Mordsmäßig unterwegs - Barbara Merten - E-Book

Mordsmäßig unterwegs E-Book

Barbara Merten

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Beschreibung

Wagen wir einen Blick vom Harz hinunter ins Pöhlder Becken, über den Kamm des Rotenberges, bis hinein ins Eichsfeld. Hier, in Deutschlands Mitte, beginnt das Revier von Kriminalhauptkommissar Schneider, dem erfolgreichen ‚Schnüffler‘ aus dem beschaulichen Duderstadt. Seit einigen Wochen ist nicht viel los im Polizeikommissariat. Gut für die Stadt und ihre Einwohner. Für Schneider hingegen sind die kleinen Diebstähle, die nervigen Streitereien zwischen Nachbarn und das gelegentliche Ermahnen von jugendlichen Kiffern ein Graus. Alles keine Fälle, die ihn wirklich herausfordern, sondern nur irrsinnigen Schreibkram nach sich ziehen. Auch Mathilde, seine Ehefrau, macht es ihm nicht leichter. Erst recht, seit die Kinder aus dem Haus sind. Der Kommissar wird nervös, versucht sich abzulenken. Als er an seinem freien Tag bei einer Fahrradtour oberhalb von Duderstadt an der Franziskuskapelle Rast macht, um die Aussicht auf ‚sein Revier‘ zu genießen, klingelt sein Handy. Der Kollege von der Dienststelle meldet ihm: »Unterhalb vom Rotenberg, am steinernen Kreuz bei der Wüstung Ankerode, haben zwei Frauen ein totes Mädchen gefunden.« Endlich ein neuer Fall! Voller Elan tritt der Kommissar in die Pedale. Mit »Mordsmäßig unterwegs« gibt Barbara Merten ihren Einstand im Duderstädter EPV-Verlag und geht damit buchstäblich neue Wege im Krimi-Genre. Als passionierte Wanderin kennt sie die im Buch erwähnten »Tatorte« wie ihre Westentasche. Im Anhang des Buches hat sie daher mit Kriminalhauptkommissar Schneider eine Rad- und vier Wandertouren zusammengestellt, um die LeserInnen – zumindest für eine Weile – aus dem Alltag zu entführen. Auch wer dem Volkssport "Geocaching" frönt, wird auf seine Kosten kommen. Es gilt einen "Multi-Cache" (bestehend aus sieben einzelnen Caches) zu knacken und daraus einen Lösungssatz zu bilden.

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Sammlungen



B A R B A R A M E R T E N

EIN KRIMI AUS DEM HARZVORLAND

mit ausgewählten Rad- und Wandertouren

rund um die »Tatorte«

Impressum

Mordsmäßig unterwegs

ISBN 978-3-947167-94-4

ePub-Edition

V1.0 (07/2020)

© 2020 by Barbara Merten

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front, Schuhe) © YAYImages | #260507516 | depositphotos.com

Umschlag (Front/Rückseite, Landschaft) © Karl-Josef Merten

Abbildung Kapitel »Touren« © ngupakarti | #362213808 | depositphotos.com

Fotos Kapitel »Einige Impressionen« © Karl-Josef Merten

Porträt der Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.de

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wichtiger Hinweis:

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte, wie Duderstadt, Gieboldehausen und Herzberg. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Touren

‚Schnüffel‘ auf Tour

Wanderung Nr. 1

Wanderung Nr. 2

Wanderung Nr. 3

Wanderung Nr. 4

Fahrradtour

Einige Impressionen

Über die Autorin

Was ich unbedingt noch loswerden muss

Eine kleine Bitte

Kapitel 1

Besser auf neuen Wegen etwas stolpern,

als auf alten Pfaden auf der Stelle treten.

– Deutsches Sprichwort –

Donnerstag, 4. Juli, am frühen Morgen

Die Blätter der Buchen wogten leise rauschend im Morgenwind. Reingewaschen vom nächtlichen Gewitterguss präsentierte sich der Wald nun wieder einladend frisch, erdig duftend. Es schien, als wolle er die jungen Leute, die für eine Woche das Hüttendorf im Waldpädagogikzentrum Rotenberg bewohnten, nach den heißen, trockenen und staubigen Tagen wieder versöhnen. Mit hellem Schein flutete die Sonne die Räume der Holzhäuser, kitzelte an den Nasen der Schlafenden. Widerwillig schienen die Jungen und Mädchen ihre Augen zu öffnen. Es war spät geworden gestern Abend.

Fabian war einer von denen, die Gefallen gefunden hatten an diesem einfachen, kargen Leben hier draußen, ohne Fernsehen, Computer und Handygedaddel, dafür frische Luft und körperliche Arbeit. Noch letzte Woche hätte er es nicht für möglich gehalten. Er war sich sicher gewesen, dass sein Platz im Leben eindeutig in der Zivilisation war. In den letzten Tagen aber hatte sich sein Bild vom zukünftigen Leben grundlegend geändert. War es der Waldpädagoge und Leiter des Lagers, Jan-Hendrik Huber, der ihn so beeindruckt hatte? Ein überaus sportlich durchtrainierter, gut aussehender Mann um die vierzig. Er verstand es, die Kids so zu nehmen, wie sie halt sind mit sechzehn: null Bock auf alles, was andere von ihnen erwarten; dafür rumhängen, Musik hören, chatten. Am Montag bei ihrer Ankunft waren sie noch muffelig aus dem Bus gestiegen, weil niemand von ihnen Lust auf Natur hatte. In Null-Komma-Nix hatte Huber sie mit seiner Ausstrahlung um den Finger gewickelt. Die Mädchen himmelten ihn an, während die Jungen bei der Arbeit im Wald um seine Gunst buhlten. Ganz besonders Fabian, der in sich etwas aufkeimen spürte.

»Aufstehen! In einer halben Stunde will ich Frühstück!« Zur Bekräftigung schlug Thomas Stakenbrück, der Klassenlehrer der 10 a des Felix-Klein-Gymnasiums aus Göttingen, kräftig die Glocke am Küchengebäude. Als Biolehrer hatte er die Fahrt organisiert und die Projektwoche mit Huber ausgearbeitet. Die beiden kannten sich vom BUND aus Göttingen. Den Schülerinnen und Schülern lebensnah die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur zu verdeutlichen, war ihnen gleichermaßen wichtig. Stakenbrück war der Überzeugung, dass gerade die Jugendlichen in der Abgeschiedenheit am ehesten zu sich selbst finden und so ungeahnte Entwicklungen möglich sind. Außerdem fühlten sie sich als einsame Kämpfer für die stark bedrohte Natur durch den Menschen. Beide sahen in ihren Berufen eine Berufung.

»Guten Morgen Thomas! Bist ja schon munter«, säuselte Betty Kleinschmitt aus dem Waschraum kommend ihrem Kollegen zu. Sie hatte als Referendarin die weibliche Begleitung der Klasse übernommen. Nur mit einem Handtuch bekleidet, schüttelte sie ihre lockig wallende, schwarze Mähne im Wind. Wegen ihrer zierlichen Statur hätte man sie für eine der Schülerinnen halten können. Aber die Kids hatten Respekt vor ihr. Sie konnte sich durchsetzen, war ehrgeizig, mit hohem Anspruch fordernd. Und verdammt hübsch. Die Mädchen waren sich unsicher, wussten nicht, was sie von ihr halten sollten. Einmal gab sie sich als Freundin, dann wieder als strenge Lehrerin. Und weil die Jungen nur noch Augen für ›Betty‹ hatten, heizte das ihre Abneigung täglich weiter an.

»Einfach lächerlich, wie die sich anbiedern«, zischelten die Mädchen.

Für die Jungen war die Referendarin eine Traumfrau im wahrsten Sinne des Wortes. Besonders Steffen, der mit seiner bunten Zahnspange und dem pickeligen Gesicht bei den Mädchen eher Mitleid auslöste, war in Betty Kleinschmitt total verschossen, träumte nachts von ihr. Seine Schwärmerei ging so weit, dass er, der totale Loser im Denken, plötzlich zum Streber mutierte und ihr förmlich an den Lippen hing. Hier im Lager wich er nicht von ihrer Seite, verwöhnte sie hinten und vorn.

Betty selbst aber hatte ein Auge auf ihren Kollegen Thomas geworfen, der sie in der Referendarzeit betreute. Thomas war zwar verheiratet und gut fünfzehn Jahre älter, aber was machte das schon. Sein jugendlich spritziger Gang und seine tiefblauen Augen ließen ihr Herz höher schlagen. Genau wie jetzt. Sie dachte an den gestrigen Abend am Lagerfeuer. Er hatte neben ihr gesessen, Gitarre gespielt und verdammt gut dazu gesungen. Es war eigentlich nicht ihre Musik, aber hier draußen war es genau das. Sie schmolz dahin, als sie ihn nun auf sich zukommen sah. Noch zwei Tage hatte sie Zeit. Sie musste es schaffen, ihn endlich rumzukriegen. Hier musste es passieren. In der Schule hatte sie keine Chance. So zog sie alle weiblichen Register, ließ das Handtuch ein wenig tiefer rutschen. Sie wollte ihm gerade die Hand auf den Arm legen und ihm einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange hauchen, da stand, wie aus dem Nichts, Mandy hinter ihnen.

»Entschuldigung!«

Ganz aus der Fassung trat Betty zur Seite.

»Upps!« Wo ist die so schnell hergekommen? Hat die uns beobachtet?, schoss es ihr durch den Kopf.

»Ähm. Ich wollte wirklich nicht stören. Ehrlich.« Mandy schaute die Referendarin keck an.

Die hat´s gemerkt. Schitt, dachte Betty ärgerlich und presste die Lippen aufeinander.

»Josi ist weg. Ich hab schon überall gesucht. Wie vom Erdboden verschwunden.« Mandy schien echt besorgt.

»Wie – weg?«, schaltete sich Thomas ein. »Ihr seid doch zu viert im Zimmer. Die löst sich doch nicht einfach auf. Vielleicht ist sie nur auf die Toilette gegangen.«

»Nein, da war ich schon, auch im Waschraum.«

Mit krauser Stirn beäugte der Lehrer das Mädchen skeptisch. Sie schien es ernst zu meinen, machte sich Sorgen um die Freundin. Zielstrebig ging er auf die Hütte der Mädchen zu. Sie hatten sich in der ›Hasen-Sasse‹ eingenistet. Er klopfte, öffnete die Tür und schaute sich im Zimmer um. Alina bürstete Lilly, die am Tisch auf einem Stuhl saß, gerade die Haare.

»Ist Josi hier?«

»Nein. Wir wissen auch nicht, wo sie ist. Mandy hat schon überall gesucht.«

»Wann habt ihr sie zuletzt gesehen?«

»Ähm, gestern Abend am Lagerfeuer. Sie war so komisch und ist schon vor uns ins Bett gegangen. Als wir kamen, schlief sie. Und heute Morgen, als wir wach wurden, war sie nicht mehr da.«

Lilly und Alina wechselten einen Blick, den Stakenbrück sofort wahrnahm.

»Habt ihr mir noch was zu sagen? Los, raus mit der Sprache.«

»Ähm«, begann Lilly und schabte mit dem Fuß verlegen am Boden. »Ich will ja nicht petzen, aber ...«

»Na sag schon. Das ist kein Petzen.«

»Ich glaube, Josi hat gestern Abend mit Dirk Schluss gemacht. Ich hab gehört, wie sie zu ihm gesagt hat, dass er mit der blöden Anmache aufhören soll. Sie hasse Männer. Und außerdem stehe er ja eh auf Frau Kleinschmitt und sie auf ihn. Das sähe doch ein Blinder.«

»Nochmal. Du meinst, Dirk und Frau Kleinschmitt??? Hab ich da was übersehen?«

Stakenbrück schaute nach draußen zu seiner Kollegin, fixierte sie mit bösem Blick.

»Nein, also, der hat nichts mit Frau Kleinschmitt. Das nicht. Sie kennen doch Josi. Die übertreibt gern. Aber die Jungs sind total durch den Wind, wenn Frau Kleinschmitt da ist«, erklärte Alina schnell. Mandy und Lilly nickten verstohlen.

»Aha. Aber Josi und Dirk waren doch schon lange zusammen, oder? Ich hatte das Gefühl, dass sie sich wirklich mögen.«

Die Mädels zuckten die Achseln. Stakenbrück wandte sich um und lief an Betty Kleinschmitt vorbei in den ›Bussard-Horst‹, in dem Dirk mit seinen Freunden hauste. Ohne anzuklopfen riss er die Tür auf.

»Dirk? Aufwachen!« Er zog dem Schüler die Decke vom Körper. »Weißt du, wo Josi ist?«

Erschrocken und verschlafen setzte sich Dirk im Bett auf, wuschelte seine Haare.

»Häh?« Er rieb sich die Augen. »Josi? Wo soll die denn sein? Was weiß ich? In der ›Hasen-Sasse‹, wo sonst?«

Sein verständnisloser Blick wanderte durch den Raum zu den Freunden und blieb dann wieder am Lehrer hängen. Fabian und Steffen setzen sich ebenfalls auf.

»Was ist denn los?«

»Raus aus dem Bett! Josi ist verschwunden. Wisst ihr was darüber?«, drängte Stakenbrück ungehalten.

Schlaftrunken schüttelten beide den Kopf.

»Weiber. Immer machen die Stress«, stöhnte Fabian.

»Kommt in die Hufe! Wir müssen sie suchen.« Gereizt lief der Lehrer nach draußen. »Und Sie ziehen sich endlich was an!«, rief er seiner Kollegin nicht gerade freundlich zu.

Das war´s, dachte Betty sauer, trat vor einen Kieselstein und ging zähneknirschend zu ihrer Hütte.

Vor dem Haus des Jugendwaldleiters hielt Thomas inne.

»Huber?« Er lief ums Haus. Alles war noch verschlossen. »Wieso ist der noch nicht da?«, wunderte sich Thomas und schaute auf die Uhr. »Gleich acht.« Unschlüssig lief er die zweihundert Meter zur Waldstraße, die aus Richtung Pöhlde kommend zum Golfplatz Rotenberger Haus führt, um nach dem Lagerleiter Ausschau zu halten. Zwischendurch blickte er zurück zu den Hütten, in der Hoffnung, dass Josi irgendwo auftauchte. Die Kids wuselten umher, suchten und riefen nach ihrer Klassenkameradin.

Thomas raufte sich die Haare. »Das kann doch alles nicht wahr sein. Scheiß Pubertätspickel! Schwieriger zu hüten als ein Sack Flöhe!«

Nervös schaute er die Straße hinunter. Aus Richtung Pöhlde müsste Huber kommen. Dort wohnte er. Ob Josefine bei ihm war? Hatte er vielleicht mit ihr angebändelt? Er sah gut aus, war nicht verheiratet und soviel Thomas wusste, hatte er auch keine Freundin. Vielleicht stand er auf ganz junge Mädchen. Bei dem Gedanken wurde ihm mulmig. Er käme in Teufelsküche, wenn die aufkeimenden Gedanken auch nur annähernd der Wahrheit entsprachen. Kannte er Jan-Hendrik überhaupt? Die beiden verband ein kumpelhaftes Arbeitsverhältnis, was unter Ökofreaks durchaus üblich war, aber in diesem Fall nicht darüber hinausging.

»Warum ruf ich ihn nicht an? Mensch bin ich vernagelt«, schalt er sich und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er scrollte gerade nach der Nummer, als er Motorengeräusche aus der anderen Richtung durch den Wald heranbrausen hörte. Schnell lief er den Weg zurück. An der Wegbiegung, die hinunter zu den Teichen führt, konnte er gerade noch durch einen Sprung in den Graben dem Landrover ausweichen, der mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste. Umhüllt von einer Staubwolke krabbelte Thomas schnaubend und wütend aus der Versenkung.

»Bist du wahnsinnig?«, schrie er hinter dem Wagen her.

Vor der Kantine stoppte der Rover abrupt, der Motor verstummte. Die Autotür flog auf. Huber stieg aus.

»Moin, moin!«, rief er fröhlich in die Runde. »Seid ihr schon verhungert? Sorry, ich hab verschlafen. Dafür hab ich euch leckere Brötchen mitgebracht.« Erwartungsvoll blickte er in die Runde. »Was ist denn mit euch los? Hattet ihr solche Sehnsucht nach mir?«, fragte er den Mädchen zublinzelnd.

Kapitel 2

Ein guter Tag fängt morgens an.

– Deutsches Sprichwort –

Kriminalhauptkommissar Schneider vom Duderstädter Polizeirevier saß schmatzend auf der Bank vor der Franziskuskapelle. Er war von Duderstadt aus durch den Leeren zum Gut Herbigshagen, dem Erlebniszentrum der Heinz Sielmann Stiftung, geradelt. Den letzten steilen Anstieg zur Kapelle hatte er sein Rad geschoben. Hier oben, am Grab des Naturfilmers, saß er, um innezuhalten. An dem wundervollen Ausblick, den das Ehepaar Sielmann bei ihrer Film-Tour ›Im Schatten der Grenze‹ entdeckt hatte, erfreuten sich nun auch wieder viele Duderstädter. »Es müssen erst Fremde kommen und uns sagen, wie schön es bei uns ist«, sagen sie und sind dem Ehepaar überaus dankbar.

Genüsslich biss Schneider in ein Mettwurstbrot und schaute über sein geliebtes Eichsfeld. Von hier oben hat man den besten Blick, fand er. Aus der Ferne sah alles friedlich aus. Dass es nicht so war, wusste er genau. Und es war gut so. Nur heile Welt würde ihn schließlich arbeitslos machen. Er grinste in sich hinein. Wenn man hinter die Kulissen guckt, hat so manch braver Bürger da unten eine Leiche in seinem Keller vergraben.

Aber heute war sein freier Tag. Überstunden abbummeln. Weg von diesen kleinen nervigen Diebstählen, Streitereien, jugendlichen Kiffern. Alles keine Fälle, die ihn herausforderten, nur irrsinnigen Schreibkram nach sich zogen. Heute wollte er nur das Schöne sehen, und seine ›Burg‹, wie er sein kleines Häuschen im Wulfertal mit dem neu eingedeckten Ziegeldach nannte, aus der Ferne betrachten. So hatte es ihm sein Arzt geraten, denn seit ein paar Wochen war er wegen Schlafproblemen in Behandlung. Auch sein Herz machte ihm Beschwerden. Es schlug nicht immer im gleichen Takt. Mal raste es, dann schwitzte er furchtbar. Ein andermal konnte er seine Hände nicht ruhig halten.

»Ruhe und Entspannung, das fehlt Ihnen, mein Lieber. Sie müssen immer auch ein paar Pausen, in denen Sie abschalten können, dazwischenschieben, sonst läuft es letztendlich auf einen Burnout hinaus. So viel Morde gibt’s doch hier im Eichsfeld nicht, oder? Also gönnen Sie sich Auszeiten, dann sind Sie auch bald wieder der Alte.«

Der Doktor hatte ihm auf die Knie geklopft und mit ein paar Baldriantabletten nachhause geschickt. Nun versuchte er, sich an den guten Rat zu halten.

›Der Alte‹ von Dudeltown, ja das wär´s! Hmpf.

Er dachte an zuhause, seine Mathilde, wie sie ihm immer öfter mit ihrer gluckenhaften Art auf den Geist ging. Manchmal glaubte er, dass sie die Ursache für seine Herzattacken war. Oder war es doch die Arbeit auf dem Kommissariat?

Heute Morgen am Frühstückstisch hatte es wieder angefangen. Er hatte seinen Toast gegessen, die Zeitung genommen und sich zum Lesen gemütlich hingesetzt. Da keifte Mathilde: »Also Christian! Halte deine Hände doch mal ruhig. Sie zittern schon wieder wie ein Lämmerschwanz. Du machst mich ganz kirre damit. Die ganze Zeitung wackelt ja. Mensch, bist du ein nervöses Hemd!«

Das war nicht unbedingt hilfreich gewesen, denn je mehr er nun versuchte, seine Hände ruhig zu halten, umso mehr zitterten sie.

»Ich brauche einfach mehr Zeit für mich. Zeit und Ruhe, ohne deine ständigen Kommentare. Hmpf, hmpf.«

Ärgerlich hatte er die Zeitung zusammengefaltet, sie auf den Kühlschrank gelegt, war ins Bad gegangen und hatte sich aufs Klo gesetzt. Er atmete tief ein und aus und sog dann mit einem kräftigen »Hmpff« Luft in die Nase.

»Ruhe – Mathilde, Mathilde. Manchmal machst du mich ganz schön fertig. Dreißig Jahre sind wir nun verheiratet, kennen uns in- und auswendig. Und trotzdem schaffst du es immer wieder, mich zur Weißglut zu bringen«, murmelte er in sich hinein.

Diese Unart, noch tiefer in eine Wunde zu schlagen und ihn mit Worten zum Wahnsinn zu treiben, schien sich bei Mathilde in letzter Zeit unmäßig zu steigern. Seit Karsten und Moni, ihre Zwillinge, nach dem Abitur ausgezogen waren und in Göttingen und Halle studierten, stand er allein im Mittelpunkt ihres Lebens. All die Zeit, die Mathilde früher in die Kinder und den Haushalt gesteckt hatte, traf ihn nun mit geballter Kraft. Es schien, als sei er nun ihr Kind, das sie umsorgen und erziehen musste.

»Nee nee, meine Liebe, nicht mit mir«, raunte er kopfschüttelnd und schaute zur Tür, als stehe seine Angetraute dahinter. Morgen würde er mit ihr ein ernstes Wörtchen reden. Morgen, ganz bestimmt.

Als er aus dem Bad kam, hatte er sich ein wenig beruhigt, und auch Mathilde schien einzulenken.

»Was willst du denn heute mit dem freien Tag anfangen, mein Schatz?« Als Wiedergutmachung drückte sie ihm einen Schmatzer auf den Mund und erklärte freimütig: »Heute Morgen hab ich noch zu tun. Da kannst du ja allein was unternehmen. Fahrradfahren zum Beispiel, oder mal wieder wandern. Das machst du doch so gern. Um halb eins steht das Essen auf dem Tisch. Um drei wollten wir zu Karsten nach Göttingen fahren, den neuen Schrank aufbauen.«

»Jaaa«, hatte er ergeben gestöhnt. »Ich glaub, ich schwinge mich auf meinen Esel und drehe ´ne Runde.«

»Gute Idee! Ich schmier dir ein leckeres Brot, mein Lieber. Magst du auch einen Apfel mitnehmen?«

»Brot reicht. Und ´ne Flasche Wasser.«

»Möchtest du nicht lieber eine Thermoskanne mit Kaffee?«

»Nein. Wenn ich radele, schwitze ich. Und Kaffee treibt.«

»Aber Mettwurstbrot und Wasser, das schmeckt doch nicht.«

»Mir schon.«

»Aber....«

Die Ohren auf Durchzug gestellt, war er hinausgegangen, um seine neue Radelhose mit der weichen Einlage anzuziehen. Moni hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt.

»So eine Hose ist unheimlich praktisch, Papa. Da schmerzt der Popo nach der Radtour nicht. Du wirst sehen. Und außerdem ist deine alte Kniebundhose total out. Peinlich!«, hatte sie ihm erklärt.

Doch als er die Hose angezogen hatte und sich im Spiegel betrachtete, fragte er sich: »Ob das nicht noch peinlicher ist? Jetzt hab ich ´nen Hintern wie ein Pavian. Gesäßhöcker. Hmpf, hmpf.«

Moni war die nächste Frau, nach Mathilde, die auf ihn Einfluss nahm. Sie würde nachfragen, ob er die Hose auch wirklich trug. Also: Widerstand zwecklos.

Als er in die Küche kam, hatte Mathilde den Rucksack mit Proviant gefüllt, einen Wortschwall über die Notwendigkeit eines Fahrradhelmes zum Besten gegeben und ihn ermahnt, pünktlich zurück zu sein. Schließlich hatte er mit einem Kuss auf ihre Schrabbelschnute den Redefluss gestoppt und war gegangen. »Tschüss!«

Manchmal war er einfach froh, wenn er die Haustür hinter sich zuziehen konnte.

Nun saß er hier oben, weit weg vom Gebrabbel und Generve, auf weichem Popopolster, versuchte durchzuatmen.

»Frei! Dienstfrei! Ich könnte ruhig und entspannt sein. Zittern die Hände immer noch?« Er streckte sie aus, betrachtete sie enttäuscht. Und langsam, ganz langsam sickerte eine Erkenntnis in sein Oberstübchen. Tröpfchenweise kam sie, bis ihm in aller Klarheit bewusst wurde. »Freie Zeit! Gerade das macht mich nervös. Seit Wochen kein richtiger Fall, kein Knobeln, kein Recherchieren, keine Herausforderung. Und wenn ich nach Hause komme, zerrt Mathilde an meinen Nerven! Hmpf, hmpf.«

Dieses ›Hmpf‹, Luft-durch-die-Nase-Ziehen, gehörte zu ihm wie seine Dienstmarke. Es war, als würde er mit jedem Schnüffeln Erkenntnisse in sein Gehirn saugen.

»Hmpf, hmpf.«

Dabei krauste er seine Nase wie eine Bulldogge zu einem kleinen, faltigen Stummel. Unter den Kollegen im Revier war er wegen dieser Unart längst mit dem Spitznamen ›Schnüffel‹ gebranntmarkt. Als Wachtmeister Pfützenreuter, mit Spitznamen ›Fuzzi‹, ihn einmal versehentlich mit ›Kommissar Schnüffel‹ ansprach, hatte er es ihm nicht übel genommen, sondern es wohlwollend gedeutet. Schließlich war er den Kollegen in Göttingen mit seinen Fallabschlüssen statistisch um Tage voraus. Ein guter Schnüffler.

Er atmete tief aus und schaute in die Ferne, nahm dann aus dem Rucksack noch ein Mettwurstbrot und schenkte sich Kaffee ein, den er ja eigentlich nicht gewollt hatte. Seine Frau wusste eben doch, was ihm guttat.

»Ach ja – Mathilde. Wenn ich dich nicht hätte...« Schmatzend ließ er seinen Blick schweifen, schob die miesen Gedanken beiseite.

»Wirklich schön liegt unser Duderstadt da unten mit den prachtvollen Türmen von St. Cyriakus, Servatius und dem gedrehten Westerturm. Sogar die Sulbergwarte mit dem Haubendach ist zu erkennen.«

In Richtung Etzelsbach, dem Ort im Obereichsfeld, an dem Papst Benedikt 2011 mit den Eichsfeldern einen Gottesdienst gefeiert hatte, drehten sich die Windräder auf dem Höhenzug. Weiter südwestlich schlossen sich die Göttinger Berge mit den ›Zwei Gleichen‹ an. Westlich davon konnte er die Abbruchkante vom Hünenstollen, den Seeburger See, das Dorf Breitenberg und – noch weiter nördlich – den Harz mit dem vorgelagerten Rotenberg sehen. Herrlich! Er blickte gen Osten. Dort, wo früher der Grenzzaun zur DDR verlief und die Untereichsfelder aus dem Westen das Ohmgebirge mit dem Sonnenstein nur aus der Ferne anschauen konnten, strahlte ihm die Sonne grenzenlos entgegen.

»Ach ja, der Sonnenstein, mit ebenso herrlichem Blick nach Duderstadt«, seufzte er in Gedanken. Seinen ersten grenzübergreifenden Fall hatte er dort oben am Gipfelkreuz kurz nach der Wende gelöst. Damals hatte in allen thüringischen und niedersächsischen Zeitungen gestanden: ›Kommissar Schneider, der Columbo des Untereichsfeldes, deckt das Geheimnis um den Toten vom Sonnenstein auf!‹

»Ja damals, da ging es mir noch richtig gut. Kein Herzrasen, keine Schlafstörungen, kein Zittern«, raunte er. Mit großem Engagement und Freude hatte er die Fälle gelöst. Und es waren nicht wenige. Durch den Wegfall der Grenze lag Duderstadt nun nicht mehr im letzten Winkel, in Hintertupfingen sozusagen, sondern mitten in Deutschland. Im Dorf Krebeck wurde eigens hierzu ein Gedenkstein errichtet: ›Mittelpunkt von Deutschland‹.

Mit der Freiheit der Ostdeutschen und der Wiedervereinigung der Familien von Ost und West kamen nicht nur Frieden und Glückseligkeit ins Land. Nein, Zwietracht, Neid, Eigentumsrangeleien, ja sogar Mord rückten in Deutschlands neue ›Metropole‹ vor.

»Hmpf, hmpf.« Schneider sog Luft. »Was ich brauche, ist ein neuer Fall.« Er packte seine Siebensachen, setzte den Helm auf, schwang sich aufs Rad, hielt dann aber einen Moment inne. »Welche Richtung? Über den Sonnenstein, dann zur Wehnder Warte und über den Lindenberg nach Hause? Oder nach Fuhrbach, Brochthausen, dann den Radweg nach Hilkerode nehmen und übers Hübental zurück?«

Er schaute auf die Uhr. Wie viel Zeit blieb noch? Unschlüssig wägte er die Touren ab. Da klingelte sein Handy.

Kapitel 3

Nur im Vorwärtsgehen gelangt man ans Ende der Reise.

– Weisheit der Ovambo –

Ungeduldig auf- und abgehend wartete Heide am Ellerradweg zwischen Brochthausen und Zwinge.

»Mensch Rosi, kannst du nicht einmal pünktlich sein? Du weißt doch, dass ich noch zur Arbeit muss«, schimpfte sie mit Blick zurück zur Dorfstraße. Sie schaute zur Uhr. »Schon fünf nach acht.« Ärgerlich pochte sie mit dem Walking-Stock auf den Boden. Die Sonne, die im Osten über Zwinge in gleißendem Licht strahlte und schon jetzt die Luft zum Flimmern brachte, brannte ihr auf den Rücken. Sie zog das T-Shirt aus und schaute kritisch an sich herunter. »Der Sport-BH reicht. Heute Morgen ist außer uns sicher niemand unterwegs. Mist, die Sonnencreme hab ich vergessen.«, raunte sie. Den Bauch einziehend quetschte sie einen Zipfel vom T-Shirt hinter dem Gurt der Bauchtasche hindurch, sodass es rechts an ihrer Hüfte herunterhing.

In der Nacht hatte es zwar einen kurzen Gewitterschauer gegeben, aber viel war davon nicht mehr zu sehen. Die Wiesen sahen vertrocknet aus. Nur nahe am Ellerbach waren sie noch grün. Das Getreidefeld auf der rechten Seite war schon abgemäht, obwohl doch am Montag erst der Juli begonnen hatte.

Vierzehn Tage früher als üblich, dachte sie gerade, als ein kleiner, quietschgelber Polo von der Straße auf den Radweg einbog und vor ihr auf dem Grasstreifen anhielt.

»Na endlich! Jetzt mach mal Dampf!«, empfing Heide ihre Freundin, die sich mühsam aus dem Wagen schälte.

»Mach du mich nicht auch noch an! Es reicht für heute«, schnauzte Rosi genervt zurück und versuchte ihre Stöcke, die auf der Rückbank lagen, herauszuziehen. Sie verkanteten sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Fluchend riss sie daran.

Heide beobachtete ihre Freundin kopfschüttelnd. »Hey, lass mich mal! Was ist denn los? Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?« Sie fasste ihre Freundin von hinten und schob sie beiseite.

»Ich hab die Nase so gestrichen voll«, murmelte Rosi den Tränen nahe, wischte über die Augen und lehnte sich schniefend an den Wagen.

Heide bemerkte ihr eigenartig geschwollenes Gesicht. Hatte ihre Freundin geweint? Eine Allergie? Oder...? Sie beugte sich über den Fahrersitz, holte die Stöcke heraus und reichte sie Rosi.

»Na komm, wird schon wieder«, ermunterte sie die Freundin. »Lass uns gehen, dann kannst du reden.«

Sie stapften los, Richtung Hilkerode. Das Stockgeklapper hallte gleichmäßig im Takt durchs Ellertal. Im Rhythmus der Schritte spürte Rosi, wie sie langsam ruhiger wurde.

»Ben hat gezickt und wollte nicht im Kindergarten bleiben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar er geweint hat, als ich ging. Dabei kommt er doch schon nächstes Jahr in die Schule.« Verzweifelt schaute Rosi ihre Freundin an.

»Bestimmt hat er sich schon wieder beruhigt. Du wirst sehen, wenn du ihn heute Mittag abholst, will er gar nicht mit nach Hause«, ermunterte sie Heide.

»Er ist in letzter Zeit so bockig. Aber das ist ja auch kein Wunder...«

Heide nickte. Sie wusste, dass Rosis Mann Hanno um Ostern herum fristlos gekündigt worden war. Man tuschelte im Dorf, dass er der Sekretärin vom Chef anzügliche Bemerkungen gemacht und ihr leichtfertig einen Klaps aufs Hinterteil verpasst hatte. Die Frau war stinksauer gewesen, und der Bauunternehmer hatte die Gelegenheit genutzt, um ihn, den Maurer, mitsamt seinem Alkoholproblem loszuwerden.

Im Dorf wusste jeder, dass Hanno öfter mal einen über den Durst trank und in puncto Frauen kein Kostverächter war. Seit einiger Zeit munkelten die Leute sogar, dass er seine Frau und seinen Sohn schlug, wenn er zu viel getrunken hatte. Aber Rosi hatte geschwiegen. Sie liebte Hanno seit der Schulzeit und verzieh ihm, weil er sie, wenn er wieder nüchtern war, mit kleinen Geschenken und einer Menge Zärtlichkeiten überzeugte. Doch als er heute erst gegen sechs Uhr in der Früh nach Hause gekommen war, hatte sie zum ersten Mal daran gedacht, Hanno zu verlassen. Wo war er in der Nacht gewesen? Gestern Morgen war er mit Olli und Jupp, den anderen beiden Waldarbeitern, zum ›Holzmachen‹ in den Rotenberg gefahren. Zum Glück hatte er diesen Job so schnell bekommen, weil die Herbststürme im letzten Jahr eine Schneise der Verwüstung im Wald hinterlassen hatten und großer Schaden entstanden war.