Morgen wird der Himmel voller Farben sein - Jean-Gabriel Causse - E-Book

Morgen wird der Himmel voller Farben sein E-Book

Jean-Gabriel Causse

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Beschreibung

Das Leben ist zu kurz für graue Gedanken

Grasgrün, sonnengelb und himmelblau – von einem Tag auf den anderen verschwinden die Farben von der Erde. Die Welt versinkt im Chaos, Autounfälle häufen sich, weil die Ampeln nicht mehr rot leuchten, und die Menschen sehen schwarz für ihre Zukunft. Nur einer hat die Hoffnung noch nicht verloren: Arthur, eben noch Mitarbeiter einer Pariser Buntstiftfabrik, entwickelt einen waghalsigen Plan. Zusammen mit Charlotte, seiner blinden Nachbarin und Frau seiner Träume, will er die Farben retten. Doch die beiden haben nur einen Anhaltspunkt: Charlottes Tochter Louise. Denn sie ist die Einzige, die mit einem Buntstift immer noch leuchtende Bilder malt …

Dieses Buch wurde bereits unter dem Titel »Arthur und die Farben des Lebens« veröffentlicht.

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EPUB

Seitenzahl: 280

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Jean-Gabriel Causse, geboren 1969, ist Farbdesigner und lebt in Paris und Tokio. Er ist Autor des internationalen Sachbuchbestsellers Die unglaubliche Kraft der Farben. Morgen wird der Himmel voller Farben sein ist sein Romandebüt, welches in Frankreich von den Lesern gefeiert wurde, in zehn Ländern erscheint und derzeit verfilmt wird.

Morgen wird der Himmel voller Farben sein in der Presse:

»So fantasievoll, dass man die Welt mit anderen Augen sieht.«Freundin »Voller Witz und Poesie, so als würde Momo die fabelhafte Welt der Amelie entdecken.«Emotion »Eine einzigartige Idee und ein phantastisches Buch!«BR 1 »Buchtipps« »Ein herrlich absurdes Märchen, mit einer Mischung aus Leichtigkeit, Witz und scheinbarer Wahrhaftigkeit erzählt.«NDR »Kultur« »Fantasy, Humor, Drama. Von allem etwas hat dieses in Frankreich gefeierte Romandebüt. Echt schöne Lektüre!«Grazia

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Jean-Gabriel Causse

Morgen wird der Himmel voller Farben sein

ROMAN

Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens

Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Les crayons de couleur« bei Éditions Flammarion, Paris. Die deutschsprachige Ausgabe war zuvor unter dem Titel »Arthur und die Farben des Lebens« im C. Bertelsmann Verlag lieferbar.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2017 by Jean-Gabriel Causse By arrangement with Melsene Timsit and Son, Scouting   Literary Agency

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by C. Bertelsmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg Umschlagmotiv: © Kiszon Pascal / Vudhikul Ocharoen/Zoranm/ Akov Kalinin/GettyImages; CollaborationJS / Trevillion Images

Typografie und Illustrationen im Innenteil © Inka Hagen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25627-2V001

www.penguin-verlag.de

Für alle, die mit dem Herzen sehen

Kapitel 1

ESWAREINMALAUFDEMBLAUENPLANETEN …

Licht mit einer Wellenlänge von fünfhundertzwanzig Nanometern trifft auf die Zapfen in Arthur Astorgs Netzhaut. Sofort jagt ein elektrischer Impuls durch sein Gehirn in das V4-Areal seiner Hirnrinde.

Es ist die Farbe Grün, die diese Reaktion bei ihm auslöst. Genauer gesagt das Apfelgrün der Sonnenbrille seiner Nachbarin, die er von seinem weit geöffneten Fenster aus unverhohlen anstarrt. Was ihn so fasziniert, sind weder ihre kleinen, festen Brüste noch der perfekt proportionierte Körper, der unter dem leicht aufklaffenden Morgenmantel zu erahnen ist, sondern die Tatsache, dass sie sogar in ihrer Wohnung diese große, glänzende Sonnenbrille trägt.

Nur wenige Meter von ihm entfernt tippt sie hektisch auf ihrem BlackBerry herum. Die junge Frau läuft oft nur spärlich bekleidet durch ihre gardinenlose Wohnung im vierzehnten Pariser Arrondissement, jedoch nie ohne ihre Sonnenbrille. Schon mehrmals hat Arthur geträumt, er nähme sie ihr behutsam ab, um endlich einmal ihre Augen zu sehen. Und damit endet sein Traum, denn in diesem Moment wacht er jedes Mal wieder auf. Er begegnet ihr regelmäßig draußen auf der Straße, meist Hand in Hand mit ihrer Tochter, die etwa fünf oder sechs Jahre alt sein muss, aber er hat es noch nie gewagt, sie anzusprechen. Dabei war er früher so selbstbewusst, doch mittlerweile ist er nur noch ein blasser Schatten seiner selbst.

Seit seiner Geburt ist Arthur das Versuchskaninchen eines ziemlich durchtriebenen Schutzengels. Der ihn links hat zur Welt kommen lassen. Am linken Ufer der Seine – damit er schon früh erkennt, wie wichtig Bildung ist – und in einer wohlhabenden Familie linker Intellektueller. Er hat ihn sogar zu einem Linkshänder gemacht. Und unbewusst hatte Arthur immer das Gefühl, er sei nicht ganz genau so wie die anderen.

Sein linker Schutzengel hat auch einiges Rechtes zustande gebracht. Er hat ihm ein attraktives Gesicht gegeben und seine Nase mit ein paar Faustschlägen beim Rugby in Form gebracht. Das Ergebnis war ein leichter Belmondo-Touch, dem er zahlreiche Eroberungen in den Privatschulen von Saint-Germain-des-Prés und später an einer eher mittelklassigen Wirtschaftshochschule verdankte. Außerdem hatte ihn sein Schutzengel mit einer leicht überdurchschnittlichen Begabung in allem ausgestattet, was er anpackte. Rugby, Studium, Karriere – der Schutzengel verbuchte für ihn einen Pluspunkt nach dem anderen. Mit dreißig war er im internationalen Vertrieb eines Start-up-Unternehmens auf der Überholspur angekommen. Keine Kinder, keine feste Beziehung, selbst für einen Hund oder einen Goldfisch war Arthur zu egozentrisch. Das Einzige, was er hegte und pflegte, waren seine Sammlung bernsteinfarbener japanischer Whiskeys und seine Platin-Vielfliegerkarte. Diese erlaubte es ihm, auf allen Flughäfen der Welt den roten Teppich zu den Businessclass-Schaltern zu beschreiten, und er konnte sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen, während er an den Reisenden vorbeiging, die auf dem gewöhnlichen grauen Teppichboden anstanden. Er war der felsenfesten Überzeugung, dass die anderen in seinem ein Meter achtzig großen Körper eine hautfarbene Traumwohnung sahen, in der sie selbst gerne leben würden.

Doch dann beschloss sein Schutzengel plötzlich, seine Federn einzufärben. Asphaltgrau einzufärben, um genau zu sein. Zunächst verliebte sich Arthur in eine Frau, die ihn wegwarf wie eine ausgebleichte Socke. Zur gleichen Zeit entschieden seine Eltern, ein neues Leben zu beginnen, und zwar jeder für sich. Arthur saß zwischen den Stühlen. Sein Vater erlebte einen zweiten Frühling mit einer Frau, die seine Tochter hätte sein können. Und seine Mutter reiste in einen indischen Aschram, um dort über die menschliche Natur zu meditieren. Er hörte nie wieder etwas von ihr. Arthur begann zu trinken. Immer mehr zu trinken. Er gab das Rugbyspielen auf, nur die dritte Halbzeit behielt er bei. Nach und nach schalteten die grünen Ampeln der Überholspur auf tiefdunkles Flaschengrün.

Innerhalb weniger Monate verlor er seine Arbeit, seine Freunde, sein Selbstvertrauen und seinen Führerschein, nachdem er mit zwei Promille im Blut angehalten worden war. Zwei Milligramm Alkohol, die ihn zwanzig Kilo zunehmen ließen.

Drei Jahre und unzählige misslungene Vorstellungsgespräche später droht nun das Arbeitsamt, ihn von seiner Liste zu streichen, sollte er sich nicht bei Gaston Cluzel vorstellen, einer alten Buntstiftfabrik in Montrouge, die einen Vertriebsmitarbeiter sucht. Arthur klammert sich an den Gedanken, wieder eine Stelle in einem internationalen Konzern oder einem Start-up zu finden, aber wenn er nicht möchte, dass ihm das Arbeitslosengeld gestrichen wird und sein Konto in die roten Zahlen rutscht, bleibt ihm keine andere Wahl.

Nach dem Krieg beschäftigte die Firma Gaston Cluzel etwa dreihundert Mitarbeiter. Knapp dreihundert weniger sind es, als sich Arthur bei Adrien Cluzel vorstellt, dem Urenkel des Firmengründers und verzweifelt auf der Suche nach dem rettenden Engel, der seine Firma vor dem Ruin bewahrt.

So ein Vorstellungsgespräch will natürlich gut vorbereitet sein. Um seine Aussichten auf eine Einstellung möglichst gering zu halten, hat sich Arthur in die grellsten Farben gewandet: ein altes karottenfarbenes Hemd, kapuzinerrote Schuhe, eine schmutzig gelbgrüne Hose und coelinblaue Socken. Er hat die Eleganz sogar noch auf die Spitze getrieben, indem er eine aubergineviolette Unterhose angezogen hat, eine hübsche Farbe, die dank einer auf Ex getrunkenen Flasche Côtes de Provence nun auch seine Wangen ziert.

Cluzel empfängt ihn am Eingang der Fabrik und fordert ihn auf, ihm in sein Büro zu folgen. Auf den ersten Blick erkennt er, dass seine Verkaufszahlen mit diesem kunterbunten Hanswurst, der hinter ihm die Treppe hinaufkeucht, ganz bestimmt nicht steigen werden.

»Arthur Astorg? Wie ich sehe, sind Sie seit über drei Jahren beschäftigungslos.«

»Ich bin nicht beschäftigungslos. Ich beschäftige mich von morgens bis abends mit Betrachtungen. Insbesondere der Betrachtung von Farbe!«

»Wie bitte?«

»Ja, nimm deine Buntstifte, nur mal so als Beispiel«, fährt Arthur fort, wobei er ihn bewusst duzt. »Genies wie Matisse, Toulouse-Lautrec und Picasso haben sie in einigen ihrer Werke verwendet. Wusstest du das?«

Cluzel, der sich fragt, ob Arthur ihn veralbern will, ignoriert sowohl die Frage als auch das Duzen.

»Bei der Stelle, auf die Sie sich bewerben, bestünde Ihre Aufgabe darin, den Umsatz unserer Buntstiftkollektion ›Crayons Cluzel‹ anzukurbeln …«

»Welch ungeheure Verantwortung! Wusstest du, dass ›crayon‹, also Buntstift, vom altfranzösischen Wort créon stammt, das ›Kreide‹ bedeutet?« Arthur macht eine kurze Pause, ehe er Cluzel in seinem lyrischsten Tonfall den Gnadenstoß versetzt: »Mit Kreide wird kreiert. Wir stehen hier somit am Ursprung der Kreation.«

Cluzel öffnet den Mund noch ein Stück weiter, ehe er schluckt und sich in die Wir-Form rettet: »Danke, wir rufen Sie an.«

Stattdessen ist es die Sachbearbeiterin des Arbeitsamts, die Cluzel anruft und ihn darüber informiert, dass dieser Bewerber den maximalen Leistungszeitraum ausgeschöpft hat und das Unternehmen, das sich bereit erklärt, ihn einzustellen, dank der Wiedereingliederungshilfen so gut wie nichts kosten würde.

So beginnt Arthurs unfreiwillige Karriere als Handelsvertreter. Er, der früher internationale Verträge abschloss, ist jetzt nicht einmal mehr in der Lage, eine läppische Stadtteil-Schreibwarenhandlung davon zu überzeugen, ein paar Schachteln Gaston-Cluzel-Buntstifte zu kaufen. Jeden Morgen nimmt er sich beim Aufstehen vor, nicht mehr zu trinken, und jeden Abend versinken seine guten Vorsätze in Alkohol. Er hat das Gefühl, in ein schwarzes Loch gesogen zu werden.

Als Cluzel ihn drei Monate später in sein Büro ruft, um ihn wegen anhaltender Erfolglosigkeit zu feuern, beginnt Arthur zu weinen. Alkoholgetränkte Tränen laufen ihm über die Wangen. Aufrichtige Tränen. Zum ersten Mal in seinem Leben gibt er sich geschlagen. Er weiß, dass er ganz unten angekommen ist. Und anders als erwartet, genießt er dieses Gefühl, sich gefunden zu haben, sich selbst gegenüber endlich ehrlich zu sein. Er lässt sein Ego fahren. Er ist bereit, sich zusammenzureißen und wieder auf die Beine zu kommen.

»Ich flehe Sie an«, bittet er mit leiser Stimme, nachdem er sich in den Ärmel geschnäuzt hat, »geben Sie mir noch eine Chance.«

Obwohl Adrien Cluzel nicht das geringste Mitleid mit ihm hat, behält er ihn. Als Prügelknaben. Und lässt ihn sein blaues Wunder erleben. Cluzel macht ihn zum Aufseher der Fertigungsstraße. Jetzt kostet er ihn noch weniger als zuvor, weil ein Teil seines Gehalts an die Verkaufszahlen gekoppelt war. Und jeden Tag aufs Neue bereitet es dem Firmeninhaber ein boshaftes Vergnügen, diesen Anzugtypen im Blaumann zu sehen. Beim Überwachen der Buntstiftproduktion sitzt Arthur die meiste Zeit über auf seinem hohen Hocker. Um die Monotonie zu bekämpfen, lässt er den ganzen Tag ein altes Radiogerät mit kaputtem Senderwahlrad laufen, das ihm mit blecherner Stimme von morgens bis abends die Sendungen von France Inter ins Ohr scheppert.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir Bewohner der westlichen Welt immer weniger Farben tragen? Wie kam es dazu, dass diese Schwarz-Weiß-Mode unsere Kleiderschränke eroberte? Möglicherweise hat alles 1860 in England angefangen. Edward VII., damals noch Prince of Wales, rauchte für sein Leben gern Zigarren, doch seine Frau beschwerte sich über den Geruch von kaltem Tabak, der in seinen Kleidern hing. Daher bat er seinen Schneider, ihm einen speziellen Anzug zu fertigen, den er zum Kartenspielen und Rauchen in seinem Londoner Klub tragen konnte. So entstand der Smoking, den die englischen Adligen sehr schnell übernahmen. Wie verwegen in der damaligen Zeit, dieselben Farben zu tragen wie die Dienstboten! Schon bald schwappte diese Pinguinmode über den Atlantik. Ende des neunzehnten Jahrhunderts trugen die New Yorker scharenweise Smoking, und er wurde zur männlichen Standardbekleidung bei festlichen Abendveranstaltungen und Wohltätigkeitsgalas. Noch heute ist er für Männer auf den Stufen des Festivals von Cannes obligatorisch. Und denken Sie nur an James Bond, den Inbegriff männlicher Eleganz: nicht ein Film, in dem er nicht seinen berühmten Smoking trägt. Denken Sie an unsere großen Couturiers, die für die Mode stehen wie kaum jemand sonst. Von Karl Lagerfeld über Chantal Thomass bis hin zu Marc Jacobs – sie alle tragen Schwarz oder Schwarz-Weiß. Sogar Jean Paul Gaultier hat seinen blau-weißen Ringelpulli gegen einen schwarzen Anzug und schwarze Krawatten eingetauscht.

Und was ist mit den Frauen? Nach dem Ersten Weltkrieg trugen viele von ihnen Schwarz als Zeichen der Trauer um ihren Mann. Doch in der Damenmode herrschten weiterhin die farbenfrohen Garderoben eines Paul Poiret vor. Bis zu dem Tag, als Coco Chanel ihr berühmtes »kleines Schwarzes« entwarf, das 1926 die Titelseite der Vogue zierte. Natürlich löste diese Farbe einen Skandal aus. Aber sie traf auch den Geschmack der Damen, die in den Goldenen Zwanzigern nach Unabhängigkeit strebten. Später waren etwa Audrey Hepburn und Catherine Deneuve die schönsten Botschafterinnen des kleinen Schwarzen. Für Karl Lagerfeld bildet es immer noch »die Grundlage der Grundlage allen Stils«.

Hinzu kommt der Einfluss diverser Phänomene aus der Popkultur auf die Kleiderschränke beider Geschlechter: die schwarzen Lederjacken der Biker auf ihrer Harley-Davidson oder die Sex Pistols mit ihrem demonstrativen »No Future«. Könnte es sein, meine lieben Hörerinnen und Hörer, dass unsere Gesellschaft für die Zukunft schwarzsieht?

Und mit dieser Frage verabschiede ich mich bis zur nächsten Woche.

Sylvie, die Producerin, berührt Charlotte an der Schulter, um ihr zu signalisieren, dass das Mikrofon ausgeschaltet wurde.

»Schwarz steht für ›No Future‹?«, wiederholt sie. »Das ist ja grauenvoll!«

»Wenn diese Drohung dazu beiträgt, dass sich die Leute ein wenig farbenfroher kleiden, hätte ich mein Ziel erreicht«, entgegnet Charlotte und schaltet ihren BlackBerry wieder ein.

Sylvie ist exakt dreißig Jahre alt. So hat sie es vor gut fünfzehn Jahren beschlossen, und seitdem überlässt sie es Botox-Injektionen, die Zeit stillstehen zu lassen. Eines Tages hat Charlotte sie um die Erlaubnis gebeten, ihr Gesicht zu berühren, doch als sie die Finger an ihre Wange legte, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zurückzuschrecken. Trotz der regelmäßigen Züge erschien ihr dieses Gesicht unter seiner dicken Make-up-Schicht unförmig.

»Du bist wunderschön«, log sie, um Sylvie nicht zu verletzen.

Mithilfe der Sprachausgabe dauert es nicht lange, bis auf dem Bildschirm von Charlottes BlackBerry die Fotos auftauchen, die sie tags zuvor im Vorbeigehen aufgenommen hat. Die meisten zeigen nur unscharfe Ausschnitte, aber auf einem von ihnen sieht man ganz deutlich Arthur mit einem Bier in der Hand.

»Die Bilder habe ich von meinem Fenster aus gemacht. Was erkennst du darauf?«

»Einen Nachbarn, der dich mit Blicken verschlingt.«

»Wie sieht er aus?«

»Wie ein verruchter Lüstling«, antwortet die Producerin mit einem Funkeln in den himmelblauen Augen. »Eine andere Nachbarin, die nicht von ihm begafft werden wollte, muss ihm schon ein paar auf die Nase gegeben haben. Umwerfend sexy …«

Charlotte schäumt vor Wut.

»Ich wusste doch, dass da jemand war.«

»Du hast Augen im Hinterkopf, und mit denen siehst du besser als wir alle.«

»Nicht besser als jeder andere, der auf seine Intuition hört«, sagt sie und rückt ihre apfelgrüne Brille zurecht.

Dass Charlotte Da Fonseca zu einer der renommiertesten Expertinnen für Farben geworden ist, war anfangs reine Provokation. Während ihres Studiums der Neurowissenschaften erkundigte sich ihr zukünftiger Doktorvater, den sie nicht ausstehen konnte, eines Tages, welches Forschungsthema sie für ihre Doktorarbeit wählen wolle, und ohne zu zögern, antwortete sie: »Farben.«

»Sie belieben zu scherzen?«, entgegnete der Professor verwundert.

»Wieso denn?«, versetzte sie mit einer Stimme, die ebenso sanft war wie ihr Lächeln. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass Farbe nur Illusion ist. Dass sie nur existiert, wenn man sie betrachtet, wie es bei Michel Pastoureau heißt. Keine zwei Menschen auf der Welt sehen exakt dieselben Farben. Ich persönlich gehe dieser Illusion nicht auf den Leim. Ich habe also das Glück, über eine gewisse Distanz zu meinem Thema zu verfügen, die Ihnen fehlt.«

Das war der Moment, in dem der Professor sie endlich als die brillante Studentin wahrnahm, die sie war, und nicht länger nur als eine bildhübsche Blinde, die mit ihrem Hund durch die Flure lief. Er förderte und ermutigte sie mehr als jeden anderen Studenten. Drei Jahre später bekam Charlotte gleich eine Stelle als Forschungsbeauftragte erster Klasse am nationalen Grundlagenforschungszentrum CNRS. Ein paar Monate danach hörte Mehdi Tocque, der Chefredakteur von France Inter, von ihrem ungewöhnlichen Werdegang und wollte sie anwerben. Er hatte eine regelmäßige Kolumne im Sinn, in der die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Farben mit einigen jener historischen Anekdoten gewürzt präsentiert wurden, von denen das breite Publikum nie genug bekommt. Charlotte knüpfte ihre Zusage an eine Bedingung: Ihre Behinderung durfte vom Sender nicht zu Werbezwecken genutzt werden. Sie vereinbarten einen Probemonat, nach dessen Ablauf sich ihre Kolumne als eine der am häufigsten heruntergeladenen Sendungen erwies.

Nach der Geburt ihrer Tochter ließ sich Charlotte vom CNRS beurlauben, um so viel Zeit wie möglich für sie zu haben. Dank ihrer medialen Bekanntheit konnte sie in zahlreichen Zeitschriften Artikel veröffentlichen und so bequem ihren Lebensunterhalt verdienen, obwohl sie Einladungen zu Vorträgen oder ins Fernsehen stets ablehnte. Sie wollte nicht, dass sich das Interesse auf ihre Blindheit konzentrierte statt auf die wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung.

Und so wissen nur die Angestellten des Senders und Charlottes engstes Umfeld, dass die Stimme, die den Hörern beispielsweise erklärt, dass Blau, anders, als wir es empfinden, vom rein physikalischen Standpunkt aus betrachtet eine wärmere Farbe ist als Rot, einer Frau gehört, die weder Rot noch Blau jemals gesehen hat.

Wie an jedem Morgen um Punkt acht Uhr richtet sich Adrien Cluzel vor der spiegelnden Vitrine mit der vollständigen, chronologisch geordneten Sammlung aller Buntstiftserien der Firma Cluzel das Haar. Sorgsam legt er die rotbraune Strähne, die über seinem linken Ohr entspringt, quer über seinen Schädel, sodass ihre fransigen Enden dicht über dem rechten Ohr zu liegen kommen. Dabei hält er verzweifelt nach weißen Haaren Ausschau, die zumindest den Vorteil haben, dass sie nicht so schnell ausfallen. Bei all meinen Sorgen könnte ich doch wenigstens ein paar davon haben, sagt er sich. Aber nein, nicht ein einziges. Cluzels Haare sind alle pigmentiert und können es kaum erwarten, endlich auszufallen, genau wie das Herbstlaub, dessen Farbe sie tragen. Sieben von ihnen zählt er heute in seinem Kamm. Vor dem Fenster erstrahlen die Bäume im herrlichsten Orangerot.

Er rückt seine breite aquamarinblau-weiß gestreifte Krawatte zurecht und verlässt das verglaste Büro hoch über der kleinen Arbeitshalle.

Vier Generationen von Kindern haben mit Buntstiften der Firma Gaston Cluzel das Malen gelernt. Vier Generationen, bis auf die letzte, die lieber auf dem iPad malt oder deren Eltern zu billigen, in China gefertigten Buntstiften greifen.

Ich fühle mich wie auf dem Weg zum Schafott, denkt er, während er die kobaltblauen Treppenstufen hinuntergeht. In den Händen einen großen braunen Umschlag für jeden seiner Angestellten.

»Mitarbeiterversammlung!«, brüllt er.

Vor dem halben Dutzend Menschen, die in der Maschinenhalle stehen, senkt er die Stimme.

»Ich habe Sie alle zusammengerufen, um Ihnen etwas kundzutun, was Ihnen seit Längerem schwanen dürfte.«

Jedem hier schwant vor allem, dass Cluzel seine Sätze gern mit aufgeblasenen Wörtern spickt, um allen zu zeigen, wer der Chef ist.

»Sie wissen, dass ich im Hinblick auf ein Betriebssanierungsverfahren, das im kommenden Jahr fällig werden würde, alles Menschenmögliche versucht habe, um unseren Untergang abzuwenden, obwohl dazu beileibe niemand verpflichtet ist.«

»Das klingt nicht gut«, übersetzt Arthur leise.

»Klappe, Picasso! Und schalten Sie endlich dieses Radio aus! Wo war ich stehen geblieben … Äh … ja! Sie hatten Sorge, wir könnten von einem skrupellosen internationalen Konzern übernommen werden. Nun, das wird nicht passieren!«, sagt er in halb triumphierendem, halb resigniertem Ton. »Technisch gesehen befinden wir uns seit gestern im Zustand der Geschäftsaufgabe«, fügt er leiser hinzu.

Cluzel lässt zu, dass seine rebellische Haarsträhne herunterrutscht und seine aus Angst vor der finsteren Zukunft geröteten Augen verbirgt. Mit ihm endet das Abenteuer Gaston Cluzel, aber seine Erziehung zwingt ihn dazu, auch weiterhin als Chef aufzutreten. Außerdem hat er ein schmuckes Herrenhaus in Cabourg und ein Chalet in den Bergen geerbt, was ein wenig Farbe in das trübe Grau seines vorgezogenen Ruhestands bringen dürfte. Wortlos verteilt er die braunen Umschläge.

»Wir produzieren alles, was wir noch produzieren können, und dann stellen wir den Betrieb ein«, sagt er und kehrt in seinen gläsernen Ausguck zurück.

Eilmeldung auf lemonde.fr

Aktuell sind über die Hälfte aller weltweit verkauften Autos weiß.

Charlotte war todtraurig, als sie vor sieben Jahren ihren Labrador Caramel verlor. Die neun französischen Blindenhundeschulen werden mit Anfragen überhäuft, die sie nicht alle erfüllen können, weil es ihnen sowohl an ausreichend Spenden als auch an Familien mangelt, die die Welpen während der Zeit ihrer Ausbildung aufnehmen. Sie wusste, dass sie mehrere Jahre auf einen neuen Hund würde warten müssen. Aber sie liebte ihren treuen Gefährten so sehr, dass ihr das gleichgültig war. Um angemessen um ihn zu trauern, hatte sie beschlossen, allein nach New York zu fliegen und dort Silvester zu feiern.

Charlotte fühlte sich durch ihre Behinderung nicht sonderlich eingeschränkt. Natürlich fehlte ihr ein Sinn, aber dafür waren die vier anderen derart geschärft, dass ihr größtes Problem in den leicht mitleidigen Blicken der »Sehenden« bestand, denen sie begegnete. Wenn jemand sie als »Nichtsehende« bezeichnete, korrigierte sie ihn und erklärte, sie ziehe den Begriff »blind« vor, da der Euphemismus ihrer Ansicht nach lediglich die Verlegenheit ihres Gegenübers zum Ausdruck brachte. Charlotte kam sehr gut zurecht.

Umringt von Tausenden von Menschen hatte sie auf dem Times Square ganz bewusst ihren weißen Stock zusammengefaltet und ihn in ihrer Umhängetasche versteckt. Es herrschte eine heitere, fröhliche, sorglose Stimmung. Um Mitternacht erschallten ringsum Neujahrswünsche in den unterschiedlichsten Sprachen. Ein junger Mann um die zwanzig, dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, hatte ihr mit dem Akzent der Bronx ein »Happy new year« zugerufen. Sie hatte es erwidert, um ins Gespräch zu kommen, Bekanntschaft zu schließen, aber da war er auch schon wieder fort, wünschte sein frohes neues Jahr jedem, der ihm über den Weg lief. Er war nicht der Einzige. Tiefe, hohe, junge und alte Stimmen, sie alle wiederholten das gleiche »Happy new year«. Charlotte hatte lange von diesem Moment geträumt. Und doch bereitete ihr diese Kakofonie Unbehagen. Sie erinnerte sie an Musiker, die vor einem Konzert ihre Instrumente stimmen. Es klang falsch. Es kippte ins Lächerliche. Die zahllosen Wünsche verschmolzen zu einem Tinnitus, der ihre Ohren quälte. Es war zehn nach zwölf. Je dichter die Menge wurde, desto einsamer fühlte sie sich. Die schlimmste aller Einsamkeiten, jene, die man inmitten anderer Menschen empfindet. Sie weigerte sich, diese Papageien nachzuäffen. Sie wollte weg. Zurück in ihr Hotel. Sie klappte ihren Stock auf und entfernte sich mit entschlossenen Schritten, wobei sie mit der weißen Gummispitze ihres Stocks an den Schuhen der mehr oder weniger angetrunkenen Feiernden entlangstrich. Bald stand sie in einer ruhigeren Straße. Das Klopfen ihres Herzens verlangsamte sich. Je gedämpfter der Lärm zu ihr herüberklang, umso mehr entspannte sie sich.

Quietschende Bremsen. Eine Stimme mit starkem indischem Akzent sprach sie durch ein offenes Autofenster an.

»Need a cab?«

Sie erkannte den Duft des Parfüms wieder: Eau sauvage. Aus dem Wageninneren drangen Fetzen brasilianischer Musik. Ein New Yorker Taxifahrer, wahrscheinlich indischer Herkunft, der Bossa nova hörte und ein französisches Parfüm trug. Genau das suchte sie auf Reisen: unerwartete Erlebnisse.

»Yes«, hatte sie lediglich geantwortet und mühelos den Türgriff gepackt.

Sie fühlte sich wohl, gewiegt von dieser sehnsuchtsvollen Musik. Die auf Hochtouren laufende Heizung bildete einen wohligen Kontrast zu der Kälte da draußen. Sie hätte nirgendwo anders sein wollen als dort, in diesem Taxi.

»Where do you want to go?«, fragte der Fahrer mit einer Stimme, die in Charlottes ganzem Körper widerhallte.

»Into your arms«, hörte sie sich spontan antworten.

Auf dem Rücksitz des Taxis umrundeten sie die ganze Welt mit mehreren Abstechern in den siebten Himmel. Neun Monate später wurde Louise geboren. Charlotte kannte nicht einmal den Vornamen des Vaters. Dank der gelb-schwarzen Karte, die sie stets in ihrer Handtasche aufbewahrte, wusste sie, dass er A. Goulamali hieß. A wie Abha, das Licht? Vielleicht Abhra, die Wolke? Oder Arvind, der rote Lotos?

Sie hatte sich vorgenommen, eines Tages Kontakt mit dem Erzeuger ihrer Tochter aufzunehmen. Neugier? Wunschtraum? Dankbarkeit? Ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm ohne sein Einverständnis ein besonders wackeres Spermium »gestohlen« hatte? Im Grunde ihres Herzens hat sie immer gewusst, dass Louise ihr eines Tages DIE Frage stellen wird. Daran führt kein Weg vorbei. Und bislang hat Charlotte noch nicht entschieden, wie ihre Antwort dann lauten wird. Soll sie ihr die Wahrheit sagen, auch auf die Gefahr hin, für Unruhe in einer New Yorker Familie zu sorgen, falls Louise ihn kennenlernen möchte? Oder soll sie sie anlügen und behaupten, sie wisse nicht, wer ihr Vater sei?

Sylvie bemerkt den Reisepass, der aus Charlottes Handtasche hervorlugt.

»Passt dein Vater auf Louise auf?«

»Ja, er zieht für ein paar Tage in unsere Wohnung.«

»Du bist ein Glückspilz! Ich möchte auch so gern mal nach New York.«

»Ich muss gestehen, ich habe einen kleinen Kloß im Magen.«

»Wann triffst du denn deinen hübschen Inder?«

»Ich lande morgen früh bei Tagesanbruch. Er holt mich am Flughafen ab.«

»Weiß er, wer du bist?«

»Natürlich nicht! Ich habe wie eine x-beliebige Kundin angerufen und ein Taxi bestellt.«

»Hast du ein Hotel gebucht, oder schläfst du in seinem Wagen?«, neckt Sylvie sie.

»Ich hasse dich!«, sagt Charlotte und kneift ihre Producerin in den Arm. »Ich weiß nicht, ob ich nächste Woche zurückkomme!«

»Mir doch egal! Wir haben noch ein Dutzend Kolumnen von dir auf Vorrat. Autsch! Mein Arm!«

Obwohl Arthur mit dieser Entwicklung gerechnet hat, ist er wie vor den Kopf gestoßen. Er betrachtet den Umschlag, den er neben das alte Radio gelegt hat, und wagt nicht, ihn zu öffnen. Stattdessen dreht er die Lautstärke voll auf und geht zu den Bottichen am Anfang der Fertigungsstraße, in denen die Inhaltsstoffe der Minen zusammengemischt werden. Für jede Farbe gibt es einen eigenen. In diesen vierundzwanzig hundert Jahre alten bauchigen Kupferkesseln köcheln ihre letzten Vorräte an Füllstoffen, Gummiharzen und Wachs. Es fehlen nur noch die Pigmente, die erst am Ende des Vorgangs hinzugefügt werden.

Nach einem prüfenden Blick in die Regale, wo nur noch ein paar Zedernholzbrettchen liegen, kommt Arthur zu dem Schluss, dass sie höchstens noch knapp tausend Buntstifte produzieren können. Allerdings ist noch eine große Menge an Farbpigmenten übrig, die, in durchsichtige Zellophanfolie verpackt, in der Farbfolge des Regenbogens geordnet daliegen.

Sie sind das Wichtigste überhaupt bei der Herstellung eines Buntstifts. Um Geld zu sparen, hat Cluzel sie angewiesen, den Pigmentgehalt ein wenig zu reduzieren. Das hat sich in der Qualität der Stifte bemerkbar gemacht. Man muss jetzt beim Malen etwas häufiger mit dem Stift hin- und herfahren, aber niemand hat sich darüber beschwert.

Arthur wartet, bis das siedende Wasser in den Bottichen verdampft ist, und als ihm die Konsistenz der Masse perfekt erscheint, schüttet er die von Cluzel festgelegte Menge, nämlich siebenhundertfünfzig Gramm Pigment, in den ersten Kessel. Doch dann überlegt er es sich anders und beschließt kurzerhand, den gesamten verbliebenen Vorrat an gelbem Pigment hineinzugeben. Insgesamt zwölf Kilo. Eine mehr als fünfzehnmal höhere Dosis als von diesem Geizhals Cluzel vorgegeben! So sind die letzten Buntstifte zumindest von guter Qualität, denkt sich Arthur, der seiner Arbeit gern einen glanzvollen Abschluss verleihen möchte.

Genauso verfährt er auch bei den dreiundzwanzig anderen Farben.

Arthur kippt den Inhalt des ersten Kessels in die Fertigungsstraße. Die in diesem Stadium noch weißliche Masse fällt in den Zerkleinerer, wird anschließend wieder zu einem Block geformt und zu guter Letzt durch eine Matrize mit dem entsprechenden Durchmesser gepresst.

Dort kommt die Masse in Gestalt eines endlosen Minenstrangs wieder heraus, läuft über ein Förderband und wird in ein chemisches Wachsbad getaucht, das die Farben hervorbringt. Wie wird die Mine mit einem derart hohen Pigmentgehalt aussehen? Die Frage bereitet Arthur ein wenig Sorge, und er wundert sich darüber, dass sich jetzt, wo es zu spät ist, ein solches Berufsethos in ihm regt. Ganz allmählich verfärbt sich die Mine, nimmt erst die Farbe ungebleichter Wolle an, dann die von Elfenbein, Eierschale, Schwefel, Narzisse, bis sie schließlich in einem leuchtenden Primärgelb erstrahlt. Die gut zehn Meter lange Mine verfügt über eine unglaubliche Sättigung. Das gleiche Wunder vollzieht sich auch bei allen anderen Minen. Die Intensität der blauen übertrifft Ultramarin. Rot, Rosa, Gelb, Orange, Violett … jede Farbe verfügt über eine schier bodenlose Tiefe.

Arthur folgt der voll automatisierten Fertigung. Die Minen werden in achtzehn Zentimeter lange Stücke geschnitten, bevor sie einzeln in Brettchen aus kalifornischem Zedernholz gleiten, die zuvor der Länge nach mit Rillen versehen und mit Leim bestrichen wurden. Jede Mine findet ihren Platz in einer Vertiefung. Ein zweites Holzbrettchen wird darübergeklebt und bedeckt sie wie der Deckel eines Sarkophags.

Ein Stück weiter fräst eine Maschine das Ganze in eine sechseckige Form und spitzt die Mine. Schlussendlich wird noch das Firmenlogo von Gaston Cluzel aufgedruckt, bevor die fertigen Stifte in eine Wanne fallen. Am Ende der Produktion kontrolliert Solange jeden einzelnen Stift und sortiert sie in einer genau vorgegebenen Reihenfolge in die Metalldosen. Die Gesten der ältesten Mitarbeiterin der Fabrik sind gewissenhaft und präzise, aber ein wenig langsamer als sonst. Wie jeden Tag atmet sie den Holzduft ein, der sich mit den chemischen Ausdünstungen der Farbstoffe verbindet. Als sie vor dreißig Jahren zum ersten Mal die Fabrik betrat, fand sie den Geruch unangenehm. Doch mittlerweile ist er ihre Droge. Solange fragt sich, ob sie es schaffen wird, darauf zu verzichten. An den Wochenenden vermisst sie diesen Geruch. Sein Fehlen führt ihr ihre Einsamkeit vor Augen. Solange ist über sechzig, auch wenn man es ihr nicht ansieht, weder hübsch noch hässlich und mittelgroß. Mit ihrem zurückhaltenden Geschmack und ihrer leisen Stimme wirkt sie ein wenig farblos. Man muss sich nach ihr umschauen, um zu wissen, ob sie da ist. Nur heute nicht, wo jeder ihrer Atemzüge von einem lang gezogenen Seufzen begleitet ist. Arthur fällt nichts Besseres ein, um sie zu trösten, als ihr in regelmäßigen Abständen ein Papiertaschentuch zu reichen.

Ajay steigt in sein Taxi und startet den Checker Marathon von 1982, eines der letzten Fahrzeuge dieses Typs, die in Kalamazoo, Michigan, hergestellt wurden. Achthundert Umdrehungen pro Minute. Er lässt den Motor schnurren, schließt die mandelförmigen Augen und sieht hinter seinen Lidern einen violetten Fleck, der im Takt des Motors aufleuchtet. In seinem friedlichen Gesicht heben sich kaum merklich die Mundwinkel. Er fühlt sich wohl. Der Motor läuft warm. Achthundertfünfzig Umdrehungen pro Minute. Der Fleck leuchtet mittlerweile dauerhaft und nimmt nach und nach eine purpurne Färbung an. Mit geschlossenen Augen vergewissert sich Ajay, dass kein Gang eingelegt ist, und drückt das Gaspedal ein klein wenig fester. Tausend Umdrehungen pro Minute. Sofort wechselt der inzwischen braune Fleck zu Orange. Die gleiche Farbe wie seine eigene Stimme. Ajay gibt noch mehr Gas. Parallel dazu wandelt sich die Farbe und durchläuft beinahe das gesamte Spektrum. Bei viertausend Umdrehungen pro Minute ist der Fleck stahlblau. Ajay hat nie gewagt, über das Anisgrün im Bereich von fünftausend Umdrehungen pro Minute hinauszugehen, um seinen alten Motor nicht allzu sehr zu beanspruchen. Er vermutet, dass er Gelb sähe, wenn er das Gaspedal ganz durchdrückt. Aber dazu braucht er nur die Augen zu öffnen und die Karosserie seines Wagens zu betrachten.

Ajay hat als Teenager entdeckt, dass er über die besondere Gabe der Synästhesie verfügt. Genauer gesagt an dem Tag, als ihm klar wurde, dass die anderen nicht darüber verfügten. Nur vier Prozent aller Menschen sind von diesem neurologischen Phänomen betroffen, das mehrere Sinne miteinander in Beziehung setzt. Manche Formen von Synästhesie verknüpfen Buchstaben mit bestimmten Farben, andere Zahlen und wieder andere die Monate des Jahres. Man zählt über fünfhundert verschiedene Ausprägungen. Bei Ajay sind spezielle Geräusche mit Farben verbunden. In diesem Fall spricht man von Synopsie. Musiker wie der Pianist Michel Petrucciani oder der Komponist Alexander Skrjabin waren Synästheten. Ajay hat keine Erklärung dafür. Und die Wissenschaft genauso wenig. Vergeblich haben Mathematiker versucht, eine Beziehung zwischen der Wellenlänge der Farben und der Töne zu finden. Und auch die Neurowissenschaften sind ratlos.

Vor etwa zwanzig Jahren verbrachte der junge Ajay die Ferien in New York. Seine Eltern stammten aus Delhi, und als Angehörige einer wohlhabenden Schicht gönnten sie sich jedes Jahr eine schöne Reise. Ajays Vater und seine Mutter waren begeistert von den Wolkenkratzern in Manhattan. Er vom Motorenklang der alten Taxis. Kein Geräusch hatte je so schöne, so kräftige, so satte Farben in ihm heraufbeschworen. Sein Entschluss stand fest. Dieser Sohn reicher Eltern, dieser ferne Spross einer Dynastie von Maharadschas, würde Taxifahrer in New York werden. Die Vorstellung belustigte seine Eltern so lange, bis sie erkannten, dass er es ernst meinte. Und da machten auch sie Ernst. Sie verstießen ihn und gaben ihm lediglich genug Geld, um ein Flugticket, ein Auto und die Taxilizenz zu bezahlen.

Die harsche Reaktion seiner Eltern lag sicher in dem Umstand begründet, dass seine Familie zur Kriegerkaste der Kshatriyas gehört. Dass ihr Sohn sich so weit erniedrigte, einen Beruf auszuüben, der den Sikhs vorbehalten ist, war für sie einfach nicht akzeptabel.

Doch Ajay ist das einerlei. Der schlanke, hoch aufgeschossene Achtundzwanzigjährige ist mit seinem Schicksal zufrieden. Sein Reichtum besteht aus Millionen von Farben. Das Einzige, was er von seinen Eltern geerbt hat, ist die Freude am Reisen. Jedes Jahr packt er seine Koffer und sucht für eine Woche das Weite, um auf der ganzen Welt neue Farben zu sehen und zu hören.

Widerstrebend öffnet Ajay die Augen. Er muss wohl oder übel an die Arbeit. Seit drei Tagen ist er ein wenig durcheinander. Eine Kundin hat ihn angerufen, um sein Taxi zu bestellen. Die Farbe ihrer Stimme war genau dieselbe wie die einer Blinden, der er vor Jahren in der Silvesternacht begegnet ist. Eine Farbe, die er nicht so schnell wieder vergessen würde. Ein leicht ins Rosa spielendes Parmaviolett, das er vor sich sieht, wenn der Drehzahlmesser seines Wagens exakt eintausendsechshundertfünfzig Umdrehungen pro Minute anzeigt. Er soll diese Kundin nachher am Flughafen abholen.

Arthur sieht, wie Cluzel eine düstere Gestalt durch das Fabrikgebäude führt. Ein Käufer?

»Das ist die voll automatisierte Fertigungsstraße, in der die Buntstifte hergestellt werden«, erklärt er dem Unbekannten, für den Fall, dass dieser unter eingeschränkter Wahrnehmung leiden sollte.

Cluzel beugt sich über Solanges Schulter und greift eine Handvoll Stifte aus der Wanne heraus. Verwundert bemerkt er die intensive Färbung der Minen, mustert sie aufmerksam, sagt jedoch nichts.