Mordwald - Hans Jürgen Sittig - E-Book

Mordwald E-Book

Hans Jürgen Sittig

4,8

Beschreibung

Eigentlich wollte der Bonner Bauunternehmer Sauter in seinem eigenen Revier jagen. Doch dann liegt er tot im winterlichen Mayener Hinterwald, unbekleidet, gefroren und scheinbar von Wildschweinen getötet. Aber Hauptkommissar Jan Wärmland wird schnell klar, dass es sich um Mord handeln muss. Als auch ein Jagdfreund Sauters von Pfeilen durchbohrt aufgefunden wird, nennt die Presse den Täter nur noch den 'Indianer'. Der hat es anscheinend auf einen Freundeskreis abgesehen, der über die Jagd verbunden ist. Aber Wärmland kann kein Motiv ermitteln. Bis er erkennt, wer das nächste Opfer sein wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 526

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (20 Bewertungen)
15
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Jürgen Sittig, 1957 in Mayen geboren, begann als Biologiestudent in Bonn mit dem Fotografieren und Schreiben. Als Fotograf und Reiseschriftsteller belieferte er neunundzwanzig Magazine und Zeitschriften und veröffentlichte mehr als vierzig Fotokunstkalender, sieben Bildbände und den Gedichtband »Herzwehen«. Auch seine Heimat Eifel porträtiert er immer wieder in Fotokalendern. Wenn er nicht schreibt oder fotografiert, dann spielt der ehemalige Fallschirmjägerhauptmann d. R. und Vater zweier Söhne gern: Klavier daheim, Theater in Wuppertal und regelmäßig größere Rollen in kleinen Fernsehserien. Hans Jürgen Sittig lebt in Neunkirchen bei Daun in der Vulkaneifel. »Mordwald« ist sein erster Kriminalroman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Hans Jürgen Sittig Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-665-2 Eifel Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für meine Söhne Jan Martin und Hans Christian

PROLOG

Mit größter Vorsicht hob der Mann den Bogen. Da verharrte das Wildschwein und reckte den Kopf in die Höhe. Die untrügliche Intuition der Wildtiere ließ den Keiler die Gefahr ahnen. Er hob den Rüssel noch weiter empor und sog die Luft ein, auf der Suche nach ein paar Molekülen dieses beißenden Geruchs, der unverwechselbar nur von einem einzigen Feind ausging. In einem Land ohne Wölfe und Bären fürchtet das Wildschwein einzig und allein das gefährlichste aller Raubtiere– den Menschen.

Der ehemals kraftstrotzende Keiler wog sicher immer noch stattliche hundertvierzig bis hundertfünfzig Kilogramm. Aber sein Fell war stumpf und struppig. Die Flanken des Tieres waren eingefallen. Als habe es zu lange gehungert. Oder als sei es von einer Krankheit geplagt. Das waren vor allem die Anzeichen des Alters.

Der Mann mit dem Bogen wusste, dass das Tier vor ihm ein typischer Einzelgänger war. Diese alten Keiler strichen wie Schatten, wie Geister durch die Wälder und über die Felder. Kaum jemand bekam sie je zu Gesicht. Selbst Jäger sahen sie äußerst selten. Und so entgingen die Tiere der Kugel. Entgingen der Auslese, die früher einmal Wolf und Bär vorgenommen hatten.

Er wusste alles über diese Tiere, hatte alles gelesen, was die Literatur bereithielt über dieses wehrhafte Wild. Das in der Lage war, mit seinen scharfen unteren Eckzähnen einem Wolf den Bauch aufzureißen. Oder einem Menschen. Er hatte Wildschweine oft in der Natur beobachtet. Er liebte und achtete diese Tiere. Dennoch musste er es tun.

Es war ein wichtiger, ein großer Moment für ihn. Diese Jagd war mit seinem Schicksal verbunden. Hier und jetzt würde sich entscheiden, ob die Zeit der Abrechnung gekommen war. Ging der Schuss fehl, so würde er noch warten. Aber er wollte nicht warten. Es musste jetzt gelingen. Nach all der Zeit des Wartens auf den Zeitpunkt, an dem er ihnen endlich überlegen wäre.

Er hatte sein Ziel im Auge. Sein Puls raste in höchster Anspannung, so kurz vor der Entscheidung. Dann ließen seine Finger die Sehne los. Mit mehr als dreihundert Stundenkilometern schnellte der Pfeil davon. Nach einer Drittelsekunde traf er das vierzig Meter entfernt stehende Tier und bohrte sich in dessen linke Flanke. Nach weiteren dreißig Zentimetern durchschlug die Pfeilspitze die linke Herzkammer.

Trotz der tödlichen Verletzung machte der Keiler einen Satz nach vorn, knickte in den Vorderläufen ein, rappelte sich wieder auf und lief schräg den Hang hinauf. Nach zwanzig Metern brach er tot zusammen.

Als der Mann den Keiler erreicht hatte und den Pfeil aus dem Tierkörper zog, murmelte er einige kaum hörbare Sätze. Wie es Indianer taten, um sich mit ihrem Jagdopfer zu versöhnen.

EINS

Am Meckenheimer Kreuz fuhr Gerhard Sauter mit seinem Range Rover auf die A 61 in Richtung Koblenz. Er war auf dem Weg in die Eifelberge. In etwa einer Dreiviertelstunde würde er Mayen erreichen. Westlich der Stadt, im sogenannten Mayener Hinterwald, lag sein Jagdrevier.

Dort würde er den geschäftlichen Erfolg der vergangenen Woche angemessen und auf seine ihm eigene Weise feiern: mit der Jagd, die seine Passion war. Er hatte zwei Tage, um seiner Leidenschaft zu frönen. Es gab nichts außer Sex, was ihn derart befriedigte wie die Jagd.

Er war in Hochstimmung an diesem Freitagnachmittag, denn er hatte gerade ein neues Projekt von beträchtlichem Umfang an Land gezogen. Heute Morgen waren die Verträge unterzeichnet worden. Als größter Bauunternehmer der Region Köln-Bonn hatte er sich wieder einmal durchgesetzt und seine Mitbewerber auch diesmal wieder aus dem Feld schlagen können.

Er lächelte angesichts dieser dem Sportbereich entliehenen Formulierung. Es war jedenfalls eine harmlose Beschreibung seiner Aktivitäten. Erfolg wollte geplant sein. In diesem Bewusstsein hatte Sauter auch dieses Geschäft detailliert vorbereitet. Vor Jahren schon hatte er die noch immer wirksamen Verbindungen geknüpft und sich Freunde an wichtigen Schaltstellen geschaffen.

Dem Glück überließ er schon lange nichts mehr, jedenfalls nicht im Beruf. Eher auf der Jagd.

Sauter hatte fast überall auf der Welt überaus erfolgreich gejagt. Nicht nur von den afrikanischen »Big Five« – Elefant, Nashorn, Kaffernbüffel, Löwe und Leopard– hatte er kapitale Trophäen in seiner Sammlung.

Jetzt war er unterwegs in »seine« Eifel. Er liebte diesen Landstrich. Sauter hatte beinahe alle spektakulären Landschaften dieser Erde gesehen: Sibirien, den Himalaja, Alaska, die kanadischen und amerikanischen Rocky Mountains, die Anden, den Amazonas-Urwald und die afrikanische Savanne. Trotzdem empfand er eine besondere Begeisterung für dieses kleine Mittelgebirge mit seinen Bachtälern und Buchenwäldern. Die Eifel war ihm kostbar als Rückzugsgebiet und zugängliche »Wildnis« direkt vor seiner Haustür.

Die Kölner Bucht dagegen sah er nur als Bauland. Obwohl er so viel übrig hatte für freies, wildes Land, maß sich sein beruflicher Erfolg eben doch an Art und Größe der durchgeführten Baumaßnahmen, und Sauter kannte diesbezüglich keine Skrupel. Die Region zwischen Nürburgring, Ahr, Laacher See und Mayen hingegen hätte sein privater Nationalpark werden können. So sehr fühlte er sich ihr verbunden. Er hatte sogar wiederholt auf eigene Kosten Forstleute und Wildbiologen als Referenten eingeladen, um den ortsansässigen Waldbesitzern und Bauern die Vorteile gesunden Mischwaldes im Vergleich zu den weitverbreiteten Fichtenmonokulturen vor Augen zu führen.

Jetzt konnte er es kaum erwarten, auf den Hochsitz zu gelangen. In »seinem« Wald, der immer ein ganz besonderer Ort für ihn gewesen war. Denn in der Eifel hatte er ein besonderes Gefühl für den Wald und das Wild. In Amerika, Asien oder Afrika war er immer nur Gast gewesen. Hier jedoch begleitete er ein Stück Land durch alle Jahreszeiten. Hier war er Souverän über Leben und Tod und stand unangefochten an der Spitze der Raubtiere. In einem viel archaischeren Sinn als in seiner Firma. Das war wirkliche Macht.

Sauter erreichte die Ahrbrücke bei Bad Neuenahr. Noch lag heller Sonnenschein über dem Land. Was seine Hochstimmung nur beflügelte. Aber er wusste, dass am Abend eine Wolkenfront kommen würde. Mit weiterem Schneefall. Bis vorgestern hatte es wiederholt geschneit. Dann war das Zwischenhoch gekommen, mit stärkerem Frost, und hatte den Sauen das Erreichen von Futter im nun harten Boden erschwert. Darum standen die Chancen gut, dass sie zum Fressen an die Kirrung auf seiner bevorzugten Lichtung kommen würden. Peters, sein Jagdaufseher, hatte vorgesorgt und dort reichlich Mais platziert.

Wegen der Schweinepest war die Saujagd das ganze Jahr offen. Ohne Schnee waren sie allerdings nur bis zur Abenddämmerung ansprechbar. Da der Boden aber bereits von Schnee bedeckt war, herrschten nun ideale Bedingungen, auch in der Nacht. Dann reichte schon das Sternenlicht für die Jagd auf die Schwarzkittel. Die Tiere waren gegen den Schnee gut erkennbar. Mit Hilfe von exzellenten Hochleistungsferngläsern und Zielfernrohren.

Sauter hatte sich den ganzen Herbst über auf den Winter gefreut. Auf seine Eifel-Sauen. Er rechnete gar nicht mit einem kapitalen Keiler. Diese Einzelgänger waren launisch und unzuverlässig. Wie geschlechtskranke Ziegenböcke. Aber Sauter war auch schon lange nicht mehr trophäensüchtig. Er schoss nur noch aus Sicht der Hege für einen starken, gesunden Bestand. Also schwache Tiere oder Jungtiere.

Seinem Freund Traveloe dagegen, der ein Nachbarrevier besaß, waren die heimischen Sauen längst nicht mehr groß genug. Der fuhr lieber in die Türkei, wo er schon Keiler mit bis zu zweihundertzweiundfünfzig Kilo Gewicht erlegt hatte. Dabei war auch in der Eifel vor wenigen Jahren mal ein Stück mit hundertdreiundneunzig Kilogramm Gesamtgewicht gefallen.

Sauter fuhr bei Wehr von der A 61 ab und fühlte erneut Vorfreude in sich aufsteigen. Es war eine alte Verbindung aus seiner Kindheit. Damals hatte sein Vater die Familie am Wochenende oft ins Auto gepackt, um durchs Ahrtal in die Eifel zu fahren. Zum Abschluss der Ausflüge hatte es dann meist im Café Geisbüsch am Brückentor in Mayen Erdbeer- oder Apfelkuchen gegeben. Sauter erinnerte sich noch immer daran, wie sehr ihm diese Kuchen nach den Touren in den Eifelbergen geschmeckt hatten.

Die leichte Anspannung, die Sauter auf der Bundesstraße stets erfasste, wuchs, nachdem er Weibern durchquert hatte und hinter Morswiesen das Nettetal erreichte. Die Wälder ringsum waren wildreich. Und Sauter war froh, dass er selbst noch nie einen Wildunfall erlebt hatte.

Noch eine halbe Stunde, dann würde er sein Jagdhaus erreichen. Peters hatte sicher schon den Kachelofen angeheizt. Trotzdem würde er es sich dort in der behaglichen Atmosphäre seiner Jagdhütte nicht groß gemütlich machen, sondern sich für eine halbe Nacht im Freien rüsten und wieder aufbrechen.

Draußen würde er allmählich ganz frei werden von allen Gedanken rund um die Firma. Von den Gedanken an die Menschen in seiner Umgebung. Auch an seine Frau würde er nicht denken. Sie hatten sich ohnehin nicht mehr viel zu sagen. Nach und nach würde die Metamorphose vollzogen, und er würde zum perfekten Jäger werden. So war es immer gewesen. Das Jagdfieber würde sich noch weiter steigern. Bis zu dem Moment, da er an das erlegte Wild trat und auch hier bewiesen hatte, dass er der Beste war.

***

Der alte dunkelblaue Golf stand am Beginn eines Waldweges an der Landstraße10, die steil aus dem Nettetal in Richtung Kirchwald führte. Etwa dreihundert Meter weiter mündete die L 10 am Talgrund in die L 83, kaum zweihundert Meter von Schloss Bürresheim entfernt.

Der Fahrer saß unbeweglich auf seinem Sitz. Er schaute hinunter ins Tal des Flüsschens Nette und wartete. Er kannte Sauters Jagdgewohnheiten, sein Jagdhaus und sein Revier. Und er kannte die Fütterungsplätze, die »Kirrungen«, mit denen Sauter, wie andere Jäger auch, die Wildschweine anlockte. Eine dieser Kirrungen war in den vergangenen Wochen immer wieder frisch mit Futter beschickt worden. Das hatte er bei seinen Kontrollgängen im Revier festgestellt. Es war ein unzweifelhafter Hinweis, dass Sauter dort zur Ansitzjagd erscheinen würde. Auf seiner bevorzugten Kanzel an der kleinen Lichtung mit dem Wildacker. Ideales Gelände für die Umsetzung seines Plans.

Bisher lief alles perfekt. Nur ein unvorhersehbares Ereignis konnte den Ablauf der Dinge jetzt noch stoppen. Doch selbst wenn heute etwas dazwischenkäme, würde er ihn an einem anderen Jagdtag erwischen. Er wusste, wie sehr Sauter die Saujagd liebte. Die Gelegenheiten waren zahlreich. Endlich würde er bezahlen für seine Tat. Zu lange schon war er ungeschoren davongekommen.

Ich werde dich holen, dachte er. Und ihn durchströmte wieder dieses Gefühl der Anspannung, das er vom Jagen kannte. Ich werde dich holen, und du wirst erfahren, wie es ist, vom Jäger zum Opfer zu werden.

Sauters Angst würde grenzenlos sein. Der rücksichtslose Geschäftsmann, der andere schon immer gnadenlos ausmanövriert oder auch ruiniert hatte, um sich selbst zum Erfolg zu verhelfen, war es nicht gewohnt, aussichtslos auf der Verliererseite zu stehen. Aber dieses eine Mal, dachte er, wird ihm bewusst werden, dass er auf der falschen Seite steht. Und dass es ihn das Leben kosten wird.

Er beobachtete weiter durch die Seitenscheibe seines Wagens die Landstraße, die unten im Tal dem Lauf des Flüsschens Nette folgte. Der alte Golf hatte keine Standheizung. Damit sie nicht beschlugen, hatte er die Scheiben der Fahrer- und Beifahrertür einen großen Spalt geöffnet. Dadurch war es auch drinnen im Wagen sehr kalt geworden.

Er hatte das einkalkuliert und trug lange Unterwäsche unter der dunkelgrünen Militärhose, dicke Wollsocken, gefütterte Stiefel und zwei Wollpullover unter einem gefütterten Jagdparka. Seinen Kopf wärmte eine lammfellgefütterte Kappe mit Ohrenschützern, die er heruntergeklappt hatte. Doch wenn er noch lange warten musste, würde auch das nicht ausreichen, und er würde frieren.

Aber das kümmerte ihn nicht. Er schaute nur weiter konzentriert ins Tal, sicher, dass der Wagen irgendwann dort unten auftauchen würde. Es war die übliche Route. Sauter nahm immer diesen Weg. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass es diesmal anders sein würde. Er musste nur etwas Geduld haben.

Er verfügte über eine enorme Geduld. Aber er saß nun schon mehr als eine Dreiviertelstunde beinahe unbeweglich in seinem Golf, und die Außentemperatur betrug nur sechs Grad minus. Trotz seiner dicken Winterkleidung und obwohl er auf einem Lammfellüberzug saß und die Beine in eine alte wollene Militärdecke geschlagen hatte, war ihm inzwischen ziemlich kalt.

Mit Anspannungsübungen seiner ausgeprägten und gut trainierten Muskulatur arbeitete er dagegen an und versuchte, sich selbst aufzuheizen. Er wollte der Kälte widerstehen. Er musste aushalten.

Ein bewegter Schatten in einiger Entfernung ließ ihn zum Fernglas auf dem Beifahrersitz greifen. Er fokussierte einen großen, dunklen Wagen, der, von Norden kommend, talabwärts fuhr. Und schließlich identifizierte er auch das Modell: ein dunkelgrüner Range Rover. Auf so einen hatte er gewartet. Und dieser hatte ein Bonner Kennzeichen. Es war Sauters Wagen.

Der Moment war gekommen, in den Wald aufzubrechen. Wo er Sauter finden würde. Er hatte alles gut vorbereitet. Die Jagd konnte beginnen.

***

Gernot Peters saß daheim in seinem kleinen Einfamilienhaus in Mayen-Kürrenberg vor dem Fernseher, als sein Telefon ging. Er dachte sofort an Sauter. Üblicherweise rief der kurz vor Erreichen seiner Jagdhütte noch einmal bei ihm an.

Es war tatsächlich sein Jagdherr, der sich danach erkundigte, ob im Revier alles in Ordnung sei und ob die Kirrung Futter habe.

»Es ist alles vorbereitet, Herr Sauter«, sagte Peters mit ein klein wenig Nervosität. Weil er großen Respekt vor Sauters Autorität hatte und immer ein wenig fürchtete, er könnte einmal einen Fehler machen, der ihm den Groll seines Jagdherrn einbringen würde.

»Die Sauen waren auch schon ein paarmal auf der Lichtung. Die Chancen stehen also ganz gut.« Er wünschte Sauter »Waidmanns Heil«, was dieser mit dem üblichen »Waidmanns Heil« quittierte.

Peters legte auf und lehnte sich für einen Moment in seinem Sessel zurück. Er sah den Wald vor sich und den Hochsitz, den er damals im ersten gemeinsamen Jahr in Sauters Auftrag gebaut hatte. Die Kanzel stand am Rand eines Fichtenwäldchens, am tiefsten Punkt und südlichen Ende einer Lichtung. An einem gut gewählten Platz. Er erinnerte sich noch an das Gespräch mit Sauter darüber, wo die sinnvollste Stelle für die Errichtung sein mochte. Er hatte sich schnell Sauters Meinung angeschlossen. Es gab einfach keine bessere Position. Ein Schütze konnte von dieser Kanzel aus den leicht ansteigenden Hang gut einsehen und hatte ein optimales Schussfeld, wenn sich Wild auf der Freifläche befand.

Um in dieser Hinsicht nicht alles nur dem Zufall zu überlassen, hatte Sauter ihn zudem beauftragt, auf der Lichtung einen Wildacker mit ganz bestimmten Pflanzen anzulegen. Also hatte er für das Rotwild einen größeren Anteil Weidelgras, außerdem Buchweizen, Fenchel, Rot- und Schwedenklee angebaut. Für die Sauen kamen noch Furchenkohl, Schwarzhafer, Erbsen, Topinambur und Sonnenblumen hinzu. Und das hatte sich bewährt. Wie Sauter es vorausgesehen hatte.

Aber jetzt im Winter wuchs dort natürlich nichts. Und so hatte er am Rand der Lichtung eine Futtertrommel und eine Kiste mit Mais aufgestellt. Die Trommel stand vom Hochsitz aus rechts, fast schon unter den nahen Buchen, und erinnerte an einen großen Nistkasten. Aus dem circa einen halben Meter hohen, runden Kunststoffgehäuse rieselte der eingefüllte Mais durch zahlreiche Löcher heraus, sobald die Trommel von den Schweinen umgestoßen und bewegt wurde.

Den Deckel der stabilen Holzkiste daneben konnten die starken Tiere ohne Mühe wegstoßen, obwohl er mit einem schweren Stein gegen andere Interessenten gesichert war. Beide Behältnisse befüllte er regelmäßig mit Mais, und zu seiner Zufriedenheit waren die Tiere immer wieder gekommen.

Ja, es war alles gut vorbereitet. Peters atmete noch einmal erleichtert durch und konzentrierte sich mit mehr Ruhe als zuvor wieder auf das Fernsehprogramm.

***

Er war sich sicher, dass es der richtige Ort für die Falle war. Der Pfad zum Hochsitz in der Fichtendickung war bewusst so angelegt worden, dass er möglichst keine neugierigen Spaziergänger anlockte. Er verengte sich an einer Stelle so sehr, dass sich die Zweige der jungen Fichten auf beiden Seiten des Weges in der Mitte berührten. Sie beeinträchtigten auf etwa fünfzehn Metern Strecke die Sicht auf den Boden. Das war der ideale Platz für sein Vorhaben: Hier konnte er die Schlinge auslegen. Wer nicht mit einer Falle rechnete, würde sie erst bemerken, wenn es zu spät war. Und Sauter würde ganz sicher nicht damit rechnen, hier im Wald – in »seinem« Wald– in Gefahr zu sein.

Es war keine tödliche Falle. Die Schlinge diente nur dazu, ihn zu fangen. Es funktionierte bei Rehen, Rotwild und Wildschweinen. Es würde auch bei ihm funktionieren.

Lange hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie er Sauter am besten überwältigen könnte. Er hatte sich für eine ungewöhnliche Methode entschieden: eine Jagdmethode. Genau das Richtige, um Sauter einen unerträglichen Schock einzujagen. Schon vor der eigentlichen Bestrafung.

Er hatte alles über Fallen gelesen und gelernt, wie man Wild lebend fangen oder sofort töten konnte. Jahrelang hatte er gewartet und sich auf diesen Moment vorbereitet. Nichts hatte er dem Zufall überlassen. Jetzt war es an der Zeit, sein Wissen anzuwenden und Schritt für Schritt den Plan umzusetzen, präzise und konsequent. Um sein Opfer zur Strecke zu bringen. Nur dass diesmal der Jäger der Gejagte war. Sauter sollte fühlen, was es bedeutete, selbst Beute zu sein.

Er prüfte noch einmal den Lauf des Seiles von der Schlinge bis zum Baum. Dann das Seil, das er zu durchtrennen hatte. Den grünen Schlafsack hatte er bereitgelegt, die Injektionsspritzen mit dem Betäubungsmittel befanden sich in der rechten Brusttasche seines wattierten Tarnanzuges.

Das extralange Seil, das von den Fichten am Hochsitz bis zu den Buchen an der Kirrung reichen musste, lag unter einer Fichte verborgen in der Nähe. Das Befestigen einer Last an einem achtzig Meter langen Seil hatte er immer wieder geübt. Ebenso wie alles andere, was er monatelang abgewogen, in Gedanken durchgespielt und in der Praxis erprobt hatte.

Nur eine einzige Sache war nicht mit Sicherheit vorhersehbar: ob die Wildschweine kommen würden. Er konnte nicht erzwingen, dass sie zur rechten Zeit an der Stelle erschienen, wo es geschehen sollte. Aber auch für den Fall, dass sie sich nicht so verhielten, wie er hoffte, war er gerüstet. Er würde dieses ganz spezielle Werkzeug verwenden, damit es echt wirkte.

Ein erster Anflug von Euphorie durchströmte ihn. Aber er ermahnte sich im Stillen, diese Freude nicht zu früh zuzulassen. Es würde seine Konzentration lähmen, wenn er sich zu früh seiner Sache sicher wähnte. Er musste ruhig bleiben. Immerhin hatte er alles Notwendige getan, hatte sich mit allem vertraut gemacht, was es zu wissen gab über die Natur, den Wald, die Tiere, das Spurenlesen und darüber, die eigenen Spuren zu verwischen. Über die Jagd– und über das Töten. Er kannte diesen Wald und fühlte sich sicher. Es war »sein« Wald. Nicht Sauters. Er kannte alle Wege, alle Felsen und Täler, die Bachläufe, die Dickichte, in denen die Wildschweine ruhten, die Schlammsuhlen und die Wildwechsel, auf denen das Rotwild die Berge durchquerte. Rotwild mochte er besonders. Vor allem die stolzen Hirsche. Aber er mochte auch die Schweine. Sie waren gut für den Wald. Sie wühlten die Schädlinge aus dem Boden und fraßen sie.

Der Wald war wunderbar. Er hatte ein paar Lieblingsbäume: an einem Steilhang eine verwachsene Buche, wie aus einem Trollmärchen. Und oben, auf fast sechshundert Metern, eine besonders schöne, starke Fichte. Unten am Nitzbach eine Schwarzerle, die sich besonders ausladend und kühn über das Wasser neigte.

Am meisten aber liebte er die Felsspitze, beinah hundert Meter über der Nitz. Dort hatte man einen phantastischen Blick über das Tal. Unten in der Tiefe mäandrierte der Bach. Und aus dem Talgrund stiegen steil die bewaldeten Hänge empor, manchmal unterbrochen von offenen Stellen mit schroffem Fels. Das war sein Lieblingsplatz zu jeder Jahreszeit. Aber vor allem, wenn der Frühling begann, sein frisches Grün über die steilen Hänge zu gießen.

Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er im Dickicht an der Lichtung wartete. Bilder voller Ruhe und Frieden. Während er darauf wartete, zu fangen und zu töten. Aber das machte ihm nichts. Es war getrennt voneinander. Die alten Berge und die alte Schuld befanden sich nicht im selben Kosmos. Noch war er hier, im Idyll des Waldes. Aber bald würde er in den Kosmos der Rache überwechseln.

Er sah auf seine Uhr und schaute sich um. Sauter würde bald kommen. Eine Stunde vor der Dämmerung, vielleicht etwas später. Aber zumindest eine Stunde früher als die Sauen. Um sie nicht zu vertreiben.

Die Tiere hatten die Futterstelle zuletzt beinahe jeden Tag aufgesucht. Er hatte es an den Spuren gesehen. Sie liebten den Mais. Sauter gab ihnen großzügig davon. Denn ein Jäger, der kein solches Futter auslegte, durfte sich nicht wundern, wenn die Tiere in ein Nachbarrevier wechselten. Zu einer anderen Futterstelle.

Reviergrenzen, dachte er spöttisch, waren etwas für Bürokraten. Wildschweine hatten andere Maßstäbe. Ihre Revierpläne entstanden im Bauch. Mit dem Hunger als Kompass. Und der führte sie direkt hierher. Aber ob sie nun kamen oder nicht: Sauter würde seiner Strafe nicht länger entgehen. Und wenn es geschehen war, würde er etwas mehr Frieden haben. Unvollständigen Frieden, denn er war nur einer von vieren. Aber es war ein Anfang.

***

Hauptkommissar Jan Wärmland stand am Fenster seines Büros im ersten Stock der Mayener Kriminalinspektion und schaute zum Himmel. Die große Wolkenfront, die der Wetterbericht von SWR1 angekündigt hatte, war tatsächlich aufgezogen und bewegte sich langsam von Ost nach West. Wie ein riesiges graues Ufo, das langsam heranschwebte, als suche es nach einem geeigneten Landeplatz.

Wärmland hatte ein gewisses Gespür für Naturphänomene. Und er wusste: Wenn eine so gewaltige Wolkenfront an einem Abend wie diesem vor die untergehende Sonne zog, konnte das ein wunderbares Farbspiel werden.

Er zögerte noch eine Augenblick. Dann entschloss er sich zum Aufbruch. Es war nicht sicher, aber Wärmland vertraute auf sein Glück. Nachdem er sich Jacke, Schal und Mütze angezogen hatte, verließ er sein Büro und ging über den Flur zum Büro seiner Vorgesetzten.

Kriminaloberrätin Ruth Melchior saß an ihrem Schreibtisch in Unterlagen vertieft, als Wärmland eintrat, um sich abzumelden.

»Ich fahr raus zur Hohen Acht.«

»Aber es wird doch schon bald dunkel«, sagte sie erstaunt.

»Das ist es ja gerade«, erwiderte Wärmland, vielsagend lächelnd, und verabschiedete sich.

Als er seinen alten Landrover bestieg und losfuhr, hoffte er nur, er würde noch rechtzeitig ankommen.

***

Sauter bog am Sportplatz der Gemeinde Virneburg in einen Waldweg ein und folgte ihm etwa fünfhundert Meter, bis links ein kleiner Weg abzweigte. Nach weiteren zweihundert Metern war Sauter an seinem Ziel angekommen.

Die »Jagdhütte«, wie er sein Jagddomizil verniedlichend nannte, war alles andere als eine Hütte. Er hatte aus dem ehemaligen kleinen Forsthaus aus den fünfziger Jahren durch einige Umbauten und Erweiterungen ein großzügiges Einfamilienhaus gemacht. Hätten Förster Kling und dessen Frau schon damals beim Erstbezug so viel Platz gehabt, hätten sie sich statt ihrer drei Kinder wahrscheinlich zwölf zugelegt. Aber Sauter hatte auch ohne Kinder keinerlei Mühe gehabt, die sechs Zimmer mit insgesamt hundertzweiundsechzig Quadratmetern einzurichten und einer Bestimmung zuzuführen. Im Obergeschoss hatte er unter dem spitzgiebeligen Dach drei Gästezimmer eingerichtet. Natürlich mit Bad. Für den Fall, dass er einmal Jagdgäste hatte. Was nicht häufig vorkam.

Seine Jagdfreunde Grässnik, Traveloe und Behrend waren nur selten zu Gast. Traveloe und Behrend besaßen eigene Reviere und eigene Hütten. Einzig Grässnik genoss eine Sonderstellung: Er hatte kein eigenes Revier und durfte in Sauters Revier jagen und dessen Jagdhaus mitbenutzen. Sauter bekam allerdings auch ihn kaum noch zu Gesicht. Grässnik hatte keine echte Beziehung zur Eifel, sondern bevorzugte die exotischere Jagd auf anderen Kontinenten.

Die Hütte war seinerzeit, was ungewöhnlich war, im finnischen Stil aus massiven Blockbohlen errichtet worden. Ebenso zwei kleinere Nebengebäude auf der Westseite des Hofes. Sie dienten der kurzzeitigen Verwahrung des erlegten Wildes und zur Unterbringung von Material, Geräten und Brennholz. Sauter hatte das Ganze 1991 im Originalzustand übernommen. Dann hatte er es mittels seines unnachahmlichen Charmes verstanden, die zuständige Behörde davon zu überzeugen, dass ein Ausbau zwingend notwendig war.

Sauter parkte den Wagen unmittelbar vor der Tür und ging ins Haus. Er fand den Wohnraum wohlig beheizt vor und zog in seinem Schlafraum die Thermounterwäsche unter seine Jagdkleidung. Dann schnürte er den gut isolierten Ansitzsack auf seinem Rucksack fest. Dieses einem Schlafsack ähnliche Ausrüstungsteil war besonders wichtig bei Minustemperaturen. Darin hatte Sauter unter der Verwendung sogenannter kleiner »Taschenöfen« schon stundenlang ohne Auskühlung angesessen.

Gegen die Kälte war er ohnehin bestens gefeit. Seine Herbst- und Winterjagden auf Elche und Riesenbraunbären in Kanada, Alaska und auf Kamtschatka hatten ihn gelehrt, wie man als stiller Jäger mit bester Kleidung und Ausrüstung der Kälte trotzen konnte. In einer Vollmondnacht hatte er es einmal bei minus vierundzwanzig Grad ohne Probleme auf sechseinhalb Stunden gebracht.

Er stieg wieder in den Wagen, fuhr zum Hauptweg und bog nach links in Richtung Norden ab. Er folgte dem Weg, der bis nach St.Jost ins Nitztal hinabführte, etwa einen Kilometer. Der verschneite Waldweg, den er im Anschluss daran befuhr, war keine Herausforderung für seinen Range Rover. Sauter parkte den Wagen rechts vor der Metallschranke an einem Wegabzweig.

Er nahm zunächst den Rucksack aus dem Kofferraum, in dem sich auch das zweitausend Euro teure 8mal56Leica Fernglas mit integriertem Entfernungsmesser befand. Dann griff er nach dem Futteral mit seinem Gewehr. Es war eine als besonders edel geltende Scheiring-Doppelbüchse mit dem berühmten englischen Holland & Holland System, die er für die Jagd auf Schwarzwild bevorzugte. Eine besonders ausgewogene Waffe, hervorragend verarbeitet, mit einem starken Kaliber von 9,3mal62.

Sauter legte bei Waffen größten Wert auf Präzision und ausgefeilte, robuste und zuverlässige Technik. Er hatte für dieses Gewehr stolze einhundertsechstausend Euro bezahlt. Und für das aufmontierte Zeiss Diavari Zielfernrohr mit eingeblendetem rotem Punkt als Trefferanzeige auch mehr als zweitausend Euro. Alles gemäß der Devise: Der Beste jagt mit dem Besten. Und der Beste zu sein, war für Sauter eine Frage der Reputation– als erfolgreicher Geschäftsmann und als Mann von Welt. Was er auch gern mit dem Spruch »Wer nach dem Preis fragen muss, kann es sich schon nicht leisten« zu illustrieren pflegte.

Zum Schluss packte Sauter noch den Colt 357Magnum und sein Jagdmesser in den Rucksack. Dann schaute er auf die Uhr. Manchmal kamen die Sauen schon zu Beginn der Dämmerung zwischen sechzehn Uhr dreißig und siebzehn Uhr. Jetzt war es fünfzehn Uhr fünfundzwanzig– und er hatte nur noch zweihundert Meter Weg bis zur Lichtung. Das würde genügen, um seine Position im Hochsitz einzunehmen, ohne die Annäherung der Tiere zu stören.

Er blickte zum Himmel. Der Westrand der angekündigten Wolkenfront verlief nun scheinbar genau über seinem Revier. Es würde heute Nacht noch schneien. Sauter war in bester Stimmung. Er hatte bisher keine frischen Spuren von Spaziergängern gesehen, und jetzt würde vermutlich auch niemand mehr durch den Wald laufen und seine Jagd stören.

Sauter spürte die zunehmende innere Spannung. Er liebte dieses Gefühl. Dieses über Hunderte von Generationen vererbte Gefühl, das ihn noch mit den Urahnen verband. Ein solches Gefühl konnte einem nur die Jagd geben. Man müsste noch die Nase eines Wolfes haben, dachte er. Um das Wild riechen zu können, lange bevor man es sah.

Er verschloss das Auto und machte sich auf den Weg. Es war nur noch ein kurzer Fußmarsch.

***

Als er das leise knirschende Geräusch der Schritte im Schnee vom Weg her hörte, wusste er, dass der Moment gekommen war. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen: In Kürze würde sich endlich erfüllen, woran er jahrelang unentwegt gedacht hatte. Sein angestauter Hass würde ein Ventil, eine Form des Ausdrucks, eine erste Linderung erhalten.

Die Schritte kamen näher und wurden lauter. Dann veränderte sich ihr Klang, als Sauter den Waldweg verließ und am Beginn der Lichtung abwärtsging. Hin zu den Fichten, die um den Hochsitz standen. Jetzt waren es nur noch Sekunden.

***

Sauter blieb stehen, als er die Lichtung erreichte. Er lauschte einen Moment in den Wald hinein. Zunächst schien es ihm so, als wäre da nur Stille. Kein Straßenlärm, kein Fluglärm. Nichts. Dann erklang aus Nordost der Ruf eines Schwarzspechts. Und ganz nah folgte das leise Wispern eines winzigen Goldhähnchens in einer Fichte am Wegrand. Aber sonst war es ganz ruhig.

Er schaute zum Hochsitz, der nur ein wenig aus den jungen Fichten am Rand der Lichtung herausragte. In ein paar Minuten würde er dort oben sitzen, und der Wald würde wieder still und ungestört sein.

Er stapfte auf die Fichtendickung zu, am Lichtungsrand entlang. Zwanzig Meter ging es leicht abwärts. Danach musste er zwischen den kleinen Fichten weitergehen, um auf die Rückseite der Kanzel zur Leiter zu gelangen. Vorn waren es ein paar kleine Bäumchen im Weihnachtsbaumformat zwischen einem Meter fünfzig und zwei Metern. Dahinter standen Bäume mit bis zu zehn Meter Höhe. Zwischen den beiden größten Bäumen war die Kanzel errichtet worden. Peters hatte gute Arbeit geleistet. Sechs Meter über dem Boden befand sich die stabile, wetterfeste Kabine, von der man die ganze Lichtung gut einsehen konnte.

Sauter erreichte die Stelle, an der schmal und unauffällig der Pfad durch die Fichten zum Hochsitz begann. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Er blieb einen Moment stehen und sah sich um. Ein leiser Anflug von Unruhe bemächtigte sich seiner. Aber wer sollte hier sein, hier oben, bei Schnee und Eis und Kälte?

Mit einem leichten Kopfschütteln trat er ins Fichtendickicht. Er würde Peters anweisen, den Weg zur Kanzel etwas mehr frei zu schneiden. Denn die mit Schnee beladenen Zweige waren hinderlich beim Durchkommen. Sie streiften seine Jacke und die Hosenbeine und schnellten nach hinten.

Im gleichen Augenblick, in dem Sauter den Hochsitz vor sich erblickte, fühlte er einen Widerstand an den Oberschenkeln. Er schaute nach unten auf die vermeintliche Brombeerranke, in der er sich verhakt hatte.

Aber es war keine Brombeere. Es war nicht mal eine Pflanze. Er sah ein Stück Drahtseil als Teil der Schlinge, in die er hineingelaufen war. Die wie ein übergroßer Hula-Hoop-Reifen schräg zwischen den tieferen Zweigen gehangen hatte.

Dann hörte er das Geräusch. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm bewusst, was es zu bedeuten hatte. Aber es war schon zu spät. Die Schlinge zog sich blitzschnell zu, rutschte dabei ein wenig tiefer und schloss sich fest um seine Unterschenkel, gerade oberhalb der Waden. Er wurde mit unnachgiebiger Macht von den Beinen gerissen und seitlich in die Fichtendickung geschleift.

Sauter hielt mit der Rechten verkrampft den Gewehrriemen, um seine Waffe nicht zu verlieren. Mit dem linken Arm ruderte er wild herum, konnte sich aber nirgends festhalten. Er spürte nicht die Prellung an der linken Schulter und nicht die Kratzer von den Ästen und den Steinen, über die er gezerrt wurde. Er war voller Adrenalin. Dann lag er still da. Eine Sekunde lang. Eine Sekunde, in der er dachte: So fühlt sich eine Antilope, wenn ein Löwe sie gepackt hat und sie noch lebend fortschleift.

Er spürte keinen Schmerz. Aber ihn durchdrang augenblicklich die Gewissheit, dass es um alles ging– um sein Leben. Er war überrumpelt worden. Das hier war kein Scherz. Keine Idee übermütiger Jugendlicher aus dem nächsten Dorf, ausgedacht, um Wild zu fangen. Er selbst war gemeint, niemand sonst. Dessen war er sich am Ende dieser längsten Sekunde seines Lebens sicher. Und dann packte ihn eine grenzenlose Angst. Weil er sich ausgeliefert und hilflos fühlte. Weil es vielleicht schon zu spät war.

Er wollte sich aufrichten und seine Waffe in Anschlag bringen. Doch als seine Rechte den Schaft des Gewehres umfasste und er den Oberkörper anheben wollte, sah er aus dem Augenwinkel bereits die Bewegung.

Sauter fluchte. Im nächsten Moment spürte er, wie eine Decke über seinen Kopf geworfen wurde, und es wurde dunkel um ihn. Alles ging sehr schnell. Noch ehe er mit seiner freien Hand den Stoff zur Seite schieben konnte, spürte er einen stechenden Schmerz, als ein Stiefel auf die Hand trat, die das Gewehr hielt. Er stöhnte auf, ließ das Gewehr los und zog den Arm zum Körper. Im selben Moment knieten auch schon zwei Beine auf seinen Oberarmen, und das Gewicht eines erwachsenen Mannes drückte auf seinen Bauch und seinen Brustkorb. Die Decke über seinem Kopf wurde etwas hochgeschoben. Sauter wollte eine Frage brüllen, doch nach »Was soll…« verschloss ein Streifen Klebeband seinen Mund. Dann spürte er den Einstich im linken oberen Schultermuskel. Und das Brennen, als die Flüssigkeit in seinen Körper drang.

Eine kalte Stimme raunte ihm keuchend und voller Hass ins Ohr: »Sie werden zu dir kommen. Du wirst noch leben, wenn es so weit ist. Und wenn die Sauen dich nicht fressen, dann werde ich es tun.« Die Stimme wurde zu einem bösen Flüstern: »Wie fühlt es sich an, Sauter? Jetzt, wo du weißt, dass du keine Chance mehr hast? Ich hoffe, deine Angst brennt in dir wie ein Höllenfeuer. Viele lange Minuten. Bis die Sauen kommen!«

Sauters Gedanken wirbelten in Panik durcheinander. Meinte der das ernst? Aber was, um Himmels willen, wollte dieser Verrückte von ihm? Und warum sollten die Sauen über ihn herfallen? Wie konnte das alles nur geschehen? Und warum? WARUM?

Die Lähmung setzte ein. Die Kraft wich aus seinem Körper. Dann dachte er nur noch diese eine Frage, immer wieder: Warum? Er spürte, wie ihn sein Bewusstsein verließ. Es war zu spät für Fragen.

Die Antilope wusste nichts über die Gründe, weshalb der Löwe sie tötete. Sie wusste nichts vom Hunger des Raubtiers nach Fleisch. Denn sie kannte nur den Geschmack von Gras. Das sanfte, weiche Gras in der Savanne, auf das man sich legen konnte. Auf dem man tiefen Schlaf fand. Und das, was danach kam.

***

Jan Wärmland eilte durch den höchstgelegenen Wald der Eifel und hatte sein Ziel klar vor Augen. Er wollte den Bismarckturm erreichen, der die Hohe Acht krönte, den höchsten Berg der Eifel. Er hoffte, von dort oben den bald anstehenden Sonnenuntergang in seiner ganzen Intensität erleben zu können.

Zum Schutz vor der Kälte hatte er seine dunkelblaue Wollmütze weit über Stirn und Ohren gezogen. Sein Atem stieß kleine weiße Wolken in die eiskalte Luft, und bei jedem Schritt barst der gefrorene Schnee knirschend unter seinen Stiefeln. Die Geräusche seiner Schritte und sein keuchender Atem verbanden sich in einem monotonen Rhythmus.

Wärmland ging weiter westwärts, in der Hoffnung, noch rechtzeitig auf dem Turm zu sein. Denn von Osten her hatte sich das riesige graue Wolkenfeld fast schon bis zur untergehenden Sonne vorgeschoben. Möglicherweise würde es sie bald verdecken, noch bevor sie hinter dem Horizont versank. Er musste sich beeilen. Vielleicht war er doch zu spät aufgebrochen.

Vor knapp einem Jahr war Wärmland von Mainz zurück nach Mayen gezogen und hatte in der hiesigen Kriminalinspektion als Erster Hauptkommissar seinen Dienst aufgenommen. In Mainz hatte er die Mordkommission geleitet. Hier aber war er nun Leiter des Kommissariates1, das zuständig war für Todesermittlungen, Brände und Vermisste. Für Morde in der Region Mayen war das Polizeipräsidium in Koblenz zuständig.

Viele Mainzer Kollegen hatte seine Entscheidung überrascht. Es galt nicht gerade als Aufstieg, aus der Landeshauptstadt in eine kleine Provinzstadt zu wechseln. Aber Wärmlands Frau war nach der Scheidung zurück zu ihren Eltern nach Koblenz gezogen. Die so entstandene räumliche Trennung von seinem jetzt elfjährigen Sohn Stefan hatte Wärmland als unerträglich empfunden. Und der Dienstposten in Mayen hatte sich für ihn als akzeptable Alternative angeboten. Dadurch hatte er die hundertzehn Kilometer bis zur Koblenzer Südstadt auf unter vierzig reduzieren können. Jetzt war es von Wärmlands Zweizimmerwohnung in Mayen-Süd nur noch eine halbe Stunde Fahrtzeit.

Wärmland ging jetzt noch schneller, ohne nach rechts oder links zu schauen. Beinahe als habe er Angst, im fahlen Licht zwischen den Stämmen etwas Beunruhigendes, einen Dämon oder ein wildes Tier zu erblicken. Denn der Wald zu beiden Seiten des Weges stand schon düster auf dieser östlichen, von der Sonne abgewandten Seite des Berges.

Er hoffte nur, dass er alle Faktoren richtig eingeschätzt hatte und die Voraussetzungen für einen besonderen Abendhimmel tatsächlich vorlagen. Wenn die Wolkendecke im richtigen Winkel zur untergehenden Sonne stand, färbte das späte, schräg einfallende langwellige Licht die Wolkenunterseiten rot. Aber nur wenige Tage im Jahr endeten tatsächlich auf derart spektakuläre Weise hinter einem purpurnen Vorhang. Heute konnte ein solcher Tag sein.

Auf der Fahrt hierher hatte er sich gefragt, ob er ein sentimentaler Idiot oder doch ein akzeptabler Romantiker war. Und sich für Letzteres entschieden. Warum auch nicht? Eine weiche Seite war in Ordnung, wenn man einen Job hatte wie er. Wenn man tat, was er tat. Er musste ja nicht in die Welt hinausposaunen, wie sehr ihn solche Naturphänomene anrührten. Und romantisch sein tat schließlich niemandem weh. Außer manchmal dem Romantiker selbst.

Keuchend hielt er einen kurzen Moment inne und wandte sich um. Durch die weit auseinanderstehenden Buchenstämme hindurch konnte er das Land und die Wälder ringsum betrachten. Sie lagen wie in dunkelgrünen Wellen ausgegossen. Beinahe alles war schon von grauen Schatten überzogen, nur noch wenige Bergspitzen ragten ins letzte Sonnenlicht.

Er fröstelte. Und fluchte unhörbar in sich hinein. Weil er in den vergangenen Jahren den Sport sträflich vernachlässigt hatte. Was er jetzt unerbittlich zu spüren bekam. Er hatte das Gefühl, seit dem Verlassen seines Wagens zehn Kilogramm zugenommen zu haben. Dabei hatte er das steilste Stück noch vor sich. Und ein paar Minuten würde er noch brauchen bis hinauf auf den Gipfel.

Als er sich wieder nach vorn wandte, blieb sein Blick an den dunklen Umrissen eines Bären hängen. Der stand unbeweglich, vielleicht neunzig Meter entfernt, im fahlen Licht zwischen den Bäumen und lauerte. Unwillkürlich fasste Wärmland nach seiner Waffe, bis er gleich darauf seinen Irrtum bemerkte.

Es war der Wurzelteller einer umgestürzten Fichte, der ihn eine Sekunde lang auf die Probe gestellt hatte. Er ärgerte sich. Sechsundvierzig Jahre alt und immer noch diese uralten Ängste. Die Verschwörung des Höhlenmenschen und des Kindes gegen den erwachsenen Mann. Verdammt noch mal, wie alt musste er denn noch werden, um sich solch unbewusster Mechanismen zu erwehren?

Während er weiterstapfte, erinnerte er sich an die phantastischen russischen Naturfilme seiner Kindheit. Bären und Wölfe. Tolle Nahaufnahmen. Vor allem die mit den gefletschten Zähnen. Wie viele Kinder mochten damals wohl wie er abends in ihren Zimmern Sessel und Stühle schützend vors Bett gestellt haben?

Die Amerikaner hatten russische Waffen für ein Problem gehalten. Aber die waren nichts gegen den Psychoterror russischer Naturfilme im Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens gewesen. Sie hatten alle Barrieren immer wieder überwunden und waren in seine Träume gesprungen. Eine halbe Ewigkeit war das her. Und trotzdem. Etwas davon war immer noch in seinem Blut.

Heute würde er es nicht mehr Angst nennen. Das wäre nicht angebracht. Nicht für einen wie ihn. Heute nannte er es Unwohlsein. Oder besser: ein dumpfes Gefühl des Unbehagens. Nicht mehr. Schließlich war er längst ein erwachsener Mann. Mit einem Job, den bestimmt nicht jeder machen konnte. Er war zwar nur mittelgroß mit eins neunundsiebzig. Aber es gab da ja auch noch seine Waffe. Die er fast immer bei sich trug.

Hätte er die doch damals schon gehabt. In seinen Träumen. In all diesen Nächten. Aber seine Eltern hätten die Löcher in der Tapete nicht gemocht. Und seine Waffe konnte tiefe Löcher machen. Auch in Menschen.

Ebenso wenig hätten sie den Lärm gemocht. Seine Waffe war unerträglich laut in geschlossenen Räumen. Das hatte er schon erlebt. Aber man konnte eine Waffe im Bösen oder im Guten einsetzen. Und seine Waffe gab ihm Sicherheit.

***

Die Rotte zog langsam aus dem dichten Unterholz der Ginsterbestände oben am Denskopfhang abwärts nach Süden. Die Führungsbache kannte die Lichtungen und Wildäcker der Region und alle Futterstellen. Aber sie hatte keine Erinnerung an die Schüsse und den Tod, der an diesen Stellen oft gelauert hatte. Wildschweine können nicht zählen. Sie leben im Hier und Jetzt und wissen nur instinktiv, dass der Geruch des Menschen mit Gefahr verbunden ist.

Der Winter hatte bisher wenig Schnee, aber viel Frost gebracht. Es war eine harte Zeit, in der sich der gefrorene Boden nicht leicht umwühlen ließ, um an die in der Tiefe verborgenen Schnecken, Würmer, Käfer oder Larven zu gelangen. Da war es gut zu wissen, wo Futter auslag. Wo der begehrte Mais zu finden war.

In diesem Jahr hatte die Rotte noch kein Tier durch die Jagd verloren. Obwohl die Futterplätze bereits seit einiger Zeit beschickt worden waren. Aber das war nur die Vorbereitung gewesen. So wurden die Tiere mit diesen Plätzen vertraut gemacht.

Doch die Führungsbache kannte die Überlegungen der Jäger nicht. Ihr ging es immer nur um das eine: um Sicherheit und ausreichend Nahrung für die Rotte. Und heute würde die kleine Lichtung am Südhang des Denskopfs sicher wieder bequeme Nahrung bieten.

Siebzehn Tiere zählte ihre Rotte, allein sieben davon waren Frischlinge vom vergangenen Sommer, fünf weitere waren Jungtiere vom Jahr davor. Zwei junge Bachen, die selbst noch nicht geworfen hatten, sowie drei ältere, ausgewachsene Bachen machten die Rotte komplett. Die Führungsbache war wie üblich das älteste und erfahrenste weibliche Tier.

Immer wieder witternd, führte sie die Rotte zur etwa einen halben Hektar großen Lichtung. Die Futterstelle mit der Maiskiste und der Futtertrommel befand sich auf der gegenüberliegenden Hangseite.

Die Tiere näherten sich in einer Kette von Westen, dem Wind entgegen. Wildschweine nähern sich ihrem Ziel immer gegen den Wind. So können sie verdächtige Gerüche wahrnehmen, die von der Futterstelle ausgehen. Aber hier gab es nichts Verdächtiges.

Die Bache hörte auch kurz vor dem Ziel nicht auf, den Kopf zu heben, um die Luft auf verräterische Botschaften hin zu prüfen. Im Bereich der Futterkiste konnte sie einen abgeschwächten Geruch von Mensch wahrnehmen. Er stammte wohl von dem, der das Futter gebracht hatte. Das war akzeptabel. Menschengeruch war nichts Ungewöhnliches für die Schweine. Sie begegneten ihm immer wieder im Jahresverlauf: an den Waldwegen oder auf den Feldern, wenn sie sich an Getreide oder Mais gütlich taten. Ein Rest Menschengeruch war ungefährlich. Nur der frische, scharfe Geruch eines Menschen in der Nähe war nicht in Ordnung. Danach suchte die alte Bache. Und die anderen erwachsenen Tiere taten es ihr gelegentlich nach.

Nach einer kurzen Phase der Nervosität legte sich die Unruhe der Tiere. Sie beschäftigten sich mit den Maisbehältern.

Der Stein auf der Kiste wurde ebenso wie die Kistendeckel mühelos zur Seite gestoßen. Das Fressen konnte beginnen. Die alte Bache blieb wachsam. Sie konnte zwar keinen warnenden Geruch aufnehmen. Aber irgendetwas ließ sie nicht völlig zur Ruhe kommen. Ihre schlechten Augen konnten ihr nicht helfen, denn Sehen ist nicht die stärkste Sinnesleistung bei Wildschweinen.

Einige Minuten vergingen, in denen die Bache immer wieder ihre Rotte umrundete, auf der Suche nach verdächtigen Signalen. Sie konnte nichts finden, was ihre Anspannung rechtfertigte. Obwohl die Gefahr so nah war. Bis sie ein schwaches Geräusch eher ahnte als hörte: Es war das Geräusch, das entstand, als ein scharfes Messer in etwa siebzig Metern Entfernung ein Seil durchtrennte. Sie hob alarmiert den Kopf, und die älteren Tiere taten es ihr gleich. Ihre massigen Körper spannten sich, um loszupreschen. Aber da stürzte schon der Feind von oben auf sie herab.

***

Die Sonne war dabei, ihre letzten Strahlenbündel für die Westseite des Berges abzuzählen. Der Pfad bog am Fuß des obersten Vulkankegels auf siebenhundert Metern Höhe nach links ab und führte nun steiler empor. Heftig keuchend stieg er weiter bergan, während ihn die letzten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen zu suchen schienen.

Endlich stand er oben auf dem Turm und schaute erwartungsvoll nach Westen, wo die Sonne gerade versunken war. Wie von Sonne und Licht angezogen, hatte sich das Wolkenfeld beinahe gänzlich bis zum westlichen Horizont vorgeschoben. Die Wolkenränder glühten gelb. Dann folgte eine kleine orangefarbene Phase, die in einen rosaroten Schimmer überging. Das war ein gutes Zeichen. Darauf hatte er gehofft.

Allmählich breitete sich der rosarote Schimmer immer weiter nach Osten aus. Auf die Hohe Acht zu, an deren höchstem Punkt er stand. Das Rot wurde immer intensiver. Das Licht modellierte jetzt die Wolken in ausgefransten grauen und roten Streifen. Wobei das Rot immer mehr überwog. Er schaute steil nach oben. Die Färbung hatte auch den Himmel direkt über dem Berg erreicht und streckte sich noch weiter nach Osten, der Nacht entgegen.

Es hatte sich wirklich gelohnt. Es war sogar noch schöner, als er erwartet hatte. Für einen Augenblick strömte ein Glücksgefühl durch seinen Körper. So, als sei er selbst ein kleiner, aber wesentlicher Bestandteil dieser Inszenierung. Dann dachte er daran, dass man es Kitsch nannte, wenn ein Maler so etwas malte. Aber hier draußen war es echt. Es war grandios. Und es berührte ihn tief. Warum auch nicht? Vielleicht waren seine Gene nur etwas wacher als die anderer Menschen, die solche Naturschauspiele nicht zu schätzen wussten. Erinnerten sich an Vorzeiten, in denen seine Vorfahren wie alle Urvölker andächtig gen Himmel geschaut hatten. Im Staunen über die Phänomene, die Sonne und Wolken am Himmel zu erzeugen vermochten.

Er galt als harter Kerl. Aber jetzt war er ganz offen für diese sanfte Stimmung und sog das Bild geradezu in sich auf. Um es mit sich zu tragen und aufzubewahren. Zusammen mit seinen anderen schönen Erinnerungen.

Die Wettervorhersage hatte angekündigt, dass es wolkig und trüb werden und wieder schneien würde. Umso kostbarer war ihm dieser Augenblick des Lichts. Bevor die düsteren Tage zurückkehrten.

Er schaute sich um. Der Berg trug die dunkelgrünen Wälder zu allen Seiten kilometerweit wie eine schwere dunkle Schleppe. Nach den vergangenen Sonnentagen waren die Baumwipfel beinahe wieder frei von Schnee. Nur auf der Erde hatte die Kälte das Weiß halten können.

Das Rot der Wolken wechselte allmählich ins Violett. Wie wunderbar das war. Die Intensität der Farben war überwältigend.

Nach einigen Minuten aber hatten nur noch die unteren Wolkenspitzen diesen violetten Schimmer, der rasch schwächer wurde und einem dunklen Grau wich. Der Himmel verblasste, als wiche das Leben aus einem riesigen Körper. Und sein Gefühl der Begeisterung wechselte in ein Gefühl der Einsamkeit. Es legte sich um seine Brust wie ein zu enges Kettenhemd.

Auch das hatte er geahnt. Aber er hatte diesen Preis zahlen wollen. Den dumpfen Schmerz der Einsamkeit, weit draußen im Wald, allein auf dem höchsten Berg der Eifel. Kurz bevor die Dunkelheit das Land kilometerhoch überflutete und die Traurigen unter sich begrub.

Dieser Nachmittag war wie ein Abbild seines Lebens gewesen. Eben noch hell und freundlich, strahlend gar. Wie früher, wenn er abends nach Hause gekommen war. Als er noch seine Familie hatte. Seinen Sohn, seine Frau. An den Wochenenden, in den Ferien. Immer. Bevor sich alles für ihn verändert hatte.

Er war in das fahle Licht geraten, in dem unglückliche Menschen lebten. Es waren viele. Aber das tröstete ihn nicht.

Der Dezember war für ihn diesmal ein besonders finsterer, lichtloser Monat gewesen. Jetzt, Anfang Januar, hatte er die wenigen Sonnentage genossen und war dem Selbstmitleid ein wenig entkommen. Aber er fürchtete die Stille seiner Wohnung. Wenn der Italiener ganz oben nicht Klarinette übte oder der kasachische Heinrich Müller nicht seine Frau Olga anschrie. Oder sie ihn. Dann war es verdammt still. Seine private Welt hatte viel Leben verloren. Aber das passte wenigstens zu seinem Job. Da ging es ja auch nicht um Leben. Sondern um den Tod.

Er wusste, dass es so nicht weiterging. Dass er einen neuen Anfang finden musste. Nein, der Anfang war nicht zu finden. Er selbst musste ihn machen. Aber was konnte er neu beginnen? Er sollte mit dem Laufen anfangen. Es wurde höchste Zeit, dass er sich wieder mehr bewegte. Und er könnte es vielleicht noch mal mit Tennis versuchen. Trotz der früheren Knieprobleme.

Eine neue Beziehung? Es war niemand da. Außer der Hoffnung. Und die war ein magersüchtiger Teenie.

Er blickte nach Westen. Die Silhouette der Nürburg zeichnete sich wie der dunkle, kariöse Zahn eines Riesen gegen den westlichen Himmel ab. Links davon funkelten schon die Abendlichter von Herresbach. Er drehte sich langsam weiter nach links, suchte nach einem Zeichen. Nach irgendetwas, was ihm ein Signal für einen Neuanfang sein konnte. Dann wurde ihm bewusst, dass es kein deutlicheres Zeichen hatte geben können als diesen roten Himmel. Dieses Feuer unter den Wolken. Diese Sonnenkraft.

Im Südosten sah er die Lichter von Siebenbach. Dahinter die Silhouette des Hochsimmer. Er drehte sich weiter nach Osten. Die Abendlichter von Jammelshofen waren ganz nah. Warme Lichter, wo Menschen waren. Vielleicht sogar glückliche Menschen.

Im Nordosten hätte er bei Tageslicht die fernen Zacken des Siebengebirges ausmachen können. Aber dort war es schon zu finster. Von dort kam die Nacht.

Während er auf diese kleinen Bündel warmer Lichtpunkte schaute, lehnte er sich noch einmal auf gegen das Gefühl der Einsamkeit. Wie Glühwürmchennester schimmerten die umliegenden Dörfer im kalten Winterblau des Abendlichts. Ja– auch das war ein wunderbares Bild.

Aber dann spürte er seine Erschöpfung, und er fröstelte wieder. Es würde jetzt schnell dunkel werden, und es war höchste Zeit, sich auf den Rückweg machen. Er prüfte den Sitz seines Schals und zog den Kragen seiner Jacke fester zu. Ein letzter Blick nach Westen zeigte ihm, dass bereits alle Farbigkeit verschwunden war. Die Wolkendecke hatte sich völlig über das Land geschoben. Wie ein riesiges Raumschiff. Mit größter Vorsicht stieg er Schritt um Schritt im dunklen Innern des Turms hinab. Als er wieder ins Freie trat, bemerkte er die Schneeflocken. Wenige nur. Aber sicher würde es bald stärker schneien.

Der Wald stand jetzt noch dunkler, drohender am Weg. Er dachte wieder an seine Waffe. Und daran, dass ein Wald niemanden bedrohte. Hinter einem freundlich lächelnden Gesicht konnte sich mehr Bedrohung verbergen als hinter der gesamten russischen Taiga.

Nach zehn Minuten erreichte er den Parkplatz am Berghotel »Hohe Acht«, auf dem er seinen Landrover abgestellt hatte.

Er startete den Motor, um nach Mayen zurückzufahren. Auf der B 412 verlangsamte er die Fahrt und wandte sich noch einmal um. Die Kuppe der Hohen Acht zeichnete sich schwarz gegen den düsteren bleigrauen Himmel ab.

Er fuhr langsam weiter. Und hatte plötzlich einen Gedanken, für den er sich beinahe schämte: Hatte nicht auch Moses auf einem Berg gestanden? Und war Gott begegnet? Das war der Beginn eines neuen Kapitels im Leben der Israeliten gewesen. Wenn es um ein ganzes Volk ging, dann kam Gott sicher persönlich. Aber wenn es um einen einzelnen Mann ging, reichte vielleicht so etwas wie göttliches Licht. Dann hätte er jetzt sein Zeichen für einen Neuanfang.

Es ist doch immer wieder gut, dass niemand Gedanken lesen kann, dachte er angesichts der Dimension seines Vergleichs und fühlte doch gleichzeitig die Erleichterung. Glaubte, die ersten Fasern einer neuen Kraft zu spüren. Er würde sofort ein bewussteres, positiveres Leben beginnen. Es war erst Januar. Immer noch Zeit genug, um fast ein ganzes, besseres neues Jahr zu leben.

Als er im Tal der Nette das Schloss Bürresheim passierte und nur noch wenige Kilometer vor ihm lagen, freute er sich über die gute Vorahnung, die ihn an diesem Abend auf die Hohe Acht geführt hatte. Zu diesem intensiven Lichterlebnis. Und freute sich auf die Rückkehr in sein kleines, gemütliches Städtchen. Sogar auf seine kleine Wohnung freute er sich wie schon lange nicht mehr.

***

Er wickelte das lange Kletterseil auf, legte es quer über den Rucksack mit den restlichen Utensilien und fixierte es mit den Laschen der Deckelklappe. Dann überprüfte er noch einmal seine sorgfältig mit Sackleinen umwickelten Stiefel. So würde er keinen erkennbaren Abdruck hinterlassen. Um auch auf glattem Untergrund und in den Steillagen Halt zu finden, hatte er hochalpine Steigeisen unter seine Schuhe montiert. Sie drangen durch das Sackleinen und griffen dadurch etwas entschärft, aber ausreichend in den Untergrund. Zum Schluss schulterte er Sauters Gewehr und hängte sich dessen Fernglas um.

Erst jetzt bemerkte er das eigenartige Licht, das den Wald durchdrang. Er schaute zum Himmel und sah die rot glühende Wolkendecke. Der Anblick berührte ihn zutiefst. Es war Blut geflossen. Und dieser flammend rote Himmel sagte ihm, dass es gut und gerecht war. Aber jetzt wurde es Zeit aufzubrechen.

Zunächst folgte er den Spuren der Wildschweine durch den aufgewühlten Schnee. Das trug dazu bei, die seinen zu verwischen. Die Tiere hatten den an die Lichtung angrenzenden, etwa zweihundert Meter tiefen Fichtenwald durchquert und waren im daran anschließenden Buchenwald hangaufwärts geflüchtet. Dort wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung und ging abwärts, um einem Wildwechsel hinunter bis zum Talgrund zu folgen. Er hatte sich bewusst für diesen Weg entschieden. Denn bald würde wieder Rot- oder Schwarzwild den Pfad benutzen und seine Spuren unkenntlich machen.

Der Hang war stellenweise sehr steil, die Metallspitzen machten sich hilfreich bemerkbar. Er dachte daran, wie scheinbar mühelos Hirsche und Wildschweine solche Steigungen überwanden. Er hatte das gelegentlich von seinen Beobachtungsposten aus miterleben können.

Bald erreichte er den Grund des Tals. Hier gab es einen Waldweg, der dem Lauf eines Bächleins namens »Wilde Seifen« in Richtung Norden folgte. Talabwärts bis zum Nitzbach.

Im Talgrund gab es keine Hochsitze. Er musste also nicht damit rechnen, von irgendeinem Gastjäger von Sauter gesehen zu werden. Und Spaziergänger waren jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, ebenfalls kaum zu erwarten.

Auf dem leicht abschüssigen Weg konnte er endlich schnell ausschreiten. Sein Blick glitt im Gehen immer wieder die steilen Hänge zu beiden Seiten des Bächleins hinauf. Die Wolken trugen inzwischen nur noch ein schwaches Violett, und im schwindenden Licht waren immer weniger Einzelheiten auszumachen. Auch nicht mehr die ganze Schönheit der von einem dünnen Mantel aus Schnee bedeckten Felsformationen hoch über ihm.

Er konzentrierte sich wieder auf den Weg vor sich. Wenn überhaupt, dann waren weiter talabwärts Menschen zu erwarten. Kurz bevor das Bächlein in die Nitz mündete, reichten die Felsen bis zum Talgrund hinab und bildeten eine markante Engstelle. Hier wechselte der Waldweg von der linken auf die rechte Bachseite und erreichte kurz darauf den großen Weg durch das Nitztal.

Es gab weit und breit keine Brücke hinüber auf die Nordseite der Nitz und nur eine einzige Stelle, an der er den Bach relativ gefahrlos überqueren konnte. Nur diese Furt, über die er auch schon am Nachmittag in Sauters Revier gelangt war. Die Nitz war dessen natürliche Nordgrenze.

Bei Tageslicht war es relativ leicht gewesen, den Bach an dieser etwa acht Meter breiten Stelle zu überqueren. Er hatte sehen können, wohin er den Fuß setzte. Jetzt war das Tageslicht fast gänzlich verschwunden, und die Nitz war nur noch eine rauschende schwarze Wasserfläche. Doch der Frost der letzten Tage hatte viel Wasser gebunden, und seine Stiefel hatten sich auf dem Hinweg als ausreichend hoch erwiesen. Er konnte also darauf vertrauen, dass er auch jetzt trocken hinüber ans andere Ufer gelangen würde. Er fand den Stock, den er bei der ersten Überquerung benutzt und am Ufer abgelegt hatte. Jetzt, im Dunkeln, war er eine besonders große Hilfe.

Vorsichtig setzte er einen Fuß ins Wasser und watete langsam los. Den Stock setzte er links neben sich, der Strömung entgegen. Seine »Spikes« fanden guten Halt, also schritt er schneller aus und war schon fast ganz hinübergelangt, als er mit dem rechten Stiefel auf einen großen Stein trat, den er unter der Wasseroberfläche nicht hatte erkennen können. Trotz der Metallkrallen glitt er aus, knickte ein und geriet mit dem rechten Knie ins Wasser. Er fluchte, rappelte sich auf und spürte das in den Stiefel eindringende Wasser. Er fluchte noch einmal, wütend. Das Wasser war eiskalt und nahm ihm die euphorische Stimmung, die ihn bisher getragen hatte.

Zwei Schritte vor dem Ufer ein so unnötiges Missgeschick! Und er hatte keine Socken zum Wechseln dabei. Auch nichts, womit er den Stiefel hätte trocknen können. Er musste diese Unannehmlichkeit in Kauf nehmen und seinen Marsch fortsetzen.

Plötzlich fühlte er sich verletzlich, angreifbar. Körperliches Wohlbefinden war eine wichtige Voraussetzung für seine Leistungsfähigkeit. Jetzt fühlte er eine Beeinträchtigung. Objektiv konnte er seine Flucht zwar noch immer im gleichen Tempo fortsetzen. Aber mit einem Gefühl verlorener Souveränität.

Am Nordufer lag rechts das eingezäunte Gelände mit Teich und Holzhütte. Verlassen und still, wie immer im Winter. Auch hier mündete ein kleiner Bach, dem er nun auf einem etwas höher gelegenen Weg rund einen Kilometer nordwärts in Richtung Quelle folgen musste.

Inzwischen war es völlig finster. Nur die Schneelage auf dem Waldweg erleichterte die Orientierung. Er schritt zügig voran, obwohl der Weg langsam, aber stetig anstieg. Das half ihm, den Gedanken an den nassen Fuß zu verdrängen.

Trotz der Dunkelheit blieb noch etwas zu tun. Er hatte eine Stelle an diesem kleinen Bachlauf ausfindig gemacht, an der sich eine Menge Sand abgelagert hatte. Auf dem Hinweg hatte er sie mit zwei kleinen Ästen markiert. Nach etwa zweihundert Metern sah er die Äste links am Wegrand im Schnee liegen. Sie zu entdecken, war der leichte Teil. Jetzt folgte die wegen der Dunkelheit mühsame Arbeit. Er kletterte vorsichtig links die Böschung hinab. Er bewegte sich sehr langsam. Das Missgeschick von vorhin hatte ihn daran erinnert, dass falsche Eile gefährliche Nachteile barg. Schließlich erreichte er das Bächlein, nahm die kleine schwarze Taschenlampe aus seiner linken Beintasche und leuchtete kurz ins Bachbett. Er stand schon beinah unmittelbar auf der Ansammlung von Sand, die er gesucht hatte. Daneben lagen ein paar Steinplatten. Er nahm den kleinen Klappspaten aus der Halterung am Gürtel und grub eine kleine, längliche Senke von etwa einem Meter in den weichen Sand. Dann nahm er Sauters Gewehr von der Schulter und steckte die Waffe mit dem Lauf voran in einem Winkel von etwa zwanzig Grad in den nassen, weichen Untergrund. Der Lauf verschwand. Er erhöhte den Druck, bis er einen Augenblick später einen Widerstand spürte, als der Lauf auf einen Stein traf. Aber dann glitt die Büchse weiter in den Boden. Schließlich ragte nur noch die Oberkante des letzten Schaftstückes ein wenig heraus. Er schaufelte den eben ausgehobenen Sand darüber, und das Gewehr war verschwunden.

Er hob noch eine weitere Vertiefung aus und legte Sauters Portemonnaie und Papiere hinein. Dann das Jagdmesser, den Colt 357Magnum und das Fernglas. Darüber schaufelte er wieder feuchten Sand. Und bedeckte das Ganze schließlich ungeordnet mit den schweren Steinplatten.

Er wusste, dass er gerade eine äußerst wertvolle Ausrüstung unbrauchbar gemacht hatte. Aber das bedeutete ihm nichts. Es waren nur beseitigte Spuren. Und die Ermittler würden sich mit einem falschen Motiv abgeben müssen: Raubmord. Eine falsche Fährte. Er hatte an alles gedacht.

Es war nicht damit zu rechnen, dass hier, so weit entfernt vom nächsten Dorf, Kinder am Bach spielen und den Sand aufgraben würden. Um einen Damm zu bauen, wie er es selbst gern als Kind getan hatte. Dieses Tal war zu abgelegen. Das Gewehr würde sicher für immer verschwunden bleiben. Unter weiteren Schichten Sand, die sich zwischen den Steinen ablagern würden.

Er kletterte zurück auf den Weg und erreichte nach etwa zehn Minuten die Stelle am Oberlauf des Bächleins, an der halb links ein kleiner Weg zwischen hohen Buchen aufwärtsführte. Er war deutlich steiler als der Weg bisher. Hier lag auch der Schnee höher als zuvor, und er sank bei jedem Schritt einige Zentimeter ein. Aber die Eisen gaben ausreichend Halt. An seinen nassen Fuß hatte er sich inzwischen gewöhnt.

Der kleine Weg stieß schließlich auf einen größeren. Er bog noch zweimal ab und folgte dem Weg weitere zweihundertfünfzig Meter bis zur Landstraße zwischen Kirchwald und Langenfeld.

Als er die Straße erreichte, war es völlig still. Kein Lichtschein verriet das Nahen eines Fahrzeuges. Schnell überquerte er die Straße und bog in einen Feldweg ein, der von einer Baum- und Buschreihe flankiert wurde. Dahinter stand fünfzig Meter weiter der Golf. Geschützt vor Blicken von der Straße aus.

Er öffnete die Kofferraumklappe und legte den Rucksack in den Wagen. Dann überlegte er einen Moment, entschloss sich aber, die Kleidung noch nicht zu wechseln. Er wollte, so schnell es ging, fort von hier. Aber er entledigte sich seiner Stiefel und schlüpfte in leichtere Schuhe. Auch weil das ein besseres Fahrgefühl ergab. Dann nahm er hinter dem Steuer Platz, ließ den Motor an und fuhr noch ohne Licht langsam zur Landstraße vor.

Er schaute noch einmal nach einem Lichtschein, der ein sich näherndes Fahrzeug angekündigt hätte. Aber es war völlig finster. Keine Anzeichen für ein Fahrzeug in der Nähe. Er schaltete das Fahrlicht ein und bog nach rechts ab in Richtung Langenfeld.

Jetzt war er nur noch der Fahrer eines unauffälligen alten Golfs mit einem gestohlenen regionalen MYK-Kennzeichen. Niemand würde ihm in diesem Wagen Beachtung schenken. Er spürte, wie die Erleichterung durch seinen Körper floss. Von Langenfeld aus waren es nur noch etwa fünf Minuten bis zur B 412, die ihn zur Autobahnauffahrt Wehr führen würde.