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Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Junge entführt und dann entkleidet wurde. Wir haben Fasern einer Wolldecke an ihm gefunden. Anschließend hat der Täter ihn komplett in Frischhaltefolie eingewickelt, was zum Tod durch Ersticken führte.' Als aus der Innenstadt Holzmindens ein weiteres Kind verschwindet, versuchen nicht nur die beiden Kommissare Kofi Kayi und Stefan Ollner, dem Täter auf die Spur zu kommen. Auch die Bürger organisieren sich. Trotzdem können sie nicht verhindern, dass noch ein Kind entführt wird. Da alle Erwachsenen Wichtiges zu erledigen haben, hört niemand zu, als Kim von dem Mann mit den Katzenbabys erzählt …
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher der Autorin erschienen:
Ausweichmanöver
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© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9413-8
E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
E-Book ISBN 978-3-8271-9814-3
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über die Autorin:
Sabine Hartmann wurde 1962 in Berlin geboren. Seit 1982 lebt sie in Sibbesse. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Nach vielen Jahren als freiberufliche Übersetzerin und Dozentin in der Erwachsenenbildung arbeitet sie heute als Schulleiterin in Alfeld.
Als Tochter eines Polizisten interessierte sie sich schon früh für Detektivgeschichten und Krimis. So lag es nah, dass sie, als sie die Schreiblust packte, dieses Genre bevorzugte. Neben Krimis für Erwachsene schreibt sie auch für Kinder und Jugendliche. Im Regionalkrimibereich hat sie bisher im Leinebergland morden lassen. In Lesungen, Vorträgen und Schreibworkshops versucht sie, auch andere für Krimis zu interessieren. Für ihre Kurzkrimis, die in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Sie ist Mitglied bei den ,Mörderischen Schwestern‘ und im ,Syndikat‘.
Cape Times - 11.05.1986
Karriere beendet? – Wunderkind stürzt von der Bühne
Kapstadt (rt) – Sie waren in die Endler Hall der Universität Stellenbosch gekommen, um Beethovens Romanzen zu hören und um den sechsjährigen deutschen Wunderknaben Morton Malloy mit seiner Geige zu erleben. Stattdessen wurden sie Zeugen einer Tragödie. Nach dem ersten Stück verbeugte sich der Junge vor seinen Zuschauern, drehte sich zu seinem Partner William Austernod am Klavier um und trat einen Schritt zurück. Als er sich wieder dem Publikum zuwandte, um sich noch einmal zu verbeugen, stolperte er über einen Bodenscheinwerfer und stürzte von der Bühne. Das laute Bersten, das zu hören war, stammte allerdings von der Geige, einer kostbaren Sonderanfertigung in einer Spezialgröße, die unter dem Aufprall von Mortons Körper zerbrach. Eine in der Halle anwesende Ärztin versorgte den Bewusstlosen sofort. Trotzdem musste er mit einer schweren Kopfverletzung und einem offensichtlich gebrochenen Arm ins City Park Hospital gebracht werden.
Eine Zuhörerin, die in der ersten Reihe gesessen hatte, behauptete: „Er hat mich angesehen, gelächelt und ist mit voller Absicht über die Kante getreten.“ Mortons Mutter und Managerin, Barbara Malloy, verbittet sich derartige Behauptungen. „Mein Sohn ist so glücklich. Er freut sich sehr auf die bevorstehende Konzertreise, die ihn auf vier Kontinente und in zwanzig der bedeutendsten Konzertsäle der Welt führen wird“, sagte sie und ergänzte mit Tränen in den Augen: „Er war vor dem Auftritt aufgeregt, weil er so viele begeisterte Musikliebhaber treffen wird.“
Im Anschluss an unser Gespräch ließ sie verlauten, dass sie ihrerseits prüfen lassen wird, ob sie gegen die Universität Regressansprüche geltend machen kann, falls die Tournee aufgrund von Mortons Verletzungen tatsächlich verschoben werden muss. Außerdem habe sie einen Spezialisten mit der Begutachtung des Instrumentes beauftragt. Sie hoffe sehr, dass es noch zu reparieren sei. Die Geige sei zwar gut versichert, aber Morton liebte sie und glaubte, dass sie ihm Glück brächte.
Dieser Zeitung liegen noch keine Informationen zur Schwere der Verletzungen des Jungen vor. Allerdings muss wohl davon ausgegangen werden, dass die nächsten beiden Konzerte, die in Cincinnati und Brüssel stattfinden sollten, abgesagt werden müssen.
Bedeutet dies das Ende der Karriere von Morton Malloy?
„Gib mir five!“ Kommissar Kofi Kayi beugte sich zu dem rothaarigen Jungen hinunter. Verschwörerisch sagte er: „Ich habe früher auch Judo gemacht.“ Er betrachtete ihn aufmerksam. Kinder in Jonas‘ Alter fürchteten sich manchmal vor seiner dunklen Hautfarbe. Doch Jonas schien das nichts auszumachen.
„Ehrlich? Welchen Gurt hattest du?“
„Den grünen.“ Er hockte sich so hin, dass er ungefähr so groß war wie der kleine Junge, der stolz wie Oskar vor ihm stand. Er trug einen riesig wirkenden Judoanzug, der von einem nagelneuen, noch recht steifen gelben Gürtel zusammengehalten wurde. „Ihr wart heute zur Judo-Safari in Hannover?“
Der kleine Jonas nickte. „Ich besitze zwar nur den gelben Gürtel, aber in unserer Mannschaft haben fast alle den roten Fuchs geschafft.“ Stolz hielt er Kofi ein gesticktes Abzeichen und eine Urkunde hin. „Hast du auch so eins?“
Kofi stimmte zu. „Yep, und die Schlange und den Bären habe ich auch bekommen, aber da war ich schon älter als du.“
Jonas sah ihn mit großen Augen an. „Cool!“
Aus den Augenwinkeln sah Kofi, dass Jonas‘ Eltern unruhig hin und her gingen. Frau Schwarze rang die Hände. Ihr Mann versuchte, sie aufzuhalten, legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter.
Sie befanden sich im Wohnzimmer der Familie, das von einem übergroßen Plasmafernseher und zahlreichen Lautsprechern dominiert wurde. In einer Ecke standen bunte Kisten mit Spielzeugen. Kofi erkannte Playmobil und eine Menge Kuscheltiere. Er fragte: „Du hast einen Freund, der Kelvin heißt?“
„Wir gehen in die gleiche Klasse und machen zusammen Judo!“
Frau Schwarze mischte sich ein. „Kelvin hat rund zwei Monate später mit dem Training angefangen, doch er ist bereits zur orangen Gürtelprüfung angemeldet.“
„Das interessiert doch nicht“, sagte Herr Schwarze, der einen dunklen Anzug mit Krawatte trug.
„Im Moment wissen wir noch nicht, was wichtig ist und was nicht. Ich sammele alle Informationen, die ich bekommen kann.“ Kofi blickte verstohlen auf die Uhr. Wo blieb Stefan?
Zu gern würde er allein mit dem Jungen reden, in aller Ruhe. Er versuchte einen neuen Anlauf. „Du hast im Bus neben Kelvin gesessen?“
Jonas senkte den Blick. „Er ist mein Judo-Freund, und jetzt ist er verschwunden. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich bin zuerst ausgestiegen. Mami und Papi haben gewinkt, ich bin hingelaufen.“
Kofi lächelte ihn an. „Du hast nichts falsch gemacht. Aber wir können Kelvin nicht finden. Verstehst du? Deswegen wollen wir wissen, was er gemacht hat, bevor er verschwunden ist.“
„Ist er tot?“
Frau Schwarze stöhnte laut auf. Die roten Haare hatte Jonas scheinbar von ihr geerbt, obwohl ihre blondiert schienen. Sie war sorgfältig frisiert, trug aber einen dunkelblauen Jogginganzug und Pantoffeln.
Ihr Mann nahm sie in die Arme und flüsterte: „Du kannst nichts dafür. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.“ Zu Kofi gewandt fügte er hinzu: „Meine Frau glaubt, dass es ihre Pflicht gewesen wäre, auf Kelvin zu achten.“
„Sie glauben das nicht?“
„Nein. Wir konnten nicht ahnen, dass Angela einen Platten hatte und zu spät kommen würde. Sie müssen sich die Situation vor Augen halten. Da stürmten mehr als fünfzig aufgedrehte Kinder aus dem Bus, alle in weißen Judoanzügen. Wenn Jonas nicht auf uns zu gelaufen wäre und laut gerufen hätte, niemals hätte ich ihn auf Anhieb gefunden.“
„Was passierte, nachdem alle ausgestiegen waren?“
„Jonas erzählte uns von den Aufgaben, die er lösen musste, und dass er drei Gegner besiegt hat. Er hörte nicht mehr auf zu reden. Meine Frau meldete uns beim Betreuer ab. Ich ging mit meinem Sohn zum Auto.“
„Zu dieser Zeit stand Kelvin neben dem Mülleimer“, sagte Jonas. Dann richtete er sich auf, ging zu einer der Spielzeugkisten und holte sich einen großen Löwen. Mit dem Kuscheltier im Arm setzte er sich wieder aufs Sofa. Seine Eltern beobachteten ihn aufmerksam, sagten aber nichts.
„Neben welchem Mülleimer?“
„Gleich an der Straße, da hat jemand einen blauen Hai drauf gemalt. Bei der Bushaltestelle.“ Kofi erinnerte sich, dass es in der Innenstadt eine Reihe bunt bemalter Müllbehälter gab. Doch er hätte nicht sagen können, was auf ihnen zu sehen war.
„Was hat er da gemacht?“, fragte er den Jungen.
„Er hat ein Trinkpäckchen weggeworfen.“
„Und dann?“
Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts weiter gesehen.“
„Wir beide sind in den Wagen eingestiegen. Nachdem meine Frau gekommen war und sich angeschnallt hatte, sind wir nach Hause gefahren“, sagte Herr Schwarze. Er stand vor einem Regal mit richtigen Schallplatten. Zu gern hätte Kofi sich die Hüllen angeschaut. Stattdessen fragte er: „Sie können sich nicht erinnern, ob Kelvin da noch vor dem Mülleimer stand?“
Jonas‘ Vater schloss für einen Moment die Augen, schien sich zu konzentrieren. „Unser Auto war so abgestellt, dass ich die Haltestelle im Rückspiegel sehen konnte. Ich muss beim Ausparken zwangsläufig in die Richtung geschaut haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Verstehen Sie, da war alles voller Wagen. Außerdem war es trotz der Laternen recht dunkel.“
‚Alle im Halteverbot geparkt, könnte ich wetten‘, dachte Kofi.
„Ständig liefen Erwachsene und Kinder über die Straße, Autos fuhren los, hupten zum Abschied, und der normale Verkehr war ja auch noch da. Die Lage war einfach unübersichtlich.“
‚Genau deswegen gibt es Verkehrsregeln‘, dachte Kofi. ‚Wenige Meter weiter sind riesige Parkplätze. Wenn alle dort geparkt hätten, wäre vielleicht aufgefallen, dass Kelvin nicht von seiner Mutter abgeholt wurde. Aber wehe, man sagt was.‘
Frau Schwarze schnäuzte sich die Nase und erklärte dann: „Ich hatte bereits Abendessen vorbereitet, weil ich dachte, Jonas wäre bestimmt müde nach so einem anstrengenden Tag. Nur einen Happen essen und dann ab ins Bett, aber er war quietschfidel, richtig aufgedreht. Anschließend saß er in der Badewanne. Er war so glücklich, dass er hinterher seinen Judoanzug sofort wieder angezogen hat. Er will darin schlafen.“
Kofi erkannte, dass sie überaus stolz auf ihren Sohn war und sich mit ihm freute. „Wann hat sich Frau Angela Jänicke bei Ihnen gemeldet?“
„Sie hat zweimal angerufen. Das erste Mal klingelte unser Telefon schon, als wir gerade die Haustür aufschlossen“, sagte Herr Schwarze.
„Da haben wir uns noch nichts dabei gedacht“, ergänzte seine Frau.
„Eine gute Stunde später hat sie sich noch einmal gemeldet. Sie schien fast hysterisch, hat geweint. Sie konnte kaum einen zusammenhängenden Satz formulieren. Ich habe mich sofort ins Auto gesetzt und bin zur Hochschule zurückgefahren. Gemeinsam haben wir die ganze Gegend abgesucht.“ Herr Schwarze zuckte mit den Schultern und drehte seine Hände so, dass Kofi seine leeren Handflächen sehen konnte.
„Vergeblich?“
„Nicht ganz. Wir haben seinen Rucksack gefunden. Er lag am Straßenrand.“
„Direkt an der Haltestelle?“
„Nein, ein bisschen weiter die Straße hinunter in Richtung Wasserwerk. Angela hat ihn mit nach Hause genommen.“
Als Kofi das Haus verließ, saß Familie Schwarze gemeinsam auf dem Sofa. Niemand sprach ein Wort.
Sein Kollege, Kriminalhauptkommissar Stefan Ollner, wartete am Wagen vor dem Grundstück der Schwarzes auf ihn. „Ich wollte euch nicht unterbrechen. Hast du etwas Brauchbares erfahren?“
Kofi schüttelte den Kopf. „Und du?“
„Wie man’s nimmt. Kelvins Mutter, übrigens vom Typ aufgetakelt und parfümiert, ließ sich von dem Betreuer und Trainer, der mit den Kindern im Bus unterwegs war, Detlef Hanske, die Telefonliste der Teilnehmer geben. Sie hat ausnahmslos alle Eltern angerufen. Niemandem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Ein Junge glaubte, gesehen zu haben, wie Kelvin sich mit einem fremden Mann unterhielt, der ihm ein Trinkpäckchen reichte. Aber das hat sich schnell aufgeklärt. Es handelte sich um den Opa eines anderen Kindes, der Kelvin geholfen hat, den Strohhalm in die Öffnung zu schieben.“
Kofi schürzte die Lippen. „Dann ist Jonas also tatsächlich der Letzte aus der Gruppe, der ihn mit Sicherheit vor der HAWK gesehen hat. Könnte es sein, dass Kelvin weggelaufen ist?“
„Ausschließen können wir das nicht. Ich habe Heinrich und Schnitter gebeten, den Vater erst einmal anzurufen und zu befragen.“ Kofi nickte, die beiden uniformierten Polizisten hatten selbst Kinder, und besonders Herbert Heinrich konnte sehr gut mit Menschen in Stresssituationen umgehen.
„Sind die Eltern geschieden?“
„Er lebt mit seiner neuen Partnerin und deren Tochter in Hildesheim.“
„Der Bus hat die Kinder vor dem alten HAWK-Gebäude abgesetzt. Dahinter sind gleich die Teiche und der Bach.“
„Da sagst du was. Mausig hat unverzüglich das volle Programm angeleiert, inklusive Hundestaffel, Hubschrauber und Wärmebildkamera. Wollen wir hinfahren?“
Kofi nickte. „Unbedingt.“ Er hoffte, dass der Junge bereits in eine Decke eingewickelt mit einem süßen Tee in der einen und einem Kuscheltier in der anderen Hand im Einsatzwagen saß.
Anna Blume hatte beschlossen, sich heute Morgen einmal verwöhnen zu lassen. Gestern Abend war sie erst spät nach Hause gekommen und todmüde ins Bett gefallen. Sie hatte ihre neuen Schnürstiefeletten getragen und nun Blasen an beiden Fersen. Sie wusste, dass es in ihrem Lieferwagen nach Brokkoli und Fisch riechen würde, wenn sie ihn jetzt aufschloss. Deshalb ging sie zu Fuß. Den Wagen konnte sie später holen. Sie zückte das Handy und wählte. „Hallo Paul, wie sieht es aus? Haben wir eine Verabredung zum Frühstück?“
Paul jauchzte in den Hörer. „Viertel nach acht bei Schwager. Ich werde da sein.“
Anna lächelte. Paul war ein lieber Kerl. Sie hatte Riesenglück, dass er einen Narren an ihr gefressen hatte. Es machte ihn glücklich, wenn die Menschen auf den Partys fröhlich und ausgelassen waren und Annas Speisen genossen.
Er selbst probierte ausnahmslos alle Gerichte, die sie zubereitete, obwohl er weder Fisch noch Krustentiere mochte, und einen Salat würde er zu Hause wohl auch verschmähen.
Anna wollte sich mit diesem gemeinsamen Frühstück bei ihm bedanken, wollte endlich einmal Zeit haben, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er in ihren Laden kam, gab es immer viel zu tun. Meistens war sie in Eile.
Doch heute hatte sie Zeit, heute wollte sie Zeit haben. Heute vor einem Jahr hatte sie den Partyservice eröffnet, und genau genommen war Paul ihr Mitarbeiter, kein fest angestellter, aber ein zuverlässiger.
Sie eilte über den Marktplatz und freute sich über die Sonne, die immer noch Wärme ausstrahlte, obwohl es fast November war.
Paul stand unruhig mit seinem Fahrrad vor dem Eingang zur Cafeteria. Er wackelte von einem Bein aufs andere und grinste breit. „Guten Morgen, Anna Blume.“
„Hallo Paul, wollen wir hineingehen?“
„Ich habe schon gefrühstückt.“
„Heißt das, du hast gar keinen Hunger mehr?“
„Nein, das heißt, dass ich jetzt nichts Süßes mehr essen muss, kein Nutellabrötchen und kein Marmeladenbrot.“ Er rieb die Hände aneinander. „Jetzt gibt’s Rührei mit Speck und Mettbrötchen.“
Anna musste lachen. „Du bist mir ja einer.“
Paul sah hinter sich. „Wie viele sollte ich sein?“
„Schließ dein Rad an und lass uns hineingehen.“
Paul steuerte sofort die kleine Nische am Fenster an. Doch dort saß bereits ein Mann, der Anna vage bekannt vorkam. Unentschlossen stand Paul vor dem Tisch. Anna war sich sicher, dass er es nicht mochte, dass dort jemand saß. Sie sagte: „Guck mal, Paul, auf diesem Tisch stehen wunderschöne gelbe Blumen. Wollen wir uns hierher setzen?“
Sie setzte sich an den Nachbartisch und schielte noch einmal hinüber.
Der Mann rückte seine Lesebrille zurecht und nahm die Mappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, zur Hand. Er klappte sie auf und vertiefte sich in einen längeren Text. Plötzlich wusste Anna, um wen es sich handelte.
Rechtsanwalt Nussbaum. Der hatte sie vor einem Jahr bei ihrer Firmengründung unterstützt. Zusammen mit seinen Partnern hatte er sich um alles gekümmert. Sie selbst hatte nur die Idee skizziert.
Paul hatte sich zu ihr umgedreht, konnte sich aber noch nicht überwinden, sich an einen anderen als seinen gewohnten Platz zu setzen.
Anna unterhielt sich weiter mit ihm, als wäre alles in bester Ordnung. Doch erst als die Bedienung ihr Frühstück brachte, rutschte Paul auf den Sitzplatz ihr gegenüber. Anna lächelte ihn an, sagte aber nichts. Paul entspannte sich zusehends, während er mit dem Hintern den Stuhl prüfte, den Salzstreuer exakt neben dem Pfefferstreuer ausrichtete und die Serviette befühlte.
Als er genüsslich sein Rührei mampfte, gesellte sich jemand zu Nussbaum.
Anna musste grinsen. Den kannte sie auch. Gregor Körner hatte sich kurz nach ihr selbstständig gemacht. Er betrieb ein Varieté, in dem er selbst als Pantomime, Zauberer und Clown auftrat, gelegentlich unterstützt von Musikern oder einer äußerst fähigen Partyservicebetreiberin.
Sie versuchte, sich auf Paul zu konzentrieren, doch der war so sehr damit beschäftigt zu essen, dass sie unwillkürlich lauschte. Die beiden Männer sprachen über Verträge und über Geld. Es hörte sich so an, als wollte Körner einen Künstler aus dem Ausland engagieren. Jedenfalls erwähnten sie Mexiko, Texas und Verpflichtungen.
Paul gähnte. „Das war gut. Was arbeiten wir heute?“
„Heute Abend gebe ich einen Workshop bei den Landfrauen, bis dahin haben wir frei. Wir könnten allerdings einen Sauerteig ansetzen und ein paar Etiketten entwerfen.“
„Sauerteig riecht nicht gut“, brummte Paul.
Gregor Körner am Nachbartisch schien sich zu ärgern. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „Das lasse ich mir nicht gefallen.“
Nussbaum zuckte zusammen, sah sich prüfend um. Anna senkte den Blick. Sie konnte nicht verstehen, was er antwortete. Jedenfalls schien es Körner nicht zu beruhigen. Erregt beugte er sich vor und flüsterte etwas, das Nussbaum dazu brachte, sich zurückzulehnen.
Körner schien das aus der Fassung zu bringen. Er sprach jetzt sehr laut. „Hören Sie, es ist mir völlig egal, wie viel es kostet. Sorgen Sie dafür, dass ich es bekomme.“ Damit stand er so ruckartig auf, dass der Kaffee aus den Tassen schwappte, und stürmte aus dem Raum.
Nussbaum blies seine Wangen auf und klappte die Mappe wieder zu. Nachdenklich tappte er mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.
Paul begann, auf seinem Stuhl herumzuhibbeln.
„Was ist los?“, fragte Anna.
„Ich möchte noch eine Portion Rührei.“
„Okay!“
„Okay?“
„Völlig okay. Ich nehme noch ein Schokocroissant.“ Eigentlich hatte Anna keinen Hunger mehr, aber noch ein bisschen Schokolade konnte nicht schaden.
Nachdem sie gezahlt hatte, ging sie gemeinsam mit Paul nach draußen. Es war so warm, dass sie ihre Strickjacke über den Arm nahm.
Paul stieg auf sein Rad.
„Was hast du jetzt vor?“
„Rad fahren.“
„Wo willst du hin?“
„Mal sehen. Ich fahre bis zum Mittag, anschließend muss ich nach Hause. Am Nachmittag gehe ich zum THW und helfe beim Grillen.“
„Viel Spaß. Wie kann man nur so viel essen?“
Paul strich über seinen Bauch, der sich unter dem T-Shirt deutlich abzeichnete. „Ich habe immer Hunger.“
Anna beschloss, noch in den Teeladen neben der „Nase“ am Haarmannplatz hineinzuschauen. Vielleicht gab es den weißen Tee mit Jasmin wieder.
Kofi ließ sich auf den Stuhl neben Stefan Ollner fallen. Wortlos hielt er ihm, wie jeden Morgen, die Tüte mit den Campingwecken hin. Ollner lehnte ab, wie immer. „Ich hab’ schon gefrühstückt.“ Kofi erinnerte sich noch gut, wie Ollner das erste Mal, an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag, eines der Brötchen angenommen und hineingebissen hatte. Heute wusste Kofi, dass Ollner keine Rosinen mochte. Damals hatte er sich nur gewundert, dass der Neue aus Hamburg so lange brauchte, um ein Brötchen aufzuessen. Seither kaufte er immer welche mit und ohne Rosinen, doch Stefan Ollner nahm trotzdem nur selten eines.
Kofi war froh, wenn er so rechtzeitig aus dem Bett fand, dass er noch duschen konnte, bevor er los musste. An Frühstück war gar nicht zu denken. Seit er sich einen Kaffeeautomaten gekauft hatte, der Kaffee, Tee und Kakao zubereiten konnte, trank er immerhin etwas Warmes, ehe er seine Wohnung verließ. Er hatte noch den Bergamotte-Geschmack seines Earl Grey Tees im Mund, als er in seinen ersten Wecken des Tages biss.
Die Kollegen saßen schweigend um den Tisch im Besprechungszimmer herum. Alle warteten geduldig auf den Dienststellenleiter Lothar Mausig. Der ließ auf sich warten, was ihm gar nicht ähnlich sah. Das führte Kofi zu der Vermutung, dass es dafür einen äußerst guten Grund gab, was wiederum nichts Gutes erwarten ließ.
Herbert Heinrich und Guntram Schnitter sahen etwas zerknittert aus. Wahrscheinlich hatten sie gestern noch später Feierabend gemacht als er und anschließend keine ruhige Nacht verbracht.
Kofi selbst hatte ebenfalls schlecht geschlafen. Er war immer wieder aufgeschreckt, weil er ein Kind weinen hörte. Natürlich gab es in seiner Wohnung keine Kinder, und die alte Frau Meichsner nebenan hatte nur einen Enkel, und der pubertierte gerade.
Spusi-Marc stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und legte einen Haufen Papiere, Fotos und ein paar feuchte Kleidungsstücke auf den Tisch. „Morgen. Mausig kommt gleich“, sagte er leise und setzte sich neben Ollner. Er vermied jeden Blickkontakt mit den anderen, sagte aber: „Was für ein Mist. Kinder sollten nicht verloren gehen.“
Kofi überlegte gerade, ob er sich über Marcs Euphemismus mokieren sollte, um die Spannung zu reduzieren, als Mausig eintrat.
„Guten Morgen, meine Herren. Kelvin Jänicke, 7 Jahre alt, 122 cm groß, 34 kg schwer, ist seit gestern Abend, 18.30 Uhr verschwunden. Das sind jetzt vierzehn Stunden. Abgesehen von seinem Rucksack haben wir keinerlei Spuren gefunden. Auch die Hunde nicht.“ Er zeigte auf den Tisch. „Seine zivilen Kleidungsstücke, inklusive Schuhe, befanden sich in dem Rucksack, sodass wir davon ausgehen können, dass er im Judoanzug und mit Badelatschen unterwegs ist.“ Mausig räusperte sich. „Anscheinend waren die Kinder nach dieser Safari gestern so euphorisch, dass sie alle beschlossen haben, in den Judoanzügen zurückzufahren. Was wissen wir sonst noch, Marc?“
Marc zuckte zusammen. „Tja, also, die Suchaktion in der Nacht hat nichts ergeben. Wir haben einen ertrunkenen Dachs im Teich gefunden.“
„Und jede Menge Müll“, ergänzte Herbert.
„Fingerabdrücke vom Rucksack haben wir nicht genommen, da die Mutter ihn mitgenommen und ausgepackt hatte, bevor sie ihn an uns übergeben hat. Die Hunde haben, abgesehen von der Bushaltestelle, überhaupt keine Spur des Jungen aufgenommen. Daraus lässt sich schließen, dass er den Rucksack nicht selbst die Straße heruntergetragen hat.“
„Und dass er direkt an der Haltestelle in einen Wagen gestiegen sein muss“, warf Ollner ein.
„Oder auf ein Fahrrad“, sagte Kofi.
Mausig nickte. „Soweit wir es bisher überprüfen konnten, …“ Er räusperte sich schon wieder. „Da verlassen wir uns auch auf die Aussagen der Mutter, die mit allen telefoniert hat. Wir können davon ausgehen, dass niemand, der zu der Judo-Gruppe gehört, Kelvin mitgenommen hat.“
„Hat jemand die Frau Jänicke an der Haltestelle gesehen?“, fragte Kofi.
Mausig sah ihn fragend an.
„Ich meine, stimmt es, dass sie zu spät gekommen ist? Gab es dafür einen nachvollziehbaren Grund?“
„Unterstellst du, dass sie ihren eigenen Sohn entführt hat?“ Herbert schüttelte entrüstet den Kopf.
„Soll schon vorgekommen sein“, verteidigte Kofi sich. „Sie hat das Sorgerecht?“
„Hat sie.“ Herbert winkte ab. „Die war gestern völlig durch den Wind. Die konnte vor Sorge nicht stillsitzen, ist ständig auf und ab gelaufen.“
„Sie hat der Reihe nach alle Fingernägel abgepult“, sagte Guntram ruhig. „Du hast sie nicht gesehen und nicht gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns etwas vorgespielt hat.“
Mausig mischte sich ein. „Mag sein. Wir sollten das trotzdem überprüfen. Haben Sie den Vater erreicht?“
Guntram Schnitter nickte. „Telefonisch. Gleich gestern Abend. Rainer Jänicke hat am Samstag das letzte Mal mit Kelvin gesprochen. Sie haben sich überlegt, was sie unternehmen wollen, wenn der Junge das nächste Wochenende bei seinem Vater in Hildesheim verbringt.“
„Hat der Vater einen Verdacht geäußert?“
„Nein. Kein Wort. Er hat heute Frühschicht und kommt anschließend hier her. Er ruft vorher noch mal an.“
„Gut, Ollner, Kayi, Sie übernehmen den Fall. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie benötigen. Meine Herren, wir müssen den Jungen finden. Wo fangen Sie an? Ich brauche was für die Presse.“
„Ist das Jugendamt in der Familie?“, fragte Kofi.
„Prüfen Sie das, so etwas kann ich aber nicht für die Zeitungsleute nehmen.“
„Wir gehen in die Schule, und anschließend befragen wir den Judobetreuer, diesen Detlef Hanske“, sagte Ollner, nachdem er in seinem Notizbuch geblättert hatte.
„Bringt das nicht zu viel Unruhe, wenn Sie in die Schule gehen?“
Stefan Ollner grunzte zustimmend. „Jedes Kind in Holzminden kennt den Kriminalkommissar Kofi Kayi. Wenn er auftaucht, wissen alle, dass was im Busche ist. Aber ich kann problemlos mit der Klassenlehrerin sprechen und die Schulleiterin um Informationen bitten. Die Kinder werden mich für einen Vater halten, sofern ich ihnen überhaupt auffalle.“
„Okay“, antwortete Kofi und stand auf. „Dann fahre ich zu diesem Hanske und versuche bei einigen Judo-Eltern herauszufinden, ob Angela Jänicke tatsächlich zu spät gekommen ist.“
„Dann sage ich der Presse, dass wir von einem Missverständnis ausgehen oder dass der Junge sich verlaufen hat?“ Mausig rieb sich die Augen. „Eigentlich können wir beides ausschließen, oder?“
Keiner der Männer antwortete, alle schauten interessiert die Tischplatte an.
„Eine schöne Unterstützung seid ihr, meine Herren“, murmelte Mausig. Erst als die Tür hinter ihm zugefallen war, sagte Kofi: „Meint ihr, Kelvin wurde entführt?“
„Familie Jänicke ist zwar nicht Hartz IV, aber so dicke, dass sie Lösegeld zahlen könnten, haben sie es sicher nicht.“
„Soweit wir wissen“, warf Kofi ein.
„Was soll das heißen? Du willst es unbedingt der Mutter anhängen, oder? Meinst du, die versteckt ihren Sohn, um vom Vater Lösegeld zu bekommen?“ Herberts Körperhaltung zeigte deutlich, was er von Kofis Überlegungen hielt.
Kofi zuckte mit den Schultern. „Das ist sicher lukrativer als Unterhalt.“
„Frau Jänicke arbeitet bei Douglas, volle Stelle. Kelvin geht nachmittags in den Hort.“
„Das glaube ich euch alles, aber habt ihr euch mal überlegt, was die Alternative ist?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer und ging zum Parkplatz. Er nahm den kleinsten Dienstwagen und fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof.
Wie hatte Spusi-Marc es ausgedrückt? Kinder sollten nicht verloren gehen? Er hatte sowas von recht.
Kofi beschloss, zuerst bei Detlef Hanske, dem Trainer und Betreuer der Judomannschaft, vorbeizufahren. Er hoffte, dass Hanske nicht zur Arbeit gefahren war.
Während er einen Parkplatz in der Nähe von Hanskes Grundstück suchte, überlegte er, woher er den Namen kannte. Als er sechs oder sieben Jahre alt war und mit dem Judotraining anfing, hatte ein Pärchen die Jüngsten trainiert.
Beide 3. Dan, sie fast einen ganzen Kopf größer als er, breitschultriger, stämmiger. Er konnte sich sogar an ihren Körpergeruch nach einem anstrengenden Kampf erinnern, aber ihr Name fiel ihm nicht ein. Er hieß Roland, und Kofi erinnerte sich noch, dass er vor jedem Wettkampf drei Tage hungerte, gelegentlich sogar Abführmittel nahm, um eine Gewichtsklasse niedriger antreten zu können, obwohl er sowieso höchstens ein halbes Hemd war.
Jetzt wusste er es wieder, Roland und Marion. Außerdem gab es noch einen wesentlich älteren Mann mit schlohweißem Haar, Kurt oder so, aber der Name Detlef Hanske sagte ihm nichts.
Die Fenster zu Hanskes Wohnung standen auf Kipp. Er hörte Musik. War das Nena? Ach, und jetzt will Markus Spaß. Neue Deutsche Welle. Lange nicht gehört. Kofi klingelte lange.
Sobald Hanske die Tür öffnete, dröhnte die Musik noch lauter.
„Was wollen Sie?“
Kofi erahnte mehr als dass er hörte, was Hanske ihn fragte.
„Ich bin von der Polizei, Kriminalkommissar Kofi Kayi, ich möchte mit Ihnen noch einmal über Kelvin sprechen.“
Hanske war barfuß. Er machte einen Schritt vorwärts und zog die Tür hinter sich zu. „Haben Sie ihn gefunden?“
„Nein, noch nicht. Wir suchen immer noch.“
„Wie kann ich helfen?“
Kofi sah sich erstaunt um. „Wollen wir das nicht lieber drinnen besprechen?“
Hanske ging noch etwas weiter von der Haustür weg. Er war sehr schlank und überragte Kofi um gute zwanzig Zentimeter. Er hielt sich gerade, beinahe steif, und seine Haare wirkten seltsam farblos. „Nö, hier draußen ist es auch schön, heute ist so tolles Wetter.“
Kofi runzelte die Stirn. „Wie Sie meinen. Seit wann sind Sie Judotrainer?“
„Ich habe als Sechzehnjähriger angefangen, meine Jugendtrainerlizenz zu machen. Abgesehen von knapp zwei Jahren Bundeswehr bin ich seither aktiv.“
„Sie haben eigene Wettkämpfe bestritten?“
„Wenige, ich kann eher andere zu Höchstleistungen motivieren als mich selbst.“
„Sie sind erst kürzlich nach Holzminden gezogen?“
„Haben Sie mich überprüft?“
„Nein, ich habe bis vor etwa drei Jahren ebenfalls Judo gemacht, und ich denke, wir sind uns da nicht über den Weg gelaufen, oder?“
„Verstehe. Nun, ich bin vor gut einem Jahr hierher gezogen, aus Köln.“
„Berufliche Gründe?“
„Private Gründe.“
„Wann haben Sie Kelvin das letzte Mal bewusst gesehen?“
Hanske überlegte einen Moment. „Bei der Toilettenpause auf der Raststätte. Er hatte Probleme mit seinem Trinkpäckchen.“
„Danach nicht mehr?“
„Nachdem alle Kinder eingestiegen waren, habe ich kontrolliert, ob alle da sind. Später habe ich mich, genau wie alle anderen auch, auf meinen Sitz gesetzt und gedöst.“
„Beim oder nach dem Aussteigen vor der HAWK ist er Ihnen nicht aufgefallen.“
Hanske schüttelte stumm den Kopf.
„Haben Sie Frau Jänicke vor der HAWK gesehen?“
Der Trainer legte den Kopf schief. Augenscheinlich hatte ihm diese Frage bisher noch niemand gestellt. „Nicht, dass ich wüsste.“
Er atmete tief ein. „Aber wissen Sie, das ist nun mal so. Die wenigsten Eltern sagen Bescheid, dass sie mit ihrem Kind abfahren oder dass sie noch zwei andere mitnehmen.“ Er seufzte laut. „Und dass sich einer dafür bedankt, dass die Kinder einen tollen Ausflug gemacht haben und ich mir einen freien Tag um die Ohren gehauen habe, ist schon lange nicht mehr vorgekommen.“
„Angela Jänicke, haben Sie sie gesehen?“
„Nö.“
„Fährt einen blauen Polo.“
„Nö.“
„Ganz bestimmt nicht?“
„Definitiv.“
„Was macht sie so sicher?“
„Sie fasst mich immer an.“
Kofi runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“
„Nicht aufdringlich oder so, ist ihre Art, macht sie mit allen. Sie legt einem stets ihre Hand irgendwohin, wenn sie mit einem spricht. Auf die Schulter, auf den Arm, auf die Hand. Ich glaube, sie kann nicht anders.“
„Frau Jänicke hätte sich und ihren Sohn bei Ihnen abgemeldet?“
„Auf jeden Fall. Sie hat immer noch etwas zu besprechen.“
„Ist Kelvin gut im Judo?“
Hanske pustete Luft durch die Nase. „Sozusagen ein Supertalent.“ Er scharrte versonnen mit der Fußspitze über die Gehwegplatten. Kofi spürte, dass Hanske trotzdem, oder gerade deswegen, Vorbehalte gegen den Jungen oder seine Mutter hatte. „Kelvin scheint zu spüren, was sein Gegner vorhat und kommt ihm einen Sekundenbruchteil zuvor. Es ist ein Vergnügen, ihm zuzusehen.“ Seine Stimme hingegen drückte weder Vergnügen noch Begeisterung aus, dachte Kofi. Eher Verwunderung.
„Hat er Spaß am Judo?“
„Alle Kinder haben Spaß, wenn sie gewinnen.“
„Hat Kelvin am Sonntag auch gewonnen?“
„Alle Kämpfe, souverän.“
„Wie hat er reagiert, wenn er verloren hat?“
Hanske schien verlegen. „Er hat immer versucht, anderen die Schuld zu geben. Der Gegner hat unfair gekämpft. Die Schiedsrichter waren parteiisch. Die Matte war zu rutschig. Sie wissen schon.“
Kofi nickte. „Hatte er Angst zu verlieren?“
„Angst? Nein. Aber er wollte unbedingt, dass seine Mutter stolz auf ihn sein konnte.“
Kofi schaute zum Fenster der Wohnung, aus dem inzwischen Fräulein Menke ertönte. „Ich müsste mal zur Toilette. Darf ich bei Ihnen?“
„Geht leider nicht. Die Tankstelle da hinten hat eine Toilette.“
Kofi fragte sich, wen oder was Detlef Hanske verbergen wollte. Einen Berg Schmutzwäsche? Eine Freundin?
Oder einen kleinen Jungen?
„Sie sind gestern als Letzter gegangen?“
„Ich habe gewartet, bis alle Kinder abgeholt worden waren, ja. Ich bin zu Fuß nach Hause gelaufen, war ja ein schöner Abend.“
„Kann das jemand bestätigen?“
„Dass keiner mehr da war, als ich losgegangen bin?“
„Wer hat sein Kind als Letzter abgeholt?“
Wieder dachte Hanske angestrengt nach. „Die Zwillinge. Sie hatten sich mein Handy geliehen und ihre Mutter angerufen, nachdem wir angekommen waren. Die kam in Schlappen und einem rosafarbenen Jogginganzug angehetzt. War’s das? Ich hab noch was vor.“
Erneut überlegte Kofi, wieso Hanske sich so seltsam verhielt. Als er nicht sofort antwortete, fragte der Trainer: „Sagen Sie jetzt, dass ich die Stadt nicht verlassen darf? Oder verlesen Sie mir gleich meine Rechte?“
„Weder noch. Ich wollte nur ein paar Details überprüfen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Herr Hanske.“
Damit wandte Kofi sich ab, ging den Gartenweg hinunter. Am Tor angekommen, drehte er sich noch einmal um. Hanske stand vor der Haustür, er schien abzuwarten, ob Kofi wirklich wegging. ‚Komischer Kauz‘, dachte er. ‚Will der mich veräppeln? Nicht mit mir. Das kann ich besser. Oh ja, ich mach’ den Columbo.‘
Er hielt inne, kratzte sich am Kopf, schwankte leicht mit dem Oberkörper und ging auf Detlef Hanske zu. „Ich hätte da noch eine Frage.“
„Peter Falk ist tot, wussten Sie das noch nicht?“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin selbstständig.“
„In welcher Branche?“
„Beratung.“
„Kann man damit Geld verdienen?“
„Ich schon.“
Kofi gab auf. So interessant war der Kerl nun auch wieder nicht. Sobald er in seinem Büro saß, würde er ihn überprüfen.
Was sollte er als Nächstes tun? Er ließ Ollners Handy klingeln, doch der meldete sich nicht, war wohl noch im Gespräch.
Kofi erinnerte sich an Guntrams Aussagen und beschloss, sich selbst ein Bild von Kelvins Mutter zu verschaffen.
Er sah, dass Angela Jänicke hinter der Gardine stand und in den Vorgarten hinausblickte, als er den Weg zu dem blauen Mehrfamilienhaus entlangging. Sie bewegte sich nicht, reagierte nicht auf ihn.
Er wusste nicht, ob sie ihn versteckt beobachtete oder gar nicht bemerkt hatte. Abgeblühte Rosenbüsche trennten den schmalen Plattenweg von einer vermoosten Rasenfläche ab. Eine Schaufel und ein kleiner roter Ball lagen vergessen vor einem winzigen Sandkasten.
Jemand hatte einen riesigen „Tag“ aus drei Meter hohen Buchstaben auf die Umrandung der Mülltonnen neben dem Haus gesprayt.
Auf Kofi wirkte das Ganze düster, trübsinnig, etwas verwahrlost. Dieser Eindruck wurde bestätigt, als er das Klingelbrett betrachtete. Zwei Knöpfe fehlten. Oben in der Mitte prangte ein ausgekautes Kaugummi. Nur zwei Klingeln waren leserlich beschriftet. Er drückte auf Jänicke und fragte sich, welche Bakterien diesen Knopf wohl besiedelten. Vorsichtshalber wischte er seinen Finger an der Hose ab.
Frau Jänicke öffnete die Tür nur einen Spalt breit. „Was wollen Sie?“ Sie hatte das dunkle Haar zu einem Knoten aufgesteckt.
„Mein Name ist Kofi Kayi. Ich bin Kriminalkommissar. Sie haben gestern mit meinem Kollegen Ollner gesprochen. Wir arbeiten zusammen.“
„Haben Sie Kelvin gefunden? Ist er …“
„Nein, nein. Allerdings haben sich noch ein paar Fragen ergeben. Dürfte ich reinkommen?“
Sie sah ihn misstrauisch an, nickte aber und gab den Weg frei. Kofi hatte den Eindruck, dass sie dabei ein wenig geschrumpft war, so als wäre sie eine aufblasbare Puppe und jemand hätte etwas Luft abgelassen. Frau Jänicke trug schwarze Jeans und eine lila Bluse, dazu ein farblich passendes Halstuch und Flipflops. Sie war stark geschminkt. Trotzdem sah Kofi die Ringe unter den Augen und die Rötungen. Sie wies mit der Hand auf eine offene Tür. „Wir können ins Wohnzimmer gehen.“
„Wir tun wirklich alles, was in unserer Macht steht, um Ihren Sohn zu finden.“
„Kelvin. Er heißt Kelvin.“
„Ihren Sohn Kelvin, ja.“
„Wissen Sie, alle sagen nur ‚Ihr Sohn‘, so als wäre es Blasphemie oder ein böses Omen, seinen Namen auszusprechen. Bitte sagen Sie Kelvin. Setzen Sie sich.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und dirigierte ihn sanft zu einem der beiden Sessel. Sie selbst ließ sich auf das Sofa sinken.
„Kein Problem. Also, Kelvin war, äh, ist ein guter Judoka?“
„Er hat großes Talent. Leider kann er erst 2024 an den Olympischen Spielen teilnehmen, denn natürlich muss er erst sein Abitur machen.“
Kofi wusste im ersten Augenblick nicht, wie er darauf reagieren sollte.
Einem Siebenjährigen vorherzusagen, dass er in dreizehn Jahren zum Olympiakader gehören würde, hielt er für mehr als verfrüht, ja geradezu für vermessen. Er versuchte, ihren Blick aufzufangen. Machte sie sich über ihn lustig? In der Situation? Wohl kaum. Er schaute sie an. Ihre Augen flatterten, schienen nicht richtig zu fokussieren.
Hatte Frau Jänicke noch nichts von der Pubertät gehört oder von Mädchen, die Jungen Flausen in den Kopf setzten?
Kofi versuchte, sein Erstaunen mit einem Lacher zu überspielen. Obwohl es in seinen Ohren sehr aufgesetzt klang, nahm Frau Jänicke ihn ernst.
„Sie brauchen nicht so ungläubig zu lachen. Man kann alles erreichen, wenn man sich nur ausreichend anstrengt.“ Sie sprach ganz langsam, betonte jede Silbe.
Unauffällig sah Kofi sich in der Wohnung um. Sie saßen im Wohnzimmer, Eiche hell, nicht Ikea, billiger und ziemlich hausbacken, sauber, aber abgenutzt. Für sich selbst galt Frau Jänickes Spruch anscheinend nicht. Oder war Verkäuferin bei Douglas wirklich ihr Traumberuf? Kofi beschloss, über etwas anderes zu sprechen.
„Kelvin hat gestern alle seine Kämpfe gewonnen.“
„Selbstverständlich.“
„Sie wussten das schon?“
„Ja und nein.“
„Wie das?“
„Ich wusste es, weil er immer der Beste war. Aber bisher hatte es mir noch niemand bestätigt. Irgendwie war es bislang nicht wichtig. Bitte, Sie müssen Kelvin bald finden. Er darf das Training nicht versäumen, sonst kann er nicht zur nächsten Gürtelprüfung antreten.“
Hatte die noch alle Latten am First? Der Junge war verschwunden, und das Einzige, worum sie sich sorgte, war so eine dämliche Gürtelprüfung. Am liebsten hätte er sie geschüttelt.
Dann hatte er eine Idee. „Hat Ihnen Ihr Arzt etwas gegeben?“
Sie lächelte. „Ja. Ich soll nur eine am Tag nehmen.“ Sie sah ihn verschwörerisch an. „Ich hab’ aber schon drei intus, und dann wurde ich so müde, dass ich im Sitzen eingeschlafen bin. Da habe ich schnell eine von meinen üblichen Tabletten genommen. Wissen Sie, ich muss im Shop den ganzen Tag stehen, da brauche ich ein paar Kraftspender.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Ich tue alles für Kelvin.“
„Okay.“ Er stand auf. „Was halten Sie davon, wenn ich uns einen Kaffee und Ihnen dazu noch eine Scheibe Brot mache?“
„Wenn es Ihnen Spaß macht. Die Küche ist da.“
Sie zeigte auf eine halb geöffnete Tür, folgte ihm und setzte sich an den Küchentisch.
„Wie ist Kelvins Verhältnis zu seinem Vater?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er ihn nicht sieht, vermisst er ihn auch nicht. Sobald er ein Wochenende in Hildesheim war, fällt es ihm schwer, wieder hierher zu kommen. Aber das ist ja kein Wunder, die verwöhnen ihn nach Strich und Faden. Da kann ich nicht mithalten. Bei mir ist Alltag, in Hildesheim ist immer Wochenende.“
„Können Sie sich vorstellen, dass Kelvin zu seinem Vater wollte und vielleicht gestern Abend einfach losmarschiert ist, als Sie nicht gekommen sind, um ihn abzuholen?“
„Das würde er sich nicht trauen.“
„Wieso nicht?“
„Er fürchtet sich im Dunkeln. Ich muss immer ein Nachtlicht brennen lassen.“
„Könnte es sein, dass Ihr Mann Kelvin abgeholt hat?“
„In vier Tagen ist wieder Hildesheim-Wochenende. Unter der Woche ist er bei mir. Wegen der Schule und so.“
„Möglicherweise hatte der Vater Sehnsucht nach seinem Sohn?“
„Das wäre ja mal ganz was Neues.“
„Sie hatten gestern einen Platten?“
Sie nickte. „Mein Polo hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel.“
„Wo ist das denn passiert?“
„Vorne rechts.“
„Nein, ich meinte, wo in Holzminden?“
„An der Fürstenberger, Ecke Wilhelm-Raabe, da müsste noch mein Warndreieck stehen. Habe ich in der Eile vergessen.“
„Haben Sie den Reifen allein gewechselt?“
„Natürlich nicht. Ein LKW-Fahrer hat mir geholfen. Ein Pole, aber nett. Er sprach niedlich Deutsch.“
Kofi konnte an ihren Augen sehen, dass sie sich bemühte, an alles Mögliche und Unmögliche zu denken, nur nicht daran, wo ihr Sohn, wo Kelvin jetzt sein mochte und wie es ihm erging.
„Frau Jänicke. Sie müssen darauf gefasst sein, dass die Presse bei Ihnen auftaucht.“
„Unser Anzeiger?“
„Ja, aber auch Überregionale und Fernsehsender oder Radio.“
„Wegen Kelvin? Wollen die beim Suchen helfen?“ Sie richtete sich auf. „Vielleicht ist das gut für später?“
Kofi beschloss, dass es Zeit war zu gehen. Er hoffte, dass die meisten ihrer Reaktionen auf das Beruhigungsmittel zurückzuführen waren. „Passen Sie auf sich auf. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir Ihren …, sobald wir Kelvin gefunden haben. Bleiben Sie sitzen, ich finde allein hinaus.“
In Windeseile warf er einen kurzen Blick in die anderen Zimmer. Kelvins Kinderzimmer war ordentlich aufgeräumt. Im Bad hing Wäsche zum Trocknen über der Badewanne.
Ihr Schlafzimmer sah ein wenig wüst aus. Kleidungsstücke und Handtücher lagen auf dem Bett, hingen über einem Stuhl. Mehrere Damenschuhe lagen auf dem Boden.
Abgesehen vom Kleiderschrank und unter dem Ehebett gab es nichts, wo man einen Siebenjährigen verstecken konnte. Und da war er nicht.
Kofi schloss die Türen sorgfältig, bevor er die Wohnung verließ.
Er musste sich Guntrams Auffassung anschließen. Er glaubte nicht mehr daran, dass Angela Jänicke ihren Sohn, Kelvin, versteckt hatte. Auch dass sie ihn im Zorn geschlagen und verletzt oder sogar getötet haben konnte, schien wenig wahrscheinlich.
Sie setzte auf seine Karriere. Betrachtete sie seinen Erfolg, jetzt und in Zukunft, als Ersatz für ihren eigenen?
Und ihr Mann? Ex-Mann? Sie dachte mit Bitterkeit an ihn, das ja, aber Hass?
Kofi stieg in seinen Wagen und fuhr ins Stadtzentrum zurück.
Kofi saß oben, quasi im Fenster des Café Lücke, und schaute auf die Fußgängerstraße hinunter. Er freute sich, dass er einen der begehrtesten Tische ergattert hatte. Obwohl das Fachwerk heimelig wirkte, fand Kofi die Deko ein bisschen staubig. Er schaute lieber nach draußen.
Zwischen Trauben von Schülern, die in kleinen Grüppchen herumliefen, sich gegenseitig schubsten und rempelten, kam zielstrebig Stefan Ollner auf das Café zu. Er bemerkte Kofi über sich nicht, tauchte aber, kurz nachdem er unten aus seinem Sichtfeld verschwunden war, in der oberen Ebene auf.
„Wusste ich’s doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und setzte sich neben Kofi.
„Hast du bereits bestellt?“
„Gleich unten am Tresen. Kleines Frühstück.“
„Ich auch. Was hast du erfahren?“
Stefan Ollner zückte sein Notizbuch. Kofi musste grinsen. Als ob er das brauchte. Er hatte garantiert jedes Detail im Kopf, viel mehr als er sich notiert hatte. Wahrscheinlich benötigte er das Notizbuch als Wegweiser, damit er nichts Wichtiges vergaß. Ollner war der einzige Mensch, den Kofi kannte, der ständig mit einem Bleistift schrieb. Er hatte auch überall Radiergummis und Anspitzer herumliegen, selbst im Auto und sogar bei sich zu Hause auf der Toilette.
„Ich habe zuerst mit der Klassenlehrerin, Frau Weisz, gesprochen. Sie kennt Kelvin seit der ersten Klasse. Er ist ein Ass in Mathe, mit dem Lesen und Schreiben tut er sich ein bisschen schwerer. Sport ist sein Lieblingsfach, Kunst kann ihm gestohlen bleiben. Soweit so normal. Allerdings hat Frau Weisz gesagt, dass er nur zwei Freunde hat.“
„Jonas und?“
„Mira Langner, beide aus dem Judoverein.“
„Ist er sehr ehrgeizig?“
Ollner wiegte den Kopf. „Da wollte sie sich nicht festlegen. Sie sagte, dass er eigentlich gern der Beste sein will, er lässt zum Beispiel nie jemanden abschreiben und sagt auch nicht vor. Wirklich arbeiten für ein gutes Ergebnis will er aber nicht.“
„Habe ich mir gedacht“, sagte Kofi, unterbrach sich und rückte ein Stückchen zur Seite, da die Kellnerin das Frühstück brachte. „Für mich verdichtet sich der Verdacht, dass der Junge stiften gegangen sein könnte, weil er Angst hatte, den Ansprüchen seiner Mutter nicht gerecht werden zu können. Das einzige Problem dabei ist, dass er auf der Judosafari wohl tatsächlich auf ganzer Linie erfolgreich war. Entweder ist im Bus noch eine andere Sache passiert, von der wir bisher nichts wissen, oder er fürchtete sich vor etwas, das am Montag geschehen würde. Stand eine Arbeit an?“
„Nein. Erste und zweite Stunde Sport, danach Mathe. Das Gespräch mit der Schulleiterin hat ebenfalls keine neuen Erkenntnisse erbracht. Bist du bei der Mutter weitergekommen?“
„Nicht wirklich. Sie hatte sowohl Beruhigungs- als auch Aufputschmittel genommen, behauptete sie wenigstens. Sie stand leicht neben sich. Jedenfalls hat sie Kelvin beträchtlich unter Druck gesetzt. Sie hat bedingungslosen Erfolg von ihm erwartet, eventuell den Erfolg, den sie selbst nie hatte.“
Ollner bestrich sein Brötchen mit Orangenmarmelade und sagte, ohne Kofi anzuschauen: „Wir müssen die Möglichkeit stärker berücksichtigen, dass er in ein fremdes Auto gestiegen sein könnte, in irgendein beliebiges, das zufällig vorbeikam.“
Kofi antwortete nicht, sondern beschäftige sich eingehend mit seinem Ei und dem Salzstreuer. Später sagte er: „Könnte es sein, dass ein Pädophiler wusste, dass der Bus gegen 18 Uhr zurückkommen würde?“
„Du meinst, er hat irgendwo gewartet und sich ein Kind geschnappt.“
„Es ist immer so, ich glaube nicht, dass ich es in meiner Zeit beim Judo oder beim Fußball erlebt habe, dass alle Eltern pünktlich aufgetaucht sind, um ihre Kinder abzuholen. Meine Trainer haben manchmal ’ne halbe Stunde oder länger gewartet. Hin und wieder haben sie sogar jemanden nach Hause gefahren.“
Ollner wackelte zustimmend mit dem Kopf. „Die Fahrt war bestimmt in der Zeitung oder zumindest vereinsintern angekündigt. Aber wenn es so war, wie sollen wir den Kerl dann ausfindig machen?“
Kofi sah ihm ins Gesicht, zuckte mit den Schultern und widmete sich seiner letzten Brötchenhälfte.
Nachdem sie schweigend ihr Frühstück beendet hatten, fragte Ollner: „Wie wollen wir weitermachen? Mit dem Vater aus Hildesheim?“
„Der Junge kann doch nicht einfach so aus dem Stadtzentrum verschwinden, ohne dass jemand etwas bemerkt. Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Vielleicht sollten wir die Zeitung um einen Zeugenaufruf bitten.“ Kofi merkte, dass er wieder ‚der Junge‘ gesagt hatte. Das war einfacher. Wenn er Kelvin sagte und dachte, wurde alles persönlicher, wurde aus der abstrakten, gesuchten Person ein Mensch mit Hoffnungen und Ängsten. Ein sehr kleiner Mensch. Schwach und hilflos. Verängstigt.
„Ich habe Frau Jänicke vor der Presse gewarnt.“
Ollner sah ihn fragend an.
