagte bereits 1911 ‚Unser Reichtum sind nicht unsere Maschinen und Gebäude, sondern das Wissen und das Können und die Einsatzbereitschaft unserer Mitarbeiter’.“ Yilmaz verdrehte die Augen, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. Jetzt war dieser Typ schon wieder auf Abwegen. „Hallo, bitte bleiben Sie hier. Den Kellerraum dürfen Besucher nicht betreten.“
Zur gleichen Zeit nahm Lisa ihren derzeitigen Lieblingsblazer von der Stuhllehne. Sie strich den Kragen glatt und drehte den Button so, dass der Punkt auf dem HI nach oben zeigte. Markus hatte ihr den Anstecker zusammen mit einer Broschüre über den Landkreis Hildesheim unter dem Motto „Schön HIer“ an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag geschenkt. „Damit du dich hier wohlfühlst und weißt, was du in deiner Freizeit unternehmen kannst“, hatte er gesagt und gleich darauf gelacht. „Falls du denn jemals welche haben solltest.“
In den letzten Tagen hatte das Leinebergland sich von seiner blutrünstigen Seite gezeigt. Schlägereien vor einer Disko, Brandstiftung, drei erschlagene Hunde und nun eine Messerstecherei am helllichten Tag.
Markus hatte sie zu „Kaufland“ bestellt. „Einfach nur die Straße herunter, immer geradeaus, kein Problem.“
Lisa ging die Treppe im Polizeikommissariat hinunter. Sie nickte dem Kollegen am Empfang zu und verließ das flache Gebäude. Vor der Tür blieb sie kurz stehen, um zu überlegen. Nach rechts führte die Ravenstraße nach Gronau, gegenüber lag ein kleines Gewerbegebiet, also bedeutete geradeaus in diesem Fall wohl, dass sie nach links gehen musste. Dort begann, wenn sie sich richtig erinnerte, nach wenigen hundert Metern die Fußgängerzone.
„Herr Yildiz, ich verlasse mich auf Sie, wie immer.“
Yilmaz blickte hinter Herrn Schünemann her, der mit ausgreifenden Schritten bereits die halbe Fertigungshalle durchquert hatte, bevor Yilmaz auch nur genickt und „evet“ gemurmelt hatte. Er würde sich kümmern, wie immer. Der Marketingchef, Karl Schünemann 2, hatte jetzt, so kurz vor dem Besuch der Kommission, wirklich genug am Hacken. Und schließlich war das hier nicht die erste Ausstellung, die sie im Lagerhaus aufbauten.
Er betrachtete den Informationsflyer, den Schünemann ihm eben in die Hand gedrückt hatte. Sandsteinskulpturen waren es diesmal. Yilmaz schüttelte den Kopf. Was für eine Plackerei. Dann stutzte er. Chico Chisel. Ein flotter Künstlername, aber Paderborn, das klang eher brav. Na ja, ihm konnte es egal sein. Wahrscheinlich hieß Chico Chisel mit bürgerlichem Namen Eugen Krawuttke.
Yilmaz hockte sich wieder auf den Stuhl hinter dem Tresen. Zwei Besucher entrichteten ihren Eintritt. Er wünschte ihnen viel Spaß in der Ausstellung. Schnell ließ er seinen Blick über die Überwachungsanlage gleiten. Mehrere Monitore über- und nebeneinander zeigten alle Etagen aus verschiedenen Blickwinkeln. Momentan hielten sich sieben Touristen in der Ausstellung im Lagerhaus auf. Drei in der obersten, zwei in der ersten, und die beiden von eben betrachteten die Bauhausmöbel im Erdgeschoss. Sobald sie in den Keller gingen, würde er sie aus den Augen verlieren, denn dort funktionierten die Kameras heute nicht.
Yilmaz schüttelte den Kopf. Jeden Morgen, wenn er die Anlage hochfuhr, das gleiche Spiel, irgendeine Etage blieb immer unsichtbar.
Er rückte die Broschüren und die Schuhleisten, die als Andenken zu verkaufen waren, auf den Tischen an seinem Tresen hin und her. Dann schaute er auf die Uhr. Noch eine gute halbe Stunde, bis der Künstler und seine Truppe eintreffen würden.
Er ging sich einen Kaffee holen.
Lisa Grundberg strich sich mit der linken Hand durch ihre kurz geschnittenen Haare. Daran musste sie sich erst noch gewöhnen, genau wie daran, dass Markus nicht anklopfte, bevor er ihr gemeinsames Büro betrat und dass er sich oft auf ihre Schreibtischkante setzte, wenn sie mit einander sprachen.
Sie überflog das kurze Protokoll erneut, schickte es auf den Drucker und fuhr den Rechner herunter.
Endlich Feierabend. Draußen wurde es schon dunkel. Hatte sie tatsächlich den längsten Tag des Jahres komplett im Kommissariat verbracht?
Sie streckte sich. Wie gut, dass sie von hier aus wenigstens zu Fuß nach Hause in ihre Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Straße gehen konnte, die nach wie vor nicht sonderlich wohnlich war. Sie hatte bisher nicht alle Kartons ausgepackt, und Möbel würde sie auch noch kaufen müssen. Immerhin wartete ein kuscheliges Bett auf sie.
Yilmaz Yıldız schloss die Eingangstür zum ehemaligen Lagerhaus auf und sorgte dafür, dass sie offen blieb. Er wusste aus Erfahrung, dass am Tag nach einer Vernissage lüften angesagt war.
Er schaltete die Beleuchtung ein, fuhr den PC hoch und stutzte. Was war das denn? Er zoomte den Ausschnitt, den die Kamera zeigte, heran. Eindeutig. Eine der Skulpturen der Ausstellung lag am Boden. Yilmaz hastete zum Treppenhaus und rannte die Stufen hinauf.
Als er um eine Ecke bog, sah er einen Arm, der durch das Geländer herunterhing. Er ging langsamer. Nahm nun eine Stufe nach der anderen.
„Allahım ya“, rief er und hockte sich neben die Frau, die auf der Treppe lag. Ihr Kopf war gegen das Geländer gefallen, der linke Arm hindurchgerutscht. Der Körper lag leicht verdreht auf der Treppe. Sie hatte einen ihrer Pumps verloren, die nackten Zehen ragten steil in die Luft.
Yilmaz’ Hände bewegten sich über ihr unschlüssig hin und her. Er wollte ihren Puls fühlen, ihr in die Augen sehen, wusste aber nicht, ob er ihren Kopf drehen durfte. Er sprach leise auf sie ein.
„Nicht bewegen. Alles wird gut. Hiçbir telaş, keine Panik.“ Als sie nicht reagierte, krächzte er: „Imdat! Ich brauche Hilfe.“
Dann bemerkte er das Blut. Ohne sich aufzurichten, tastete er nach seinem Handy und rief erst Herrn Schünemann und danach die 110 an.
Lisa betrachtete die Einfahrt zu dem Bauernhof, vor dem sie auf Markus wartete. Zwei mächtige Kastanien standen rechts und links neben der Zufahrt. Die Ziegelsteinmauer sah ziemlich wackelig aus. Der Hof war gepflastert und wie ein U mit mehreren Gebäuden umbaut. Keines sah bewohnt aus. Wo Markus nur blieb?
Lisa stieg aus und streckte sich. Sie hatte gut geschlafen, im Café gefrühstückt und war gerade ins Kommissariat gekommen, als Mechler, ihr Vorgesetzter, ihr Handy anwählte.
Sie hatte sofort Markus angerufen und gesagt, dass sie ihn abholen würde. Er hatte noch geschlafen.
Nun stand sie vor dem Haus, in dem er mit seiner Mutter lebte. Bei diesem Gedanken zogen sich ihre Mundwinkel amüsiert nach unten. ‚Mit 42 noch bei Mama.’ Sollte sie klingeln?
Da stürzte Markus aus einer der Nebentüren.
Er grüßte sie nur kurz und stieg sofort auf den Beifahrersitz. „Du musst wenden“, sagte er. „Wir müssen die Leine überqueren.“
Lisa nickte und fuhr los. Markus wies ihr wortlos den Weg, indem er mit den Zeigefinger in die Richtung deutete, die sie nehmen sollte.
Der Pförtner des Fagus-Werkes stand vor seinem Häuschen und rief aufgeregt mit den Armen wedelnd: „Fahren Sie um das Gebäude herum, ganz bis zum Ende. Sie können direkt neben der Eingangstür zum Lagerhaus parken.“
Lisa nickte und gab Gas. Sie stellte den Wagen vor einem Transporter mit Paderborner Kennzeichen ab und betrat gemeinsam mit Markus das Bauwerk.
Ein etwa fünfzigjähriger Mann, der südländisch wirkte, kam auf sie zugelaufen. „Sind Sie von der Polizei? Die anderen warten auf Sie. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“ Schon wieselte er davon.
Markus und Lisa mussten ihm wohl oder übel folgen.
Ihr Kollege Ralf Schubert und sein Laborteam wuselten in ihren weißen Einmalanzügen im Treppenhaus umher. Doch als Ralf seine beiden Kollegen von der Kriminalpolizei erblickte, winkte er ihnen zu.
„Ihr könnt kommen, wir sind soweit fertig. Ich gebe das Treppenhaus gleich wieder frei und lasse die Tote abtransportieren. Die Geschäftsleitung hat eine Notfallsitzung einberufen. Ihr sollt sie unterbrechen, wenn ihr Fragen habt.“
Er lachte.
„Am liebsten wäre es Ihnen wohl, wenn Sie vorher den Täter verhaften würden.“
Lisa nickte. „Später ganz bestimmt. Jetzt lass erst mal hören.“
Ralf beobachtete die neue Kollegin aufmerksam, während er seine ersten Einschätzungen zusammenfasste. „Der Tod ist irgendwann heute Nacht zwischen zwei und drei Uhr eingetreten. Sie ist an dieser Stelle gestorben, Genickbruch, allerdings hatte sie sich zuvor bereits eine Schädelfraktur zugezogen, ob während des Sturzes oder vorher kann ich noch nicht sagen. Maren und Johann suchen weiter oben nach Spuren.“ Er zögerte. „Und einer Tatwaffe.“
Lisa sah ihn fragend an. „Du glaubst, sie wurde ermordet?“
„Glauben ist der richtige Ausdruck. Ich kann es nicht beweisen, noch nicht, vielleicht auch nie, aber es fühlt sich so an.“
Markus verdrehte die Augen. „Geht das nicht etwas genauer?“
„Dazu muss ich ins Labor. Ihr findet heraus, was sie mitten in der Nacht hier gemacht hat, und ich gucke, was ich tun kann.“
„Allahım ya, die Frau kann nicht in der Nacht hier gewesen sein“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Lisa und Markus drehten sich um.
„Sie sind …?“, fragte Lisa.
„Özür dilerim. Verzeihung. Ich bin Yilmaz Yıldız. Ein bisschen Hausmeister, ein bisschen Wachmann und Fremdenführer. Ich habe gestern abgeschlossen nach der Vernissage, und ich habe alles eigenhändig kontrolliert, wie immer.“
„Die Tür war noch abgeschlossen, als Sie heute Morgen kamen? Oder war sie aufgebrochen?“
„Die Tür war intakt.“ Yilmaz klapperte mit dem Schlüsselbund. „Ich habe sie aufgeschlossen.“
„Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?“
Yilmaz schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Kahretsin, natürlich, die Skulpturen. Ich war gerade auf dem Weg dahin, als ich die Frau gefunden habe. Kommen Sie.“
Markus sprach noch kurz mit Ralf, während Lisa sich die Tote genauer ansah. Sie hatte sich augenscheinlich zurechtgemacht, aufwendiges Make-up und ein graues Kostüm.
Markus trat neben sie. „Mit der Ausstellung sind sie fertig. Wir treffen uns nachher im Kommissariat mit ihnen.“
Yilmaz wartete, unruhig von einem Bein aufs andere tretend, auf sie. Als Markus ihm signalisierte, dass sie bereit seien, machte er kehrt, lief in die Eingangshalle zurück und geleitete sie zu einem zweiten Treppenhaus. Er rannte die Stufen mit einer Geschwindigkeit hinauf, die Lisa ihm niemals zugetraut hätte.
„Das ist unsere aktuelle Ausstellung, Sandsteinskulpturen von Chico Chisel. Gestern Abend wurde sie eröffnet, vom Kultusminister persönlich.“ Er grinste. „Jetzt, wo wir Weltkulturerbe werden, wollen alle herkommen. Kismet.“
„Chico Chisel? Was ist das denn für ein Name? Ist der Spanier oder Brite?“, fragte Lisa.
Yıldız schüttelte den Kopf. „Er ist Deutscher, kommt aus Paderborn.“
Inzwischen standen sie vor den ersten Skulpturen. Markus erkannte eine Art Totempfahl, aus dem zahlreiche Tiere herausgearbeitet waren. Vorsichtig ging er um die Stele herum. Je nachdem, wie man vor dem Stein stand, schauten einen andere Tiere an. Faszinierend.
Laut sagte er: „Künstler wählen oft sprechende Namen. Hier in der Region gibt es einen Paul van de Pinsel 3, in Heinde malt der, glaube ich. Und „Chisel“ wie Meißel oder Stemmeisen ist doch für einen Steinbildhauer überaus naheliegend.“
Lisa schaute überrascht auf. „Ich kenne „Chisel“ nur als Tätigkeitswort, und da bedeutet es so viel wie etwas ergaunern.“
Markus musste lachen. „Na ja, vielleicht passt beides. Wenn man als Künstler seinen Lebensunterhalt verdienen will, muss man wohl zumindest ein wenig ein kleines Schlitzohr sein, oder?“
„Hier herüber, kommen Sie hierher.“ Yilmaz Yıldız winkte ihnen aufgeregt.
Zwei große Skulpturen lagen am Boden. Eine war zerbrochen, es musste sich um eine Art Medusa gehandelt haben. Jedenfalls rankten sich zahlreiche Schlangen um den Löwenkopf, der abgebrochen war und auf dem Boden neben einem der Holzpfeiler lag. Markus schaute nach oben. „Direkt unter einer Überwachungskamera.“
„Sie sind sich sicher, dass die gestern Abend noch aufrecht standen?“
„Hundertprozentig.“ Yilmaz zeigte auf die zweite Skulptur, die auf den ersten Blick unversehrt aussah. „Die Farbe war gestern auch nicht da.“
Rote Linien zogen sich kreuz und quer über den Stein. Yilmaz bückte sich und hob etwas auf. „Eine Sprühdose, die war gestern …“
„Nicht anfassen“, schrie Markus.
Erschrocken ließ Yilmaz die Dose fallen.
„Wegen der Fingerabdrücke.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nun müssen wir Ihre auch nehmen. Aber die sind ja wahrscheinlich sowieso überall, oder?“
Yilmaz nickte. „Mantıklı. Auf jedem einzelnen Stein. Ich habe beim Aufbauen geholfen.“
Ralf Schubert platzte mit drei Bechern Kaffee in Lisas Büro. Ebenfalls ohne anzuklopfen, wie sie verärgert registrierte.
Ralf stellte die Becher schwungvoll auf den Schreibtisch und pustete auf seine Fingerspitzen. „Mann, sind die heiß.“ Dann grinste er in die Runde und zog eine Bäckertüte unter seiner Jacke hervor. „Drei Baustellen.“
„Wieso Baustellen?“ Lisa verstand ihn nicht.
Markus öffnete die Tüte. „Halbe Baguettes mit allem belegt, was das Herz begehrt. Gibt’s beim Bäcker im Leinekauf.“
Ralf schob ihr einen Kaffeebecher zu. „Mit Milch ist doch richtig, oder?“
„Genau. Danke.“
„Hast du außer der Brotzeit noch was für uns?“, fragte Markus.
„Selbstverfreilich.“ Ralf kaute an einem ziemlich großen Bissen Baustelle. Remoulade tropfte von seinem Kinn. „Mord, zumindest Totschlag.“
„Sicher?“
„Ja, die Schädelverletzung passt zu keiner Stelle auf der Treppe, aber hervorragend zu einem der Hämmer, die oben in dem Teil der Ausstellung zu sehen sind, in dem die Besucher dem Künstler bei der Arbeit zuschauen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir Blutspuren daran finden werden.“
„Sind dir irgendwelche Farbreste an der Toten aufgefallen?“
„Rote Sprühfarbe, vermutlich Autolack, größere Flecken an der rechten Hand, feiner Nebel auf den Kleidungsstücken und auf der rechten Wange.“
Lisas Rechner gab ein leises Klingeln von sich. Sie bewegte die Maus, um den Bildschirmschoner abzuschalten und die Nachricht aufzurufen. „Okay, was haben wir da? Also, die Tote heißt Bianca Sternle, 28 Jahre alt, geschieden, Kinderkrankenschwester, wohnhaft in Paderborn.“
„Paderborn?“
„Denkst du, was ich denke?“
„Überprüf das.“
„Das dauert einen Moment.“
„Kein Problem, du hast ja noch deine Baustelle.“
Yilmaz bemühte sich, die Besucher, die kamen, um sich die Ausstellung anzusehen, so freundlich wie möglich abzuweisen. Trotzdem war er heilfroh, als Oskar und Lenin, die beiden Helfer von Chico Chisel, endlich auftauchten und er die Eingangstür hinter ihnen einfach abschließen konnte.
„Was’n hier los?“, fragte Oskar. Er war groß und schlank und hatte riesige Hände, mit denen er ständig in der Luft herumfuhrwerkte, während sein Kollege still neben ihm stand und nur missmutig die Stirn kräuselte, dass sich seine buschigen Augenbrauen in der Mitte berührten.
Yilmaz druckste ein wenig herum. Dann sagte er: „Es hat einen Unfall gegeben.“
„Mit den Skulpturen?“
Yilmaz war erleichtert, dass er nicht von der toten Frau sprechen musste, und nickte. Bruce Willis hatte als John McClane in allen Stirb-langsam-Filmen Dutzende Leute umgebracht. Und er, Yilmaz Yıldız, zitterte bereits unkontrolliert, wenn er eine einzelne tote Frau fand. Er straffte den Rücken und sagte mit seiner heisersten Stimme. „Bitte folgen Sie mir.“
Oskar und Lenin betrachteten die Bescherung. Während Lenin die Einzelteile der zerbrochenen Skulptur zusammenpackte, fotografierte Oskar die beschmierten Steine. „Das ist ein Fall für Ihre Versicherung. Sie haben doch eine Versicherung? Das kommt teuer. Schließlich handelt es sich um unersetzliche Kunstwerke.“
Yilmaz nickte bestätigend. Herr Schünemann hatte ihn gebeten, alles Nötige zu veranlassen und jedes Aufsehen zu vermeiden. Sie erwarteten die internationale Kommission der UNESCO in vier Tagen. Er kümmerte sich selbstverständlich persönlich um den tragischen Todesfall, aber mit den Steinen wollte er nicht behelligt werden.
Laut sagte Yilmaz: „Kein Problem. Fagus hat eine gute Versicherung.“
„Hör dir das an. Chico Chisel heißt mit bürgerlichem Namen Gregor Sternle. Er hat sein Diplom als Bildhauer und Restaurator an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden gemacht. Nach dem Studium ist er in seine Heimatstadt Paderborn zurückgekehrt und arbeitet dort – man höre und staune - im städtischen Kulturamt.“
Lisa grinste.
„Seit 2007 hat er zahlreiche Preise eingeheimst und Ausstellungen abgehalten. 2009 hat er sich von Bianca Sternle scheiden lassen.“
„Alles klar. Verhaften wir den Kerl.“
„Nicht so stürmisch. Wir haben keine Beweise. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Bianca sich nach der Vernissage im Lagerhaus versteckt hat, um die Skulpturen ihres Ex-Mannes zu beschädigen …“
„Wofür die rote Farbe spricht.“
„… können wir noch lange nicht nachweisen, dass er sie erschlagen hat.“ Sie hob die Stimme, als Markus sie erneut zu unterbrechen drohte. „Sogar falls wir seine Fingerabdrücke und ihr Blut auf dem Hammerstiel finden sollten. Schließlich ist es sein Hammer, und es wäre eher verwunderlich, wenn ausgerechnet seine Fingerabdrücke nicht darauf wären.“
Markus nickte. „Vielleicht gibt er es zu, sobald wir ihn ein bisschen in die Enge treiben.“
„Erst mal müssen wir ihn finden. Im Hotel, in dem er abgestiegen ist, befindet er sich nicht. Wir haben schon ein paar Mal angerufen.“
„Wo ist er denn untergebracht?“
„Hotel am Schlehberg. Kennst du das?“
„Hat ’ne tolle Aussicht über die Stadt und ist nur einen Katzensprung vom Fagus-Werk und der Innenstadt entfernt.“
Lisa sagte nichts dazu. Irgendwie war ihrer Meinung nach in Alfeld alles nur einen Katzensprung voneinander entfernt, wenn überhaupt.
Akribisch hatte Yilmaz jeden Winkel des Lagerhauses durchsucht. Er wollte unbedingt einen Hinweis darauf finden, wo die Frau sich vor ihm versteckt hatte. Er kletterte die Leiter hinauf und schaute in den Zwischenraum zwischen Hallendecke und dem Maschinenhaus oben auf dem Fahrstuhl. Alles so staubig wie immer. Hier war niemand hinaufgekrochen. Er schaltete den Fahrstuhl aus und öffnete die Tür zum Schacht mit einiger Mühe. Mit angehaltenem Atem schaute er hinunter. Der Fahrstuhl stand in der Etage unter ihm. Es war ziemlich dunkel. Yilmaz leuchtete mit einer Taschenlampe hinunter und entdeckte Fußspuren auf dem Dach des Fahrstuhls. Er fluchte leise. „Kahretsin, verdammt noch mal.“ Er tastete mit einem Bein nach der Sprosse in der Schachtwand. Er dachte an sein Vorbild John McClane, der mit Vorliebe in Fahrstuhlschächten herumkletterte, und stieg mit einem leichten Grinsen auf den Lippen die paar Meter bis zum Fahrstuhl herunter. Er ignorierte, dass seine Beine wie Espenlaub zitterten, und untersuchte die Fußspuren. Männerschuhe, keine Pumps. War die Frau nicht alleine gewesen? Oder hatten sich etwa mehrere Leute nachts hier aufgehalten?
Plötzlich entdeckte er hinter dem Maschinenhaus einen kleinen grauen Kasten, der definitiv nicht auf diesen Fahrstuhl gehörte. Er bückte sich und hob ihn auf. Das Gehäuse bestand aus Metall und war ein bisschen warm. Was mochte das sein?
Yilmaz beschloss, den Kasten mitzunehmen, und bei Tageslicht zu betrachten. Vorsichtig kletterte er wieder nach oben. Er schnaufte. Bruce Willis schwitzte nie, wenn er Wände hinaufkletterte. Und er geriet auch nicht außer Atem.
Lisa betrat die „Lounge 7“ hinter Markus. Im Schankraum saßen nur wenige Leute. Doch im Nebenzimmer schien es hoch her zu gehen.
Markus ging zum Tresen, auf dem verschiedene Wasserpfeifen standen, und wechselte ein paar Worte mit dem übernächtigt vor sich hin starrenden Wirt.
„Chico und seine Freunde sind da drinnen.“ Er zeigte mit dem Finger auf den Raucherraum.
Lisa erwartete einen durchdringenden Rauchgeruch, doch stattdessen roch sie Vanille und Kirsche, als sich die Tür hinter ihr schloss.
Chico Chisel war ein gedrungener, breitschultriger Mann mit kurz rasierten Haaren, durch die sich ein Zickzackmuster wand. Nachdem Markus sich und Lisa vorgestellt hatte, bestand Chisel darauf, im Beisein seiner neuen Alfelder Freunde befragt zu werden. Dazu zählte er auch den Wirt, der die ganze Nacht hier mit ihnen gefeiert hätte, nachdem er den Laden offiziell zugemacht hatte.
Obwohl die meisten recht undeutlich sprachen und zwei nur noch glasig vor sich hinstarrten, wurde Lisa und Markus schnell klar, dass Chisel ein stichhaltiges Alibi besaß. Er war direkt nach der Vernissage hierher gegangen und hatte den Raum seither nur zum Pinkeln verlassen. Lisa lehnte sowohl die angebotene Wasserpfeife als auch das Bier ab, die ein junger Mann ihr hinhielt.
Da der Wirt die Aussage seiner Gäste müde, aber glaubwürdig, bestätigte, stapfte Lisa wütend auf die Fußgängerzone hinaus.
Nachdem Markus ihr gefolgt war, fragte sie: „Wie lange braucht man zu Fuß von hier bis zum Fagus-Werk?“
„Selbst wenn man durch den Bahnhof geht, dürften es gute 15 bis 20 Minuten sein. Vergiss es, hin und zurück mindestens eine halbe Stunde, das wäre aufgefallen.“
„Es wäre so eine saubere Lösung gewesen. Wen haben wir denn sonst noch in Verdacht?“
Markus schürzte die Lippen. „Diesen Wachmann vielleicht.“
Lisa sah ihn fragend an.
„Na ja, vielleicht ist er übereifrig gewesen, hat die Frau bei ihrer Sprayattacke überrascht, sie hat versucht zu flüchten, und er hat sie aufgehalten.“
„Und er wartet dann bis zum nächsten Morgen, um den Fund der Leiche zu melden.“
„Das erklärt auch, wie der Mörder das Haus verlassen konnte, obwohl die Tür morgens verschlossen war.“
„Dafür haben wir ja sowieso nur sein Wort.“
Yilmaz erkannte einen Sender, wenn er einen sah, und dies hier war einer. Winzig nur, aber sicherlich leistungsfähig. Er hatte das Kästchen aufgeschraubt und sich die Bauteile darin genau angesehen.
„Guten Tag!“
Er erschrak, schaute hoch. Die beiden Polizisten traten zu ihm an den Tresen. Yilmaz lächelte. „Was kann ich für Sie tun?“
„Wann haben Sie das Gebäude gestern verlassen?“, fragte Markus.
„Kurz nach elf Uhr dreißig, warum? Alle waren weg, ich habe das Licht ausgemacht.“
„Auf Ihrem Kontrollrundgang haben Sie nicht zufällig eine Frau entdeckt, die sich an den Skulpturen zu schaffen machte?“
Yilmaz schüttelte energisch den Kopf. „Bak hele, nein.“
„Wenn wir das Werkzeug oben in der Ausstellung untersuchen, werden wir Ihre Fingerabdrücke darauf finden?“
Yilmaz errötete. „Ben de bişey söylemem.“
„Wie bitte?“
„Ich sage gar nichts mehr.“ Er dachte mit Schrecken daran, dass er gestern Abend, nachdem alle weg waren, die Werkzeuge ausprobiert hatte.
„Was haben Sie denn da?“ Markus zeigte auf das Kästchen vor Yilmaz.
„Muss ich reparieren.“ Das war keine Antwort, aber der Polizist interessierte sich scheinbar nicht wirklich dafür.
„Kommen Sie mit. Wie werden Ihre Fingerabdrücke nehmen. Vielleicht haben Sie uns dann ja etwas mehr zu erzählen?“
Yilmaz überlegte einen Augenblick, ob er einen Anwalt verlangen sollte. „Evet“, sagte er, „ich komme mit.“
Als Yilmaz, Lisa und Markus das Kommissariat betraten, kamen ihnen vier Kollegen entgegen. „Feueralarm im Fagus-Werk.“
Sie drehten sich ohne zu zögern um, sprangen wieder in den Wagen und fuhren zurück. Yilmaz rang die Hände. Lisa beobachtete ihn im Rückspiegel. Dem lag das Werk echt am Herzen. Würde er dafür töten?
Als sie auf das Gelände fuhren, rückten die riesigen Löschfahrzeuge bereits wieder ab. Yilmaz seufzte erleichtert.
Gemeinsam betraten sie die große Produktionshalle. Alles stand unter Wasser. In der Mitte der Halle diskutierten Feuerwehrleute miteinander. Fagus-Mitarbeiter entdeckte Lisa nicht.
„Was ist passiert?“, fragte Markus den Einsatzleiter Carsten Geberding, den er aus dem Schützenverein kannte.
Der drehte sich um. „Du riechst wohl, wenn irgendwo was faul ist, was? Guck mal hier.“ Er hielt ihm ein Stück Perlonfaden unter die Nase.
„Drachenschnur, und?“
Geberding zeigte nach oben. „Die hat jemand an dem Feuermelder und an der Tür da drüben befestigt. Sobald ein Mitarbeiter die Tür geöffnet hat, musste das Röhrchen zerbrechen. Die Sprinkleranlage hat sich aktiviert und einen Feueralarm ausgelöst.“
Lisa bewegte den Kopf sachte hin und her. „Mein Gott, stinkt das hier. Ich muss nach draußen.“
Markus betrachtete das Schnurende in Carstens Hand aufmerksam. „Das ist Sabotage, oder?“ Er zeigte mit der Hand auf die Maschinen, die um sie herum standen. Still standen. „Wasser und Maschinen, das verträgt sich nicht, stimmt’s?“
Carsten wiegte den Kopf hin und her. „Das sind insgesamt moderne Anlagen, auf denen die Schuhleisten gefräst werden. Die dürften gut abgesichert sein. Natürlich gibt es einen Produktionsausfall, weil alles erst getrocknet werden muss. Aber hier drin ist es ziemlich warm, da geht das bestimmt schnell.“
„Woher kommt dieser Gestank?“
„Keine Ahnung. Vielleicht irgendeine Chemikalie, die die hier verwenden.“
Die beiden Männer traten gemeinsam ins Freie und atmeten tief durch.
Yilmaz hatte sich verdrückt, sobald der Polizist und der Feuerwehrmann in ihr Gespräch vertieft waren. Er nahm es persönlich, dass sie ihn verdächtigten. Ausgerechnet ihn, der jeden Winkel dieses Werkes kannte, seine Geschichte und alle Mitarbeiter, von den Chefs bis zum externen Gutachter, der nur einmal im Jahr auftauchte.
Er beschloss, sich nicht hinter seinen Tresen zu setzen, sondern einfach unsichtbar zu bleiben, damit die beiden nicht doch noch auf dumme Gedanken kamen und ihn wieder in die Ravenstraße mitnahmen.
Irgendwie musste das Ganze zusammenhängen.
Die tote Frau.
Die Männerfußspuren und das Kästchen.
Die Vernissage der Skulpturenausstellung.
Jetzt die Unterbrechung der Produktion.
Der Gestank machte ihn verrückt.
Wozu diente der Sender? Ob er ihn auslösen konnte? Einfach mal gucken, was dann passiert?
Oder war er schon ausgelöst worden?
Nein, eher nicht. Wie viel Zeit blieb ihm noch?
Sekundenlang dachte er, er sollte die Polizei informieren, sie um Hilfe bitten. Vielleicht wussten sie sofort Bescheid.
Er schüttelte den Kopf. Sie verdächtigten ihn. Yilmaz Yıldız. Wahrscheinlich würden sie ihn gleich verhaften, damit er keine Dummheiten machen konnte.
Yilmaz seufzte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich allein und hilflos, zum ersten Mal wusste er nicht, was er tun sollte. Er dachte an John McClane, der immer eine gute Idee in petto hatte, egal wie aussichtslos die Situation auch wirkte. Er ließ sich nie unterkriegen, und er verlor niemals die Nerven.
Yilmaz lächelte. Er würde sie aufhalten, wer immer sie waren.
Zwei Tage später wurden Lisa und Markus zum Chef gebeten. Mechler begrüßte sie freundlich und fuhr mit ihnen gemeinsam zum Fagus-Werk. Mehr als „Wir werden erwartet“ sagte er nicht.
Gemeinsam betraten sie die Halle, in der die Schuhleisten produziert wurden. Markus hielt sich die Nase zu. „Mein Gott, stinkt das.“
„Buttersäure“, sagte Mechler. „Gelöst in Glycerin, damit es gut an den Oberflächen haftet.“ Er zeigte auf dunkle Muster, die sich in hohen Bögen über die ehemals weißen Wände der Halle zogen. „Wahrscheinlich mit einer Gartenspritze gleichmäßig auf allen ebenen Flächen verteilt.“
Lisa war an eine der Wände getreten.
„Das ist Schimmel.“ Sie wich ein paar Schritte zurück.
„Exakt, Liebigs Fleischextrakt mit Schimmel geimpft. Durch das Wasser aus der Sprinkleranlage und die Wärme in der Halle fanden die Schimmelpilze eine ausgesprochen förderliche Umgebung vor.“
„Wozu soll das gut sein? Wer macht so was?“
„Nun, wir gehen davon aus, dass jemand verhindern möchte, dass das Fagus-Werk als Weltkulturerbe anerkannt wird.“
„Dieser Titel ist sicher auch mit ein paar Mäusen verbunden, oder?“
„Nicht direkt, aber natürlich stehen Fördergelder des Bundes zur Verfügung. Das Besondere am Fagus-Werk ist eben vor allem, dass hier ununterbrochen produziert wurde. Sozusagen Leben und Arbeiten im Baukunstwerk. In zwei Tagen kommt die internationale Kommission, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen …“ Mechler ließ den Satz unvollendet in der Luft verklingen.
„Haben Sie einen Hinweis, wer dem Fagus-Werk die Anerkennung nicht gönnt? Gibt es Konkurrenten? Wer käme in Betracht, wenn das Fagus-Werk abgelehnt würde?“
„Eine qualifizierte Beantwortung dieser Frage gestaltet sich schwierig. Deshalb denken wir an einen anderen Ansatz.“
Lisa und Markus sahen sich fragend an.
„Auf der Kleidung der Toten, Bianca Sternle, wenn ich richtig informiert bin, hat sich ebenfalls Schimmel gebildet. Sie muss ebenfalls mit der Flüssigkeit, die hier versprüht wurde, in Kontakt gekommen sein.“
„Das könnte bedeuten: Sie ist bei ihrer Racheaktion an ihrem Exmann den Leuten in die Quere gekommen, die das Fagus-Werk sabotieren wollten.“ Lisa dachte laut nach. „Dann müssten die Täter auf der Vernissage gewesen sein.“
Mechle nickte. „Kümmern Sie sich darum.“
Während sie sprachen, wurden große Geräte in die Halle gerollt. „Das sind Mikrowellengeneratoren, die sollen das Myzel zerstören, Fagus gibt nicht auf. Sie wollen die zwei Tage, die ihnen noch bleiben, nutzen.“
Yilmaz bemerkte, dass eine Mitarbeiterin aus dem Büro der Funkenlöschanlage in Tränen aufgelöst auf der Toilette verschwand. Als sie auch nach zwanzig Minuten noch nicht wieder aufgetaucht war, überlegte er, was er tun sollte. Schließlich konnte er ihr nicht auf die Damentoilette folgen, oder?
Nach weiteren zehn Minuten hielt er es nicht mehr aus. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden. Langsam öffnete er die Tür. Er rief leise. Dann schaute er um die Ecke. Die Frau saß auf dem Boden, umklammerte beide Knie. Sie zitterte leicht. Als Yilmaz sie am Arm berührte, zuckte sie zusammen.
„Was ist denn los? Geht es Ihnen nicht gut?“
Sie nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich, ich halte das nicht aus.“
„Den Geruch?“
„Die Viecher.“ Sie flüsterte. „Ich hasse sie.“ Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, flüsterte hektisch. „Sie sind über meinen Fuß gekrabbelt.“ Sie schüttelte sich.
„Ich verstehe nicht, wovon reden Sie?“
„In meinem Büro, da sind Kakerlaken.“
„Kakerlaken? Das kann nicht sein.“
„Doch. Sie sind hinter dem Schreibtisch hervorgekrochen.“
„Bleiben Sie hier. Ich gehe nachschauen.“
Yilmaz erhob sich und lief in das Büro. Tatsächlich lagen zwei tote Kakerlaken neben dem Schreibtisch. Er rückte ihn von der Wand ab und entdeckte in der hintersten Ecke, eingeklemmt zwischen Tischbein und Scheuerleiste einen schmalen Kunststoffbehälter. Er hob ihn auf. An einer Seite befand sich ein unregelmäßiges Loch. Als er den Behälter schüttelte, sah er einen Fühler. Noch eine tote Kakerlake.
Schnell räumte er die anderen Insekten weg. Den Behälter stellte er auf seinen Tresen. Dann kehrte er wieder in den Toilettenraum zurück. „Sie können in ihr Büro gehen. Es ist alles in Ordnung. Da haben sich wohl zwei liebestolle Kellerbewohner zu Ihnen verirrt.“
Sie richtete sich auf und ging mit zögernden Schritten auf die Tür zu.
Nachdem sie gegangen war, eilte Yilmaz zu seinem Tresen. Er hatte einen Verdacht.
Mit fliegenden Fingern öffnete er den Kunststoffbehälter mit einem kleinen Schraubendreher. Vorsichtig hob er den Deckel ab. Kabel. Er hatte recht. Ein Mechanismus zum Öffnen. Er stellte das Kästchen, das er vom Fahrstuhl geborgen hatte, daneben. So ergab das einen Sinn. Es musste noch mehr von diesen Kunststoffbehältern geben, alle voller Kakerlaken, und der Sender, den er gefunden hatte, würde sie befreien. Wann? Morgen? Heute? In einer Stunde?
Er stand auf. Es half alles nichts. Er musste die Behälter finden. Jeden einzelnen.
Mit einem heftigen Stoß kippte er seinen Rucksack aus. Seine Brotdose und ein Paket Tempotücher polterten auf den Tresen. Er setzte den Rucksack auf und begann, einen Raum nach dem anderen sorgfältig abzusuchen. Bald hatte er sieben Behälter gefunden.
„Was machen Sie da?“
Yilmaz schaute auf. Oskar und Lenin standen neben ihm. „Ich, ach, ich mache sauber.“ Er sah, dass die beiden einen Blick wechselten. Dann sagte Oskar: „Das muss warten. Wir haben Sie schon überall gesucht. Zwei neue Skulpturen müssen als Ersatz für die zerbrochenen aufgestellt werden. Wegen der Symmetrie. Chico kommt auch gleich. Er will prüfen, ob alles wieder in einem angemessenen Zustand ist. Haben Sie Ihre Versicherung schon informiert?“
Während er sprach, dirigierte er Yilmaz zum Eingang, wo der Van des Künstlers mit geöffneter Schiebetür stand. Yilmaz konnte eine große Skulptur im Innenraum erkennen. „Böyle bişey olamaz, welch ein Mist“, flüsterte er.
Markus arbeitete sich durch die Liste der Gäste, die sich auf der Vernissage in das Gästebuch eingetragen hatten. Schünemann und der Künstler hatten noch ein paar Namen von Leuten beigesteuert, die ebenfalls dabei gewesen waren, es aber nicht für nötig gehalten hatten, sich zu verewigen.
„Hätte ich auch nicht getan, wenn ich finstere Pläne verfolgt hätte.“
Lisa sah von ihrem Monitor auf. „Oder erst recht, um keinen Verdacht zu erregen. Ich habe mich gerade mit den beiden Crewmen von Chisel beschäftigt. Sie sind zum ersten Mal mit ihm unterwegs. Die beiden, die er normalerweise mitnimmt, waren krank.“
„Beide?“
„Salmonellen, sie haben zusammen gegrillt.“
„Hm, hast du was über die beiden?“
„Oskar heißt Oskar Traubert und stammt aus Paderborn. Er arbeitet beim Theater als Bühnenarbeiter. Der andere, der sich Lenin nennt, heißt in Wahrheit Franz-Josef Welfensborn und lebt in … Kassel. Da war doch was. Lass mich nachdenken.“
Ihre Hände flogen über die Tastatur. Sie bemühte sich, nur an die Arbeit zu denken, nicht an Kassel, nicht an ihre Eltern und vor allem nicht an Masoud. „Hier ist der Eintrag über das UNESCO Welterbe in Deutschland. Gucken wir mal. Anerkannt, anerkannt, okay, jetzt kommt nominiert, Oberharzer Wasserregal, Opernhaus in Bayreuth, Fagus-Werk, Schloss Corvey und ..., genau das ist es, Gärten der Landgrafen in und um Kassel. Mann, wenn dieser Lenin blonde Haare hätte.“
„Was wäre dann?“
„Es gab da mal einen unschönen Vorfall, da ist jemand wie ein lonesome Cowboy ziemlich rabiat gegen alle vorgegangen, die irgendetwas gemacht haben, das in seinen Augen den Gärten geschadet hat. Einige Monate lang wurden wir immer wieder zu solchen Einsätzen gerufen.“
„Wie meinst du das? Jemand hat ein Taschentuch weggeworfen und der Cowboy hat ihm die Ohren langgezogen?“
„So ähnlich, nur ist er nie persönlich in Erscheinung getreten. Er hat sich an Autos und Fahrräder gehalten.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Na ja, wenn du von deinem Spaziergang zurückkamst, klemmte das Papier von deinem Müsliriegel unter dem Scheibenwischer und eine dicke Delle zierte deine Motorhaube.“
„Und du glaubst, das könnte dieser Lenin sein?“
„Man hat den Täter nie überführen können, aber ein Mann vom Wachschutz, der Zugang zu den Überwachungskameras hatte, ist in Verdacht geraten. Man konnte ihm nie etwas nachweisen, er wurde aber trotzdem versetzt und später entlassen, glaube ich. Ich werde am besten mal in Kassel anrufen, vielleicht hieß der ja Welfensborn. Auf jeden Fall war er blond. Das weiß ich genau, weil mir aufgefallen war, dass der trotz seiner blonden Haare so dunkle Augenbrauen hatte.“
Yilmaz stöhnte leise auf, als er die beiden riesigen Statuen in dem Wagen erblickte. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Ich hole einen Palettroller, evet?“
Er brauchte nicht lange zu suchen. Im Durchgang zwischen den Toiletten und den Spänebunkern stand einer. Als er zurück zum Van kam, hörte er Oskars Stimme. „… doch nur noch um zwei Stunden.“
„Wir müssen ihn ausschalten, er hat die Behälter gefunden.“ Das musste Lenin gesagt haben.
„Übertreib nicht, höchstens ein paar. Das hält uns nicht auf.“
Yilmaz krabbelte eine ganze Armada von Ameisen den Rücken hinauf, als er Lenins Stimme hörte. Tief und sanft. Bruce Willis, John McClane. Plötzlich wusste er Bescheid. Dieser Lenin hatte das Werk ausbaldowert, vor einigen Tagen bei dieser Führung, auf der er sich so geärgert hatte, und war jetzt als Helfer dieses … oh, er musste etwas unternehmen. Aber was? Kommt Zeit, kommt Rat. Allahım ya.
