Tod am Laacher See - Hans Jürgen Sittig - E-Book

Tod am Laacher See E-Book

Hans Jürgen Sittig

4,5

Beschreibung

In einer Oktobernacht wird Hauptkommissar Jan Wärmland zu einem Campingplatz an der Mosel gerufen: Ein Wohnwagen ist in Flammen aufgegangen, zwei Angler aus Schleswig-Holstein sind dabei umgekommen. Am nächsten Tag verschwinden am Laacher See vier Männer - drei der Vermissten sind ebenfalls Angler aus Schleswig-Holstein. Während einer Suchaktion werden die Leichen der Männer im See versenkt gefunden, und Wärmland hat erste Erkenntnisse: Die fünf Männer aus Norddeutschland waren befreundet. Und der Täter muss ein brillanter Schwimmer und Taucher sein....

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Hans Jürgen Sittig, 1957 in Mayen geboren, entdeckte als Biologiestudent in Bonn seine Begeisterung für das Fotografieren und Schreiben. Er belieferte 29 verschiedene Zeitschriften und veröffentlichte viele Fotokunstkalender und Bildbände, meist über Skandinavien, bevor er sich zunehmend seiner Heimat Eifel widmete. Zuletzt erschien sein Bildband »Traumland Eifel«. Neben seiner Arbeit spielt der ehemalige Fallschirmjägerhauptmann d. R. und Vater zweier Söhne gern Klavier und als Schauspieler beim TalTonTheater in Wuppertal sowie in bislang 12 verschiedenen kleinen TV-Serien. Im Emons Verlag erschien »Mordwald«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Hans Jürgen Sittig Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-128-2 Eifel Krimi Originalausgabe

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März 2012

Elena Pauly steuerte ihren Kleinwagen von ihrem Wohnort Wassenach über die Landstraße in Richtung Laacher See. Auf dem Beifahrersitz saß ihr Mann Armin, hinten im Kindersitz ihre fünfjährige Tochter Anna, die sie zu einem Augenarzttermin in Mayen bringen wollten. Armin Pauly hatte sich an diesem Vormittag in seiner Firma freigenommen, um seine Familie begleiten zu können. Mit ernstem Gesichtsausdruck schaute er nach vorne.

»Fahr bitte nicht so schnell, Ele«, sagte er. Es war ein regnerischer Märzmorgen, und seine Frau Elena pflegte einen flotten Fahrstil. Der hatte ihn immer wieder beunruhigt in den vergangenen sieben Jahren, seit sie sich kennengelernt hatten.

Sie hatte mit ihren Eltern das Feuerwehrfest in Bell besucht, dem Ort, aus dem Elenas Mutter stammte. Beim »Hau den Lukas« hatte er mit dem großen Hammer etwas ungeschickt ausgeholt und seine spätere Frau beinahe erschlagen, noch bevor sie ein erstes Wort miteinander gesprochen hatten. Aber sein mächtiger Schwinger verfehlte sie knapp, und er konnte sie bei der Einladung zu einem Kaltgetränk doch noch davon überzeugen, dass es kein Mordversuch gewesen war.

Sie verliebten sich sehr heftig an jenem Tag und heirateten ein halbes Jahr später. Elena gab ihren Job als Kindergärtnerin in Norddeutschland auf und zog zunächst mit bei ihm und seinen Eltern in Wassenach ein. Doch da Armin Pauly einen guten Job bei einer Firma im nahen Städtchen Mendig hatte, begannen sie bald mit dem Bau eines eigenen kleinen Holzhauses. Noch bevor Anna zur Welt kam, zogen sie ein in ihr neues Reich und fühlten sich von Beginn an wohl in dem Häuschen. Elena machte es großen Spaß, den Garten sowohl als kleine Obst- und Gemüseoase als auch als Spielparadies für Anna anzulegen und zu hegen. Nach der Pensionierung ihres Vaters und noch bevor ihre Mutter schwer krank wurde, kehrten schließlich auch Elenas Eltern Norddeutschland den Rücken. Sie zogen nach Bell, um in der Nähe ihrer Tochter und ihrer Enkeltochter zu sein, und Elena war glücklich, dass die Familie wieder komplett war.

Für einen Augenblick verlor Armin Pauly seinen besorgten Gesichtsausdruck, als er an die vergangenen sieben Jahre dachte. Sie schienen ihm so schnell verflogen zu sein, aber sie waren die beste Zeit seines Lebens gewesen.

»Ach Schatz, das ist doch nicht schnell«, beschwichtigte ihn Elena, wie so oft. »Ich möchte doch nur, dass wir noch etwas Zeit haben für einen kleinen Einkaufsbummel. Anna braucht neue Schuhe, und deine Jacke für jede Gelegenheit sieht aus wie ein Museumsstück.«

»Papa, Mama ist eine gute Fahrerin«, kam Anna ihrer Mutter zu Hilfe.

»Natürlich ist Mama eine gute Fahrerin.« Armin Pauly drehte sich zu seiner Tochter um. »Aber an meiner Jacke ist nichts auszusetzen.« Er zwinkerte ihr zu.

»Papas Jacke ist alt, aber immer noch schön«, verkündete Anna prompt.

Elena lächelte. »Na, wenn das mal nicht für den diplomatischen Dienst reicht«, erwiderte sie. Dann wandte sie sich wieder an ihren Mann. »Im Ernst, Armin, die Jacke ist überfällig.«

»Jetzt übertreibst du aber wirklich.« Armin Pauly wischte den Angriff auf sein geliebtes Kleidungsstück mit einer schnellen Handbewegung fort. »Die Jacke ist immer noch okay und hat mich immer vor jedem noch so üblen Wetter geschützt.«

»Dann ist der Riss unter dem rechten Arm wohl Teil einer praktischen Innenbelüftung«, konterte sie. »Und die unauswaschbaren Flecken modische Designmerkmale der aktuellen Herrenoberbekleidung. Mein Lieber, du hattest die Jacke schon, als wir uns kennengelernt haben. Und wenn ich mich recht erinnere, hat sie davor schon dein Vater getragen. Seit seiner Lehre.«

Pauly musste über die Übertreibung seiner Frau lachen. Und Anna fragte, was »Lehre« bedeutet.

Er erklärte es ihr, während sie auf der abschüssigen Straße am Nordhang des Laacher Sees den Wald durchfuhren. Hier lenkte Elena Pauly ihren Wagen etwas vorsichtiger. Erst als sie auf Höhe des noch still und verlassen daliegenden Campingplatzes die wieder eben verlaufende Uferstraße erreichten, beschleunigte sie wieder. Der Regen wurde stärker. Bisher war ihnen noch kein einziges anderes Fahrzeug begegnet. Jetzt aber sahen sie einen großen Transporter, der ihnen aus Richtung des Klosters entgegenkam. Als sie die leichte Rechtskurve, an der sie ihn passieren würden, fast erreicht hatten, sagte Anna: »Mama, da läuft Blut aus meiner Nase.«

Elena Pauly schaute nicht durch den Rückspiegel nach hinten. Spontan drehte sie sich nach ihrer Tochter um.

***

Kevin Malchow war spät dran an diesem Morgen. Ein Kfz-Betrieb und eine Firma für biophysikalische Technik in Wassenach warteten bereits auf ihre Lieferungen. Wegen einiger Fahrzeugprobleme, die er nicht zu verantworten hatte, war er später als geplant vom Stützpunkt in Polch losgefahren.

Malchow gab etwas mehr Gas. Er hatte den Job als Kurierfahrer erst seit dreieinhalb Wochen und gedachte, ihn zu behalten. Nach der Wende war er mit seinen Eltern aus Mecklenburg-Vorpommern in den Kreis Mayen-Koblenz gezogen, wo sein Vater bei einem entfernten Verwandten eine Stelle als Schlosser gefunden hatte. Seine Mutter, die im Osten in einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet hatte, konnte damals keine neue Stelle finden. Er selbst hatte nach seinem Realschulabschluss eine Ausbildung zum Industriekaufmann begonnen, sie jedoch bald wieder abgebrochen. Seither schlug er sich mit verschiedenen Jobs durch. Die neue Stelle als Fahrer war durchaus nach seinem Geschmack, da er gern fuhr und auch etwas technischen Sachverstand besaß, um mit kleineren Kfz-Problemen zurechtzukommen. Doch gegen den Umstand, dass heute gleich drei der großen Transporter nicht rechtzeitig aus der Werkstatt zurückgekommen waren, war auch er machtlos gewesen. Das war der Punkt, den er am wenigsten mochte an seinem neuen Job: Man hatte mit permanentem Zeitdruck zu kämpfen. Zwar war ihm das vor Antritt der Stelle bewusst gewesen, denn dafür war die Branche bekannt. Dass es aber an manchen Tagen so arg sein würde, hatte er nicht vermutet. Nun galt es, noch etwas von der verlorenen Zeit aufzuholen. Dabei war Malchow völlig bewusst, dass man auf den kleinen Landstraßen kaum Zeit gewinnen konnte, selbst wenn man es mit der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht so genau hielt. Hier, auf der Landstraße 113 nördlich von Mendig, war das nicht anders.

Er erreichte die Anhöhe und sah durch den Regen hindurch die große graue Wolken reflektierende Wasserfläche des Laacher Sees vor sich liegen. Was für ein Unterschied zu den warmen Sommertagen, an denen er mit ein paar Kumpels zum Baden hergekommen war! Malchow schauderte bei dem Gedanken, dort jetzt ins Wasser zu müssen. Spontan stellte er die Heizung höher und fuhr hinunter in die Senke. Als er das Kloster Maria Laach erreichte, verminderte er sein Tempo auf die erlaubte Geschwindigkeit. Hier kontrollierte die Polizei häufiger mit einer mobilen Blitzanlage, und als frisch eingestellter Fahrer wollte er bei seinem Arbeitgeber nicht durch ein unnötiges Knöllchen auffallen. Nachdem er das Kloster passiert hatte, beschleunigte er wieder.

Als Malchow die nächste leichte Linkskurve fast erreicht hatte, sah er, wie der auf ihn zukommende Kleinwagen plötzlich zu schlingern begann. Intuitiv trat sein Fuß auf die Bremse. Aber es war schon zu spät. Er konnte den Transporter zwar auf der Straße halten, während er das Tempo verringerte, aber der Kleinwagen wechselte die Spur. Malchow sah für einen Augenblick das panische Gesicht der Fahrerin, die versuchte, ihren Wagen durch Gegenlenken wieder auf ihre Fahrbahnseite zu bringen. Und tatsächlich schlingerte der Wagen wieder zurück, aber nicht schnell genug. Der Transporter traf noch mit großer Wucht die hintere linke Fahrzeugflanke. Der Kleinwagen wurde brutal herumgerissen, prallte nun auch mit der linken Fahrzeugfront gegen Malchows Transporter und wurde durch den erneuten massiven Schlag von der Fahrbahn geschleudert. Mit der rechten Seite schlug der Wagen gegen die steile Böschung, wurde auf die Straße zurückgeworfen, überschlug sich zweimal und krachte schließlich heftig mit dem Dach gegen einen einzelnen Baum am gegenüberliegenden Straßenrand.

Malchow hatte nicht verhindern können, einem Ausweichimpuls nachzugeben, und kam ebenfalls von der Straße ab. Sein Wagen kippte auf der etwas abfallenden Böschung auf die rechte Seite, schlidderte über das Grün rechts der Fahrbahn und blieb nach rund zwanzig Metern liegen.

Irgendwann bemerkte Malchow, dass alles ruhig war. Er hörte kein Geräusch. Da war nur ein dumpfer Schmerz in seinem rechten Arm, der stetig stärker wurde, je mehr die Wirkung des Adrenalins in seinem Körper nachließ.

Er hing in seinem Gurt, den Oberkörper nach rechts in Richtung Beifahrertür gedreht. Sein Atem ging heftig, und sein Puls war hoch. Links von ihm hing der erschlaffte Airbag. Die Frontscheibe war beim Aufprall nach dem Umschlagen des Fahrzeuges geborsten, und alles war voller kleiner Glassplitter. Allmählich wurde Malchow die ganze Situation bewusst. Er lebte. Das war der wichtigste Punkt. Er hatte großes Glück gehabt. Aber sein rechter Arm schien etwas abbekommen zu haben. Er konnte ihn nicht bewegen.

Was war passiert? Er erinnerte sich an das angsterfüllte Gesicht einer Frau hinter der Frontscheibe. Er hatte sie nur ganz kurz gesehen und die Panik erkannt, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie war plötzlich auf seiner Fahrbahnseite gewesen. Da war er sich ganz sicher. Sie hatte ihn getroffen. Das war ganz wichtig. Man würde feststellen müssen, dass er keine Schuld hatte. Dass der Unfall von ihr ausgegangen war. Malchow wurde von einer großen Sorge erfasst, wie der Unfall bewertet würde und ob er vielleicht seinen Job verlieren konnte, falls nicht eindeutig nachzuvollziehen war, wie sich das Ganze abgespielt hatte.

Dann schob sich eine andere Frage in sein Bewusstsein: Was war mit den Menschen in dem anderen Wagen geschehen? Er glaubte, sich an ein zweites Gesicht zu erinnern, neben der Frau hatte womöglich noch jemand gesessen. Sein Blick nach vorn durch die Fensteröffnung, in der kurz zuvor noch die Frontscheibe gewesen war, ging in die falsche Richtung. Der Kleinwagen musste irgendwo hinter ihm sein. Es kostete Malchow erhebliche Mühe, sich trotz seines nicht einsetzbaren, heftig schmerzenden rechten Armes aus der Fahrerkabine zu befreien und ins Freie zu klettern.

Als er es geschafft hatte, entdeckte er den Kleinwagen auf der Straße an einem Baum. Er lag auf der Seite, Malchow sah nur den Unterboden. Er fühlte sich ganz elend bei dem Anblick und fragte sich, wieso noch kein anderes Auto aufgetaucht war. Benommen setzte er einen Fuß vor den anderen und folgte der markanten Spur seines Fahrzeuges, das das Gras auf der Wiese platt ge- hobelt hatte. Er erreichte die Straße und bewegte sich langsam weiter auf den Unglückswagen zu. Seine Wahrnehmung konzentrierte sich völlig auf das Fahrzeug vor ihm. Er sah wieder das Gesicht der Fahrerin vor sich. Und er fühlte sich mit jedem Schritt elender. Er wusste nur, dass er, um in den Wagen hineinschauen zu können, jetzt noch einige wenige Schritte tun musste. Dass sich nun ein Wagen vom Kloster her näherte und kurz darauf ein zweiter aus Richtung Wassenach, nahm er gar nicht wahr. Er fühlte sich miserabel und an den Grenzen seiner Belastbarkeit, aber er gab sich einen letzten Ruck.

Durch die völlig zersplitterte, aber noch im Rahmen gehaltene hintere Scheibe konnte er nichts erkennen. Das Fahrzeugdach war vom Aufprall bei der Kollision mit dem Baumstamm stark eingedrückt. Die Scheiben der beiden rechten Türen waren zertrümmert und fehlten beinahe völlig. Sie gaben den Blick in den Wagen frei. Malchow brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass da wirklich zwei erwachsene Menschen im vorderen Wagenbereich waren. Er hatte zwar keinerlei medizinische Ausbildung. Aber was er sah, sagte ihm, dass diese beiden Menschen tot waren. Ihn überkam eine tiefe Traurigkeit. Seine Befürchtung war grausame Wahrheit geworden. Aber der ganz tiefe, entsetzliche Schrecken, den er nie wieder vergessen sollte, setzte erst ein, als er das Bild auf der Rückbank des Wagens sah. Malchow begann, hemmungslos zu weinen. Er weinte wie noch nie in seinem Leben.

Als die Rettungskräfte eintrafen, weinte er immer noch.

Juli 2012

Dorothee Fresemann stand zusammen mit ihrem Ehemann auf, obwohl es noch viel zu früh für die Sonntagsmesse war, die sie gewohnheitsgemäß zu besuchen pflegte. Aber sie wollte ihrem Mann ein kleines Frühstück bereiten, bevor er zum Schwimmen aufbrach. Friedrich Fresemann hatte sich nach seinem vor gerade mal vier Monaten erlittenen Herzinfarkt selbst ein kleines Schwimmtraining auferlegt, um der körperlichen Untätigkeit ein Ende zu bereiten. Das habe sein Kardiologe befürwortet, behauptete er. Doch Dorothee Fresemann blieb skeptisch. Obwohl es ja immer wieder hieß, dass Schwimmen sehr gesund sei, ging ihr das Ganze zu schnell. Und sie kannte ihren Mann und seinen Hang, sich zu viel zuzumuten. Zwar war er als junger Mann sehr sportlich und auch einmal ein sehr guter Schwimmer gewesen. Aber die Dinge lagen eben nicht mehr so wie vor dreißig Jahren. Er war inzwischen einundsechzig Jahre alt und hatte einen Herzinfarkt nur knapp überlebt. Ihrer Meinung nach wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er mittlerweile ein älterer Herr war, der kürzertreten musste.

Stattdessen hatte er vor drei Wochen damit begonnen, jeden zweiten Tag in der nahen Ostsee ein selbst erdachtes Schwimmtraining zu absolvieren. Ihre Begleitung hatte er gleich zu Anfang abgelehnt und sie daran erinnert, dass sie eine sehr schlechte Schwimmerin war, sodass sie ihm kaum helfen konnte, wenn er denn in Schwierigkeiten geriete. Aber so weit würde es ja gar nicht erst kommen, wie er immer wieder beteuert hatte. Also hatte sie ihn schweren Herzens ziehen lassen und gehofft, dass er es nicht übertreiben und wiederkommen würde.

***

Friedrich Fresemann hob seine Tasse und ließ sich von seiner Frau Tee einschenken. Am liebsten wäre er ohne Frühstück aus dem Haus gegangen, denn er hatte es eilig, zur Ostsee zu kommen. Aber das hätte Dorothee nicht gelten lassen. Nach Fresemanns Einschätzung herrschten an diesem Sonntagmorgen geradezu ideale Voraussetzungen für ein ausgiebiges Schwimmtraining. Die NDR-Nachrichten hatten einen strahlend schönen Tag angekündigt, mit viel Sonnenschein und Temperaturen bis siebenundzwanzig Grad. Die waren zwar um diese frühe Stunde bei Weitem noch nicht erreicht. Aber Fresemann liebte die diesigen Morgenstunden, in denen die Sonne ihr Potenzial noch nicht ganz entfaltet hatte.

Obwohl seine Frau nichts sagte, spürte er auch heute wieder ihre Unruhe und ihre aus seiner Sicht unnötige Sorge. Die seiner Frau grundsätzlich anhaftende pessimistische Sicht auf die Dinge ärgerte Fresemann ein ums andere Mal.

»Ich hab es dir schon einmal gesagt: Das einzig Gefährliche wären die Bootsfahrer«, sagte er gereizt, »aber die sind so früh noch nicht unterwegs. Noch hab ich das Wasser ganz für mich allein.« Nach kurzer Pause fügte er säuerlich hinzu: »Wenn es für Bedenkenträger Dienstgrade gäbe, dann wärst du in jedem Fall schon Konteradmiral.«

»Du solltest froh sein, dass du noch eine Ehefrau hast, die sich um dich sorgt«, entgegnete Dorothee Fresemann in einem Tonfall trauriger Empörung. »Ich kenne Paare, denen es völlig egal ist, was der andere macht.« Mit diesen Worten verließ sie die Küche und ging nach oben.

Friedrich Fresemann stand auf, nahm seine Badetasche vom Haken im Flur und verließ das Haus.

Es war nur ein Fußweg von sieben Minuten bis zu dem Strandabschnitt, an dem er üblicherweise ins Wasser ging. Heute war es windstill, die Ostsee lag ganz ruhig da und sandte kleine, unscheinbare Wellen ans Ufer. Die Wasseroberfläche wirkte beinahe völlig glatt.

Wirklich ideale Voraussetzungen, dachte Fresemann. Er fühlte sich ausgezeichnet und freute sich darauf, das Trainingspensum heute vielleicht wieder ein klein wenig zu erhöhen. Er nahm die Bastmatte aus der großen Umhängetasche, rollte sie aus und legte seinen Bademantel und sein Handtuch darauf. Die Tasche stellte er daneben. Dann wandte er sich zur Ostsee und schaute sich noch einmal um. Bis auf einen Jogger, der sich von seinem Strandabschnitt entfernte, konnte er keinen Menschen erkennen. Er würde also seine Ruhe haben.

Mit langsamen Schritten ging er ins Wasser. Die andauernde Schönwetterperiode der letzten Wochen hatte die Wassertemperatur in angenehme Höhe gehoben. Sicher waren es schon um die zweiundzwanzig Grad. Fresemann ging tiefer hinein, bis das Wasser an die Unterkante seiner Badehose reichte. Dann spritzte er sich Wasser auf den Oberkörper und tauchte ganz ein.

Er begann mit Brustschwimmen und hielt schnurgerade auf die Boje zu, die weiter draußen in der Bucht verankert war. Nachdem er sie umrundet hatte, hielt er auf eine weitere Boje zu, die parallel zum Ufer etwa einhundert Meter von ihm entfernt war. Um eine dritte Boje weiter draußen zu erreichen, wechselte er zum Rückenschwimmen. Dann kehrte er um und begann mit dem Kraulen.

Das Wasser fühlte sich gut an. Er hatte keine Mühe mit den ausladenden Armbewegungen. Das Ziehen, das er noch zwei Tage zuvor in der linken Schulter gespürt hatte, war verschwunden. Fresemann genoss die Bewegungen und sein schnelles Vorankommen. Schwimmend würde ich noch manch jungen Kerl niederzwingen können, sagte er sich zufrieden. Und erhöhte sein Tempo. Erst als er die Strecke entlang der Bojen ein fünftes Mal absolviert hatte, wurde ihm bewusst, wie sehr er außer Atem war, und er hielt sich an der ersten Boje schließlich einen Augenblick fest. Sein Atem ging schwer, und er fühlte sich längst nicht mehr so souverän wie zu Beginn seines Trainings. Obwohl er noch eine weitere Runde geplant hatte, musste er sich eingestehen, dass es zu viel für ihn werden würde. Seine Temposteigerung hatte ihn unerwartet stark geschwächt. Er musste abbrechen und zum Ufer zurückkehren.

Fresemann ließ die Boje los, drehte sich mit dem Bauch nach oben und verlegte sich wieder aufs Rückenschwimmen. Er streckte sich lang aus und ließ seine Arme langsam kreisen wie ein Raddampfer. Wenn der eine Arm lang ausgestreckt über seinem Kopf ins Wasser tauchte, kam der andere Arm parallel zum Körper aus dem Wasser heraus. Als er erneut den rechten Arm nach hinten führte und ins Wasser tauchte, streifte seine rechte Hand eine Qualle. Fresemann zuckte zusammen. »Mistviecher«, schimpfte er. Gleich darauf wurde ihm bewusst, dass die Qualle eine zu feste Konsistenz gehabt hatte. Aber kein großer Fisch würde so nahe an einen Schwimmer …

Irritiert hielt er in der Bewegung inne, um sich zu drehen. Da spürte er, dass etwas von hinten blitzschnell über seinen Kopf und sein Gesicht glitt und sich ruckartig um seinen Hals zusammenzog. »Was ist –«, war das Einzige, was er noch sagen konnte.

Fresemann röchelte, schlug mit den Armen um sich und versuchte verzweifelt, den Draht zu fassen, der brutal in seinen Hals schnitt. Aber eine erbarmungslose Kraft zog ihn unerbittlich in die Tiefe. Er schluckte Wasser und bekam keine Luft mehr, strampelte sinnlos mit den Beinen und versuchte weiter, seine Finger unter den Draht zu bekommen, um ihn von seiner Kehle wegzuziehen. Es gelang ihm nicht. Der Draht schnürte ihm die Luft ab, dass seine Augen aus den Höhlen traten.

Wie in einem Traum nahm Fresemann die immer schwächer werdende Helligkeit der Wasseroberfläche wahr. Es war das Letzte, was er in seinem Leben sah.

EINS

Kriminalhauptkommissar Jan Wärmland versuchte, sich so wenig wie möglich in seiner Wohnung zu bewegen. Angesichts eines heftigen Muskelkaters saß er wie erstarrt auf seinem Sofa und arbeitete sich lustlos durch ein ihn wenig ansprechendes Fernsehprogramm. Wärmland war vor zwei Tagen in einem Mayener Fitnessstudio nach langer Zeit mal wieder vielen seiner Muskeln begegnet. Diese anscheinend nicht von beiden Seiten gleichermaßen erwünschte Begegnung quittierten sie nun mit heftigen Schmerzen. Ungeduldig, wie er war, hatte es Wärmland völlig übertrieben mit den Belastungssequenzen für die einzelnen Muskelpartien. Obwohl er wusste, dass es besser war, es nach jahrelanger Pause langsam angehen zu lassen, hatte er gleich die erste Trainingseinheit mit zu schweren Gewichten und zu vielen Wiederholungen begonnen. So hatte er auf dem vermeintlich kürzesten Wege Anschluss an die alten Zeiten gewinnen wollen, in denen er noch regelmäßig trainiert hatte. Nun wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie unvernünftig das gewesen war.

Zumindest war sich Wärmland nun ganz sicher, dass offenbar auch er einen großen Teil jener sechshundertfünfzig Muskeln besaß, die ein Mensch normalerweise vorzuweisen hatte. Denn von denen machten sich nun schließlich schon zwei Tage lang gefühlte neunundneunzig Prozent bemerkbar. Das Internet hatte ihm Auskunft gegeben, dass diese Symptome etliche Tage andauern konnten. Und das ausgerechnet jetzt, vor seinem Wochenende mit Stefan. Nun, er hatte immerhin noch eine Nacht, um sich ein bisschen zu erholen und einen etwas schmerzfreieren Zustand zu erreichen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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