Mordsschuld - Victoria Krebs - E-Book

Mordsschuld E-Book

Victoria Krebs

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Beschreibung

Der 15-jährige Tobi wächst von der Außenwelt isoliert auf dem Dachboden des Hauses der älteren Maria auf, die ihn vor einer vermeintlichen Bedrohung schützen will. Ein Brandanschlag zwingt Tobi, das brennende Haus zu verlassen und er begibt sich auf eine mehrtägige Flucht durch Oldenburg. Ihn erwartet eine neue Welt voller Gefahren und schicksalhafter Begegnungen. Inmitten eines Strudels von tödlicher Gewalt erfährt Tobi schließlich von einem gut gehüteten Familiengeheimnis, das sein Leben für immer verändert. Hauptkommissar „Haila“ Schrabberdeich und Kriminalkommissar-Anwärterin Nazan Demir haben einen neuen Fall im zweiten Oldenburg-Krimi von Victoria Krebs! 1. Band: „Mordshunte“ (2022)

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Seitenzahl: 414

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VICTORIA KREBS

MORDSSCHULD

OLDENBURG KRIMI

ISENSEE VERLAG OLDENBURG

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7308-2086-5

© 2023 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg –

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Lektorat: Jan Bakker

Umschlag und Satz: Miriam Duwe, Isensee Verlag

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel, Montagmorgen

5. Kapitel, 2007

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel, Samstag auf Sonntag, 2023

12. Kapitel

13. Kapitel, Montag

14. Kapitel

15. Kapitel, Montagabend

16. Kapitel, Mittwoch

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

1. Kapitel

Tobi stützte sich auf seine Unterarme und drückte den stämmigen Oberkörper hoch. Es war noch dunkle Nacht und etwas war anders als sonst. Die Luft in seiner Kammer roch so wie damals, als der Nachbar im Garten nebenan einen Laubhaufen angezündet hatte. Kleine zuckende Feuerzungen waren aus ihm geschlagen und dicker weißer Rauch hatte sich rund um das Feuer ausgebreitet. Aber jetzt war es mitten in der Nacht, da würde der Nachbar doch keine Blätter verbrennen! Er ließ sich zurück auf den Rücken sinken und versuchte weiterzuschlafen. Doch ihm wurde warm und er begann zu schwitzen. Mit den Füßen stieß Tobi die Bettdecke vom Körper und rollte sich auf die Seite, um seinen schweißfeuchten Rücken zu kühlen. Das half jedoch nicht viel, ganz im Gegenteil, denn es wurde immer heißer und der Geruch nach Rauch in seiner Kammer verstärkte sich. Abrupt setzte er sich kerzengerade auf, als ihn ein schrecklicher Gedanke durchzuckte. Sie waren wiedergekommen und brachten Tod und Verderben! Vor Angst begann er am ganzen Körper zu zittern. Was sollte er tun? Mama hatte ihm eingeschärft, sich in einem solchen Fall mucksmäuschenstill zu verhalten, niemals um Hilfe zu rufen oder gar zu schreien. Denn dann würden sie Mama und ihn finden und töten. Vielleicht waren sie schon im Haus und hatten Mama bereits entdeckt! Auf allen Vieren kroch er so leise wie möglich zu der kleinen Luke auf dem Boden. Noch bevor er sie öffnete, konnte er durch die Ritzen einen goldenen Schein wahrnehmen. Beißender Geruch stieg ihm hier noch stärker in die Nase und reizte seine Schleimhäute. Ein innerer Kampf tobte in ihm, ob er die Klappe über der Luke öffnen sollte oder sie lieber geschlossen ließ. Wenn sie ihn entdeckten, würden sie ihn töten. Und was geschah dann mit Mama? Würden die Männer sie erneut quälen, ihr wehtun und sie am Ende auch töten? Einer nach dem anderen waren sie über sie hergefallen und hatten ihr Gewalt angetan. Als sie damit fertig waren, hatte einer den kleinen Mico gepackt, an den Füßen aus dem Bettchen gerissen und vor ihren Augen an die Wand geschmettert, sodass er sich nicht mehr gerührt hatte. Beifällig hatten die Kerle gegrölt, ihre Gewehre geschultert und Mama schwer verletzt und blutend mit ihrem toten Sohn im Haus zurückgelassen. In dem Moment, als sie Mico gegen die Wand schmetterten, sei ihr das Herz aus der Brust gerissen worden und ihre Seele gestorben, hatte Mama ihm viele Male unter Tränen erzählt. Vergeblich hatte Tobi versucht, sich vorzustellen, wie die Männer ihr das Herz aus der Brust herausgerissen hatten, denn Mama lebte und saß doch an seiner Seite, wenn sie ihm diese grauenvolle Geschichte immer und immer wieder erzählte. Und was die Seele war, wusste er noch immer nicht genau, nur dass sie irgendwo im Kopf sitzen musste. Das hatte er Mamas bezeichnenden Gesten entnommen, wenn sie die Hände voll stummer Trauer an die Stirn gelegt und die Augen dabei geschlossen hatte.

Mittlerweile war die Hitze so stark wie in einem Brutofen, sodass ihm der Schweiß in Strömen über seinen untersetzten Körper lief und der Rauch in seinen weit auseinanderliegenden Augen brannte. Wo Rauch war, gab es auch Feuer! Warum nur wachte Mama nicht auf und kam, um ihn zu retten? Tobi war hin- und hergerissen, ob er nicht einfach doch die Luke öffnen sollte, um nachzuschauen, was da unten vor sich ging. Doch die mahnenden Worte, die Mama ihm über Jahre hinweg eingetrichtert hatte, hielten ihn davon ab. Womöglich würde er alles nur noch schlimmer machen, sobald die Männer ihn bemerkten. Krampfhaft unterdrückte er den Hustenreiz und kroch zu seiner Matratze zurück. Wenn er sich wieder hinlegte und sich ganz ruhig verhielt, würde der Spuk schon vorübergehen. Er schloss die Augen und bemühte sich, nicht an die Ereignisse zu denken, die sich unten im Haus abspielten. Inzwischen kroch der Rauch durch alle Ritzen und der Hustenreiz wurde so stark, dass Tobi ihn nur mit Mühe unterdrücken konnte. Er zwang sich, die Augen ein Stück zu öffnen und blinzelte zur Dachluke hinüber. Der helle, durch die Ritze fallende Schein, machte den Rauch sichtbar, der mittlerweile durch seine Kammer waberte. Tobi hielt sich die Decke vor Mund und Nase, um sich vor ihm zu schützen und gleichzeitig den Hustenanfall zu dämpfen, der ihn heftig schüttelte. Erneut kniff er die brennenden Augen zusammen, sodass Tränen unter den Lidern hervorquollen.

Kurz darauf hörte er Stimmen, die Befehle schrien, und Sirenen, die immer lauter wurden. Panik übermannte ihn, die Männer bekamen Verstärkung! Er musste weg von hier, sonst war er verloren! Mama konnte er nicht mehr helfen, nur noch sich selbst in Sicherheit bringen. Hastig griff er nach den abgetragenen Sachen, die er schon seit geraumer Zeit trug, und aus denen er herausgewachsen war. Doch bevor er von hier verschwinden konnte, musste er noch etwas holen. Er schob die Hände unter die Matratze und fuhr mit ihnen darunter entlang, bis seine Fingerspitzen das Messer ertasteten. Schnell zog er es hervor und starrte es an. Mama hatte es eines Tages mit nach oben gebracht, um ihm zu zeigen, womit sie sich im Falle eines erneuten Angriffs verteidigen wollte. Das Messer hatte sie sich nach dem Überfall und der Ermordung ihres kleinen Sohnes zugelegt, um sich vor den marodierenden Banden zu schützen, die ihre Gegend unsicher gemacht hatten. Nicht eine Sekunde hätte sie gezögert, einen dieser Kerle abzustechen, sollten sie erneut auftauchen. Doch damit nicht genug. Sie würde ihm auch das Herz aus dem Leib schneiden und seine Seele nehmen. Aber die Männer waren nicht wiedergekommen, sodass Mama das Messer nie benutzt hatte. Sie hatte es hier oben vergessen und nie mehr danach gefragt. Nun würde es ihn beschützen und ihm vielleicht sogar Glück bringen. Er steckte sich das Messer mit der langen, scharfen Klinge hinter den Gürtel, ging in gebückter Haltung zum Fenster und öffnete es. Vorsichtig spähte er hinunter in den Garten, der durch lodernde Flammen und zuckendes Blaulicht erhellt wurde. Hier waren die Männer noch nicht zu sehen. Das war seine einzige Chance! Tobi fasste sich ein Herz und sprang vom Fenster auf den Apfelbaum, der dicht vor dem Fenster stand. Er verfehlte den dicken Ast, auf dem er hatte landen wollen, bekam aber dafür einen anderen zu fassen und hing in der Luft. In welcher Höhe, konnte er nicht einschätzen. Er ließ dennoch los und landete unsanft auf etwas Weichem. Es roch widerlich und an seiner rechten Hand spürte er eine klebrige Masse. Tobi war auf dem Komposthaufen gelandet, von dem er so schnell herunterkletterte, wie er konnte, denn er musste von hier verschwinden, bevor sie ihn entdeckten! Gebückt rannte er durch den rückwärtigen Teil des Gartens, blieb kurz vor dem Zaun stehen und sah sich noch einmal um. Wie gebannt starrte er auf die grellroten Flammen, die sich nun auch durch den Dachstuhl fraßen. Er begriff, dass er sich förmlich in letzter Minute vor dem sicheren Feuertod gerettet hatte. Erst die schreienden Stimmen, die durch das Inferno zu ihm drangen, brachten ihn wieder zur Besinnung. Schnellstmöglich von hier verschwinden, schoss es ihm durch den Kopf. Für Mama kam jede Hilfe zu spät.

2. Kapitel

Haila stellte die Kaffeemaschine an, die sich kurz darauf fauchend und gurgelnd in Gang setzte, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und hievte die Beine auf den Schreibtisch. Mit Genugtuung stellte er wieder einmal fest, dass sich sein Bauchumfang erheblich verringert hatte und er durch die tägliche Spazierrunde um den Dobben nach dem Mittagessen viel fitter geworden war. Sicherlich lag das auch an seinen veränderten Essgewohnheiten, weitestgehend auf Junkfood und Fertiggerichte und vor allen Dingen auf Süßigkeiten zu verzichten, was ihm am allerschwersten fiel. Dieser Verzicht wurde durch die Komplimente belohnt, die ihm von allen Seiten gemacht wurden. Er hatte sich sogar schon zwei neue Hosen und mehrere Hemden zugelegt. Auch Nazan, seine quirlige Assistentin, hatte scherzhaft von Eisenkugeln gesprochen, die man ihm an die Füße ketten müsse, damit er bei Sturm nicht fortfliege. Dabei hatte sie ihn anerkennend gemustert. Er hatte sich eingestehen müssen, dass von allen Komplimenten ihres ihm am meisten bedeutete und ihn anspornte, weiterzumachen aber vor allen Dingen durchzuhalten.

Er sah aus dem Fenster und beobachtete auf der Wiese hinter dem Polizeipräsidium zwei Krähen, die sich um etwas stritten. Schließlich gab die eine auf und flog davon. Träge sah Haila zur Kaffeemaschine, die ihn durch ein letztes leises Zischen darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Kaffee durchgelaufen war. Lustlos erhob er sich und griff nach einem Becher. Kaffee war jetzt genau das Richtige, um ihn zu beleben. Vergangene Nacht hatte er so schlecht geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Am Abend zuvor hatte seine geschiedene Frau Anke ihn völlig überraschend angerufen, um ihm mitzuteilen, dass sie sich von ihrem Partner getrennt habe. Wie Haila im weiteren Verlauf des Gesprächs herausgefunden hatte, verhielt es sich mit der Wahrheit jedoch gänzlich anders: Ankes neuer Partner hatte sich wegen einer jüngeren Frau von ihr getrennt. Seine Ex-Frau hatte mutlos und verzweifelt geklungen, während er sich die ganze Zeit gefragt hatte, was sie eigentlich von ihm wollte. Ihn möglicherweise als Lückenbüßer zurückhaben?

Alles in ihm hatte sich gegen diese Vorstellung gesträubt. Er empfand nichts mehr für sie. Es war Ankes Entscheidung gewesen, ihn zu verlassen. Im Nachhinein betrachtet, hatte sich diese Entscheidung allerdings als richtig erwiesen, denn eigentlich hatten sie nie richtig zusammengepasst. Haila war eher häuslich und hätte sich ein ganz traditionelles Familienleben mit Kindern gut vorstellen können. Seine Frau jedoch wollte ständig ausgehen, Freunde treffen und sich amüsieren, bloß keine Verpflichtungen eingehen oder Verantwortung für Kinder übernehmen. Während der Litanei am Telefon hatte er nur vage Kommentare von sich gegeben und wohlweislich für niemanden Partei ergriffen, sich auf allgemein gültige Ratschläge beschränkt und war heilfroh gewesen, als das Gespräch endlich zu Ende war. Dennoch war ihm der Sonntagabend dadurch verdorben worden und in der Nacht hatte er keinen Schlaf gefunden. Die Befürchtung, sie könne jeden Moment vor seiner Tür stehen, um ihn zurückzugewinnen, hatte ihn sich von einer auf die andere Seite wälzen lassen.

Gerade führte er den Becher zum Mund, als sich die Tür öffnete und Nazan hereinkam. Er warf ihr einen abwartenden Blick zu. Sie wirkte so strahlend und energiegeladen wie immer.

„Guten Morgen, Chefchen“, flötete Nazan. „Kann ich auch einen haben?“ Sie wies mit dem ausgestreckten Finger auf die Kaffeemaschine.

„Natürlich“, brummte er gutmütig, nahm die Beine vom Schreibtisch und stellte sich ans Fenster.

„Danach müssen wir los“, bemerkte sie, während sie mit einer Tasse hantierte. „Im Osterkampsweg ist ein Haus abgebrannt. Eine Frau ist ums Leben gekommen. Die Feuerwehr geht von Brandstiftung aus. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.“

Haila starrte weiter nach draußen. „Meine Exfrau hat mich gestern angerufen. Ihr Partner hat sie verlassen.“

Die Stille hinter seinem Rücken lastete so schwer, dass er sich umdrehen musste. Nazan sah ihn mit ihren großen dunklen Augen stumm an. Dann schlug sie ihren Blick nieder. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen, um sie in den Arm zu nehmen und ihr zu versichern, dass er nicht vorhabe, zu Anke zurück zu gehen. Aber das ging natürlich nicht, denn er hatte ja gar keine Beziehung mit Nazan. Deshalb beließ er es nur bei diesem einen Satz:

„Sie wird damit klarkommen. In ihrer egozentrischen Art ist sie unkaputtbar.“ Dann hob er schnell den Becher und trank seinen Kaffee, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Auch Nazan nahm ein Schlückchen und erwiderte seinen Blick. Zu seiner immensen Freude meinte er, einen erleichterten Ausdruck in ihren Augen erkennen zu können. Aber er war wohl nur ein alter Narr, der sich das eingebildet hatte. Sie war jung und schön, er hingegen fast doppelt so alt und noch immer ziemlich dick. Nein, das passte nicht!

Wenig später saßen sie in ihrem Dienstwagen und fuhren den Osterkampsweg entlang. Sie passierten die hohen Blocks auf der rechten Seite, überquerten kurz darauf den Schramperweg und kamen an einer Pferdepension vorbei. Häuser gab es hier zu beiden Seiten der Straße keine mehr.

Kurz bevor der Osterkampsweg die Edewechter Landstraße querte, tauchten rechts noch vereinzelt Häuser auf. Als sie ausstiegen, stellten sie fest, dass der Brandgeruch noch immer in der Luft hing, obwohl das Feuer, das das Haus fast vollständig zerstört hatte, schon längst gelöscht war. Vor der Hausruine standen Einsatzfahrzeuge der Polizei und ein Löschfahrzeug, das als Brandwache noch für ein bis zwei Stunden vor Ort bereitgestellt war. Die Arbeit der Spurensicherung war noch nicht erledigt. Die Männer in den weißen Tyvek-Schutzanzügen gingen oder hockten zwischen den Überresten des Hauses.

Haila entdeckte Ubbo Tönjes, den Leiter der Spurensicherung zusammen mit Leo Hafflinger, dem Spezialisten für Brandursachenermittlung. Nazan und Haila stiegen aus und begrüßten die Kollegen.

„Wer war denn die Tote?“, wollte Haila zunächst wissen.

„Vermutlich handelt es sich um die Eigentümerin des Hauses, Maria Horvat, 63, gebürtige Kroatin. Wie die Feuerwehr und Leo uns mitgeteilt haben, wurden vergangene Nacht zwei Molotowcocktails durch die Scheiben ins Erdgeschoss geworfen. Daraufhin hat sich das Feuer rasend schnell von der Wohnung im Erdgeschoss bis zum Dachboden ausgebreitet.“

Haila sah zu den verkohlten Überresten des Hauses. „Zwei Stockwerke?“

Meyer nickte.

„Wohnte sie dort ganz allein? Und seit wann?“

„Der Nachbar hinter ihrem Haus hat ausgesagt, dass sie seit vierzehn oder fünfzehn Jahren dort allein gelebt hat“, beantwortete Frank Meyer seine Frage. „Und eine weitere Leiche haben wir nicht gefunden.“

„Sonstige Spuren am Tatort? Ist dem Nachbarn etwas aufgefallen?“

„Er ist gegen drei Uhr nachts wachgeworden, hat das Feuer bemerkt und die Feuerwehr gerufen. Wir haben ihn gefragt, ob er verdächtige Personen beobachtet oder ein unbekanntes Auto habe wegfahren sehen. Beides hat er verneint, aber ich muss sagen, dass er weit über achtzig ist und nicht mehr allzu gut hört und sieht. Daher ist fraglich, ob er ein verlässlicher Zeuge ist. Die Spurensicherung ist noch nicht abgeschlossen. Aber prima facie haben wir nichts Auffälliges außer Spuren von Molotowcocktails gefunden.“

„Herr Hafflinger“, wandte Haila sich an den Experten für Brandursachenermittlung, „können Sie schon etwas zu den Molotowcocktails sagen?“

„Ein simpler Wurfbrandsatz, wie er auch bei Straßenschlachten, Krawallen, aber eben auch in Guerillakriegen verwendet wird. Ein verkohltes Stückchen Stoff, das in der mit Benzin gefüllten Flasche angezündet wurde, konnten wir sicherstellen. Vielleicht lässt sich daraus eine Spur herleiten.“

„Okay, danke vorerst. Ich nehme an, dass die Leiche sich schon in der Rechtsmedizin befindet?“

„Ja. Nachdem man sie aus dem Haus geborgen hat, hat der Rechtsmediziner den Tod festgestellt. Danach wurde sie in die Pappelallee gebracht.“

Die Außenstelle Oldenburg des Instituts für Rechtsmedizin in Hannover lag hinter der Dobbenwiese in der Pappelallee, nicht weit vom Präsidium entfernt. Falls das Brandopfer, bei dem es sich vermutlich um Maria Horvat handelte, Verwandte hatte, mussten die zur Identifizierung in die Rechtsmedizin geladen werden.

Haila war bewusst, dass es manchmal sehr schwierig war, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen direkt zu identifizieren. Kleidung und persönliche Sachen wie Brille, Schmuck und Smartphone wurden ebenfalls häufig zerstört. Die sterblichen Überreste waren oftmals schwer zuzuordnen, da das Feuer auch die Knochen zerstörte. DNA-Analysen waren dann meistens kaum noch durchführbar. Doch die Größe der Knochen, falls sie nicht durch den Brand verändert worden war, Zähne und künstliche Ersatzteile wie Hüften und Knie oder sonstige Implantate konnten eine Identifizierung erleichtern. Dazu gehörten auch die Verfahren, mit denen sich stabile Isotope in Knochen und Haut nachweisen ließen.

Haila wollte sich selbst einen Überblick über den Tatort verschaffen und gelangte über Schutt und Trümmer ins Hausinnere. Bei einem der Männer vom Erkennungsdienst erkundigte er sich, wo genau die Tote gefunden worden war. Der Mann erklärte ihm, dass die Zwischendecke zum Obergeschoss eingebrochen und die Tote samt ihrem Bett ins Wohnzimmer gefallen sei. Intuitiv richtete Haila seinen Blick nach oben. Ein Stück der zerborstenen Zwischendecke war stehengeblieben. Die Splitter der Holzbalken stachen bizarr heraus und zeichneten sich scharf vor dem Blau des Himmels ab. Er vermutete, dass es sich um ein älteres Haus gehandelt haben musste, denn bei Neubauten bestanden Zwischendecken in der Regel aus Beton. Haila stieß einen Seufzer aus, stolperte zurück und gab Nazan, die etwas verloren abseitsgestanden hatte, ein Zeichen zum Gehen.

„Was bedeutet eigentlich ‚prima facie‘, Chefchen?“, fragte Nazan ihn, während sie wieder zurückfuhren.

„Auf den ersten Blick“, gab er Auskunft.

„Warum hat der Mann das denn nicht einfach gesagt?“

„Tja, diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Aber manche Leute schmücken sich gerne mit lateinischen Begriffen, um möglichst klug daherzukommen.“ Haila musste schmunzeln.

„Aber du kanntest den Begriff doch auch, hast ihn aber noch nie verwendet“, konstatierte sie und verschränkte die Arme vor ihrem Oberkörper.

„Was schließt du daraus?“, fragte er neugierig.

„Dass du eben richtig klug bist. Du weißt es, aber gibst nicht damit an.“

Haila spürte das Kompliment förmlich wie Öl seine Kehle hinablaufen. „Du bist aber auch ganz schon pfiffig“, bemerkte er ernsthaft und sah sie von der Seite an.

„Hach Chefchen, du bist süß“, murmelte sie und klopfte ihm zart auf den Oberarm. „Mein Onkel würde dich übrigens gerne wiedersehen.“

„Hat er schon wieder Geburtstag?“ Mit Schrecken dachte er an den legendären Abend in dessen Haus zurück.

Haila war hemmungslos betrunken gewesen und hatte mit einer Bauchtänzerin getanzt, war dabei zu Boden gegangen und hatte mehrere Partygäste mit sich gerissen. So etwas nannte man ‚tödlich blamiert‘. So schnell würden ihn keine zehn Pferde mehr dahin bekommen.

„Nein, der ist erst in zwei Monaten“, beruhigte Nazan ihn. „Er möchte dich nur gerne wiedersehen und wie ich glaube, über Bücher plaudern.“

Oh Gott, wahrscheinlich hielt Nazans Onkel ihn für einen passionierten Leser. Dabei hatte er doch nur die „Säulen der Erde“ von Ken Follet gelesen, das einzige Buch, das er jemals beendet hatte. Er hatte Nazans Großonkel den neuesten Roman des Schriftstellers zum Geburtstag geschenkt. Wahrscheinlich würde dieser genau darüber mit ihm diskutieren wollen, in der irrigen Annahme, dass Haila ihn auch kannte. Er musste diese Einladung geschickt umgehen, nur wie, wusste er noch nicht. Doch eigentlich, fiel ihm gleich darauf ein, konnte er dem Großonkel doch frank und frei erklären, wie sich die Sache verhielt. Warum machte er daraus so ein Gewese? Das tat er doch sonst nicht! Ungehalten über sich selbst, schnaubte er laut.

„Was soll ich ihm denn jetzt sagen? Dass du kommst?“ Eindringlich sah sie ihn an.

„Ich sage dir Bescheid, okay? Im Moment haben wir andere Sorgen. Wir haben es mit schwerer Brandstiftung mit Todesfolge oder sogar Mord zu tun. Da können wir nicht Dienst nach Vorschrift und um fünf Uhr Feierabend machen.“

„Mord? Wieso denn Mord?“, fragte Nazan verunsichert.

„Wenn Vorsatz bezüglich des Todes des Opfers vorliegt, dann kommen Mord oder Totschlag in Betracht“, erklärte er. „Mord, wenn ein Mordmerkmal hinzukommt. Als Mordmerkmal wäre bei der Brandstiftung an ein gemeingefährliches Mittel zu denken. Du siehst, dass wir in nächster Zukunft nicht viel Zeit für Zerstreuung finden werden.“

Artig nickte Nazan, doch auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein enttäuschter Ausdruck ab.

„Aber vielleicht klärt sich alles schneller auf, als wir denken.“ Trotz dieser hingeworfenen Äußerung, ihm war Nazans Enttäuschung nicht entgangen, glaubte Haila nicht an eine schnelle Aufklärung. Sein Gefühl sagte ihm, dass es ungewöhnlich war, eine ältere Frau ermorden zu wollen, indem man einen Brand legte. Derjenige, der die Molotowcocktails durch die Fenster geworfen hatte, hatte zumindest den Tod der Frau billigend in Kauf genommen. Doch worum war es ihm dabei gegangen? Um die sogenannte heiße Sanierung, hinter der ein Versicherungsbetrug stand? Das ergab nur Sinn, wenn die getötete Bewohnerin des Hauses nicht Eigentümerin gewesen war. Viele ungelöste Fragen und Sachverhalte, die sie wie ein Knäuel entwirren mussten, um dann die losen Fäden miteinander zu verknüpfen.

„Wir fahren in die Rechtsmedizin. Vielleicht können uns Dr. Wittmann oder Frau Dr. Lehmkuhl schon einige Details mitteilen.“

Nazan erwiderte nichts, sondern war auf einmal auffällig einsilbig. Haila ahnte, weshalb. Die bevorstehende Sichtung der Leiche bereitete ihr Unbehagen. Wasserleichen und Brandleichen stellten immer eine besondere Herausforderung sowohl für Rechtsmediziner, als auch für Polizisten dar. Waren Wasserleichen, sofern sie für längere Zeit im Wasser gelegen hatten, bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen und sonderten einen schwer erträglichen Geruch ab, wirkten Brandleichen kleiner und dünner als zu Lebzeiten. Das lag daran, dass Wasser und Fett aus dem Körper entwichen und Muskeln und Sehnen sich durch das Feuer zusammenzogen. Häufig nahmen die Toten dadurch eine Embryonalstellung ein, was den Anblick nicht gerade erleichterte. Die Haut war schwarz und oftmals aufgeplatzt.

Er warf Nazan noch einen Blick zu, bevor er auf den Parkplatz des im Beton-Brutalismus der siebziger Jahre errichteten Gebäudes der Rechtsmedizin fuhr. Nachdem er sie angemeldet hatte, betraten sie den Obduktionssaal, in dem es normalerweise leicht säuerlich roch, wie Haila sich erinnerte, doch nun den typischen Geruch nach verbranntem Menschenfleisch aufwies. Die Tote lag in der typischen Embryonalstellung auf dem Obduktionstisch aus Edelstahl. Haila musste sich vor Augen halten, dass es sich bei ihr um ein menschliches Wesen handelte, so wenig hatte die gekrümmte Gestalt Ähnlichkeit mit einem solchen. Nazan starrte mit weit aufgerissenen Augen ausdrucklos auf das Schreckensbild vor sich.

Ein Räuspern ließ sie herumfahren. Frau Dr. Lehmkuhl war hinter sie getreten. Sie war eine beeindruckende und etwas furchteinflößende Erscheinung mit ihren eins achtzig und den neunzig Kilos, die sie mit Sicherheit auf die Waage brachte.

„Moin, Herr Schrabberdeich und Begleitung. Was ich mit Sicherheit schon jetzt sagen kann, ist, dass die Frau ein künstliches Hüftgelenk hatte“, erläuterte die Rechtsmedizinerin, die für ihre schnörkellose Direktheit bekannt war, und wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen metallischen Gegenstand in der Hüfte. „Hier kann man noch sehr schön die Pfanne erkennen. Das kugelige Ding hier.“

Haila beugte sich ein Stück hinab und brummte zustimmend.

„Das könnte darauf hindeuten, dass es sich bei der Toten um eine ältere Frau handelt“, dröhnte sie. „Die Knochen geben vielleicht noch weiteren Aufschluss.“

„Das künstliche Gelenk erleichtert die Identifizierung sehr“, bemerkte Haila zufrieden. „Wenn noch weitere Merkmale hinzukämen, wären wir fast auf der sicheren Seite.“

„Bericht geht wie immer schriftlich an Sie.“ Frau Lehmkuhl stemmte die Hände in die ausladenden Hüften und sah mit einem Mal Nazan an. „Herzchen, Sie sind ja ganz grün im Gesicht. War wohl zu viel für Sie, wie ich vermute, wie?“

„Ach nein, gar nicht“, antwortete Nazan in gespielt bescheidenem Ton. „Ich habe nur an die arme Frau gedacht, die wie ein bloßes Untersuchungsobjekt auf dem kalten Stahltisch liegt, ihrer ganzen Würde beraubt. Nur ihr künstliches Hüftgelenk scheint das Einzige zu sein, was nach ihrem Tod noch zählt.“

Haila warf seiner Assistentin einen verwunderten Blick zu und war sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit gesagt hatte, oder die Rechtsmedizinerin wegen ihrer brüsken, emotionslosen Art indirekt hatte zurechtweisen wollen. Vielleicht hatte sie sich aber auch nur nicht die Blöße geben wollen, wie sehr der Anblick der Brandleiche sie geschockt hatte.

„Wenn ich Empathie, Mitleid oder gar Trauer für meine Leichen empfinden würde, könnte ich meinen Job nicht machen. Sie sind Polizistin, auch Sie müssen sich ein dickes Fell zulegen, sonst halten Sie das nicht durch.“

Nazan erwiderte nichts und Haila dachte, Spielstand ‚eins zu eins‘.

Frau Dr. Lehmkuhl brachte so etwas wie ein Lächeln zustande und nickte kurz, ein Zeichen, dass für sie die Unterhaltung beendet war.

Haila und Nazan verließen das Institut und fuhren zurück zum Präsidium. Er sah geradeaus und Nazan machte ein verschlossenes Gesicht.

„Sorry, dass ich mich so blöde angestellt habe“, bemerkte sie schließlich.

„Mir ist nichts Menschliches fremd“, antwortete er flapsig und lächelte sie freundlich an. „Nun aber zum Fall. Gehen wir mal davon aus, dass es sich bei der Toten um Maria Horvat handelt und sie tatsächlich Eigentümerin des Hauses war. Welches Motiv hatte der Brandstifter?“

„Molotowcocktails drücken für mich Aggressivität, Wut oder Rache aus“, antwortete Nazan nachdenklich. „Da die Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, ist möglicherweise die Balkan-Mafia im Spiel.“

„Und die mordet und erpresst in Deutschland seit Jahren“, stimmte Haila zu. „Da geht es allerdings um millionenschwere Geschäfte, wie Drogenhandel und Prostitution. So ein kleines, altes Häuschen dürfte dabei keine Rolle spielen. Aber dein Hinweis ist trotzdem sehr gut, Nazan. Das behalten wir im Auge.“ Er hoffte allerdings von ganzem Herzen, dass die Mafia, ob serbische, kroatische oder die albanische, ihre Finger nicht mit im Spiel hatte.

3. Kapitel

Nachdem Tobi den Zaun des Nachbarn überwunden hatte, stand er in dessen Garten. Mit zitternden Knien versteckte er sich hinter einem Busch, um abzuwarten, ob sich auch hier Männer aufhielten, die die Gegend durchkämmten. Als er glaubte, dass keine Gefahr aus dem Hinterhalt drohte, ging er zur Straße. Erschrocken wich er zurück, als ein Monster mit zwei leuchtenden Augen an ihm vorbeiraste. Als er die roten Rücklichter sah, wurde ihm klar, dass es sich um ein Auto gehandelt hatte. Sein Herz klopfte noch immer bis zum Hals, als er sich von dort nach links wandte. Er musste diesen Ort verlassen und war deshalb gezwungen, die Straße zu nehmen. Straßen führten immer irgendwohin. In geduckter Haltung schlich er unauffällig weiter, darum bemüht, den hellen Schein der Straßenbeleuchtung zu meiden. Es war nicht das erste Mal, dass er auf der Straße war. Manchmal war Mama mit ihm durch die mitternächtlichen Straßen rund um ihr Häuschen gegangen. Dann hatte sie ihm befohlen, eine dicke Jacke anzuziehen und die Schirmmütze mit den Ohrenklappen tief ins Gesicht zu ziehen. Alles nur aus Vorsicht, wie sie ihm versicherte, damit man sie nicht erkannte und von den Häschern geschnappt wurden.

Das Messer in seinem Gürtel vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit, denn er wäre nicht völlig wehrlos, sollte ihn jemand angreifen. Er würde ohne zu zögern zustechen. Er wusste, wozu diese Kerle in der Lage waren, und wollte sich lieber nicht ausmalen, was sie mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn einfingen. Wenn es sein müsste, würde er sich auch gegen mehrere gleichzeitig zur Wehr setzen und Mamas Messer optimal einsetzen. Tobi gelangte an ein Straßenschild, hielt inne und hob den Blick. Angestrengt versuchte er, mit zusammengekniffenen Augen den Namen darauf zu entziffern. Es fiel ihm schwer. Mama hatte früher fast täglich versucht, ihm die Bedeutung der Zeichen zu erklären. Kleine, bunte Bücher hatte sie nach oben geschleppt, gemeinsam mit ihm die Bilder betrachtet und die darunter stehenden Zeichen in Laute umgewandelt. „Lesen“ nannte sie das. Es war Tobi unsäglich schwergefallen, sich die zu den Zeichen gehörenden Laute einzuprägen und oft hatte er sie schon nach wenigen Minuten wieder vergessen. Dennoch hatte Mama nicht aufgegeben und ihm sogar ein richtig dickes Buch gezeigt, in dem es keine Bilder gab, sondern nur diese Zeichen, Buchstaben, wie Mama sie genannt hatte. Wenn er erst mal richtig lesen könne, würde er das Buch mit der Abenteuergeschichte verschlingen. Und sie hatte ihm noch weitere Bücher in Aussicht gestellt.

Doch dazu war es nie gekommen, denn er hatte es nicht gepackt. Es war bei den Bilderbüchern geblieben. Später dann hatte sie ihm Comics hochgebracht, Heftchen mit vielen Bildern und nur wenigen Buchstaben, die eine Geschichte erzählten. Damit war er einigermaßen zurechtgekommen. Im Laufe der Zeit hatte er angefangen, die Zeit totzuschlagen, indem er anfing, selbst Comics zu zeichnen. Das hatte ihm großen Spaß gemacht und Mama hatte ihn sogar gelobt. Die besten Comics hatte sie gesammelt und in eine dicke Mappe gelegt, auf der vorne in dicken Buchstaben TOBI stand. Das war sein Name. Gelegentlich hatte sie ihm auch erlaubt, ganz bestimmte Filme mit dem alten Fernseher zu schauen, jedoch nur, wenn er die blickdichten Vorhänge vor seinem Fenster zugezogen hatte, damit die Männer nicht auf ihn aufmerksam wurden. Nur sie hatte gewusst, wie der Fernseher anzustellen war. Tobi hatte an den verschiedenen Knöpfen gedrückt, doch der Bildschirm war schwarz geblieben. Sobald es dunkel wurde und er Licht machen wollte, durfte er das ebenfalls nur bei geschlossenen Vorhängen. Damit hatte er kein Problem gehabt und es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Angestrengt starrte er nun auf die Buchstaben des Schildes und murmelte die einzelnen Silben vor sich hin, bis ihm stockend „Osterkampsweg“ über die Lippen kam. Er wiederholte den Namen mehrmals, um ihn sich einzuprägen. Diese Straße führte ihn zurück, zu Mama und seiner Kammer unter dem Dach. Im selben Moment fiel ihm ein, dass davon nichts mehr übrig war, weder von Mama, noch von dem Häuschen. Alles war den Flammen zum Opfer gefallen. Dennoch war es nicht verkehrt, wenn er sich orientieren konnte und den Weg nach Hause kannte, auch wenn es das nun nicht mehr gab.

Furchtsam setzte Tobi seinen Weg durch die dunkle Straße fort. Er sah sich immer wieder aufmerksam um, um eine drohende Gefahr rechtzeitig erkennen zu können. Gelegentlich tastete seine Hand nach dem Messer hinten im Hosenbund, um sich zu vergewissern, dass die Waffe noch da war. Er hatte sie so hinter den Gürtel gesteckt, dass er sie im Ernstfall blitzschnell ziehen konnte, von seiner Jacke jedoch verdeckt wurde. Auf dem Bürgersteig hielt er sich links, möglichst weit weg von der Straße, auf der in unregelmäßigen Abständen ein Auto vorbeiraste und mit seinen hellen Scheinwerfern die Dunkelheit zerriss und Tobi jedes Mal von neuem einen Riesenschrecken versetzte.

Er kam an Häusern, kleinen aber auch sehr großen, vorbei, aber ein Mensch begegnete ihm nicht. Schließlich stieß er auf eine Querstraße, die sich Eichenstraße nannte, wie er nach mühevollem Entziffern herausgefunden hatte. Hier schlug er sich nach rechts, nach wie vor darum bemüht, sich so gut wie möglich im schützenden Dunkel zu halten und den Schein der hellen Straßenlaternen zu meiden. Links vor ihm tauchte eine Mauer auf. Dahinter waren dunkle Spitzen von Tannen und anderen Bäumen zu sehen, jedoch keine Häuser. Er hielt an und überlegte. Er hatte so etwas Ähnliches schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht daran erinnern, ob es im Fernsehen oder in einem seiner Comics gewesen war. Dicht an die Mauer gedrängt schlich er vorsichtig weiter, bis sie einen Knick nach links beschrieb. Dort entdeckte er ein Tor aus Eisenstäben, durch das er hindurchsehen konnte. Dies war ein unheimlicher Ort, an dem man die Toten vergrub. Jeder hatte seinen eigenen Platz in der Erde, meistens mit einem Kreuz oder Stein darauf. Hier könnte er sich für einige Zeit verstecken, um sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Doch die Angst vor den Toten und seine innere Unruhe trieben ihn weiter.

Kurz darauf stieß er auf eine sehr breite Straße, auf der vermehrt Autos fuhren. Erneut entzifferte er mühsam den Namen der Straße und hatte ihn wenig später herausgefunden: Hauptstraße. Intuitiv schlug er die Richtung nach links ein, ging weiter bis zu einer großen Kreuzung, an der er abrupt stehenblieb. Voller Furcht sah er nach oben. Dort zog sich ein bedrohlich aussehendes Gebilde über die Straße hinweg. Tobi wusste nicht genau, was es war, das sich da wie der Arm eines mächtigen urzeitlichen Tieres über die Straße zog. Da er glaubte, Scheinwerfer erkennen zu können, die den nachtschwarzen Himmel punktuell erhellten und sich von links nach rechts bewegten, schloss er daraus, dass es sich um eine Brücke handelte, über die Autos fuhren. Brücken kannte er von seinen Comics, die hatten jedoch immer nur Flüsse überquert. Als unterhalb der Brücke kein Auto mehr über die Kreuzung schoss, überquerte er sie mit einem mulmigen Gefühl und hoffte inständig, dass die Brücke über ihm nicht zusammenbrechen würde. Erleichtert stieß er die Luft aus, als er schließlich die gegenüberliegende Seite erreicht hatte. Doch sofort erhöhte sich seine Anspannung aufs Neue. Hier gab es viele Geschäfte mit beleuchteten Schaufenstern und Gastwirtschaften, von denen er aus Comics und Filmen wusste, dass man dort reingehen und etwas essen und trinken konnte. Doch man musste mit Geld bezahlen, mit Münzen oder Scheinen. Er hatte weder das eine, noch das andere. Gottseidank hatte er keinen Hunger. Mama hatte ihm zwei Teller Eintopf mit Fleisch und Kartoffeln für das Abendessen nach oben gebracht.

Auf der anderen Seite der Straße sah er einen Mann und eine Frau engumschlungen nebeneinander hergehen. Sie schienen friedlich zu sein und Gefahr ging von ihnen offensichtlich nicht aus. Dennoch behielt er sie im Auge, bis sie sich auf gleicher Höhe mit ihm befanden und sich dann entfernten. Vorsichtshalber warf er einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass es nicht nur eine Falle gewesen war, und das Pärchen schnell die Straße überquert hatte, um ihn zu verfolgen. Doch die beiden waren nicht mehr zu sehen. Hatten sie sich vielleicht versteckt? Vor einer Gastwirtschaft blieb er stehen und schaute durch das Fenster, so, als wolle er erkunden, ob dort noch Gäste saßen. Dann schaute er schnell nach links, ob der Mann und die Frau ihr Versteck verlassen hatten, um ihn zu verfolgen, aber da war niemand. Er war ganz allein auf der Straße. Hätte er mehr Zeit und wäre nicht auf der Flucht, wäre er gern vor den erleuchteten Schaufenstern stehengeblieben, um sich die darin ausgestellten Sachen anzusehen. Doch er wollte weiter, weil er eine geeignete Stelle zum Schlafen finden musste, wo er in Sicherheit war und in Ruhe überlegen konnte, wie es weitergehen sollte.

Das erste Mal in seinem fünfzehnjährigen Leben war Tobi komplett auf sich allein gestellt. Mama und der schützende Dachboden gehörten der Vergangenheit an. Er war gezwungen, sich ein neues Zuhause zu suchen, ahnte jedoch instinktiv, dass es nicht so einfach werden würde. Und wie das Symbol einer düsteren Zukunft erhob sich wie aus dem Nichts ein dunkler Wald auf der linken Seite. Tobi zögerte. Wäre der nicht ideal, um sich dort ein wenig von dem langen Fußmarsch auszuruhen? Bestimmt fand er dort auch einen Busch, unter den er sich legen konnte, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Außerdem konnte er sich dort bestimmt erleichtern, was man, wie er wusste, in der Öffentlichkeit nicht tun durfte. Dennoch war es schwer einzuschätzen, ob darin Gefahren auf ihn lauerten. Aber er hatte sein Messer und konnte zur Not auch wegrennen. Deswegen überwand er seine Angst, gab sich einen Ruck und näherte sich dem Eingang. Erstarrt blieb er stehen. Auf dem Platz davor stand ein Tier, unbeweglich und groß. Tobi kniff die Augen zusammen, um es besser sehen zu können. Es sah aus wie ein großes Schwein, aber wieso stand es hier in der Nähe der Straße und war nicht im Wald? Seltsam, das Tier hätte ihn doch schon längst bemerken und wegrennen müssen. Vorsichtig schlich er sich heran, das Schwein bewegte sich noch immer nicht. Nicht einmal der Schwanz, der sich keck nach hinten reckte, hatte gezittert. Tobi nahm allen Mut zusammen und näherte sich noch ein Stück dem Tier, das selbst jetzt keine Regung erkennen ließ, sondern in der derselben Position verharrte. Nun kamen Tobi Zweifel, ob es sich um ein lebendes Tier handelte. Doch tot konnte es nicht sein, denn dann würde es nicht aufrecht stehen, sondern auf dem Boden liegen. Um es zu verjagen, stieß er ein zischendes Geräusch aus, jedoch ohne Erfolg. Er ging noch näher an das Ding heran, bis er nur noch eine Armlänge von ihm entfernt stand. Während seine rechte Hand nach dem Messer im Gürtel tastete, streckte er die linke aus und berührte das Tier. Im selben Moment zog er sie erschrocken zurück, weil er das Harte und Kalte nicht erwartet hatte. Dieses Schwein lebte nicht, sondern war vielleicht so etwas wie ein Denkmal, das Mama ihm einmal auf einem Foto gezeigt und ihm erklärt hatte, dass es sich um die Figur eines berühmten Generals aus Bronze handelte. Aber warum man ein Denkmal für ein Schwein aufstellte, leuchtete ihm nicht ein, interessierte ihn aber auch nicht weiter.

Jetzt, da die vermeintliche Gefahr nicht existierte, meldete sich körperliche und geistige Erschöpfung. Er war müde vom langen Fußmarsch, so viel Bewegung war er nicht gewohnt, und die schrecklichen Ereignisse um den Brand in Mamas Häuschen hatten ihn sehr mitgenommen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Eingang zum Wald, sah sich noch einmal um und ging hindurch. Zu seiner Überraschung gabelte sich ein Weg in drei Richtungen. Er entschied sich für den mittleren, weil der versprach, ihn tiefer in den Wald hineinzuführen. Nach einer Weile gelangte er an eine Bank, auf die er sich setzte. Er wollte noch einen Moment abwarten, ob sich noch jemand anderes hier aufhielt, und sich dann endlich in die Büsche zu schlagen, um sich zu erleichtern. Danach wollte er in Ruhe überlegen, was er mit seiner gerade erst gewonnenen Freiheit anstellen sollte. Nur gelegentlich hatte er das Haus von Mama verlassen. „Viel zu gefährlich!“, hatte sie ihn eindringlich gewarnt, die Männer würden überall lauern und wenn sie ihn fänden, würden sie kurzen Prozess mit ihm machen. Er solle nur an den kleinen Mico, ihren drei Monate alten Sohn denken, den diese Schweine gegen die Wand geschmettert hatten, so, als wäre er nur ein Gegenstand und kein menschliches Wesen. Die würden vor nichts haltmachen. Dennoch musste er irgendwo bleiben, jetzt, wo das Haus komplett niedergebrannt war, und etwas zu essen und zu trinken brauchte er auch. Geld, mit dem man in Restaurants bezahlen konnte, hatte er nicht und auch keine Ahnung, woher man welches bekam. Er hatte niemanden, an den er sich wenden und um Hilfe bitten konnte. Mama war der einzige Mensch gewesen, zu dem er Kontakt gehabt hatte. Einige Male hatte sie zwar Besuch gehabt, da hatte er gedämpfte Stimmen durch die Ritze der Luke von unten gehört. Mama hatte ihm vorher immer über den Kopf gestrichen und gemeint, dass es besser für ihn sei, wenn ihn niemand zu Gesicht bekomme, man wisse nie, ob die nicht mit den Männern zusammenarbeiteten. Jedes Mal hatte sich Tobi widerstandslos gefügt, zumal Mama ihm dann erlaubte hatte, länger als sonst fernzusehen und ihm überdies noch eine Schale mit buntem Konfekt gegeben hatte.

Er konnte nicht aufhören, an Mama und den Dachboden zu denken, der sein Reich gewesen war. Ein seltsam ziehendes Gefühl verkrampfte sein Herz. Tobi wusste nicht, dass man dieses Gefühl Sehnsucht nannte.

Ein knirschendes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenfahren. Schritte näherten sich. In Windeseile versteckte er sich hinter der Bank und spähte nach links in die Dunkelheit, aus der die Schritte kamen. Eine Person näherte sich, ein Mann, wie Tobi Sekunden später erkannte. Der hielt plötzlich an und Tobi vernahm ein Klicken. Seine Hand tastete nach dem Messer, während er den Atem anhielt. Ein heller Schein erleuchtete für einen Moment das Gesicht des Fremden, der sich eine Zigarette anzündete. Dieser Moment reichte Tobi, um die kurzgeschorenen Haare und den hochgeschlossenen Kragen einer Militärjacke mit dem typischen Tarnmuster aus hellen und dunklen Flecken zu erkennen. Das war einer von den Männern! Tobi saß in der Falle! Er konnte nicht fliehen, ohne dass der Mann ihn bemerkte und verfolgte. Er musste handeln!

Mit zitternder Hand zog er das Messer heraus, während er den Typen nicht aus den Augen ließ, der sich gerade der Bank näherte. Rot glühte die Spitze der Zigarette auf und würziger Tabakrauch zog Tobi in die Nase. Als der Mann nur noch einen Schritt von der Bank entfernt war, schoss Tobi hoch und stürzte sich mit einem Aufschrei auf ihn. Mehrere Male rammte er ihm das Messer in den Bauch, bis der Mann schließlich röchelnd zu Boden ging und auf dem Rücken liegen blieb. Tobi zog sich bis auf die Unterhose aus und warf seine Kleidung auf einen Haufen hinter sich. Für das, was er nun vorhatte, durfte er sie nicht tragen, damit später keine verräterischen Blutflecke darauf zu sehen waren. Das wusste er aus einem Gangstercomic, in dem diese Unachtsamkeit einem Räuber zum Verhängnis geworden war. Er hockte sich neben den Soldaten, knöpfte dessen Jacke auf und schnitt das T-Shirt darunter der Länge nach auf. Erneut hob er das Messer und rammte es dem Sterbenden mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, so oft in die Brust, bis die Rippen zerbarsten. Schweratmend hielt Tobi inne, als in diesem Moment der Vollmond hinter einer Wolke auftauchte und die Szenerie gespenstisch beleuchtete. Er beugte sich tiefer über den zerfetzten Brustkorb. Dort lag es, das Herz, er konnte es im hellen Schein des Mondes deutlich erkennen. Er zwängte die rechte Hand durch den Krater in den noch warmen Körper, umklammerte das Herz mit den Fingern und riss es mit Hilfe der linken Hand heraus. So wie die Männer es mit Mama gemacht hatten, als sie den kleinen Mico vor ihren Augen umbrachten. In hohem Bogen schleuderte Tobi den blutigen Klumpen ins Gebüsch. Jetzt fehlte noch die Seele, die er dem Schurken herausschneiden musste. Mit dem Knie fixierte er den Kopf zu einer Seite und holte erneut aus. Die Spitze des Messers bohrte sich tief in die Schläfe. Tobi wusste nicht, ob er die Seele erwischt hatte, deswegen drehte er das Messer mehrfach in der Wunde herum, damit sie entweichen konnte. Sie sollte kein Zuhause mehr haben und direkt in die Hölle fahren.

4. Kapitel, Montagmorgen

Gerade erst waren Haila und Nazan ins Präsidium zurückgekehrt, da erreichte sie die Nachricht von einem Leichenfund im Eversten Holz. Der Mann, es handelte sich um den dreiunddreißigjährigen arbeitslosen Ronny Laakemeier aus Oldenburg, war Opfer eines grausamen Mordes geworden. Ein Rentner mit Hund hatte ihn an diesen Morgen gegen acht gefunden. Der Hund hatte das Herz des Ermordeten in einem Gebüsch aufgestöbert und war gerade dabei, es zu fressen, wenn nicht sein Herrchen ihn im letzten Moment davon abgehalten hätte.

Ohne sich vorher noch den heiß ersehnten Kaffee zu gönnen, fuhren Haila und Nazan zum Eversten Holz und waren wenige Minuten später am Tatort, der weitläufig abgesperrt worden war. Die weißgekleideten Männer von der Spurensicherung verrichteten schweigend ihre Arbeit und hatten bereits Nummernaufsteller positioniert, um Spuren zu markieren, und ein Fotograf machte Nahaufnahmen von der Leiche. Die Aufnahmen aus großer und mittlerer Distanz hatte er offensichtlich bereits abgeschlossen. Der Rechtsmediziner Dr. Wittmann, der Kollege von Frau Dr. Lehmkuhl, hockte neben der Leiche und füllte gerade ein Formular aus. Den Totenschein, wie Haila vermutete. Er und Nazan näherten sich auf dem eigens dafür angelegten Trampelpfad, um keine Fremdpuren am Tatort zu hinterlassen. Die Brust des Toten sah aus, als wäre sie von einer Bombe zerfetzt worden. Eine dunkle rote Höhle markierte die Stelle, an der einmal das Herz gesessen hatte. Haila registrierte weiterhin zahlreiche Stichverletzungen im Bauchbereich.

„Moin, Dr. Wittmann“, grüßte er den Rechtsmediziner. „Er sieht wie das Opfer einer blutrünstigen Bestie aus.“

Der Rechtsmediziner hob seinen Blick und hielt mit dem Schreiben inne. „Moin, Herr Schrabberdeich. Ja, ziemlich blutige Angelegenheit. Ich fülle gerade den Totenschein aus. Fünf Stichwunden im Bauch, und wie viele es im Brustkorb sind, kann ich erst nach eingehender Untersuchung sagen. Fest steht, dass die Rippen durch mehrere Hiebe mit einem Messer gesplittert und gebrochen sind. Das Herz wurde herausgerissen, was man an den zerfetzten Blutbahnen erkennen kann. Die Hälfte des Herzens haben wir bereits sichergestellt und eingetütet.“

„Nur eine Hälfte? Wo ist die andere?“

„Die hat der Hund gefressen.“

„Meine Güte“, stöhnte Haila und konzentrierte sich erneut auf den Toten zu seinen Füßen. „Was ist das da in seiner Schläfe für ein Loch?“

„Ungewöhnlich, in der Tat“, bestätigte der Rechtsmediziner. „Wenn mich nicht alles täuscht, wurde versucht, von da aus ein Loch in den Kopf zu bohren. Aber auch das kann ich erst mit Bestimmtheit nach der Obduktion sagen. Todeszeitpunkt circa heute Nacht gegen drei.“

Schweigend hatte Haila zugehört und dabei auf die Leiche geschaut. Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“, wollte er von Dr. Wittmann wissen.

Der schüttelte den Kopf und sagte: „In meiner gesamten Dienstzeit noch nicht. Sieht für mich irgendwie nach Ritualmord aus. Oder ein komplett durchgedrehter Täter, der in einen Blutrausch gefallen ist.“

„Wissen Sie schon, für wann Sie die Obduktion ansetzen?“, erkundigte Haila sich, ohne auf die Vermutung des Rechtsmediziners weiter einzugehen.

„Heute noch. Frau Dr. Lehmkuhl ist noch mit der Brandleiche beschäftigt. Sollte sie meine Hilfe nicht benötigen, werde ich heute Nachmittag gegen drei beginnen.“

Haila lachte kurz und trocken auf, als er an die große und selbstbewusst wirkende Frau dachte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frau Dr. Lehmkuhl irgendjemandes Hilfe benötigt.“

„Tja, seit wir verlobt sind, bildet sie sich ein, dass sie mich aus Höflichkeit und um mich bei Laune zu halten, gelegentlich um Rat fragen muss. Dabei ist sie die Koryphäe.“

Haila hatte es bei dieser Mitteilung fast die Sprache verschlagen. Es fiel ihm schwer, sich diese beiden nüchternen Riesenmenschen als turtelnde Verlobte vorzustellen. Nun gut, wo die Liebe eben hinfiel.

„Meinen Glückwunsch zur Verlobung“, gratulierte er höflich und noch immer verblüfft. „Rufen Sie mich an, falls Frau Dr. Lehmkuhl Ihre Hilfe benötigt und sich der Termin verschiebt?“

„Natürlich“, bestätigte Dr. Wittmann grinsend, schob seine Brille hoch und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war eine überaus imposante Erscheinung, an die zwei Meter groß und sehr athletisch gebaut. „Der hier“, sagte er und wies mit dem Zeigefinger auf den Toten, „kommt gleich in die Rechtsmedizin.“

„Grüßen Sie bitte Ihre Verlobte und richten Sie auch ihr meine Glückwünsche aus. Wir waren heute Morgen schon wegen der Brandleiche dort. Sie hat sofort die künstliche Hüfte der Toten entdeckt. Das hilft uns sehr bei der Identifizierung.“

„Ja, Gerlinde ist unschlagbar. Hannover hat sie nur ungern ziehen lassen. Aber wie sie vielleicht wissen, Herr Schrabberdeich, kann die Liebe Hindernisse niederreißen und Ketten sprengen.“

Haila lachte erneut auf und wandte sich zum Gehen. Nun wusste er auch, wie Frau Dr. Lehmkuhl mit Vornamen hieß. Gerlinde, auch nicht schlecht, schmunzelte er innerlich. Doch gleich darauf fielen ihm die Worte über die Macht der Liebe ein, über die der Rechtsmediziner sich so flapsig geäußert hatte. Unwillkürlich ging sein Blick zu Nazan, die die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden hatte. Mit Sicherheit hatte sie die Bemerkung mitbekommen. Ob sie wohl derselben Ansicht war? Bei passender Gelegenheit würde er sie danach fragen, ganz unverfänglich natürlich. Falls er den Mut dazu aufbrachte.

Nun jedoch wandte er sich erst einmal an den Leiter der Spurensicherung, Ubbo Tönjes, um ihn zu fragen, ob signifikante Spuren sichergestellt werden konnten.

„Es gibt ein paar brauchbare Fußabdrücke rund um den Körper des Toten“, gab dieser Auskunft. „Offensichtlich hat sich das Opfer zu wehren versucht und es gab möglicherweise einen kurzen Kampf. Mehr kann ich erst sagen, wenn Kleidungsstücke und Schuhe in der kriminaltechnischen Untersuchung gewesen sind. Ansonsten in unmittelbarer Nähe eine Zigarette, die nicht zu Ende geraucht wurde. Vermutlich die des Opfers. Ist vielleicht überrascht worden, als er sie sich gerade angesteckt hatte.“

„Hat der Rentner mit dem Hund, der ihn gefunden hat, etwas Auffälliges bemerkt? Hat er jemanden gesehen?“

„Er wurde dazu schon vernommen. Außer, dass er den Toten gefunden hat, konnte er nichts weiter aussagen. Er war sehr schockiert. Vielleicht fällt ihm später noch etwas ein.“

„Na schön. Wurde das Opfer beraubt?“

Ubbo schüttelte den Kopf. „Nein, alles noch da. Ausweis, Handy und Geldbörse.“

Haila schaute kurz zum Fotografen, der in die Hocke ging, um ein Foto aus einem bestimmten Blickwinkel heraus zu schießen. „Sag dem Fotografen bitte, er soll von allen Fahrzeugen auf dem kleinen Parkplatz vorm Eingang und in der näheren Umgebung Fotos machen. Es gibt eine Chance, dass der Täter den Tatort zu Fuß verlassen hat und sein Fahrzeug später abholen wird.“

„Gute Idee“, stimmte Ubbo zu. „Ich sage es ihm gleich. Ich kann aber nicht dafür garantieren, dass er in Jubelgeschrei ausbrechen wird.“ Es war allerseits bekannt, dass Hans-Peter Bünting generell schlecht gelaunt war. Warum, wusste allerdings niemand.

Gemeinsam mit Nazan verließ Haila den Tatort. Unterwegs versuchte er, sich ein Bild von dem Mörder zu machen, sich in ihn hineinzuversetzen, um zu verstehen, weshalb man einem anderen Menschen so etwas antat. Was für eine Bedeutung hatte das Herausreißen des Herzens und das Loch in der Schläfe?

„Nazan, wie denkst du über das Verbrechen?“

Sie sah ihn für einen Moment lang stumm an, bevor sie antwortete. „Ich bin schockiert. So etwas habe ich noch nie gesehen. Der Mann wurde ja regelrecht abgeschlachtet. Und dann die Sache mit dem Herzen … es aus dem Körper zu reißen und dann fortzuwerfen. Der Täter muss einen unsagbaren Hass auf sein Opfer gehabt haben. Und so schrecklich die Sache mit dem Herz ist, muss sie dennoch eine Bedeutung haben. Spontan fällt mir dazu ein, dass es sich um Rache handelt und der Mörder es dem Opfer mit gleicher Münze heimzahlen wollte, indem er ihm das Herz aus dem Leib gerissen hat. Eine Allegorie darauf, dass das Opfer dem Rächer, bildlich gesprochen, vorher das Gleiche angetan hat.“

„Das waren auch meine Gedanken. Der Rechtsmediziner hat von einem Ritualmord gesprochen. Ich kann ihm da nicht ganz folgen, denn ein Ritualmord setzt voraus, dass die Tötung eines Menschen als solche eine rituelle Handlung ist. Meistens geschehen sie aus religiösen Motiven, oftmals auch in Verbindung mit Sekten.“

„Du meinst wie diese Morde von Sektenmitgliedern an Sharon Tate und ihren Freunden in Los Angeles?“, erkundigte sie sich und fuhr gleich darauf fort: „Charles Manson war Anführer dieser Sekte und hat die Ermordung befohlen. Ein echter Irrer.“

Haila war erstaunt, dass Nazan davon wusste, denn der Mord an der hochschwangeren Sharon Tate, die mit dem Regisseur Roman Polanski verheiratet gewesen war, war 1969 verübt worden. „Genau“, bestätigte er. „Übrigens ist Ronny Laakemeier der Polizei nicht unbekannt. Neigte zur Trunksucht, war höchst aggressiv und wurde schon wegen Körperverletzung, Diebstahl und Hehlerei verknackt. Ein wenig sympathischer Zeitgenosse.“

„Man soll nichts Schlechtes über die Toten sagen“, wandte Nazan ein, „aber ganz ehrlich, obwohl Laakemeier so grässlich zugerichtet war, wirkte er auf mich tatsächlich sehr unsympathisch, brutal, ein Schläger. Und diese Jacke! Wie ein Möchtegernsoldat.“

„Und das sind für gewöhnlich die ersten, die wie die Pappkameraden umfallen, wenn es richtig ernst wird“, bestätigte er.