Mordscoach - Lilli Pabst - E-Book

Mordscoach E-Book

Lilli Pabst

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Beschreibung

Manche nennen es tot, ich nenne es austherapiert Sophie Stach, Coachin und Psychoanalytische Supervisorin, führt mit ihrem Ehemann Jakob seit Jahren eine scheinbar harmonische Ehe. Sie nehmen sich Zeit für Paargespräche und Achtsamkeitsrituale, gemeinsames Wachstum steht für beide an erster Stelle. Bis Sophie überrascht herausfindet, dass Jakob nebenher mit einer anderen Frau ins Bett geht. Was sie noch mehr überrascht: dass sie im Affekt imstande ist, Jakobs Affäre zu ermorden. Leider löst das nicht ihr Problem, sondern führt zu einigen neuen. Dabei ist Sophie gar keine Serienmörderin. Oder doch?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mordscoach

LILLI PABST kommt aus Berlin, hat zwei Kinder und keinerlei Mordfantasien. Wirklich nicht. Da sie aber als Psychotherapeutin arbeitet und ihre Patienten sich bei ihr weiterhin wohl- und sicher fühlen sollen, hat sie ein Pseudonym gewählt. Dabei ist Lilli Pabst von beinahe zen-buddhistischer Ruhe und Zurückhaltung, selbst wenn die Kita streikt, man ihr den Parkplatz und/oder den letzten Schokoriegel klaut. Ehrlich.

Manche nennen es tot, ich nenne es austherapiert

Sophie Stach, Coachin und Psychoanalytische Supervisorin, führt mit ihrem Ehemann Jakob seit Jahren eine scheinbar harmonische Ehe. Sie nehmen sich Zeit für Paargespräche und Achtsamkeitsrituale, gemeinsames Wachstum steht für beide an erster Stelle. Bis Sophie überrascht herausfindet, dass Jakob nebenher mit einer anderen Frau ins Bett geht. Was sie noch mehr überrascht: dass sie im Affekt imstande ist, Jakobs Affäre zu ermorden. Leider löst das nicht ihr Problem, sondern führt zu einigen neuen. Dabei ist Sophie gar keine Serienmörderin. Oder doch?

Lilli Pabst

Mordscoach

Kriminalroman

Ullstein

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Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage November 2024

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-3271-0

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Nils Bergmann ist eine fette Qualle.

Es ist natürlich vollkommen unangemessen, so etwas zu denken. Aber ich kann gerade nicht anders. Nils Bergmann sitzt mir gegenüber und lässt mir keine andere Wahl. Seine Haut ist teigig, seine Finger, die das feuchte Taschentuch umklammern, mit dem er sich immer wieder die Tränchen aus den Augen wischt, sind kleine, dicke Würste. Wie Nürnberger. Nur blasser. In einem ungesunden Gelbton genauer gesagt, so wie sein Gesicht, das mit einem glänzenden Schweißfilm bedeckt ist.

Wenn ich Nils Bergmann ansehe, empfinde ich Ekel.

Auch das ist ungerecht von mir. Mir steht es überhaupt nicht zu, mich über ihn zu erheben. Und das ist auch sonst gar nicht meine Art, nie! Ich achte und res­pektiere Menschen mit all ihren Fehlern und Makeln. Ich wertschätze sie in all ihrer Komplexität und versuche, sie wohlwollend zu unterstützen und ihnen auf ihrem Weg eine Stütze zu sein, eine helfende Hand.

Aber ich kann Nils Bergmann partout nicht ausstehen.

Inadäquat, Sophie! Normalerweise würde ich sagen, dass ich solche Gedanken und Emotionen einfach wahrnehmen sollte, ohne darüber zu richten oder zu urteilen. Jetzt habe ich sogar den Drang, ihm das ins Gesicht zu schreien. Ich lasse es. Das wäre das Gegenteil von gewaltfreier Kommunikation, und auf die lege ich grundsätzlich Wert.

Zumindest habe ich das bis letzte Woche getan. Aber seitdem ist alles anders. Ich bin ein Wrack, ein widerliches, hasserfülltes, unglückliches, hämisches, negatives, die Welt und die Menschen verachtendes Wrack.

»Frau Stach, Sie sind so wundervoll, danke«, sagt Nils Bergmann und schaut mich gerührt an. »Danke. Danke. Danke«, wiederholt er mantraartig. »Sie wissen gar nicht, was mir das hier … was Sie mir bedeuten.«

Dann schnaubt er vor Rührung in sein Taschentuch. Als er seine Hand sinken lässt, hängt ihm ein schleimiger Popel in seinem linken Nasenloch, der einen Faden zieht bis hin zu seinen spärlichen Barthaaren auf der wulstigen Oberlippe.

Am liebsten würde ich den Wecker nehmen, der neben mir auf dem Beistelltischchen steht, und ihn Nils Bergmann in seine Popelfresse schlagen.

Ich bin entsetzt über mich, spüre sofort tiefe Schuld. Und Scham. Ich habe mich und meine Emotionen überhaupt nicht unter Kontrolle. Aber glücklicherweise zeigt der Wecker an, dass die Sitzung nur noch fünf Minuten dauert. Und die Chance, dass ich diese gerade noch so überstehe, bevor ich in Tränen ausbreche, liegt bei fünfzig Prozent. Und außerdem ist Nils Bergmann mein Patient, und ich bin seine Psychotherapeutin.

Ein Schlag mit einem Wecker ins Gesicht wäre nicht zuträglich für unsere Kommunikationssituation, schätze ich, schließlich beruhen diese und der Erfolg jeder Therapie doch auf vertrauensvollem Verständnis und einer sicheren Bindung.

Vertrauensvolles Verständnis und sichere Bindung für den Arsch, denke ich, weil mir plötzlich Jakob einfällt. Wobei »plötzlich« eigentlich gelogen ist, denn seitdem ich das von Jakob weiß, seit letzter Woche nämlich, kann ich an nichts anderes mehr denken. Genauer gesagt, läuft in mir eine Gedankenspule, ein Karussell ab, aus dem ich kein Entkommen finde.

Meinen Klienten, wenn ihnen Ähnliches passiert, rate ich, auch ihre physischen Routinen und Abläufe zu durchbrechen, also einfach mal etwas anderes, etwas Neues zu machen, sich einer anderen Situation auszusetzen – dann bricht meist die Spirale.

Deswegen habe ich mich heute aus dem Bett gequält, habe keinen Schluck getrunken, und die Zigaretten habe ich auch weggelassen, bis auf die zwei, die ich auf dem Weg zwischen Wohnung und Praxis geraucht habe. Aber gut, immerhin.

Wieder in Klientengespräche zu gehen erscheint mir, als ich Nils Bergmann ansehe, keine gute Idee zu sein. Ich bin völlig überfordert.

Ich bin die Psychotherapeutin von Nils Bergmann. Ich mache Verhaltenstherapie und bin ausgebildete systemische Therapeutin, habe Fortbildungen in Gestalttherapie und systemischer Therapie absolviert, bin psychoanalytische Supervisorin und ausgebildet in manueller Therapie. Kurzum: Ich bin die eierlegende Wollmilchsau.

Nur dass ich keine Kassenzulassung habe. Um einen Kassensitz hier in Köln bewerben sich manchmal bis zu hundert Kollegen. Dafür müsste ich dann auch noch 60.000 bis 100.000 Euro bezahlen, und allein, wenn ich da schon daran denke, dreht sich mir der Magen um. Da bleibe ich lieber eigenbestimmt und kann machen, was ich will.

Monetäres Interesse habe ich nie wirklich gehabt, was auch dazu geführt hat, dass unsere Eigentumswohnung auf Jakobs Namen läuft. Was jetzt irgendwie ein Problem darstellt.

Aber damals schien das nur gerecht.

Schließlich hat er sie auch gekauft.

Ich hatte immer wenig Geld. Es war und ist mir einfach nicht wichtig. Durch meine Entscheidung, nicht der Kasse beizutreten, sondern auf Selbstzahler zu setzen, habe ich eine entsprechende, halbwegs solvente Klientel. Die hundertzwanzig Euro die Stunde machen über den Monat einen ganz schönen Betrag für die Patienten aus, aber zum Glück können sie die Therapie von der Steuer absetzen, wenn ich sie als Coaching deklariere. Vor allem aber habe ich Patienten, die oft eher leichtere Probleme haben – Anpassungsstörungen, Depressionen, Lebenskrisen und so weiter. Schwerst traumatisierte Misshandlungsopfer tauchen in meiner Praxis eher selten auf, und wenn, dann schicke ich sie weiter zu einem Psychotherapeuten.

Ich muss selber zu meiner Supervisorin. Dringend. Aber … ich kann mit ihr nicht über mein Problem reden. Dabei kann ich eigentlich über alles mit ihr reden. Wir kennen uns seit zehn Jahren. Hanna Birnbaum weiß alles über mich. Sie kennt meine Glaubenssätze, meine Denkstrukturen und meine widerspenstigen Anteile, die mir früher Beziehungen etwas kompliziert gemacht haben, bis ich das Glück hatte, Jakob zu treffen. Sie weiß von meiner komplizierten Familiengeschichte und natürlich (und vor allem) von meinem Trauma. Sie weiß alles. Ich würde fast sagen, niemand kennt mich so gut wie sie.

Aber über mein Problem jetzt kann ich nicht mit ihr reden. Es darf niemand erfahren. Niemals! Und weil mich das so ohnmächtig und verzweifelt macht, reagiere ich, wie könnte es auch anders sein, mit dem typischen Abwehrmechanismus: Wut.

Wut auf mich selbst, auf mein Leben, auf Jakob, auf das, was passiert ist, und, Entschuldigung, ich bin wirklich unfassbar ungerecht, Wut auf Nils Bergmann.

Auf ihn, der mich jetzt anlächelt und versucht, herzerwärmende und süße Hundeaugen zu machen. Es klappt natürlich nicht. Ich finde, seine Augen sind klein, und er guckt verschlagen. Mit einem Wort: Schweinsäuglein.

Ich übertreibe in allem, was ich sage und denke, habe mich überhaupt nicht unter Kontrolle. Es ist furchterregend.

»Vielen Dank, aber es liegt nicht an mir. Sie machen gute Fortschritte«, versichere ich ihm.

Noch drei Minuten. Uff!

»Wir haben nur noch drei Minuten«, sage ich.

Nils Bergmann schaut erschrocken drein, was er immer tut, wenn ich das Ende einläute.

»Ist das wahr? Ist das schon so weit? Ich bin doch noch gar nicht …«

Ich weiß, dass diese Sitzungen ihm viel bedeuten, weil er sonst nur mit wenigen Menschen redet. Nils Bergmann fühlt sich permanent angegriffen und unangemessen behandelt, und er reagiert mit subtiler Aggression, die sich bei ihm in passiver Sabotage äußert. Seine Freundlichkeit überdeckt seinen Hochmut und seine Ignoranz. Und das sind Schutzmechanismen, um sein geringes Selbstwertgefühl zu überdecken. Da fühle ich sofort mit ihm mit. Eigentlich nutzt Nils Bergmann klassische passiv-aggressive Strukturen und Muster: Er ist unglücklich mit sich selbst, macht aber alle anderen dafür verantwortlich. Ergo hat er dem Außen eine kritische, feindselige Einstellung gegenüber, wertet alle anderen ab. Und indem er alles Negative auf andere projiziert, muss er sich nicht dem einzig Verantwortlichen stellen: nämlich sich selbst.

Das sollte ich auch dringend tun.

Mit seinen Gaming-Kollegen kommuniziert Nils Bergmann anders. In der Anonymität des Internets lässt er die Sau raus. Auch wenn ich mittlerweile weiß, dass sein größter Gegner dort ein zwölfjähriger Junge ist, mit dem Nils Bergmann eine Privatfehde hat. In der er beständig unterliegt. Was ihn noch mehr wurmt, anstatt sich einmal zu hinterfragen, warum er sich nicht gegen ein Kind durchsetzen kann. Ein Kind!

Ich will Nils Bergmann an den Schultern packen, ihn durchschütteln und ihn anschreien: Krieg deinen Scheiß zusammen und hör auf, rumzumemmen!

Verdammt! Ich bin so widerlich, so ungerecht.

Ich schäme mich. Und schaffe es deswegen endlich, in meine eigene Rolle zurückzufinden. Ich setze ein warmes Therapeutinnenlächeln auf, bin verbindlich, freundlich und erkläre entschieden: »Wir sehen uns ja nächste Woche wieder.«

Nils Bergmann seufzt, dann steht er auf wie ein geprügelter Hund und sagt sehnsüchtig: »Ich freue mich da­rauf.«

»Das ist doch schön«, erwidere ich.

Womit ich endlich wieder in dem distanziert-zugewandten Psychologinnen-Modus angekommen bin, in dem ich nichts von mir preisgebe und auch zu mir als Person mit meinen eigenen Affekten einen gesunden Abstand eingenommen habe.

Allerdings nur kurz. Denn Nils Bergmann streckt mir seine Schwitzehand entgegen, und allein der Gedanke, sie berühren zu müssen, versetzt mich in Panik. Mir wird heiß, und ich kriege schweißige Achseln. Aber ich kann nicht anders, ich muss die Hand nehmen und schütteln, das ist Teil des Patienten-Coach-Rituals. Genauso wie wir am Anfang zuerst kurz schweigen, dann einmal bewusst ausatmen, bevor wir dann mit der Sitzung beginnen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt Nils Bergmann und sieht mich forschend an.

Ich zucke zusammen. Nicht nur, weil das eine seltsame Frage von ihm ist, denn ein Patient fragt seinen Coach so was normalerweise nicht. Ich schrecke auch deswegen zusammen, weil es mir so gar nicht gut geht, und obwohl ich es verzweifelt versuche zu verbergen, scheint es mir auf der Stirn geschrieben zu stehen.

Ich nicke. »Danke. Es geht mir gut.«

Normalerweise würde ich fragen: Wie kommen Sie darauf, warum interessiert Sie das? Denn ich weiß, Nils Bergmann kreist nur um sich und hat kein empathisches Gespür. Aber ich habe keine Lust auf seine Antwort.

»Bis nächste Woche«, sage ich daher und zähle die Sekunden, bis er endlich durch die Tür ist und ich eine Ladung Desinfektionslösung auf meine Hand kippen kann, und am liebsten auch auf den Stuhl, auf dem Nils Bergmann gesessen hat.

Aber das ist natürlich völlig unangemessen und übertrieben.

Genauso unangemessen und übertrieben, wie dass ich später Nils Bergmann töten werde.

Aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Kapitel 2

Seit letzter Woche ist mein Leben ein anderes. Seit Dienstag. Ich weiß noch genau, wie dieser katastrophale Tag angefangen hat, der alles, mein Leben, mein Denken, meine Gewissheiten, mich, auf den Kopf gestellt hat.

Es ist warm draußen, der Frühling kommt. Man merkt es an allen Ecken und Enden, an den entspannteren Gesichtern der Menschen, die ihren Winterfrust langsam ablegen und wieder positiver in die Zukunft schauen. Außer denjenigen meiner Patienten natürlich, die unter einer schweren Depression leiden. Aber auch denen hilft ein Sonnenstrahl, das Vogelgezwitscher, die Luft, die auf einmal so viel leichter zu sein scheint und in der man schon meint, den Grillgeruch aus den Parks im Sommer wahrzunehmen. Ich sitze in meinem Polo und habe das Fenster runtergekurbelt, während ich im Stop and go durch die Stadt fahre. Für einen kurzen Moment bedauere ich es, dass ich nicht wie sonst das Fahrrad genommen habe. Aber ich muss später einen Großeinkauf machen. Dafür strecke ich jetzt meinen Kopf aus dem Fenster, schnuppere die Luft und beschließe, im Moment zu sein. Alles ist gut, alles ist es wert, gefühlt zu werden. Selbst mein kurzer Ärger.

Als ich zehn Minuten später keinen Parkplatz vor der Praxis finde und dreimal um den Block fahren muss, läuft das mit der Achtsamkeit und dem Annehmen der negativen Gefühle wie Wut und Frust weniger gut, aber auch eine Aggression ist wichtig zu spüren, und ich weiß ja schließlich, woher das kommt. Ja, es sind die anderen Verkehrsteilnehmer und die Stadtverwaltung, die aus allem eine Fahrradstraße macht, vor allem jedoch ist es meine mangelnde Fähigkeit, vernünftig einzuparken. Jeder andere, vor allem mein Mann Jakob, wäre in diese Mini-Parklücke reingekommen. Ich nicht. Aber dann kann ich die Gefühle beiseiteschieben, entwickele sogar so etwas wie Trotz und beschließe, den Polo im Hinterhof zu parken, auf dem Parkplatz, der dieser Casting-Agentur im Erdgeschoss gehört. Ich hoffe, dass die Agentin, die mit ihren überkandidelten Bleistiftröcken selbst aussieht wie eine Schauspielerin, ihren dicken BMW angesichts des guten Wetters zu Hause lässt.

Als ich aussteige und über die Einfahrt nach vorn gehe, habe ich wieder gute Laune. Vor mir liegt ein Tag mit eher angenehmen Patienten. Ich freue mich auf meinen ersten Kaffee, und als ich die Treppen des großen Altbauhauses hinaufsteige, höre ich im ersten Stock, dass der Klavierlehrer gerade eine Stunde gibt. Irgendwie was von Chopin oder so, eine luftig-leichte Melodie. Schön.

Ich schließe die Eingangstür meiner Praxis auf und atme den Holzduft der alten Dielenbretter ein. Dazu liegt noch der Geruch einer Duftkerze in der Luft, die ich gestern in der letzten Sitzung angezündet hatte, um der Patientin eine andere Wahrnehmungsebene zu eröffnen. Die Dielen knarren unter meinen Füßen, als ich in die kleine Küche gehe und die Kaffeemaschine anstelle. Ich reiße kurz im Behandlungsraum die Fenster auf, lasse die Frühlingsluft herein, dann bringe ich meine Tasche in das Büro nebenan und stelle sie neben meinem Schreibtisch ab. Im Bürozimmer stehen dunkle Holzregale, in denen ich alle Psychotherapiebücher versammelt habe, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es sind eine Menge, obwohl ich zugeben muss, dass einige von ihnen noch ungelesen und nicht mal ausgepackt sind, aber egal. Der Raum hat die Atmosphäre einer Bibliothek, und seine warme Ruhe entspannt mich immer wieder.

Gleiches gilt für den Behandlungsraum, den ich mit zwei Grünpflanzen, einem hellen großen Wollteppich und einem Bild abstrakter Kunst eingerichtet habe. An der Wand steht eine Couch, die ich für meine Patienten eher selten benutze. Ich sitze auf einem Freischwinger, gut drei Meter von dem bequemen Stuhl entfernt, auf dem die Patienten sonst Platz nehmen. Daneben steht ein kleiner runder Couchtisch, auf dem ich ein Glas und eine Wasserkaraffe platziere, dazu ein Paket Taschentücher. Das wird immer wieder gebraucht, und ich habe mir angewöhnt, direkt die Großpackungen im Großmarkt zu kaufen. Die neue Patientin, die ich kurz darauf empfange, wird sie nicht brauchen. Das ist mir schnell klar.

Amelie ist Ende zwanzig und eine hübsche junge Frau. Sie hat blonde halblange Locken und eine süße Stupsnase. Sie lächelt mich etwas nervös an, als sie sich mir gegenübersetzt und ihre dicke, sehr bunte Prada-Handtasche neben sich auf den Boden stellt. Ich lächele beruhigend zurück und warte, bis sie sich auf ihrem Stuhl eingerichtet hat, bis sie ihre langen Beine übereinandergeschlagen und die Ellbogen auf die Stuhllehnen gelegt hat. Amelie hat wirklich sehr lange und schöne Beine, fällt mir auf, und ich überlege kurz, warum sie heute zu ihrem Erstgespräch einen Rock gewählt hat, der viel von ihren Beinen zeigt. Und das enge rote Oberteil betont viel von ihrem Körper. Sie hat sich offensichtlich herausgeputzt, und ja, irgendwie will sie attraktiv und sexy sein. Für mich? Ich zucke insgeheim die Schultern und bin gespannt, was da kommt.

Ich atme bewusst und hörbar ein, dann lasse ich den Atem gehen und schenke uns beiden einen Moment der Ruhe. Einen Moment, um hier anzukommen.

»Wie geht es Ihnen heute?«, frage ich freundlich.

Amelie überlegt kurz, dann antwortet sie: »Ich denke … ganz gut.« Sie deutet auf meine großen Fenster. »Der Frühling liegt in der Luft. Da ist alles irgendwie leicht und schön, oder?«

»Da haben Sie recht, das fiel mir heute Morgen auch auf.« Abgesehen von meiner kurzen Verstimmung über die Verkehrssituation. Aber es ist ein schöner Tag. Ich habe gute Laune, bin offen und positiv und freue mich, dass diese neue Patientin ein ähnliches Flair versprüht. Ich mag sie und schweige bewusst einen Moment, dann frage ich: »Warum haben Sie den Wunsch, mit jemandem zu sprechen?«

»Meine Mutter ist gestorben …«

»Das tut mir leid«, sage ich und gebe ihr einen Moment, verdaue die Nachricht und richte mich auf das Thema ein. »Wie lange ist das her? Ist das akut?«

»Vor drei Monaten.« Amelies attraktives Gesicht verdüstert sich leicht. »Und ich denke immer noch pausenlos daran.«

»Nun, ein solcher Schicksalsschlag wirkt nach und beschäftigt uns lange«, beginne ich. »Trauer ist ein Prozess, und der braucht seine Zeit. Es gibt Hochs und Tiefs, und wir brauchen eine Menge Kraft.«

»Ja, aber ich habe das Gefühl, dass ich aus dieser Gedankenspirale nicht herauskomme …«

Es stellt sich im Gespräch heraus, dass Amelie schwer mit dem Verlust ihrer Mutter zu kämpfen hat und Schwierigkeiten hat, sich abzugrenzen. Auch in anderen Bereichen. Ich erkenne schnell, dass Amelie wohl Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hat, sie biedert sich schnell an und will gefallen. Wohl auch mir, deswegen hat sie sich extra schick gemacht. Und sie bemüht sich, eine gute Patientin zu sein, ist zugewandt, offen und kann auch über sich selbst lachen. Wie bald herauskommt, ist Amelie immer wieder in Beziehungen, und ich vermute, dass sie vor allem ihre Sexualität einsetzt, um Bindung zu erhalten. Nun, wer tut das nicht, Amelie jedoch scheint das recht offensiv zu machen. Ich hüte mich natürlich vor zu schnellen Diagnosen, aber im Grunde liegt hier höchstens eine kleine Anpassungsstörung vor, die durch den Tod ihrer Mutter ausgelöst wurde, ansonsten scheint sie recht stabil. Insgesamt ist es ein gutes, freundliches Gespräch. Sie ist eine angenehme, interessante junge Frau. Ich mag sie und kann mir gut vorstellen, mit ihr eine Zeit lang zu arbeiten. Als ich auf die Uhr schaue und ihr zu verstehen gebe, dass unsere Zeit abgelaufen ist, lächelt sie entschuldigend.

»Oh, tut mir leid, ich hatte die Zeit nicht im Blick.«

»Das sollen Sie auch nicht«, erkläre ich. »Deswegen habe ich hier diese Uhr. Und der nächste Patient kommt gleich. Nun, ich weiß nicht, welchen Eindruck Sie von unserem Gespräch hatten und ob Sie sich vorstellen könnten, mit mir in den Prozess zu gehen …«

»Unbedingt!« Amelies Augen strahlen. »Das wäre toll. Ich mag Sie.« Sie wird sogar ein bisschen rot. »Wirklich. Sie sind großartig. Ich fühle mich sehr wohl.«

»Das freut mich«, sage ich und stehe auf.

Amelie greift sich ihre Handtasche und steht ebenfalls auf. Sie ist fast so groß wie ich. Eine nette, gut aussehende junge Frau mit einem Problem, das wir in den Griff bekommen werden. Ich bin zuversichtlich und freue mich darauf.

Ich bringe Amelie zur Tür und gebe ihr zum Abschied die Hand. Sie hat feingliedrige Hände und trägt einen lilafarbenen Nagellack. Amelie lächelt und bedankt sich.

Als sie fast durch die Tür des Behandlungsraums ist, dreht sie sich noch einmal um.

»Sie sind viel hübscher, als Jakob erzählt hat«, erklärt sie, als wäre es eine pure Beiläufigkeit.

Bitte was???

Kapitel 3

Woher kennt sie meinen Mann?

Ich starre Amelie an. Ihre Stupsnase, zwei Sommersprossen auf der linken Wange. Ihre langen blonden Locken. Ihre Augen, die mir eben noch so warm und offen erschienen waren und in denen jetzt eine Kälte liegt, die mit Amelies harmlosem Lächeln überhaupt nicht konform geht.

Woher kennt sie meinen Mann?

Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ist Amelie eine Kollegin, der er mich empfohlen hat? Aber er hat noch nie von ihr gesprochen. Oder die Tochter eines Freundes? Ich kenne alle von Jakobs Freunden, niemand hat eine Tochter namens Amelie. Kennt er sie aus dem Fitnessstudio? Seit drei Monaten geht Jakob dorthin. Es tut ihm gut, sagt er, sich wieder zu spüren, Energie zu tanken. Und ja, tatsächlich hat er abgenommen, sieht viel vitaler, sportlicher, energetischer aus. Er gefällt mir gut in letzter Zeit. Oder ist Amelie … eine Bekanntschaft aus einem Café? Mir fällt keine Antwort ein.

Und wieso sagt er so was?

Wieso redet Jakob mit dieser Frau über mein Aussehen? Und … wieso stellt er mich als hässlich dar. Warum wertet er mich ab? Sie sind viel hübscher, als Jakob gesagt hat. Dieser Satz wirbelt und dröhnt durch meinen Kopf. Ich begreife rein gar nichts, was hier passiert.

»Ich verstehe nicht …«, bringe ich daher nur mühsam hervor.

Amelie zuckt die Schultern.

»Schon gut, macht ja nichts«, meint sie und will gehen.

»Moment«, sage ich und greife nach ihrer schlanken Schulter. »Moment bitte.«

Amelie dreht sich wieder zu mir um. Ihr Gesicht ist eine Maske, aber in ihren Augen liegt jetzt ein triumphaler Zug. Sie weiß, dass sie mich überrumpelt, mir wehgetan hat. Und das genießt sie.

»Woher kennen Sie Jakob?« Ich merke, dass meine Stimme belegt ist, meine Kehle sich zuschnürt und mir Tränen in die Augen steigen. Mein Körper begreift schneller als mein Kopf.

Amelie schaut mich nur an, macht eine lange Pause. So ungefähr wie ich, bevor ich mit meinen Patienten und der Sitzung loslege.

»Woher kennen Sie Jakob?«, krächze ich.

Aber ich weiß es jetzt. Die Synapsen in meinem Hirn laufen Amok, Neuronalbahnen verknüpfen sich, verknoten sich, bringen Dinge zusammen, die vorher nicht zusammen waren, und ich verstehe: Jakob hat eine Affäre. Mit Amelie.

Mir wird schwindelig. Mein Bauch wird flach, drückt sich zusammen. Und in meiner Kehle steigt ein riesiger Kloß hoch. Ich fühle mich, als ob mir die Luft abgeschnürt wird. Einige meiner Patienten haben nur schwer oder kaum Zugang zu ihren Gefühlen. Sie sind aufgrund kindlicher Erfahrungen nicht in der Lage, ihre Emotionen adäquat zu spüren. Vielleicht, weil sie lernen mussten, diese zu verdrängen. Weil sie ein Trauma erleben mussten, das sie nur durchstehen konnten, indem sie lernten, ihre Gefühle abzuspalten. Ich kenne das auch, habe jedoch in den Jahren gelernt, wieder zu mir zu kommen, mir meiner Emotionen bewusst zu werden, sogar ganz ins Gefühl zu gehen. Jetzt gerade, in diesem ersten Schockmoment, kann ich das nicht. Ich spüre nur meine körperliche Reaktion, die Enge, den Druck, und erst allmählich merke ich, wie meine Emotionen langsam durchbrechen, hochkommen, mich überwältigen.

»Sie haben eine Affäre mit Jakob«, sage ich. Und es bricht mir mit jedem ausgesprochenen Wort ein Stück weiter das Herz.

Amelie schweigt. Ein kaum merkliches Nicken, ein Wimpernschlag. Sie beobachtet mich genau, genießt es, wie diese katastrophale Wahrheit mich in Stücke reißt.

Ich fühle mich hintergangen, gleich doppelt und dreifach. Amelie schläft mit meinem Mann. Jakob redet schlecht über mich. Und diese Frau, mit der mein Mann schläft und vor der er mich abwertet, schleicht sich in meine Praxis ein?

Ich bin völlig entsetzt.

»Nichts für ungut«, sagt Amelie lapidar, als hätte sie mir aus Versehen meinen Platz im Café oder in einer Warteschlange weggenommen.

»Nichts für ungut?«, bringe ich entsetzt hervor.

Mir wird in diesem Moment sehr viel gleichzeitig klar, und ich bin erstaunt über mich selbst, dass ich in diesem komplett überfordernden Moment, in dem gerade meine Welt zusammenbricht, auch noch komplexere Gedankengänge auf die Reihe bekomme. Für Jakob ist das keine bloße Liebelei. Er hat Amelie gesagt, dass er verheiratet ist. Wohl auch, dass ich Therapeutin bin. Dass ich nicht hübsch bin. (Warum wurmt mich besonders das so?) Dass er diese junge attraktive Frau dagegen wahnsinnig heiß findet. Und dass es für Amelie offensichtlich auch etwas Ernstes ist. Warum sonst würde sie sich hier einschleichen, sich als Patientin ausgeben und mir darüber hinaus noch eine bestimmt völlig erfundene Geschichte auftischen.

»Ihre Mutter … ist gar nicht … tot«, stammele ich. Das wirkt in Verbindung zu dem Ehebruch und allem irgendwie ein bisschen zusammenhanglos.

»Nein. Die ist gerade auf Mallorca.« Amelie zuckt mit den Schultern.

Sie hat auch die Therapeutin in mir angelogen.

Und sie ist nur hierhergekommen, um mich anzusehen und zu erfahren, wie die Frau so ist, mit deren Mann sie schläft. Wer macht so was??? Was ist das für ein Mensch?

»Wie können Sie nur?« Ich bin fassungslos.

»Es war wohl keine so gute Idee«, sagt Amelie, dreht sich um und will gehen. Ich halte sie am Arm fest.

»Nein. Stopp!«, bricht es aus mir heraus, lauter, als ich will.

Plötzlich ist da Wut in mir.

Was für ein Dreckstück! Beide. Amelie und Jakob.

Das ist eine totale Grenzüberschreitung.

Meine Praxis ist mein safe space. Und sie ist hier eingedrungen.

Aber auch meine Ehe ist mein safe space. Und sie …

»Lassen Sie mich los!« Amelie versucht, sich loszureißen, und hält dabei die grässlich bunte Handtasche vor ihre Brust.

»Nein! Zuerst beantwortest du mir meine Fragen!«

Ich bin vom Therapeuten-Sie ins persönliche Du gerutscht. Aber die Frau schläft mit meinem Mann. Wir kennen uns irgendwie. Und außerdem ist sie so jung, dass ich sie einfach duzen muss. Sie ist so fucking jung!

»Loslassen!«, faucht mich Amelie aggressiv an.

Ich fasse sie härter an, denn ich will nicht, dass sie geht. Sie muss mir meine Fragen beantworten.

»Schläfst du mit Jakob?! Habt ihr eine Affäre?!«

Amelie sagt gar nichts, sondern reißt mit aller Kraft an ihrem Arm, den ich mit Eisenpranken festhalte. Sie entgleitet mir trotzdem fast. Ich greife nach allem, was ich packen kann, kriege den Griff ihrer Handtasche zu fassen, dann lange ich mit der anderen Hand in ihre Frühlingsjacke. Amelie windet sich. Wir rangeln. Ich weiß nicht, woher ich diese Kraft plötzlich nehme, auf einmal sind meine Finger in ihren Haaren, krallen sich in die blonden dicken Locken. Amelie schreit vor Schmerz auf. Sie boxt mich auf die Brust, die Luft bleibt mir kurz weg. Ich packe um so härter zu.

»Schlampe«, rutscht es mir heraus. Ich kann nichts dafür. Mein Gesicht ist puterrot, und meine Gesichtszüge bestimmt total verzerrt. Amelie reißt ihr Knie hoch und trifft mich in den Unterleib. Eine Welle von Schmerz breitet sich in mir aus. Ich stoße Amelie so fest zurück, wie ich nur kann.

Es gibt ein lautes Pock, als Amelie rückwärts gegen den dicken Türrahmen aus Eichenholz knallt.

Ich stehe da, schwer keuchend, schmerzerfüllt und völlig irritiert, als Amelie seltsam die Augen verdreht und plötzlich ganz langsam an der Tür heruntergleitet. Als sie auf dem Boden angelangt ist, steht ihr Kopf in einem seltsamen Winkel vom Körper ab.

Sie ist tot.

Kapitel 4

Ich stehe in dem Durchgang zwischen Behandlungsraum und Flur und schaue auf Amelie herunter. Ihre schlanken Beine mit den braunen Fesseln in den weißen Turnschuhen sind zur Seite geknickt, ihr blauer Rock wirft Falten, und das rote Top unter ihrer Jacke ist leicht hochgerutscht. Amelies blaue Augen sind geöffnet, und aus ihrem Mund rinnt ein dicker Speichelfaden. Und sie sieht längst nicht mehr so hübsch aus wie vorher, als sie noch lebte.

Der Gedanke kreist in meinem Kopf, und im Unterschied zu vorher, als ich alles gleichzeitig und schnell und komplex denken konnte, ist mir, als hätte plötzlich jemand den Zeitlupe-Knopf gedrückt.

Alles läuft extrem langsam ab, und ich brauche ewig, bis die Information wirklich durchsickert.

Amelie ist tot.

Es klingelt an der Tür.

Ich zucke so heftig zusammen, dass ich mich mehr über mein Zucken als über das Klingeln erschrecke. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Automatisch schaue ich auf meine Armbanduhr. 10:55 Uhr. Nils Bergmann ist wie immer überpünktlich zu seinem Elf-Uhr-Termin.

Vor mir liegt eine Leiche auf dem Boden.

Ich bete, dass Nils Bergmann unten an der Haustür geklingelt hat und nicht schon oben vor der Praxistür steht.

Ich muss sofort Amelie von hier wegschaffen. Und obwohl die Zeit drängt, stehe ich regungslos vor ihr. Irgendwas in mir sträubt sich dagegen, sie anzufassen. Ich kann es einfach nicht. Die Vorstellung, diesen toten Körper zu berühren, übersteigt meine Kräfte.

Es klingelt wieder.

Nils Bergmann freut sich immer auf die Therapie. Sie ist sein Ein und Alles. Und er hat, wie ich schon längst herausgefunden habe, eine geringe Frustrationstoleranz. Er will es jetzt. Sofort. Seine Therapie. Und deswegen klingelt er schon wieder.

Ich begreife: Ich muss vom Reden ins Handeln kommen. Nie war es wichtiger als jetzt.

Ich beuge mich zu Amelie herunter und packe sie an den Fesseln. Sofort lasse ich los, als hätte ich meine Hände in kochendes Wasser gesteckt. Ich kann ihre nackte Haut nicht anfassen. Aber ich muss sie hier wegschaffen! Ich packe Amelie schließlich an den Schultern, hebe sie ein Stück hoch, damit ich sie unter den Achseln greifen kann. Dann schleife ich sie quer durch den Behandlungsraum in mein angrenzendes Büro. Der helle Wollteppich schlägt Falten, wellt sich und wird ein Stück mitgezogen. Als ich Amelie über die Schwelle gewuchtet habe und sie im Türschatten auf den Boden gleiten lasse – gleiten ist eigentlich zu viel gesagt, sie rutscht mir aus den verschwitzten, klebrigen Händen –, klingelt es zum fünften Mal. Oder zum sechsten? Ich weiß es nicht.